Verdrängte Liebe
Fast unmerklich war die Dunkelheit über Konoha hereingebrochen. Die Finsternis kroch in jede Ecke, in jeden Winkel, und bald erhellten nur noch der silbern schimmernde Mond und die Sterne rings um ihn herum das kleine Ninja-Dörfchen. Die Straßenlaternen gingen an und nur noch vereinzelt ließen sich draußen ein paar Leute blicken.
Sakura sah hoch zu der großen Uhr an der Wand. Sie zeigte 19.22 Uhr. Rasch senkte sie ihren Kopf wieder und schrieb weiter. Ein wenig Zeit hatte sie noch. Sie wühlte in dem Stapel beschrifteter und unbeschrifteter Blätter, die sie auf dem kleinen Tisch vor ihr ausgebreitet hatte, so dass er ziemlich überladen wirkte, und suchte nach einem Stift.
Sie befand sich in einem der wenigen noch stark beleuchteten Gebäude: Konohas Universität. Gerade legte sie ihr Examen ab, das sie zu einer richtigen Ärztin machen würde. Darauf hatte sie schon lange hingearbeitet. Die Praxis hatte sie bereits erfolgreich hinter sich gebracht; nun fehlte noch der theoretische Teil. Sie musste einfach bestehen!
Von Tsunade-sama hatte das Mädchen schon viel gelernt, schließlich war sie die beste Ärztin überhaupt. Doch das reichte nicht. Fast vier Jahre Medizinstudium waren nötig gewesen, um auch nur halb so gut zu werden wie sie und nun war Sakura siebzehn.
Noch einmal versuchte sie sich zu konzentrieren, doch ihre Gedanken schweiften ab. Wo Sasuke und Naruto jetzt wohl waren? – Auf einer Mission, ganz klar! Schließlich waren sie beide im Laufe der Zeit zu Jo-Nin geworden, während Sakura selbst ihre Kraft dafür gegeben hatte zu lernen und immer noch ein Chû-Nin war.
„Noch fünf Minuten!“, dröhnte es durch den stillen Saal und Sakura wurde nervös. Sie hatte noch nicht alles beantwortet. Die Prüfung war schwerer als sie zuvor angenommen hatte. Schnell kritzelte sie noch ein paar Sätze aufs Papier. Dann glitt auch schon eine Gestalt an ihrem Tisch vorbei und pickte die Zettel auf. Anschließend wurde die Stille vom Kratzen vieler Stühle auf dem Holzboden durchbrochen. Die Studenten erhoben sich und verließen, teilweise schon wieder munter schwatzend, den Raum. Sakura war dazu viel zu müde. Sechs Stunden hatte die Prüfung gedauert und, im Gegensatz zu anderen, hatte sie sich zwischendurch keine Pause gegönnt; wie schon beim Lernen in den letzten Wochen. In solchen Sachen war Sakura sehr verbissen.
Nun packte sie ihre Sachen und folgte langsam den anderen. Fast als Letzte erreichte sie das Tor zum Uni-Gelände und wandte sich schon nach rechts, um der Straße bis nach Hause zu folgen, als jemand sie einholte.
„Hey, Sakura!“ Sie wandte sich um.
„Ach, du bist es, Keitaro“, sagte sie und lächelte dem Jungen zu, der nun, völlig außer Atem, vor ihr stand. Keitaro war ein Chû-Nin aus Kumogakure. Nur in Konoha war es nämlich möglich Medizin zu studieren und vor allem jetzt, während der Prüfungszeit, waren viele Ninja aus anderen Reichen hier.
„Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte er nun, errötete leicht und starrte auf den Boden, als Sakura seinen Blick auffing und erwiderte.
„Hmm... ja.“, gab sie als Antwort und ging schon ein Stück vor. Er folgte ihr. Ein paar Minuten schwiegen beide. Keitaro wusste nicht recht, was er sagen sollte. Schon oft hatte er sich einen Moment wie diesen ausgemalt; sich vorgestellt, was er sagen würde. Doch jetzt, wo es so weit war, fiel im nichts Gescheites ein. Schließlich ergriff er doch das Wort: „Ähm… Wie fandest du die Prüfung? Ich dachte, sie wäre leichter…“ Wieder herrschte Stille. „Äh, Sakura?“
Als hätte sie jemand ruckartig aus dem Schlaf gerissen, drehte sich Sakura plötzlich um. „Hast du was gesagt?“
„Naja… eigentlich -“
„Entschuldige bitte“, murmelte sie dann ohne ihn aussprechen zu lassen und sah tatsächlich so aus, als würde es ihr Leid tun, „ich bin müde und war in Gedanken. Die Prüfung war ziemlich anstrengend.“ Sie sah Keitaro in die Augen und wieder errötete er.
