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Analgeticum

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Analgeticum
 

Kennen sie dieses Gefühl? Wenn sie aufwachen, an die kahle Decke glotzen und ihnen schlagartig bewusst wird, dass sie einen verdammten Fehler begangen haben?

Sicher. Sie sind Menschen, Menschen machen nun einmal Fehler, nicht wahr? Das wissen sie, das brauche ich nicht zu erzählen und im Endeffekt verschwende ich hiermit doch nur Papier und eine Menge Platz, der anders genützt viel sinnvoller gewesen wäre. Worauf ich hinauswill? Warum so ungeduldig? Halten sie mich für einen Schwätzer? Dann rate ich ihnen, hören sie auf zu lesen, und das ist ein gutgemeinter Rat. Ich habe Zeit. Ich werde mich nicht kurz fassen.

Vielleicht fragen sie sich, warum ich mich überhaupt dazu entschlossen habe, diese Geschichte zu Papier zu bringen. In dem Fall rate ich ihnen, das ganze erst einmal zu Ende zu lesen, bevor sie sich ein Urteil erlauben. Falls sie zu jenen unerträglichen Menschen gehören, die alles und jeden erst einmal in Frage stellen, so sei ihnen gesagt: Ich möchte sie zum Nachdenken bringen. Und wissen sie was? Das ist keineswegs so edel und gönnerhaft, wie sich das jetzt anhört, wenn sie autoritäres Gewäsch hören möchten, dann sollten sie ernsthaft darüber nachdenken, ihre Schullaufbahn noch einmal von vorne zu beginnen. Nein, was ich möchte, greift viel tiefer in meine eigene kranke Seele. Wissen sie, ihr Schubladendenken, ihre schwarz-weißen Moralvorstellungen kotzen mich dermaßen an, dass ich ihnen ein Stück von dieser Abneigung mit auf den Weg geben möchte, bevor ich zum Telefonhörer greife und eine Nummer wähle, die unsere viel belächelten apokalyptischen Reiter mit Blaulicht herangaloppieren lässt. Sie werden mich festnehmen, in eine dieser gemütlichen, weißen Jacken stecken... sie wissen, wovon ich rede? Diese fröhlichen Jacken, mit denen man sich einfach den ganzen Tag lang selbst umarmen muss. Lachen sie nur, ich sehe doch, wie sie mich jetzt belächeln, aber wissen sie was? Wenn ich ihr beschissenes Weltbild auch nur um den Bruchteil eines Millimeters aus seinen schizophrenen Fugen werfen kann, dann bin ich glücklich, bei Gott, und wenn ich den Rest meines Lebens in einer freundlichen, weichen Zelle verbringen darf.
 

Nun, ich habe lange überlegt, wie ich meinen epischen Bericht beginnen lassen sollte. Wissen sie, bei einem Roman ist das so leicht. Sie haben ihre Protagonisten und sie haben ihr Abenteuer, aber glauben sie mir, wenn sie einmal in die unglückliche Lage geraten sind, selbst in der Doppelrolle von tragischem Held und Bösewicht agieren zu müssen, gewinnt ihr Unterfangen enorm an Schwierigkeit. Letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, direkt an einer Schlüsselstelle anzufangen, und jetzt raten sie doch einmal, warum. Um sie zu ärgern! Damit sie nicht ihre gottverdammte Morgenzeitung oder irgendeine dieser schwachsinnigen Talkshows - sie wissen schon, alles Elend dieser Welt kompakt vereint in 60 überflüssigen Minuten - dieser sicherlich einzigartigen Lektüre vorziehen, nun ja, einzigartig in einem negativen wie positiven Sinne. Ich will, dass sie weiterlesen, verstehen sie? Ich will ihr schockiertes Gesicht sehen!

Aber halt, ich schweife doch tatsächlich schon wieder ab. Um die Handlung kurz zu umreißen, dies ist die Geschichte von zwei Brüdern, wobei sie mich Kain nennen könnten. Ich bin sicher, auch wenn sie nicht zu den bibelfesteren Zeitgenossen unter uns zählen, Abels ach-so-tragisches Schicksal wird ihnen doch bekannt sein. Aber lassen wir das. Schließen sie lieber einmal ihre Augen. Natürlich sollen sie deshalb nicht aufhören, weiterzulesen, wo denken sie hin? Ich meine damit ein rein symbolisches Augenschließen. Nun, jetzt stellen sie sich vor, wie die warme Sommersonne ihre Haut wärmt. Eine schöne, warme Sonne, kein versengendes Ungeheuer, wo denken sie hin? Ein durch und durch angenehmes Gefühl. Dann ein ganz leichter Wind, so als ob eine Arme von Daunenfedern über das Land zieht und einen so weich wie eine Decke einhüllt. Denken sie an ein Gesicht, das Gesicht eines jungen Mädchens. Ein wunderschönes Ding mit großen, grünen Katzenaugen, feinen Lippen und diesem wundervollen bleichen Hautton mit nur ein paar wenigen Sommersprossen. Dieses Kunstwerk wird eingerahmt von langen, rotbraunen Haaren, kein Gold der Welt könnte schöner glänzen und leuchten. Dieses perfekte Wesen lehnt sich nun also an ihre Schulter und haucht ihnen zarte Liebesschwüre in ihr Ohr, ja, sie säuselt mit dem Wind um die Wette, und sie fühlen sich so unheimlich gut dabei.

Das ist schön, nicht wahr? Dann stellen sie sich vor, wie schön es erst wäre, wenn sie mit dem Rücken an eine dieser schönen alten Trauerweiden gelehnt auf einer kleinen Insel in einem Fluss sitzen, wenn glitzerndes Wasser dieses Eiland des Friedens sanft umspült, ein fröhliches Plätschern mit sich bringt, so wie Lachen oder der Klang von ganz hellen Glocken. Das Gras unter ihnen ist so weich wie eine Decke, und es bewegt sich immer ganz sanft hin und her. Die Augen ihrer Freundin glänzen so wundervoll, so unendlich glücklich, wenn das Mädchen sie mit ihren einzigartigen Blick ansieht...

