Zum Inhalt der Seite

The Balance of Creation

TYKA u. a.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Code Omega

Kapitel 37: Code Omega
 

Ozumas Bewusstsein, durchdrungen von grauenerregenden Bildern und erfüllt mit noch grausigeren Emotionen, schwamm in einem Meer aus Schmerz und Angst. Sein Widerstand war vollständig erlahmt. Die erbarmungslosen Hände, die ihn würgten, nahm er kaum mehr wahr. Mit seinen Tränen floss seine Seelenenergie aus seinem Körper, eine persönliche Technik des Soldaten „Phantom", der wie der Krieg, sein Attribut, hervorragend darin war, seine Gegner psychisch an ihre Grenzen zu führen und von innen heraus zu zermürben.

»Ich komme nicht gegen ihn an!« dachte er verzweifelt. »Er wütet in meinem Geist wie ein Berserker! Ich halte das nicht aus...!«

„Deimos hatte recht. Menschen sind hinreißend, wenn sie leiden! Du machst das sogar besonders gut. Ich hätte schon viel früher versuchen sollen, dich zu töten. Schade, dass ich deswegen so viel Spaß verpasst habe. Umso reizvoller ist es jetzt. Das ist dein Ende, Würdenträger!"

Er drückte zu, presste die Luftzufuhr endgültig ab. Einen Augenblick meinte Phantom, ein Geräusch gehört zu haben, doch er beachtete es nicht weiter. Er lachte leise, während Ozuma mit dem Tod rang.

Plötzlich verstummte er. Kalter Stahl lag an seiner Kehle, die Klinge eines Schwertes. Er drehte sich langsam um und erblickte Kenny und Hiro, die beide angestrengt keuchten, als hätten sie einen Dauerlauf hinter sich (was in gewisser Weise zutraf).

„Spuck‘s aus, du maskierter Bastard! Wer bist du?!"

„Ah, der Herr der Stürme persönlich... und in seiner Begleitung der Auserwählte von Draciel. Ich fühle mich geehrt, eure Bekanntschaft zu machen - besonders die deine, Hiro-san. Du hast den armen Deimos ziemlich durcheinandergebracht, das muss man dir lassen. Ich bin der erste, der dir neidlos zugesteht, dass du ihn um den kleinen Finger wickeln kannst. Wirklich, eine beachtliche Leistung. Umso mehr will er dich tot sehen!"

„Deimos kann mich nicht töten. Er hatte oft genug die Gelegenheit, aber er hat es nicht geschafft. Lass ihn aus dem Spiel. Es geht hier um dich. Also, ich wiederhole: Wer bist du und was hast du mit Ozuma gemacht?"

Der Druck der Schwertspitze nahm zu, bis sie die oberste Hautschicht ritzte. Phantom begriff, dass die Erzählungen seines Hauptmanns, die den älteren Bruder des Drachenhüters zum Inhalt hatten, durchaus der Wahrheit entsprachen - er konnte es sich nicht leisten, ihn zu unterschätzen, schon gar nicht jetzt, da er erwacht war. Die brutalen Hände ließen von dem Rothaarigen ab und falteten sich zu einer gebetähnlichen Geste. Die verfremdete Stimme murmelte irgendetwas vor sich hin; zischend und bedrohlich klang es. Im Sandkasten des Spielplatzes bildete sich ein Strudel aus schwarzer Energie, aus dem sich eine wilde Kreatur erhob. Sie besaß den Körper eines Löwen, den Schwanz eines Skorpions, das Gesicht eines Menschen und jeweils drei Zahnreihen in Ober- und Unterkiefer. Ihr Gebrüll glich dem des Königs der Tiere, doch es wirkte um einiges furchteinflößender, da es wie aus mehreren Lautsprechern zu kommen schien, so dröhnend und durchdringend war es.

„Was... was ist das?"

„Das ist ein Mantichor", erwiderte Kenny mit der ruhigen Sachlichkeit eines Wissenschaftlers, im selben Tonfall, als hätte er gesagt „Das ist ein Hund." Hiro warf ihm kurz einen schiefen Blick zu, dann beförderte er den überraschten Phantom mit einem harten Tritt von ihrem Kameraden hinunter und hielt sein Schwert in die Höhe.

„Luft!!"