„Ach, schon okay.“ Er tat es mit einer Handbewegung ab, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ging an ihr vorbei. Wieder einmal versuchte er, ihrem Blick auszuweichen. Sie lächelte sanft und folgte ihm nach ein paar Metern.
Dennoch dachte Sakura nach. Eben hatte sie gelogen. Es stimmte wohl, dass sie erschöpft und in Gedanken gewesen war. Doch letzteres lag sicher nicht an der Prüfung. Sie musste noch immer an Naruto und Sasuke denken. Oder vielleicht auch nur an Sasuke? Sie schüttelte den Kopf. Wieso waren ihre Gedanken nur ständig bei ihm?
„Sakura? Ich dachte du wohnst hier?!“ Wieder schreckte Sakura auf. Verdutzt blieb sie stehen und wandte sich um.
„Was denn?“ Dann bemerkte sie, vor welchem Haus Keitaro stehen geblieben war. Es war das, in dem sich auch ihre Wohnung befand. Sie war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie einfach daran vorbei gelaufen sein musste. Verlegen kam sie zu Keitaro zurück und wandte sich der Tür zu, die sie kurz darauf aufschloss. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um, um sich zu verabschieden.
„Hast du Lust dich morgen mit mir zu treffen? Wir könnten irgendwas unternehmen…“, fragte Keitaro plötzlich vorsichtig. Sakura war überrascht. Dennoch fand sie schnell die Worte, um ihm zu antworten: „Nein, tut mir Leid. Ich… kann nicht.“
„Warum?“
„Ich- Ich hab morgen eine Mission!“
Schon wieder hatte sie gelogen. Am liebsten hätte sich Sakura auf die Zunge gebissen.
„Was? Gleich am ersten Tag nach der Prüfung?“, fragte Keitaro ungläubig, doch Sakura nickte.
„Vielleicht ein anderes Mal, okay?“
„Ja… okay“, antwortete er schließlich und versuchte die Enttäuschung in seiner Stimme so gut es ging zu überspielen. „Wir sehen uns. Bis dann!“ Kurz darauf war er verschwunden.
Mit schweren Schritten stapfte Sakura die Treppe zu ihrer Wohnung empor. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin wusste sie sehr genau, was Keitaro für sie empfand; ihre Freundinnen hatten es ihr erzählt. Doch Keitaro war immer sehr schüchtern und da Sakura eigentlich gar nichts von ihm wollte, hatte sie abgewartet, bis er den ersten Schritt machen würde, auch wenn sie immer gehofft hatte, es würde nie passieren.
Nein, Sakura wollte sich auf keine Beziehung mehr einlassen. Zumindest vorerst nicht. Ihre erste große Liebe, Sasuke, hatte ihr damals zu sehr wehgetan. Nächtelang hatte sie wach gelegen und geweint, bis sie sich entschloss, ihn ein für alle Mal zu vergessen. Und vorerst hatte das sogar geklappt: Sie kam mit vielen anderen Jungen zusammen, doch nie hatte sie dieses Gefühl, wie sie es bei Sasuke gespürt hatte, und nie hielten ihre Beziehungen lange an.