Um auf den Punkt zu kommen: Genauso fand ich meinen Bruder eines schönen Sommertages - ja, ich glaube, es war ganz kurz nach seinem Geburtstag - zusammen mit besagtem Mädchen auf der Flussinsel nahe der Grundschule. Muss ich erwähnen, dass SIE zu diesem Zeitpunkt noch meine Freundin war? Wenn ich sage Freundin, dann meine ich auch Freundin, verstehen sie? Wir waren mehr als nur Kumpels, wir waren zusammen und ich schwöre, ich habe noch nie zuvor und nie wieder ein Mädchen so sehr geliebt. Ein wenig mehr als sieben Monate hatte diese Beziehung gedauert, und dann gestand mir meine geliebte Debbie, dass ihr Herz in Wahrheit viel mehr für meinen Bruder schlagen würde. Passen sie auf, der größte Witz kommt noch! Sie soll mich anfangs wirklich und aufrichtig geliebt haben, aber irgendwann hatte sie mich nur noch gesehn, um meinem lieben, lieben Bruder nahe zu sein, können sie sich so etwas vorstellen? Begreifen sie langsam, wie sehr ich diesen einen Menschen hasste, dessen Blut in meinen Adern floss, obwohl ich es verachtete? Sie müssen wissen, so wahr es mein ganzes Leben lang, er hat mir alles weggenommen, was ich jemals besessen habe, alles. Sie meinen, ich übertreibe? Denken sie nur, ich weiß es besser.

Nun, das ganze fing schon an, als wir noch kleine Kinder waren - ohne unverschämt wirken zu wollen, bei einem von uns dauerte dieser Geisteszustand sein ganzes Leben an. Sie kennen doch diese Babys, die alle Welt pausenlos knuddeln und auf dem Arm halten möchte? Diese widerlichen Gute-Laune-Kinder, aus denen in späteren Jahren meist die größten Arschlöcher der Nation werden, ganz einfach deshalb, weil sie ihr Leben lang nichts als verwöhnt, verhätschelt, vollgestopft und behütet wurden? Genau der Typ Mensch war mein Bruder in jungen Jahren. Wenn ich heute an seine blonden Löckchen und seine blauen Äuglein denke, bekomme ich spontan das Bedürfnis, mich zu übergeben.

Wie soll ich sagen? Ich war anders. So ein Intellektuellenkind, das kennen sie doch bestimmt. Diese furchtbaren, nervigen Wesen, die schon am Tag ihrer Einschulung die Glückwunschkarten in ihren Schultüten selber lesen und ihre Süßigkeiten zählen und so, ja, so etwas war ich. Ich bin ein eher schüchterner und stiller Mensch, glauben sie das? Wissen sie, was mich so sehr zum positiven verändert hat? Wunderbarer, süßer Wahnsinn! Vielleicht bin ich nicht wahnsinnig, wenn ich noch in der Lage bin, all das zu schreiben, aber sie müssen wissen, manche Irren sind hochintelligent. Aber ich schweife schon wieder von Thema ab.

Nun, mein Bruder war nicht einmal dumm, er war nur faul. Und jetzt raten sie einmal, wo stattdessen seine Talente lagen! Genau, im Sport, wo sonst? Ist es nicht so, dass alle geistigen Krüppel dieser Welt den Weg des Profisportes einschlagen? Ohne vorschnell urteilen zu wollen, sie müssen doch zugeben, dass die Spezies Mensch weit verbreitet ist, deren einzige gute Zeugnisnoten auf Körperkraft beruhen. Und soll ich ihnen noch etwas sagen? Solche Menschen machen mich krank!

Gut, auch ich entspreche in einer grausamen Art und Weise einem Klischee, und zwar dem des komplett unsportlichen Strebers. Und wie sollte es auch anders sein, in der Beliebtheitsskala der Klasse stand ich verdammt weit unten, vielleicht mit knapper Not noch über dem kleinen Stotterer, der sich mit Keksen und Hausaufgabendienst verzweifelt seinen Platz in dieser gnadenlosen Hierarchie verschaffen wollte. Ich wurde jahrelang ausgegrenzt und meine Schwäche an körperlichem Geschick wurde mein Verhängnis, meine Achillesferse sozusagen. Die Meute an eifersüchtigen debilen Schwachköpfen stürzte sich auf dieses gefundene Fressen. Oh, wie es ihnen Freude bereitete, mich mit Bällen zu bewerfen, mit Stolpern zu lassen, mich auszulachen oder mich zu verprügeln, wenn ich der Mannschaft den Sieg gekostet hatte. Soll ich ihnen etwas paradoxes sagen? Diese Tiere freuten sich jedesmal, wenn sie verloren haben, verschaffte ihnen das doch einen Grund, ihre Wut an mir auszulassen. Und aus lauter Solidarität halfen die lieben Gewinner fröhlich mit, und wie sie gelacht haben, glauben sie mir, dieses gierige Funkeln in ihren Augen werde ich mein Leben lang nicht vergessen! Ich ließ es mir nie anmerken, aber diese eine Tatsache, dass ich sportlich gesehen eine Niete war, machte mich fertig. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich heulend auf dem Schulklo sass, ich habe jeden dieser Tage gehasst und verflucht. Wen wundert es, was aus mir geworden ist?

Denken sie jetzt nicht, ich sei ein Schwächling. Ich hätte all diese Demütigungen vielleicht sogar verkraften können - vielleicht. Nur hatte dummerweise ein Jahr vor mir bereits ein anderer Junge in unserer Familie das Licht der Welt erblickt. Und ich erinnere mich noch heute daran, wie meine Mutter immer geschwärmt hat, wenn sie das gemeinsame Familienalbum durchblätterte. War doch auf diesen Seiten alles vermerkt, was man über das Leben eines blondgelockten Wunderkindes sagen konnte. Ach nein, diese putzigen großen Augen und sein Stupsnäschen! Und dann, wie er sich schon im Kleinkindalter von den anderen tobenden und unsinnigen Sport treibenden Kinder abhob, ist das nicht absolut fantastisch? Ja, so war er und deshalb liefen ihm auch alle Mitschüler und die Mädchen hinterher, vorrausgesetzt es störte sie nicht, ab und zu auf der Schleimspur dieses Menschen ausrutschen zu müssen. Eigentlich gab es nur eine Tatsache, über die ich mich immer wieder amüsieren konnte, wenn als Kind an ihn dachte: Meine Eltern tauften ihr Wundersöhnchen Robert. Würde ich meinen Bruder nicht so sehr hassen, ich würde ihn deswegen glatt bemitleiden.

