Schicksalsgemeinschaft
Wir saßen um das kleine Lagerfeuer herum. Keine Ahnung, wie spät es war, aber es war schon dunkel. Warm war es auch und wir hatten das Feuer nur gemacht, damit wir uns in die Augen sehen konnten. Julie atmete schwer und André stach sie. Sie war so schwer verletzt und ihre zierlichen Schultern hoben und senkten sich in seinem Schoß. Sie war nicht bei Bewusstsein und wir alle waren uns nicht sicher, ob sie die nächsten Tage heil überstehen würde. Ich sah in die Runde. War sich irgendjemand von uns sicher?
Ich persönlich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Wie es würde, das wüsste ich ganz genau. Julie war halbtot, aber sie gehörte zu uns. Sie sollte für immer zu uns gehören, auch wenn sie erst so kurze Zeit dabei war. Also stach er sie. Damit sie damit sterben konnte. Als eine von uns. Schon seltsam wie viel es anscheinend bedeutete. Für manche jedenfalls. Ich war mir dessen gar nicht so bewusst gewesen, bis es an Bedeutung gewann, weil wir nicht mehr zusammen waren. Einige waren tot. Wir gehörten immer noch zusammen. So sahen es die anderen. Irgendwie hatte ich es schon aufgegeben. Aber das Zeichen trug ich auch. War schon richtig so. Wenn wir uns jemals wiedersehen würden, dann vielleicht nicht unter friedlichen Umständen. Man musste leben.
Familie. Tandra saß da und beobachtete André beim Stechen. Der Schweiß stand ihm fest auf der Stirn und wir alle wussten wieso. Es musste gut werden. Sauber. Sie konnte jeden Moment sterben und irgendwie war sie sein Mädchen. Tandra tupfte Blut und Schweiß von beiden. Allegro seufzte. Er war der Älteste von uns und auch gerade mal siebzehn. Aber er hatte ein breites Kreuz und war sehr kräftig. Irgendwie schaffte er es, dass wir weitermachten, auch wenn wir wussten, dass es so keinen Zweck hatte. Jeder von uns wusste es und unsere gemeinsame Zeit wäre bald vorbei.
Ich rauchte eine Zigarette. Viel besaßen wir alle nicht und ich wusste nicht, wer morgen nicht mehr da sein würde. Wahrscheinlich Julie und André. Er würde gehen, das sah ich in seinen Augen und ich wusste warum. Er wusste, dass es für uns zu gefährlich war, wenn wir mit einer blutenden, halbtoten Blüterin im Gepäck durch die Bretagne zogen. Die Bestien würden es meilenweit wittern und wir würden Ärger mit allem nur erdenklichen Kroppzeug bekommen und vielleicht sogar mit den Dämonen, schlimmer noch, den Menschen. Sie war gefundenes Fressen und André würde sie nicht alleine Lassen. Also würde er sie mitnehmen und gehen. Morgen würden die Beiden nicht mehr da sein.
Ich spuckte die Zigarette ins Feuer und sah mich unter meinen Kameraden um, meiner Familie. Dem Rest davon. Morgen würden wir zwei weniger sein, und wie viele wären wir übermorgen?
Ich wusste nur zu gut, dass ich irgendwann alleine dastehen würde. Tandra würde bei Allegro bleiben, oder beide würden ihren eigenen Weg gehen. Aber niemand würde sich mir, und ich mich niemandem anschließen. Ich war allein. Schon immer. Und es würde auch immer so bleiben.
Allegro war der stärkste von uns. Jetzt wo wir alle gleich voreinander dasaßen... mit freien Oberkörpern und in Bluejeans... Da wurde mir klar, wie wenig sie mir bedeuteten, obwohl sie mir so viel gegeben hatten. Eigentlich bedeuteten sie mir eine Menge. Nur nicht genug. Irgendwie. Schwer in Worte zu fassen, aber ich hatte einfach den Eindruck, sie hätten es verdient mir mehr zu bedeuten. Es ging nur nicht. Noch nicht. Keine Ahnung wieso, aber sie waren mir wichtig. Und das Zeichen auch.
Tandra war ein hübsches Mädchen, und ein hartes. Ich war mir sicher, sie würde mich in die Tasche stecken. Aber sie war auch älter als ich, gerade eben sechzehn geworden. Sie konnte auch eine echte Frau sein, sensibel und einfühlsam. Die Sache mit André und Julie ging ihr an die Nieren und das wusste ich.