Ein Windwirbel fuhr in Spiralen um ihn herum und verwandelte ihn. Der Mantichor ging sofort zum Angriff über und holte mit einer seiner Pranken aus. Der Silberhaarige nutzte die Antriebskraft seines Elements, um seine Geschwindigkeit zu erhöhen und wich dem Hieb mit einem akrobatischen Sprung aus.

„Warum müsst ihr bösen Jungs immer gleich eure Schoßtierchen rufen?"

„Weil es unfair ist. So macht es mehr Spaß."

„Von dieser Seite habe ich das noch nie betrachtet..."

Während der Soldat des Krieges amüsiert die Bemühungen des Herrn der Stürme beobachtete, den das Ungeheuer offensichtlich als seine nächste Mahlzeit einstufte, war Kenny zu Ozuma geeilt und untersuchte seinen Zustand.

»Er ist nicht tot, sondern nur bewusstlos... trotzdem ist sein Puls besorgniserregend schwach. Und auch seine Aura ist fast verschwunden. Ich glaube nicht, dass es unserem Feind um die rein physische Vernichtung geht. Er hat seine Seelenenergie förmlich aus ihm... herausgesogen! Was soll ich tun? Wenn ich doch nur schon ein Pfeiler wäre!«

Aber ungeprüft war er nur ein einfacher Mensch. Ein einfacher Mensch mit dem Potenzial zur Magie, ein Umstand, den er, wie die Heilige Schildkröte behauptet hatte, seiner starken Seele verdankte. Er hatte das nie recht geglaubt. Seine Steckenpferde waren Wissenschaft und Technik, also jene Dinge, die sich durch Vernunft und Logik begründen, erklären oder begreifen ließen, und zu denen er einen konkreten Bezug herstellen konnte. Der epische Kampf Gut gegen Böse, in den er hineingeraten war, hatte sein wohlgeordnetes Leben über den Haufen geworfen und forderte von ihm einen Einsatz, den zu erbringen er sich nicht bereit fühlte. Er war kein Feigling, aber dennoch hatte er Angst. Selbst seine überdurchschnittliche Intelligenz konnte ihm nicht helfen, wenn sie nicht mit irgendwelchen magischen Fähigkeiten oder kämpferischem Können einherging. Gegen Monster wie den Mantichor oder Typen wie diesen Phantom war er machtlos. Welche Stärke meinte der Schutzgott in ihm erkannt zu haben? Warum er? Er hielt nichts davon, im Rampenlicht zu stehen. Schon damals bei den Bladebreakers war es so gewesen. Er war der Ratgeber, der Mechaniker, der Stratege abseits der Arena - er war derjenige außerhalb der Duelle, der Beobachter. Eine Rolle, mit der er zufrieden war und die ihm lag.

»Was hat Draciel sich bloß dabei gedacht, mich auszuwählen? Meine Freundschaft mit Dizzeira macht mich noch lange nicht zu einem Wächter. Ich bin nicht so willensstark wie Tyson, so stolz wie Kai, so optimistisch wie Max oder so entschlossen wie Ray. Warum ich? Warum ich?!«

„Oho, ein Zweifler! Nein, das ist ja entzückend!"

Kenny fuhr auf und starrte die grausig weiße Maske mit den roten und goldenen Verzierungen an wie ein Gespenst. Obwohl sie an den Karneval von Venedig gemahnte, trug das aufgemalte Lächeln nicht dazu bei, ihn zu beruhigen, vielmehr verlieh es dem Ganzen etwas grotesk Überzeichnetes, Falsches, Verlogenes. Mit Augen wie Schlitzen und dem sehr breiten lachenden Narrenmund erinnerte es eher an Wahnsinn als an Fröhlichkeit. Er musste schlucken.

„Ich gebe zu, dass mir auch nicht ganz klar ist, weshalb der Schutzgott des Wassers ausgerechnet dich auserwählte, Bürschchen! Natürlich, die Schildkröte symbolisiert Wissen und Weisheit, folglich hat Draciel eine Schwäche für intelligente Jünglinge, aber welche Qualifikationen hast du sonst zu bieten? Eine starke Seele, heißt es. Nun, ich werde es erproben! Mach dich bereit!"