Roberts Nachfolger - meine Wenigkeit - war wohl einfach nicht das, was sich die Familie gewünscht hatte. Und das ließen sie mich auch spüren. Nein, nein, sie behandelten mich nicht wirklich schlecht. Sie gaben sich wirklich große Mühe, ihre Vorlieben für ihren kleinen Spitzensportler zu verbergen, ja, sie gaben sich wirklich große Mühe. Aber vielleicht können sie sich denken, dass es doch ein wenig auffällig ist, wenn sie an meinem Geburtstag Überstunden machen, nur um eine Woche später frei zu haben, an genau dem verfluchten Tag, an dem mein Bruder das Licht der Welt erblickt hatte. Ja, ich sass meistens allein zu Hause, während alle anderen Kinder feierten. Ich hatte ja keine Freunde, die ich einladen konnte, verstehen sie? Das war eine dieser Kleinigkeiten, die ich meinen Eltern so sehr übel nahm - und immer noch übel nehme, falls es sie interessiert. Aber was sage ich? Schon die Tatsache, dass niemals meine Lieblingsgerichte gekocht wurden, dass sie zu einem Spiel meines Bruders dackelten, während ich mit 39 Grad Fieber allein zuhause lag, ja, es gab so viele Dinge, für die ich sie und vor allem ihren kleinen Schatz Rob gehasst habe.

Halten sie mich ruhig für kindisch, das ist ihre Meinung, und, verzeihen sie mir, aber sie haben ja keine Ahnung, worüber sie sich vorschnell ein Urteil bilden.

Dumm wie ich damals wohl noch war, meinte ich, ihre Liebe auf andere Art und Weise gewinnen zu müssen, und sie können sich vielleicht denken, worauf ich anspiele. Ich tat einfach das, was ich am besten konnte: Ich war gut in der Schule. Klassenbester. Mit jeder überragenden Zensur, jedem ausdrücklich vermerkten Lob in meinen stets tadellosen Zeugnissen hoffte ich, dass sie alle einmal, nur ein einziges Mal stolz auf mich waren.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass meine Mühen vergebens waren. Wie auch immer, ich hatte Blut geleckt. Ich wusste sehr genau, dass ich nicht nur intelligent, sondern schlicht und einfach hochbegabt war. Viele dieser kleinen Genies machen den Fehler, im langweiligen, unterfordernden Unterricht nicht mitzuarbeiten. Sie terrorisieren ihre Eltern auf eine meist selbstzerstörische Art und Weise, bis man sie auf irgendeine besondere Schule schickt oder sie schlicht und einfach um einige Klassen hochstuft. Ich stellte das Ganze weitaus geschickter an. Ich übersprang genau eine Klasse, und wissen sie auch, warum? Weil ich jetzt mit meinem Brüderchen auf einer Ebene stand. Ein direkter Wettkampf, verstehen sie? Und einmal in seinem gottverdammten Leben hatte Robert diesen Wettkampf schon von vornherein verloren.

Ich gebe zu, es war ein verdammt befriedigendes Gefühl, diesen perfekten Menschen permanent zu übertreffen. Ich genoss es, auch wenn ich mir unter meinen Mitschülern mehr Feinde machte, als mir lieb war. Verstehen sie, ich war nicht nur um Längen intelligenter als sie - schon allein das hätte wohl ausgereicht, mich zum absoluten Feindbild werden zu lassen - nein, zu allem Überfluss war ich auch noch beinahe zwei Jahre jünger als dieses vereinte Idiotenpack.

Außerdem waren sie die Freunde meines Bruders, ja, sie verehrten ihn. Wenn er sprach, hingen sie an seinen Lippen, fast als würde Jesus Christus persönlich ihnen gerade eben die Absolution erteilen. Sie gehorchten ihm natürlich auch aufs Wort. Wie Hunde, die man zum apportieren abgerichtet hatte. Such, Marty, such! Schon hatte der schärfste Konkurrent im Weitsprung ein paar gebrochene Finger. Such, Mill, such! Wenig später befand sich der tolle Füller der allgemeinen Klassenschlampe in seinen gierigen Händen. Robert war immer sehr radikal in der Verfolgung seiner persönlichen Ziele, und vielleicht hat gerade das ihn nach vorne gebracht. Aber soll ich ihnen etwas sagen? Ich verabscheute ihn dafür. Ich verabscheute dieses verwöhnte, skrupellose, egoistische Kleinkind für diese ganz und gar abstoßende Einstellung.

Richtig schlimm wurde es aber erst, als er begann, sich in mein Gebiet einzumischen.
 

Mit Sicherheit werden sie das nicht nachvollziehen können, aber in jenem schicksalhaften Moment, als er mich mit seinen von Hass flackernden, hellblauen Augen und diese Worte stammelte, die sich wie Feuer in mein Gedächtnis einbrannten, begann unsere ganz private Apokalypse. Die Götterdämmerung zog harmlos und unscheinbar an einem schönen Frühlingsmorgen ein.

Der Sommer stand unmittelbar bevor und es war schon ziemlich warm. Ich wusste, Mittags würde diese Wärme in Hitze umschlagen. Schweißtreibende, versengende Hitze, die den Boden des kleinen Basketballplatzes vor unserer Schule auf die Temperatur eines glühenden Stahldaches aufheizen würde. Waren sie schon einmal in einem dieser großen Bäckereibetriebe? Wo einem der widerliche Hitzedampf von zwei Dutzend gigantischen Maschinen entgegenschlug? In solchen Momenten kann man sich einen Schlag die Magengrube als etwas vergleichsweise angenehmes vorstellen. Nun, an Spätfrühlings-Frühsommer-Mittagen herrschten auf unserem Pseudo-Basketballplatz ähnliche Zustände, und ehrlich, wer einmal eine Sportstunde dort verbracht hat, kann mit gutem Gewissen sagen, er sei durch die Hölle gegangen.

Ich wusste, dass meiner Klasse an jenem Schicksalstag ebendiese Prozedur bevorstand, und ehrlich, ich legte weniger als keinen Wert auf solche eine vollkommen überflüssige Schikane. Ich wartete einige Stunden lang, dann ging ich während einer der kurzen Pausen zu unserem Klasslehrer und sagte, mir wäre übel, woraufhin er mich nach Hause entließ. Wissen sie, was ein entscheidender Vorteil davon ist, Klassenbester zu sein? Jeder Lehrer (und ich rede jetzt nicht von meinem Sportlehrer, den ich ohnehin viel eher als in die Jahre gekommenen Sadisten bezeichnen würde) wird sie ohne jegliche Vorbehalten entschuldigen, da es ja für so ein kleines Streberlein gar keinen Grund gibt zu schwänzen. Nun war es an mir, diesen Vorteil so geschickt wie möglich auszunutzen, und dies schien mir eine durchaus angebrachte Gelegenheit dazu. Ich packte also mit gespielter Leidensmine meine Sachen zusammen und stahl mich aus dem Klassenzimmer. Und als ich gerade aus dem hässlichen, grauen Klotz eines Schulgebäudes getreten war, da sah ich ihn.