André war kein so harter Typ, jemand der mit seinem Blut kämpfte, aber körperlich sehr weit für sein Alter war. Deswegen schätzte man ihn allgemein älter und vergaß, dass er geistig fast noch ein Kind war. Mehr als ich, denn ich war kein Kind. Schon lange nicht mehr. Eigentlich war ich der einzige, dem ich es zutraute alleine durchzukommen. Die anderen hatten eine Chance, wenn sie zu zweit gingen. Und so sollten sie es machen, denn sie hatten es verdient zu überleben.
André war fertig, und hatte Julie das Zeichen gestochen. Es sah gut aus. Ich schlang die Arme um mich und streichelte meinen eigenen Rücken. Zwei einfache schwarze Striche, einer links und einer rechts neben der Wirbelsäule. Der linke zog sich hoch bis zum Hals, die rechte Linie endete an der Oberkante der Schulterblätter. Sie wurden nach unten hin schmaler und zogen sich bis zum Ende der Wirbelsäule hin. Rechts unter den Rippen ein weiterer Strich bis nach unten, mit einer halbkreisförmige Auswölbung auf der rechten Seite der Hüfte, wie die Sichel eines Mondes. Es war schon länger her, dass die Jungen aus dem Söldnertrupp, der Nachwuchs sozusagen, mich aufgenommen hatte. Aber ich gehörte fast von Anfang an dazu und irgendwie war ich stolz auf diese Auszeichnung. Ich nickte André zu, und dieser kauerte sich um Julie um zu schlafen und sie zu wärmen, weil sie der Blutverlust sehr geschwächt hatte, und sie unterkühlt war. Gleichzeitig aber, schien sie Fieber zu haben und schüttelte sich vor kaltem Schweiß.
Ich half Tandra beim zusammenlegen des Tätowierbestecks. Sie trug es zu Allegros Sachen und verstaute es da. Er war der Älteste, er machte das in der Regel, doch wir wollten es alle einstimmig André überlassen, seinem Mädchen die vielleicht letzte Ehre zu erweisen.
"Ich bin sicher ihr Blut ist stark. Sie wird es schaffen," sagte ich, um die anderen zu trösten. Ich wusste nicht, warum ich es tat, aber ich nahm mein Kampfmesser und schnitt mir in die Hand, dann strich ich meinen Zeige- und Mittelfinger durch das Blut und malte ihr einen Strich von der Stirn bis zum Kinn auf. Tandra nickte, sie schien mich nicht wirklich zu verstehen, das tat ich selber nicht, aber sie verstand, dass ich einfach irgendetwas tun wollte und erkannte an, dass ich es tat.
"Ich übernehme die erste Wache," sagte Allegro und alle sahen auf. Sein Befehl duldete, wie immer, keine Widerrede. Wir nickten alle, und ich wusste, dass die erste Wache wie immer die einzige sein würde. Es hatte keinen Zweck zu widersprechen, er würde schon wissen, wann er mal wieder Schlaf brauchte. Trotzdem bedachte ich ihn mit einem langen starken Blick, damit er sah, dass ich genug Kraft hatte, um ihm zur Seite zu stehen.
"Keine Widerworte Az," sagte er, und ich nickte, klappte meine knöchernen Schwingen mit einem Klacken zusammen und ging den anderen nach ins Zelt. Es gehörte Allegro, er hatte es bei der Auslösung bekommen. Nur war er derjenige, der darin am seltensten schlief. Ich legte mich hin und schloss die Augen, mein Rucksack war mein Kopfkissen und Julies schweres Atmen bescherte mir einen rhythmischen Übergang in die Gedankenlosigkeit.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das schwere Atmen verschwunden. Es war warm im Zelt und ich war allein. Allegro schaute herein. Er war ein südlicher, sonnengebräunter, sehr menschlicher Typ mit Dreitagebart. Obwohl er erst so jung war, war er sehr männlich. Er schenkte mir einen eher führsorglichen Blick.
"Reg dich nicht auf," sagte er gleich und hob entwaffnend die Hände. "Hab dich schlafen lassen. André ist mit Julie abgehauen. Keine Ahnung wohin und wie." Er ging wieder und ich raffte mich hoch und kam aus dem Zelt. Und wie ich es erwartet hatte, waren wir nun nur noch zu dritt. Vorsorglich nahm ich alle meine Sachen aus dem Zelt. Spätestens diese Nacht war es auch für mich Zeit zu gehen, da würden wir die belgische Grenze erreicht haben und ich hatte gute Chancen, es wieder bis nach Deutschland zu schaffen.
Man muss leben, oder sterben.
Ich werde mehr als das.