Er sprang ihn an wie ein Raubtier und packte zu, die erbarmungslosen Hände schlossen sich um den ungeschützten Hals wie eine Zange. Automatisch versuchte er, sich zu wehren, zerrte an den Armen seines Angreifers, rief um Hilfe. Hiro wirbelte herum, schlitzte dem Mantichor das linke Vorderbein auf und schickte sich an, Kenny zu befreien, als die Kreatur, nun verletzt und zornig, ihren riesigen Skorpionschwanz dazwischen warf und ihn zu Fall brachte. Der Ältere fluchte, rollte sich zur Seite, als der Schwanz mit hochgerecktem Stachel erneut ausholte und eine tiefe Kerbe in den Boden schlug und schleuderte der Bestie eine Ladung Shuriken aus Windströmen entgegen, die Stirn, Schultern und Rumpf trafen. Blut spritze hoch, die Wut des Mantichors steigerte sich zur Raserei.

Scheiße.
 

Inzwischen hatten die meisten Mitglieder der Zwölf das Krankenhaus verlassen, nur die Prinzen, Mr. Dickenson, Bryan und die übrigen Ersten Vasallen sowie Daichi waren geblieben. Tyson schlief tief und fest, ohne zu ahnen, dass Kai an seinem Bett saß. Der Sturm hatte nachgelassen, aber es goss immer noch wie aus Eimern. Das gleichmäßige Prasseln der Regentropfen war das einzige wahrnehmbare Geräusch, das die Stille störte. Der Russe stand auf, trat ans Fenster, blickte hinaus in die graue Außenwelt, drehte sich um, betrachtete das schlafende Antlitz und kehrte wieder zu dem Stuhl zurück, den er sich zurechtgerückt hatte. Seine Augen verblieben dabei unentwegt auf dem schönen Gesicht. Seine Hand näherte sich der Hand des Japaners, die regungslos auf dem Laken lag, hob sich, als mache sie Anstalten, sich um diese andere Hand zu schließen, doch dann sank sie neben ihr nieder, ohne sie zu berühren.

Und so saß er.

Mr. Dickenson und die übrigen hatten sich um den ovalen Tisch der ungemütlichen Sitzgruppe versammelt, die sich vor dem Korridor Richtung Krankenzimmer befand, schweigend, ernst, abwartend. Nicht einmal Daichi wusste etwas Auflockerndes beizusteuern; trotz der Erleichterung darüber, dass Tysons Leben gerettet war, belastete eine unerklärlich Anspannung die Atmosphäre. Als Max sich plötzlich erhob, schienen alle zusammenzuzucken.

„Airen? Wo willst du hin?"

„Ich habe jetzt die Gelegenheit, mit Tala zu sprechen."

„Du willst zu ihm?"

„Ja. Wo ist sein Zimmer, Bryan?"

„Es ist Zimmer 308, also im dritten Stock. Soll ich dich hinbringen?"

„Danke, nein. Ich finde es sicher allein."

Damit verschwand er. Ray sah ihm eine Weile nach und mit einem Mal überkamen ihn Erinnerungen an früher, an eine Zeit, als Beybladen das Größte für sie gewesen war und das Schicksal der Welt sie nicht bekümmert hatte. Er dachte an Max‘ strahlendes Lächeln, sein sonniges Gemüt, seine Unbeschwertheit... ein hilfsbereiter, freundlicher, herzensguter Junge, der jedoch auch zu einem echten Gegner werden konnte, den zu unterschätzen unklug war. Als er ihn damals kennenlernte, hatte er ihn sofort liebgewonnen. Aber aus irgendeinem Grund hatte er sich selbst während der sechs Jahre nach der Trennung des Teams nicht von dem Bild des jüngeren, kindlicheren, naiven Amerikaners lösen können, er hatte sogar außer Acht gelassen, dass Max ebenso wie er älter wurde. Warum, konnte er nicht genau sagen. Max war so, wie er war, ein Freund, vielleicht ein bisschen wie ein kleiner Bruder. Dass er sich verändern, reifen könnte, diese Idee hatte ihn nie auch nur gestreift. Ihre erste Begegnung anlässlich der neuen Weltmeisterschaft hatte ihn daher regelrecht umgeworfen. Er musste schmunzeln. Die Vorstellung von Max als kleinem Jungen war in seinem Gedächtnis so fest verankert, dass ihn jener attraktive junge Mann mit dem sprühenden Charme und dem schöngewachsenen Körper, der ihn am Flughafen begrüßt hatte, vollkommen aus dem Konzept gebracht hatte.