Er war eilig nach draußen gelaufen, um sich zusammen mit Mill und Shana hinter die Müllcontainer zu verziehen und ehrfürchtig an ein paar billigen Kippen zu ziehen. Alle drei hatten diesen gleichzeitig verstohlenen, stolzen und irgendwie erregten Blick drauf, wie ihn nur Menschen zustande brachten, die im Begriff waren, irgendetwas geheimes, verbotenes und wahrscheinlich auch noch wirklich bescheuertes zu tun. Vielleicht klingt es gehässig, aber in diesem Augenblick machte mein Herz einen gewaltigen Freudensprung.

Ich hatte gerade meinen Bruder, den größten Saubermann des Universums, beim heimlichen Rauchen entdeckt.

Leider hatte auch er mich bemerkt, und trotz der Angst, die ich beim Anblick des wutschnaubenden Mills empfand, konnte ich das hämische Vergnügen nicht unterdrücken, dass das Entsetzen in seine Augen in mir wachrief.

Einige Sekunden später hatte mich ein braunhaariger Gorilla am Kragen gepackt und schüttelte mich, bis meine Ausrede allmählich zu einer Tatsache wurde. Ich schwöre, kein Schiff bei starkem Seegang kann heftiger Schaukeln als Mills ausser Kontrolle geratene Kraftsportlerarme.

"Lass ihn runter!" Die Stimme meines Bruders schien auch zu schwanken, aber das lag wohl an meinen durchgeschüttelten Sinnen.

Ich bekam spontan einen klaren Kopf, als Mill mich unsanft auf den Boden fallen ließ. Gegen meinen Willen rissen sich meine Augen weit auf und ich starrte die Gruppe angstvoll an. Shana lachte abfällig und warf mir irgendetwas unanständiges an den Kopf. Mein Bruder sah ganz ruhig aus, als er sich zu mir herunterbeugte und mich durchdringend ansah.

"Jetzt hör mir mal zu." Seine Stimme klang gelassen. "Damit wir uns verstanden haben, du hast nichts, ich wiederhole... NICHTS gesehn, kapiert?" Mill ließ seine Handknöchel bedrohlich knacken und ich nickte wie automatisch, ohne überhaupt wirklich zu wissen, wieso ich das eigentlich tat. Rob lächelte. "Brav."

Das war sein letztes Wort. Dann steckte er die Kippen ein und schlenderte zusammen mit seinen Anhängseln betont langsam in das Schulgebäude zurück, obwohl er genau wusste, dass er zu spät kommen würde.

Er steckte die Kippen in seine Tasche.

Ich musste lächeln über die Dummheit meines Bruders. Obwohl ich immer noch zitterte, als ich atemlos am Sekretariat angekommen war, erhob sich ein nie gekanntes Triumphgefühl in mir. Ich wusste, mit meinem Wissen würde ich Rob verdammt tief in die Scheiße hereinreiten. Ich wusste genauso gut, dass ich dafür die nächsten zwei Wochen nicht mehr aufrechte gehen könnte, aber ehrlich gesagt, dass war mir so egal wie eine Bodeneruption auf dem 14. Jupitermond, wenn sie verstehen, was ich meine. In diesem Moment zählte nur der Gedanke an eine gewaltige Menge Ärger für das Lieblingskind.

Und im Endeffekt war es noch viel besser als ich erwartet hatte.

Rob bekam zum ersten mal in seinem Leben Hausarrest, eine Strafe, eine richtige, echte Strafe und noch dazu einen Verweis von der Schule. Am schönsten war jedoch das beinahe lachhaft übertrieben geschockte Gesicht meiner Mutter, als sie ein ums andere Mal diesen wundervollen Satz murmelte:

"Ich bin enttäuscht von dir, Robby. Ich bin ja so enttäuscht von dir." Und dann: "Das hätte ich dir niemals zugetraut, nein, das hätte ich nicht von dir gedacht."

Das war Balsam, nein, das war das reinste Schmerzmittel für meine geschundene Seele.

Ich wusste, dass mein Körper bald ähnliche Mittelchen vertragen würde, ich wusste es ganz genau. Und die Strafe folgte genau eine halbe Woche später, an einem dieser heißen, stickigen Tage, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Die Schule war aus und der Strom der kreischenden, jubelnden Schüler drängte sich aus den Türen der Klassenzimmer wie eine Horde Ratten auf einem langsam sinkenden Schiff. Ich musste Lächeln bei dem Gedanken, dass die kleinen Fünftklässer wirklich etwas rattenhaftes an sich hatten, wie sie wuselten und quietschten. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn man eine ganze Sippschaft von ihnen in zu tiefes, kaltes Wasser schmeißen würde, und dieser Gedanke versetzte mich in einen Zustand leichter, beflügelter und verdammt guter Laune, die genau so lange anhielt, bis ich, ein klein wenig später als alle anderen, aus dem Schulgebäude trat.

"Hallo, KLEINER!" Ich erkannte die Stimme schon, bevor ich mich umdrehte und in die schmierige Sunnyboy-Visage meines Bruders sah.

"Dieser hasserfüllte Tonfall passt nicht zu dir..." meinte ich und zuckte mit den Schultern, obwohl ich wusste, dass eine derartige Aktion reiner Selbstmord war. Mein Bruder kochte wahrscheinlich vor Wut auf genau mich, und ich hatte nichts besseres zu tun, als diesen debilen Kraftprotz noch zusätzlich zu reizen.

Er trat auf mich zu und schlug mir ein paar Mal ins Gesicht. Dann packte er mich am Kragen, so fest, dass ich nicht einmal auf die Idee kam, mich zu wehren, und schleifte mich hinter ihm her, auf den Fleisch, pardon, Hartgummi gewordenen Alptraum meiner vielen schlaflosen Nächte: den Sportplatz. Als ich den ironischerweise dunkelroten, glühend heißen Boden dieses grausigen Ortes näher kommen sah, begann ich verzweifelt zu zappeln, aber sie können sich denken, dass meine Bemühungen nicht gerade von überwältigendem Erfolg gekrönt waren.