Sakura kam bei ihrer Wohnung an und schloss die Tür auf. Leise fiel sie hinter ihr zu und Sakura zog ihre Schuhe aus, stellte sie ordentlich in eine Ecke und betrat das Wohnzimmer. Sie machte kein Licht an. Der Schein des Mondes, der durch die große Glastür, die auf ihren Balkon führte, fiel, erhellte den Raum genug und Sakura trat näher heran, um ihn sehen zu können. Sie fühlte sich auf einmal schrecklich einsam. Wie schön wäre es doch, wenn jetzt jemand hier wäre, dachte sie, und plötzlich fiel ihr Blick auf ein Bild, das vor dem Schrank auf dem Boden lag. Es musste herunter gefallen sein. Sakura ging hin und bückte sich, um es wieder aufzuheben, als sie bemerkte, welches Bild es war: Das Foto, welches von ihr, Sasuke, Naruto und Kakashi am ersten Tag nachdem sie die Akademie bestanden hatten, gemacht worden war. Sakura hing sehr an diesem Bild, doch als sie es jetzt sah, machte es sie ein wenig traurig. Warum konnte es nicht so sein wie damals, als sie Ge-Nin wurden? Dann würde Sasuke noch unter Kakashis Obhut sein und sich jetzt, als Jo-Nin, nicht in solche Gefahr begeben.
Plötzlich erschrak Sakura. Sie hatte schon wieder an Sasuke gedacht! In letzter Zeit passierte das sehr häufig, obwohl sie sich doch vorgenommen hatte, ihn endlich zu vergessen. Sie hatte sich damit abgefunden, ihn nie zu bekommen. Sogar Ino hatte das! Doch die war seit einem Jahr glücklich mit Shikamaru zusammen, und wen hatte Sakura?
Ein paar Tropfen fielen auf das Foto, welches Sakura immer noch in den Händen hielt, und kurz darauf merkte sie, dass sie weinte. Konnte es sein, dass ihre Liebe zu Sasuke überhaupt nicht nachgelassen hatte? Vielleicht hatte sie sie ja auch die ganze Zeit nur unterdrückt und nun war es eben so weit, dass es nicht mehr ging und ihre alten Gefühle wieder hervorbrachen. Sakura konnte das selbst nicht verstehen. Schließlich hatte Sasuke sie nie besonders gut behandelt oder ihr gezeigt, dass er auch etwas für sie empfand. Im Gegenteil, er hatte ihr sogar schon mehrmals gesagt, sie würde ihn nerven.
Langsam erhob sich Sakura wieder, ging noch einmal zur Balkontür und zog, ohne noch einen Blick auf den Mond zu werfen, die Vorhänge der Fenster daneben zu. Anschließend betrat sie das Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Ein paar Minuten lang starrte sie schweigend die Decke an, doch in Wirklichkeit sah sie sie gar nicht. Sie hatte nur Sasukes Bild vor Augen. Plötzlich merkte sie, dass sie das Foto immer noch in der Hand hielt und stellte es auf ihren Nachtschrank. Dann drehte Sakura sich auf die Seite. Ein paar einsame Tränen befeuchten das Kopfkissen.
Eigentlich hatte Sakura noch gar nicht vorgehabt zu schlafen; sie hatte sich ja noch nicht einmal umgezogen. Außerdem fühlte sie sich hellwach und war schon der Meinung, in dieser Nacht überhaupt keinen Schlaf mehr finden zu können, als ihr vor Erschöpfung schließlich doch die Augen zufielen.
„Sakura! Sakura, mach auf! Bitte!“
Noch im Halbschlaf tastete Sakura nach der Bettdecke und zog sie sich bis über beide Ohren. Rief sie jemand? Oder träumte sie das nur? Wenn ja, schien es ein sehr lauter Traum zu sein, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf und mit einem Schlag war sie hellwach. Jemand stand draußen vor der Tür und hämmerte wie besessen dagegen. Sakura richtete sich auf und ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Das helle Licht der aufgegangenen Sonne brannte ihr in den Augen. Sie stand auf und suchte nach etwas, das sie sich überwerfen konnte, als sie merkte, dass sie sich gar nicht umgezogen hatte und immer noch ihre Tageskleidung trug. Dann erinnerte sie sich an den gestrigen Abend und konnte gar nicht glauben, dass sie tatsächlich eingeschlafen war.
„Sakura!“ Wieder hörte sie jemanden nach ihr rufen.
„Sofort!“, schrie sie als Antwort zurück und rannte zu der Person, die gerade dabei war ihre Wohnungstür zu demolieren. Als sie näher kam, erkannte sie Narutos Stimme. Sie riss die Tür auf.
„Was ist denn los? Ich -“ Sie stockte.
„Sakura… sie haben ihn… Sie haben… Sasuke“, brachte Naruto gerade noch hervor. Dann kippte er vorne über und Sakura fing ihn auf. Blut bespritzte den Boden…