»Ich fühlte mich sofort zu ihm hingezogen, obwohl ich anfangs ganz und gar nicht damit einverstanden war. Schließlich war er einer meiner besten Freunde. Ich konnte mich doch unmöglich in einen von ihnen verlieben! Aber solche Dinge lassen sich nun einmal nicht beeinflussen. Es...«
 

Sein Gedankengang brach abrupt ab, als der Achtzehnjährige plötzlich zu ihnen zurück rannte, als wäre der Teufel selbst hinter ihm her. „Hades!" war alles, was er sagte, aber es genügte. Er eilte den anderen Wächtern und den beiden Zaubermeistern voraus zum Eingang der Station, wo normalerweise eine gewisse Betriebsamkeit herrschte, die diesmal nicht zu bemerken war - und das war kein Wunder, denn die Menschen wirkten wie erstarrt; eingefroren in ihren Bewegungen, als hätte jemand die Zeit angehalten. Hades, in einer riesenhaften Projektion seiner Selbst, umgeben von schwarzen Wolken und seltsamen blutroten Schwaden, trug eine reichverzierte Rüstung mit Umhang, auf seinem Kopf thronte ein Helm in Form eines Schlangenhauptes. Mr. Dickenson trat vor, der Schamanenstab erschien in seiner Hand.

„Was willst du hier, du wandelnder Alptraum?"

„Dies ist ein offizieller Besuch, Zaubermeister Diomedes." Seine kalte Stimme, magisch verstärkt, dröhnte beinahe schmerzhaft in ihren Ohren. „Die vier Apokalyptischen Reiter sind vereint. Sie werden meine Armeen in die Schlacht führen. Blickt also dem Unvermeidlichen ins Auge, Wächter von Eden: Hiermit... erkläre ich euch den Krieg!!"

An das Ende seiner Worte setzte er noch ein bösartiges, höhnisches Gelächter, bevor er in einem Schwall zuckender schwarzer Blitze verschwand. Sein Bann löste sich auf und das Krankenhauspersonal erwachte aus seiner Erstarrung, als wäre nichts geschehen. Mr. Dickenson stand nun seinerseits wie versteinert, die Hand, die den Stab hielt, zitterte heftig, seine Augen hatten sich vor Schreck geweitet.

„Es ist soweit...", murmelte er tonlos. Ihm wurden die Knie weich, er schwankte und Daichi sprang hinzu, um ihn zu stützen. Nachdem der alte Mann eine Weile tief ein- und ausgeatmet hatte, hatte er sich wieder in der Gewalt.

„Informiert mich, falls Tyson aufwachen sollte. Ich muss unverzüglich zum Tokyo Tower!"

Er verließ das Hospital so schnell wie seine Beine es ihm erlaubten, schlüpfte in eine Seitenstraße und teleportierte sich von dort direkt zum Wahrzeichen der Stadt.

„Was hat er vor, Daichi?", erkundigte sich Ray bei dem rothaarigen Priester in Ausbildung.

„Was glaubt ihr wohl?", entgegnete der Fünfzehnjährige ernst. „Hades hat seine Hauptleute zusammengerufen und seine Armeen gesammelt. Er hat uns offiziell den Krieg erklärt. Wir werden also dasselbe tun. Unsere Streitkräfte einen und mobilisieren."

„Du meinst... Code Omega?"

„Ja. Ich meine Code Omega."
 