Rob stieß mit einem kräftigen Tritt das Eisengitter auf, dass mich noch von der Hölle trennte und wohl schon bald dort gefangen halten würde. Er warf mich auf den Boden und kniete sich auf meine ausgebreiteten Arme, und ich hatte in diesem Moment die irrsinnige Illusion, das Zischen von verbrennendem Fleisch zu hören. Der Schmerz trat erst einige Augenblicke später ein, aber dann so heftig und schneidend, dass ich gegen meinen Willen aufschrie. Seine Knie drückten meine Haut noch fester gegen den roten Hartgummiboden, der so heiß war wie glühendes Metall, oder die Spitze eines Zigarettenanzünders im Auto. Auf jeden Fall war es absolut unerträglich, und so schrie ich und schrie, bis er mir das Knie vor die Brust rammte, dass ich mich keuchend zusammenkrümmte und nicht mehr in der Lage war, einen Ton von mir zu geben.

"Jetzt hör mir mal zu, du kleine Ratte!" zischte er, sein makellos weißes Gebiss entblößt und das Gesicht zu einer Grimasse der Abscheu verzogen, die bei ihm schlicht und einfach grotesk aussah und unter allen anderen Umständen wohl belustigend gewirkt hätte. Ich wollte irgendetwas sagen, aber ich konnte nicht. "Du hast nicht nur dein VERSPRECHEN gebrochen (ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals irgendetwas versprochen zu haben, aber das schien ihn nicht zu kümmern), nein, wegen dir war MUM böse auf mich, wegen dir, du Arschloch! Geht das in dein dreckiges Streberhirn rein, ja, tut es das?"

Ich nickte ganz automatisch, der Wunsch, meine verbrannten Gliedmaßen von dieser Heizplatte abkratzen zu können, war stärker als mein Ehrgefühl. Und wissen sie was? In dieser Situation wäre das jedem so gegangen, jedem, auch ihnen.

Rob packte mich, riss mich auf die Füße und schleifte mich hinter sich her in Richtung Schulgebäude, wobei ich das in diesem Augenblick nicht wirklich mitbekam.

"Ich hasse dich, du kleiner Vixer!" zischte er, und meine feuerroten Arme schienen ebenfalls zu zischen, so heiß waren sie. Ich taumelte ein wenig. Rob nahm das zur Kenntnis, packte fester zu und ging ein wenig schneller. Mit einem Anflug von Entsetzen erkannte ich die Türe der Jungentoilette, auf die wir uns zubewegten. Mein Bruder stieß sie reichlich unsanft auf und ich malte mir im Geiste die schrecklichsten Dinge aus, die er nun mit mir anstellen würde. Ich sah mich gerade gekreuzigt an einer der weißen Klotüren hängen, als mein Bruder vor einem der Spiegel halt machte und mich hochriss, dass meine Füße etwa fünf Zentimeter über dem Boden baumelten.

"Schau dich an, du Hurensohn!" fluchte er. Verdammt, wir haben die selbe Mutter, hätte ich ihm gerne an den Kopf geworfen, aber ein Teil in mir weigerte sich, zu sprechen. Stattdessen gab ich ein leises, schmerzvolles Stöhnen von mir. Rob drückte meinen Kopf nach unten in die glänzend weiße Keramikschale des Waschbeckens und drehte dann den Wasserhahn auf volle Stärke auf. Ein eiskalter und verdammt harter Wasserstrahl schoss mir in den Nacken und lief dann über meinen Kopf. Ich zappelte und wollte mich aus Robs Schraubstockgriff befreien, aber selbstverständlich war dieses unterfangen ebenso vergeblich wie all meine Fluchtversuche zuvor. Ich keuchte. Das Wasser war wirklich verdammt kalt, aber vielleicht kam mir das auch nur so extrem vor, nach der Hitze da draußen. Mir wurde schwindelig, das Weiß vor meinen Augen begann zu flackern und verwandelte sich dann langsam aber sicher in einen flimmernden Strudel. In meinen Ohren begann es zu rauschen und ich hätte wohl das Bewusstsein verloren, hätte Rob mich nicht hochgerissen und mir mit all der Stärke seiner Bratpfannenhand ins Gesicht geschlagen.

Ich schnappte nach Luft und mein Bruder grinste gehässig. Dann hob er mich erneut vor den Spiegel. Er hatte sich wohl abreagiert und wollte nun mit seiner Moralpredigt vorfahren.

"Was sage ich, du sollst dich anschauen, bist du taub oder was?" Ich seufzte und richtete meine Augen auf mein Ebenbild im Spiegel. Was soll ich sagen? Ich sah bemitleidenswert aus. Mein schulterlanges, blondes Haar hing mir klatschnass und in wirren Strähnen in das gerötete Gesicht. Mein rechtes Auge war verdächtig am zuschwellen und meine Lippe war aufgeplatzt, ohne dass ich es bemerkt hatte. Das Blut lief mir über das Kinn und tropfte auf mein T-Shirt und in das Waschbecken, wo es einen kleinen, dunkelroten See bildete. Und trotz dieses doch recht erschreckenden Anblickes fiel mir wieder einmal störend auf, wie klein und zierlich ich neben meinem Bruder doch wirkte. "Jetzt schau dir an, was für ein hilfloses Stück Dreck du bist, siehst du das?"

"Lass... mich..." presste ich hervor und spuckte das Blut von meinen aufgeplatzten Lippen in das Waschbecken. Rob lächelte.

"Weißt du, Brüderchen, ausser deinem Hirn hast du nichts, du hast keine Freunde, du hast niemanden, nicht einmal deine Eltern lieben dich." Ich zuckte zusammen, und obwohl mein Gesichtsausdruck so kalt und unbewegt blieb, wie es mir in dieser Situation nur möglich war, sah ich die Genugtuung in seinen hellblauen Augen. "Und weißt du auch, was ich jetzt machen werde? Ich werde dich da treffen, wo es dir am meisten weh tut, ganz so, wie du es getan hast, du kleines Arschloch." Sein Griff lockerte sich. Meine Beine gaben unter meinem eigenen Gewicht nach und fiel auf die Knie. Meine Hände suchten einen Halt am Rand das Waschbeckens. Vergeblich. Ich rutsche ab und kippte vornüber auf die kühlen Fließen. Rob beugte sich zu mir herunter und sprach nun ganz langsam.

