Eines Tages machte die Gewalt, müde geworden von ihren vielen Gräueltaten, einen kleinen Spaziergang. Nach einigen gelaufenen Metern kam ihr jemand entgegen. Es war die Moral. "Schon viele meiner Jünger sind durch euch gefallen oder wendeten sich durch euer Tun von mir ab. Doch dafür gibt es nun Rache!", sprach sie. Und ihr Handeln folgte prompt. Doch niemand kann die Gewalt mit Gewalt bezwingen. Und so lag am Ende die Moral sterbend am Boden.
So lief die Gewalt also gemütlich weiter. Sie erreichte gerade einen kleinen Park, als jemand hinter ihr schrie: "Stehen bleiben!" Es war das Gesetz. "Sie werden wegen Mordes gesucht. Kommen Sie bitte mit. Wenn Sie nicht freiwillig Folge leisten, zudem sie sich gegen die Moral nur verteidigt hatte (nun ja, man hätte sich auch zurückhalten können, aber die Moral hatte ja auch nicht an Zurückhaltung gedacht.) Letztendlich zerbrach auch das Gesetz unter den Fäusten der Gewalt.
Die Gewalt war schon wieder auf dem Rückweg, da lief die Vernunft über den Weg. Sie zog ihren Hut, machte einen Knicks und lief an der Gewalt vorbei. "Stopp!" ,hörte die Gewalt sich rufen, "Alle begegnen mir mit Hass und Verachtung; warum du nicht?" Die Vernunft blieb stehen, drehte sich um, lächelte und begann mit ihrer Erklärung: "Auch ich verspüre keine Sympathie für dich, aber du bist nun mal ein Teil dieser Welt. Das muss man akzeptieren. Keine Moral, kein Gesetz, kein Wohlstand, keine Freiheit ohne dich. All das und noch mehr beruht auf dir. Dich zu verleugnen ist sinnlos. Eigentlich müsste man nur den richtigen Umgang mit dir lernen, aber wem gelingt das schon? Und nun entschuldige mich bitte." Mit diesen Worten drehte sich die Vernunft wieder um und ging von dannen. Die Gewalt aber blieb noch einige Zeit perplex stehen.
Eine Verfassung von Thomas Liebermann