Es war ein gewöhnlicher Wochentag und zudem erst zehn Uhr, daher war der Tokyo Tower nicht so überlaufen wie sonst. Die wenigen Besucher achteten nicht auf Mr. Dickenson, wofür er dankbar war. Er würde zwar hinterher ein paar Vergessenszauber anwenden müssen, aber das musste er in diesem Fall akzeptieren. Er stand direkt unter dem Turm und mit einem Wink seines Stabes verwandelte er sich in Zaubermeister Diomedes. Einigen Passanten fiel er aufgrund dessen nun doch auf. Jaja, Vergessenszauber... Er schloss die Augen, konzentrierte sich und richtete den Stab gen Turmspitze. Ein magischer Kreis mit allerlei verschnörkelten Symbolen zeichnete sich wie von Geisterhand in den Boden zu seinen Füßen, glühte rot auf und das Leuchten griff auf den Körper des alten Mannes über. Der Kreis veränderte sich langsam und nahm schließlich die Form des Buchstaben Omega an. Als der Buchstabe plötzlich verschwand, erschütterte ein Beben die nähere Umgebung und eine Art Druckwelle schien sich über die gesamte Stadt hinweg auszubreiten. Diomedes war zufrieden. Er hatte das Signal ausgesandt. Jetzt hieß es warten.
 

~~ Deutschland, Schwarzwald ~~
 

Robert Jürgen (eigentlich ‚von‘ Jürgen), Abkömmling einer uralten germanischen Familie, wohnhaft in einer fast ebenso alten Burg, die über Generationen hinweg weitervererbt worden war und sich einer farbenprächtigen persönlichen Geschichte erfreuen durfte, schlief gerade den Schlaf des Gerechten, als er höchst unsanft geweckt wurde. Sein Butler stand dicht neben seinem Bett, holte einmal tief Luft und schreckte seinen Herrn mit einem lautstarken „Euer Gnaden!!!" aus seinen Träumen auf. Robert gähnte herzhaft, versuchte, durch seine schlafverkrusteten Augen zu blinzeln und warf einen Blick auf die Uhr.

„Es ist zwei Uhr morgens, Alfred. Ich hoffe für Sie, dass Sie einen guten Grund dafür haben, mich zu dieser Unzeit aufzuscheuchen. Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie mich nicht ‚Euer Gnaden‘ nennen sollen..."

„Euer Durchla..."

„Und erst recht nicht ‚Euer Durchlaucht‘!!" Er gähnte erneut. „Also, was ist los?"

„Herr Baron..."

„Ja? So reden Sie doch, Sie zittern ja wie Espenlaub!"

„Es ist soweit, Herr Baron.", erklärte der treue Diener mit bewegter Stimme. Der 21jährige Adelige sah ihn ungläubig an, sprang im Bruchteil der nächsten Sekunde aus dem Bett, rannte aus seinem Zimmer und die Treppe hinunter, in den Großen Salon, in dem er bei Besuchen seine Gäste zu empfangen pflegte. Der beeindruckende Raum mit der hohen Decke und dem barocken Kamin war in ein rötliches Licht getaucht. Über dem Kamin hingen ein Schwert und ein versilbertes Schild mit dem Wappen der Familie, einem Hippogreif in Profilansicht, dargestellt als blaue Silhouette. Die Klinge und das Schild stammten noch aus der Zeit von Eden und gehörten traditionsgemäß dem amtierenden Baron. Über der Zeichnung des Hippogreifs war ein griechischer Buchstabe erschienen, von dem das Licht ausging.

„Omega...", flüsterte der Wächter erschüttert. Er ballte die Fäuste, ein entschlossener Ausdruck trat in sein markantes Gesicht. „Nun sind wir also im Krieg... ich wusste ja, dass es eines Tages soweit sein würde... alle Bluterben wussten es. Es ist unsere Bestimmung. Wecken Sie Griffolyon, Alfred. Sagen Sie ihm, es ist Zeit."
 

~~ Großbritannien, England, London ~~
 

Victoria Knight, Spitzname „Queen", las immer noch den überaus spannenden Krimi, den sie sich neulich gekauft hatte und nahm keinerlei Kenntnis davon, dass die Pendeluhr bereits ein Uhr morgens schlug. Plötzlich meinte sie, so etwas ähnliches wie ein Beben zu spüren und sah von ihrem Buch auf. Was war das? Der Eindruck war so flüchtig, dass sie beinahe glaubte, es sich nur eingebildet zu haben, als ein furchtbarer Verdacht in ihr aufstieg. Sie stürzte in das Zimmer ihres Bruders Arthur, der wieder einmal schnarchte wie ein ganzes Sägewerk.

„Arthur, wach auf!! Hörst du nicht?! Arthur, du sollst aufwachen!!"

Sie rüttelte ihn unsanft, doch er blinzelte nur kurz, murmelte irgendetwas Unverständliches und drehte sich auf die andere Seite.