"Ich zeige dir, wie intelligent ich wirklich bin, Streber."

Ich hörte, wie er aufstand, wie sich seine Schritte langsam entfernten und dann die Türe des Schulklos in das Schloss fiel und mir ging ein Gedanke durch den Kopf: Um halb Fünf rückt die Putzkolonne an und dann bekommt mindestens eine arme Frau den Schock ihres Lebens. Ich brach in ein irrsinniges, manisches Kichern aus, dann verdrehte ich die Augen und verlor das Bewusstsein.
 

Ich will ehrlich sein: Anfangs hatte ich noch keine Ahnung, was Rob mit seiner Drohung gemeint hatte, und als ich es langsam begriff, war es schon zu spät. Ich bemerkte am Rande, dass er jetzt öfters zuhause war, seltener seine Clique traf und stattdessen mehr Zeit allein oder zusammen mit der intelligenten Cassie auf seinem Zimmer verbrachte (wobei ich mir zumindest in letzterem Fall dennoch nicht sicher bin, was die beiden wirklich dort getrieben haben). Aber erst nach der nächsten Klausur verstand ich das Ausmaß seines teuflischen Planes: Rob hatte angefangen, zu lernen. Und so absurd es auch klang: Er hatte Erfolg damit. Er wurde nicht so gut wie ich, aber zumindest so gut, dass meine Noten nicht mehr herausragend waren. Er verbrachte Stunden an seinem Schreibtisch, er quälte sich, aber er war glücklich damit, und wissen sie auch, warum? Weil Rob immer alles haben musste, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Wie schon erwähnt, im verfolgen persönlicher Ziele war er unglaublich radikal.

Nun, am Anfang war ich verunsichert. Dann fiel ich in ein tiefes Loch, als mir langsam bewusst wurde: Mein dummer Bruder machte mir, dem ewigen und einzigen Genie der Familie, ernsthafte Konkurrenz und verdammt nochmal, er konnte es. Ich kann mir denken, dass sich Robs Racheplan in ihren Ohren lächerlich anhört, aber ich will zumindest versuchen, ihnen den Sachverhalt zu erklären. Stellen sie sich doch nur einmal vor, sie leben in einer Welt voller überglücklicher, kerngesunder Menschen, die den lieben, langen Tag durch die Welt rennen und hüpfen und tanzen, weil sie eben einfach keine Sorgen haben und niemals müde oder schlapp werden. Sie sind reich und sie sehen allesamt supergut aus und überhaupt geht es ihnen einfach nur gut.

Und sie? Sie liegen irgendwo auf dem Boden, weil sie sich nicht bewegen können. Ihr Gesicht und ihr ganzer Körper sind von abscheulichen, eitrigen Beulen und Geschwüren übersäht, aus ihrer Brust wächst ironischerweise ein drittes Bein (das sie selbstverständlich auch nicht benutzen können, fragen sie erst gar nicht!), ihre Zähne sind ihnen schon vor der Geburt ausgefallen, sie haben nur noch ein Auge, hören können sie eh nicht und Familie oder Freunde haben sie niemals besessen. Aber es gibt eine Sache, die sie all diesen Übermenschen voraus haben: Sie können lachen. Als Einziger. Im Grunde genommen haben sie absolut keinen Grund zum lachen, aber sie tun es, nicht nur, weil es das einzige ist, was sie überhaupt können, sondern weil sie genau wissen, dass ausser ihnen NIEMALS jemand lachen können wird, genauso wenig, wie sie all die tollen Dinge beherrschen können, die ihren überglücklichen Mitmenschen möglich sind.

Und nun stellen sie sich vor, da kommt eines Tages eines dieser durch und durch perfekten Wesen, zeigt ihnen den Mittelfinger und bricht in ein gehässiges Lachen aus, lacht und lacht und lacht, und hört überhaupt nicht mehr auf zu lachen, und sie liegen im Dreck und haben plötzlich das beschissene Gefühl, dass ihnen ihre letzte und einzige Freude auch noch genommen wurde und sie jetzt einfach nur noch wertlos sind. Verstehen sie das? Wahrscheinlich nicht. Wie könnten sie auch?

Nun, für mich war es die Hölle. Ich stand ganz plötzlich mit leeren Händen da, sicher, ich konnte mich ein wenig mehr anstrengen, konnte noch eine Klasse überspringen und allen zeigen, dass mein Bruder niemals so intelligent sein konnte wie ich, aber dann wäre ich weggelaufen wie ein feiger Hund, und diesen Triumph wollte ich Rob nicht gönnen. Er wollte Krieg? Den sollte er haben!

Unsere Schlacht hatte hiermit begonnen.
 

Mein Gegenschlag begann mit einem absoluten Killer. Ich schlich mich nachts in das Zimmer meines liebsten Geschwisterchens und stahl seinen Schatz: Sein Briefmarkenalbum. Er hatte diese Teile gesammelt, seit er sieben war, und das lag nun wirklich schon eine sehr lange Zeit zurück. Sie können sie diese Adrenalinschübe gar nicht vorstellen, als ich das verfluchte Ding mit Lampenöl tränkte, an ein Seil band und dann damit auf den Dachboden kletterte. Ich stellte mich an das Fenster, das sich genau über dem vom Zimmer meines Bruders befand, und entflammte das Album mit einem Streichholz, kurz bevor ich es hinunterwarf. Und was für ein hübsches Freudenfeuerchen das doch gab! Ich triumphierte. Vorsichtig justierte ich den Feuerball genau auf die Höhe, dass sein Wiederschein Rob einfach ins Auge fallen musste (ich wusste, er schlief um die Uhrzeit noch nicht).

Der kurz darauf folgende Schrei kündete von meinen Sieg. Ich rannte eilig hinunter zu meinen Eltern, dass mich Rob nicht verprügeln konnte, aber ich schwöre, beinahe hätte er es doch getan. Er brüllte und tobte wie ein Raubtier, und dann weinte er. Das war das erste und letzte mal, dass ich Rob weinen sah, dann nie wieder, auch nicht, als seine Freundinnen ihn verließen, nicht als Mum ein Jahr später von einem Laster totgefahren wurde und auch dann nicht, als sich ihr Vater wiederum vor Kummer und Einsamkeit erhängte.