„Verdammt nochmal, King!! Steh auf!!"

Arthur, der auf seinen königlichen Spitznamen reagierte wie Hunde auf Schinken, riss die Augen auf, erhob sich und fragte besorgt: „Was ist los, Schwesterherz?"

Sie antwortete nicht, sondern packte ihn an der Hand und zerrte ihn hinter sich her zum Büro ihres Vaters. Mr. Knight und seine Frau begegneten ihnen auf halbem Weg und gemeinsam stürmte die Familie in den Raum, in dem ein rötliches Licht glühte. Hinter dem imposanten Schreibtisch hing das Gemälde eines grauhaarigen Mannes mit Schnurrbart, der eine ungewöhnliche Uniform in einem dunkelbraunen Farbton trug. Neben ihm war seine Gemahlin abgebildet, ebenfalls in einer Uniform. Sie waren jenes Paar aus Eden, auf das die Familie Knight ursprünglich zurückging. Und auf diesem Gemälde prangte, feurig rot, der Buchstabe Omega wie ein Warnsignal. Die Geschwister verschränkten unwillkürlich ihre Hände miteinander. „Was wird jetzt geschehen... Vater?"

„Das, was immer unabwendbar für uns war, mein Sohn... Geht packen. Wir brechen heute noch auf!"
 

~~ Großbritannien, Schottland, Highlands ~~
 

Ruben McGregor und seine gesamte Sippschaft starrten zur selben Zeit auf denselben Buchstaben, der auf dem Boden der Eingangshalle erschienen war. Unter den Dielen befand sich in einer Kammer das Schwert von Rubens Vorfahren aus Eden, dem ersten Clanoberhaupt. Der Hüne betrachtete das leuchtende Symbol mit bemerkenswerter Ruhe, während Johnny, umringt von seinen älteren und jüngeren Geschwistern, Olivier an seiner Seite, das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.

»Code Omega ist ausgerufen...! Natürlich habe ich damit gerechnet, aber nun, da es wirklich passiert ist, spüre ich meine alte Angst wieder hervorbrechen! Krieg bedeutet Töten und Sterben. Bisher waren wir mehr oder weniger unberührt von den Kämpfen in Tokyo, aber das ist jetzt endgültig vorbei. Die Zusammenkunft aller Wächter ist befohlen worden...«

„Johnny?", klang Oliviers leise Stimme an seine Ohren und zwei Arme schlangen sich um die Taille des Rothaarigen. „Du hast mir Mut gemacht und mir Trost zugesprochen, als ich Omega von mir weisen wollte, als ich mir einzureden versuchte, dass es nie soweit kommen wird. Du hast mir Kraft gegeben, obwohl du genausoviel Angst hattest wie ich. Nun bin ich an der Reihe. Ja, wir sind im Krieg, mon chér. Aber die Prinzen zählen auf uns. Unsere Familien zählen auf uns. Diese Welt zählt auf uns. Das Gleichgewicht der Schöpfung ist zerstört worden, doch wir können es vielleicht wiederherstellen, wenn wir den Ursprung dieser Zerstörung vernichten - und das ist Hades. Außerdem glaube ich an dich. Wirst du kämpfen?"

Der Hüter von Salamulyon musterte seinen Liebsten mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung. Die Züge des Franzosen waren ernst und gefasst, jede frühere Zartheit verschwunden. Er hatte sich offenbar entschieden. Was war mit ihm?

»Ich bin ein Feuerwächter. Ich gehöre zum Gefolge Suzakus. Als kleiner Junge wollte ich, mit einem großen Stock bewaffnet und einem Handtuch als Umhang, immer in die Schlacht ziehen und habe mir den Moment, da ich Seiner Hoheit gegenüberstehen würde, in meiner Fantasie ausgemalt und durchgespielt. Damals hatte ich noch nicht begriffen, dass Edens Geschichte Wirklichkeit war... und die Wirklichkeit ist etwas anderes. Ich könnte sterben. Ha...!«

Aus irgendeinem seltsamen Grund musste er plötzlich grinsen.

»...Aber welcher Feuerwächter würde schon aufgeben und davonlaufen, wenn es zu kämpfen gilt? Sich vor einer Herausforderung drücken? Vater würde mir die Hölle heiß machen, von dem ehrenwerten Schutzgott Dranzer gar nicht erst zu reden... und schließlich... habe ich mir nicht selbst versprochen, der Gefahr ins Auge zu blicken?«

Er wand sich aus der Umschlingung und drückte Olivier einen Kuss auf die weichen Lippen.

„Ja. Ich werde kämpfen."
 

~~ USA, Bundesstaat Georgia, Atlanta ~~
 

Sheila Connor saß auf der Couch im Wohnzimmer und zerknüllte mit nervösen Fingern ein Taschentuch. Ihr Gesicht war tränenlos, aber sie bebte an allen Gliedern. Ihr Schwiegervater, Owen Connor, von ebenso beeindruckender Statur wie sein Sohn Rick, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihm fiel nichts ein, das sie hätte trösten können. Es war kurz nach zwanzig Uhr und auf der Kommode unter dem Fernseher, in dem Rick in einer Schachtel verschiedene Erbstücke aus Eden aufbewahrte (er bevorzugte dafür einen unauffälligen Ort), brannte groß und bedrohlich der Buchstabe Omega. Amelia Connor, die gerade ihre Enkelkinder ins Bett gebracht hatte, brach das bleierne Schweigen.

„Ist jetzt bald mal Schluss mit diesen Trauermienen?! Ihr tut gerade, als hätten wir das nicht von Anfang an gewusst! Du genauso, Sheila! Du bist keine Bluterbin, aber nichtsdestotrotz hast du Rick geheiratet! Warum?"

„Weil ich ihn liebe.", lautete die kaum hörbare Antwort.

„Ja! Er hat dich nie über unsere Aufgabe oder sein Schicksal belogen. Mein Liebes... ich weiß sehr gut, wie du dich im Moment fühlen musst. Aber jetzt den Kopf in den Sand zu stecken, bringt nichts! Vertraust du ihm?"

„Natürlich! Aber... aber..."

„Kein Aber! Dann vertrau darauf, dass er sicher zu dir und deinen Kindern zurückkehrt! Unkraut vergeht nicht, nicht wahr? Und außerdem werden seine nicht mehr ganz so jungen Eltern dabei sein und auf ihn aufpassen! Meinst du etwa, das schaffen wir nicht?"

Sheila lächelte scheu. Die etwas joviale Herzlichkeit ihrer Schwiegermutter tat ihr wohl und befreite sie aus der nervösen Trance, in die sie gefallen war. Der Schreck, den ihr das unerwartete Auftauchen des Symbols versetzt hatte, ließ allmählich nach.

„Ihr beide werdet also gehen?"

„Ja, Liebes.", erklärte Owen sachlich. „Wir werden gehen."
 

In der Unterwelt ahnte man noch nichts von der Aktivierung des Codes Omega, zumindest hatte Hades es noch nicht für nötig befunden, seine neuen Soldaten darüber zu informieren, weshalb sie ein wenig untätig und gelangweilt im Beratungszimmer hockten, um einen rechteckigen Tisch herum, mit klarer Stirnseite, gekennzeichnet durch eine Art Thron und je zwei Stühlen links und rechts. Phantoms Platz war leer, daneben saß Deimos, der lässig seine Beine auf die Tischplatte befördert und seine Arme im Nacken verschränkt hatte. Die zwei Gestalten ihm gegenüber lagen im Schatten.

„Seine Majestät hat doch die Kriegserklärung ausgesprochen, oder? Warum ruft er uns nicht zu sich?", stieß eine der Gestalten verärgert hervor.

„Es ist nicht an uns, Seiner Majestät Vorschriften zu machen. Er wird uns rufen, wenn er es für angebracht hält.", erwiderte Deimos herablassend. „Ihr solltet lieber dankbar sein, dass er euch seine Gunst gewährt, anstatt euch zu Dämonenfutter zu verarbeiten."

„Aber Phantom wurde ausgeschickt, die Auserwählten zu töten! Warum lässt er das nicht mich erledigen? Ich würde leichtes Spiel haben mit diesen Möchtegern-Pfeilern!"