Mein Bruder vergoss seine einzigen Tränen für ein Briefmarkenalbum, dass ich verbrannt hatte.

An diesem Abend schlug mich mein Vater, so sehr, dass ich auch am nächsten Tag kaum noch gehen konnte. Er hatte das nie zuvor getan und ich verabscheute ihn dafür. Dieses ganze Theater wegen eines DINGS, ich verstand es einfach nicht, und sie alle schienen ebenso wenig zu kapieren, was sie mir schon angetan hatten und gerade antaten, und es war ihnen wohl auch egal.

Als Rob am Tag darauf den Teddy, den ich zu meiner Geburt bekommen hatte, mit dem langen Küchenmesser aufschlitzte, legten sie nur ihre Arme um seine Schultern, mit dieser beschützenden Geste, als ob ihr Sohn zu irgendeiner falschen Tat überhaupt nicht im Stande wäre.

Während unseres erbitterten Streites blieben etliche Wertgegenstände auf der Strecke, und es wäre müßig, all die Geschichten zu erzählen, die sich im Laufe des Kleinkrieges zutrugen. Ich kann nur sagen, dass ich es irgendwann einfach leid war, ich glaube, dieser Gedanke kam mir genau an jenem Tag, als ich durch ein einfaches Experiment herausgefunden hatte, ob Robs Snowboard dem Druck des Reifens eines 12-Tonnen-Lasters standhalten würde (falls es sie interessiert, nein, tat es nicht). Ich hatte einfach keine Lust mehr, verstehen sie? Ich hatte genug, und Rob ging es da nicht anders. Mir war klar, die nächsten Attacken würden gravierender werden, und irgendwann würde einer von uns aufgeben, oder (und das erschien mir schon damals weitaus plausibler) mit seiner Ein-Mann-Armee untergehen.

Und dann lernte ich Debbie kennen.

Sie war neu an unserer Schule, und ich sah in ihren Augen, dass sie etwas besonderes war. Bei Gott, sie war das schönste Geschöpf, dass sich ein Mensch nur vorstellen konnte. Sie hatte etwas einmaliges im Blick, ein Blitzen, dass ich nie zuvor gesehen hatte.

Und nicht nur das - sie war intelligent. Sie gehörte nicht zu dieser bemitleidenswerten Gruppe Menschen, die versuchten, durch krampfhaftes Lernen ihre guten Leistungen zu halten, sie ging beinahe mühelos und dennoch unheimlich motiviert an sämtliche Aufgaben heran, und man merkte genau, sie konnte es. Vom ersten Moment an spürte ich eine unglaubliche Verbundenheit zwischen uns, denn wir waren uns ähnlich, das wusste ich.

Wir gehörten zusammen.

Es dauerte lange, bis ich den Mut hatte, sie anzusprechen, ehrlich gesagt, ich brachte es nie ganz zustande. Wenn ich mich wie zufällig mit ihr unterhielt, schlug mein Herz jedesmal viel zu stark, so stark, dass ich meine eigenen Worte kaum noch hören konnte, und sie wissen, Taube können nicht sprechen.

Ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt.

Die Wochen vergingen, wurden zu Monaten, während ich meine Göttin mit den rotbraunen Haaren aus der Ferne beobachtet. Ich hatte die Hoffnung schon lange aufgegeben, aber immerhin konnte ich ihr nahe sein. Das war besser als eine endgültige Zurückweisung.

Es wurde Winter. Einer jener Winter, wie ich sie liebte, mit Schnee und Eis und Kälte. Mit meinem Bruder hatte ich mich wohl wortlos auf eine Art Waffenstillstand geeinigt. Ich hatte also allen Grund, zufrieden zu sein, und ich war es, zumal Rob eine neue Freundin gefunden hatte und seine Leistungen allmählich absackten. Und dann kam dieser Tag, den ich mehr als alles anderes vergessen wollte, und, verdammt, ich kann es bis heute nicht. Ich stapfte durch den Schnee in Richtung Innenstadt. Die Schule hatte eben geendet und ich wollte noch irgendetwas besorgen, keine Ahnung mehr was. Ich dachte an Debbie und an das nahende Wochenende und an Weihnachten und ich war glücklich.

Da sah ich den Menschenauflauf an der Kreuzung. Viele Leute waren es nicht, um die Uhrzeit war nie viel los, aber doch genug um zu sehen, dass wirklich etwas passiert sein musste. Auf ihren Gesichtern lag diese Mischung aus Faszination und purem Entsetzen, ein kleines Mädchen und eine junge Frau weinten und ein Mann in einer überdimensionalen Jeans und mit einem ebenso gigantischen Bierbauch stand mit leichenblassem Gesicht da und stammelte irgendetwas, dass ich nicht verstehen konnte.

"Der Arzt! Der Arzt! Warum kommt er denn nicht?" rief ein Mann in einem grauen Anzug. Um ehrlich zu sein, mein Interesse war geweckt. Ich näherte mich und bahnte mir meinen Weg an den Gaffern vorbei.

Und da sah ich meine Mum. Sie schien mich aus ihren blauen Augen leer und ausdruckslos anzustarren. In ihrem Mund stand das Blut, lief ihr über das Kinn und die Wangen und tropfte in den weißen Schnee. Sie hatte etwas unerklärbar Schönes an sich, ihr Gesicht war jung geblieben (unsere relativ zierlichen und hübschen Gesichtszüge haben Rob und ich allein von Mum geerbt), und ihre Lippen sahen so rot aus. Ihr Körper war wohl teilweise unter eines der Räder geraten, aber ihr dünner Mantel lag so über ihr, dass man den zerquetschen Bauch und die zertrümmerte Brust nur erahnen konnte. Sie war noch am Leben, und nur ihre zuckenden Muskeln zeugten von dem unvorstellbaren Schmerz, der in diesem Moment in ihr toben musste. Sie würde sterben, dass wusste ich, und sie würde qualvoll sterben.

"MUM!!!" schrie ich und wollte zu ihr hinrennen. Ein Mann packte mich und riss mich herum

"Bleib zurück, Bengel, siehst du nicht, dass diese Frau schwer verletzt ist?" Er musste mich nicht verstanden haben, aber das begriff ich damals nicht, ich begriff überhaupt nichts. Ich starrte auf die riesige Blutlache und mein Körper begann, heftig zu zittern.