„Du hast absolut keine Ahnung. Hiro ist nicht irgendwer. Selbst wenn du ihm kampftechnisch überlegen wärst, würdest du dir an seiner Willenskraft die Zähne ausbeißen. Es ist mächtigeren Männern als dir so ergangen, also plappere nicht so einen Unsinn daher! Ich traue auch Ozuma und diesem Kenny nicht. Die Schutzgötter sind keine Narren. Sie irren sich selten. Phantom ist der Stärkste von uns - nach mir, versteht sich. Ihm könnte es viel eher gelingen als euch, die Auserwählten zu töten."

„Und warum hat Seine Majestät dann nicht gleich dich geschickt?", erkundigte sich die andere Gestalt mit einem boshaften Unterton.

„Weil ich erst die beiden Idioten, die hier sitzen, auf Vordermann bringen muss, bevor sie für den Dienst im Namen von Lord Hades würdig sind."

„So? Und es ist nicht etwa wegen deiner beklagenswerten Neigung zu diesem silberhaarigen Schwertschwinger? Vielleicht misstraut dir Seine Majestät inzwischen."

Der Krieger des Todes schoss aus seiner Position hoch, seine schwarzen Augen schleuderten Blitze. Nur mühsam zügelte er seinen Zorn. Seine Stimme war schneidend kalt.

„Neigung? Neigung!?! Wie kannst du es wagen?!"

„Nun, es ist doch recht seltsam, dass du es immer noch nicht geschafft hast, den Bruder des Drachenhüters zu beseitigen, obwohl es dir schon oft genug befohlen wurde. Du empfindest etwas für ihn, stimmt‘s?"

Deimos zuckte zusammen, als hätte man ihn geohrfeigt. Unweigerlich erinnerte er sich an all die Augenblicke, die er mit Hiro zugebracht hatte: Streitereien, Kämpfe, Berührungen... besonders der Kuss. Dieser verfluchte, erniedrigende, herrliche, grausame Kuss!! Diese Lippen auf den seinen, behutsam und doch gebieterisch, voller Leben und Wärme und Liebe... In jener Nacht nach der letzten Auseinandersetzung hatte er von Hiro geträumt und dieser Traum hatte ihn entsetzt bis in die Grundfesten seines Wesens. Sinnliche Träume hatte er zuvor auch durchlebt, ausgelöst durch seine Begierde - aber das war anders gewesen. Nicht nur, dass er lächerliche Dinge wie Küssen und Streicheln und ähnliche unerwünschte Zärtlichkeiten genossen hatte, nein, es war ein Traum über

seine Unterjochung gewesen, nicht die Hiros!

Eine Weile stand er zitternd da, dann zog er in einer raschen Bewegung sein Schwert und hielt es seinem Gegenüber an die Kehle. Er ritzte die Haut, bis ein feiner Streifen Blut am Hals hinunter rann.

„Solltest du diesen Satz jemals wiederholen....töte ich dich. Hast du verstanden?"

„J-ja, Sir Deimos..."

„Gut. Und vergiss es nicht."

»Sei verdammt bis in alle Ewigkeit, Hiro Kinomiya! Ich werde die niemals verzeihen, dass du mich geküsst hast! Du wirst dafür büßen, das schwöre ich!!«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  jyorie
2013-06-13T14:44:50+00:00 13.06.2013 16:44
Hallo ^_^

Die Geschichte hat mir gut gefallen, eine Interessante Welt die du hier erschaffen hast mit den Wächtern und den Prinzen und den ganzen Hintergründen und Bluterben. Sehr umfangreich. (Auch wenn ich immer noch Probleme mit dem zuordnen der Charas habe) Aber du hast es sehr schön geschrieben und mir hat es gefallen :D

CuCu Jyorie

Von: abgemeldet
2011-06-21T21:47:17+00:00 21.06.2011 23:47
Hi, Aeon1989 hier^^

Himmelsakramentenvogeleier! Diese Spannung ist ja jenseits von Gut und Böse. Die Wächter, King und Queen, das hat mich am meisten überrascht.
Ich denke, ich spreche im Namen der gesammten Brigarde, die dieses Kapitel gelesen hat, wenn ich sage, dass ich es nicht mehr erwarten kann und jede Zelle meines Körpers, diesem epischen Showdown entgegenfiebert

Ich gebe diesem Kapitel ein A

Viele Grüße

Aeon 1989


Zurück