"MUM! MUM! MUUUUUM!!!" Ich schrie und schrie, wollte mich von dem Fremden losreißen, und langsam begriff wohl sogar er, dass die Halbtote hier meine Mutter war. "MUM! Nein, nein, NEIN!!! MUM!!!" Ich weiß nur noch, dass ich in Tränen ausbrach, und die Schaulustigen vergeblich versuchen, mich zu beruhigen. Irgendwann bin ich wohl vor lauter Schreien ohnmächtig geworden, und als ich meine Augen wieder aufschlug, lag ich in einem weißen Krankenhauszimmer und war allein. Und dann habe ich wieder geschrieen und geheult, bis mir irgendeine Schwester ein Beruhigungsmittel injizierte.

Die nächsten Wochen verbrachte ich wie in Trance. Ich nahm meine Umgebung kaum noch wahr, und ich glaube, mein Vater und mein Bruder machten sich irgendwann sogar Sorgen um mich, obwohl sie mit sich selbst genug beschäftig waren. Es dauerte lange, bis ich aus meinem Schock erwachte, ein paar Mal bin ich einfach während der Schule nach Hause gegangen, aber die Lehrer wussten bescheid und sie akzeptierten es. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt sah man es mir an, dass es mir verdammt schlecht ging, und eines Tages, als ich wieder einmal dabei war, das Schulgelände ungefragt zu verlassen, legte sich mir plötzlich eine Hand auf die Schulter.

Es war Debbie.

"Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Du siehst so fertig aus!" Ihre Katzenaugen sahen unheimlich besorgt aus, und zum ersten Mal nahm ich meinen Herzschlag wieder bewusst wahr.

"Mum ist tot." Das war alles, was mir in diesem Moment einfiel, und immerhin war ich inzwischen so weit, dass ich bei diesen Gedanken nicht mehr in Tränen ausbrach. Debbie sah zu Boden.

"Irgend sowas habe ich schon gehört, das tut mir wirklich leid!" Ihr Mitleid war ernst gemeint, dass spürte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und zuckte mit den Schultern. "Weißt du, vielleicht könnten wir ja mal was zusammen machen, vielleicht heitert es dich ja ein bißchen auf, was meinst du?"

Eine Verabredung! Debbie hatte soeben eine Verabredung ausgesprochen!

"Ähm, ja... klar..." Ich lächelte vorsichtig und Debbie lächelte zurück.

"Na komm, gehen wir?" Sie wandte sich wieder dem Schulhaus zu und sah mich aufmunternd an. Ich nickte und dann folgte ich ihr.
 

Ich habe nicht vor, meine Geschichte allzu sehr ins rührselige abdriften zu lassen, deshalb beende ich diese Episode und setzte im darauffolgenden Sommer wieder ein. Um es kurz zu fassen: Die Zeit mit Debbie war grandios und ich liebte sie wirklich. Ohne sie wäre ich damals wohl verzweifelt oder durchgedreht oder beides, aber so wurde die folgende Zeit wirklich unbeschreiblich schön.

Dann wurden die Tage länger, die Nächte kürzer und die Sonne heißer und ein neuer Sommer brach über das Land herein. Und wissen sie was? Zum ersten mal in meinem Leben freute ich mich auf einen Sommer, ich hatte ja damals noch keine Ahnung. Falls sie sich die Mühe machen, und ein paar Seiten zurückblättern, können sie sich vielleicht denken, was mich statt dem absoluten Glück erwartete.

Mein Bruder nahm sie mir weg.

Als ich Rob auf der Flussinsel sitzen sah, wie er Debbie - meine Debbie - im Arm hielt und an ihr rumküsste und sie mit diesen abstoßenden, verliebten Blicken musterte, flammte mein alter, beinahe vergessener Hass auf ihn wieder auf, so heftig, dass ich im ersten Moment am liebsten einen Stein genommen und alle beider erschlagen hätte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen lief ich zurück nach Hause. Der Weg kam mir unendlich viel länger vor als sonst. Ich rannte und rannte, und sich mir bei jedem Atemzug ein Messer in die Seite zu rammen schien, rannte ich weiter, bis ich keuchend vor unserer Haustüre stand. Ich zog mich erst einmal auf mein Zimmer zurück und ging auf und ab, wieder und wieder, wie ein Tiger in einem Käfig.

Es dämmerte bereits, als ich wusste, was zu tun war. Ich schlich über den Flur und für einen Augenblick kamen mir ernsthafte Bedenken: Was, wenn er schon wieder zuhause war? Was, wenn er in diesem Moment auf dem Bett lag und an meiner Debbie herumfingerte? Meine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Dann hatte ich eben mal wieder Pech gehabt. Er aber auch.

Zum Glück für mich fand ich Robs Zimmer leer vor. Ich machte mich an mein Werk, und ich ließ mir Zeit, ich genoss jede Sekunde, als ich zunächst seine Poster von den Wänden riss und auf den Boden warf. Als nächstes schaufelte ich all seine Bücher aus dem Regal, dann flogen seine Bettdecke und seine Sportklamotten dazu. Ich war gerade erst bei seinem Modellflieger angelangt, da hörte ich, wie im unteren Geschoss jemand den Schlüssel im Schloß herumdrehte.

Ich musste mich beeilein.

Hastig kramte ich die Streichholzschachtel mit der leuchtend gelben Aufschrift: Widow's Kiss Nightclub aus der Tasche (nebenbei überlegte ich mir ernsthaft, wie mein Dad wohl in den Besitz so einer Streichholzschachtel gekommen war) und entzündete eines der türkisköpfigen Streichhölzer. Dann warf ich es auf den Haufen zu meinen Füßen, entzündete noch zwei, drei weitere der Hölzchen und stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem flackernden Scheiterhaufen.

"RAVIN!!!" Die Stimme meines Bruders zitterte vor Entsetzen, als er meinen Namen rief. Ist ihnen eigentlich aufgefallen, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte? Sicherlich nicht, nun ja, ich kann es ihnen nicht verdenken, und schließlich war das hier ausnahmsweise einmal mein Fehler. Nun, meine lieben und geehrten Leser, mein Name ist Ravin McMorrison. Eigentlich tut das nichts zur Sache, aber ich denke, es schreibt sich doch gleich um einiges besser, wenn wir miteinander vertraut sind, nicht?

Verdammt, ich will das sie sich an mich erinnern!

Jedenfalls stand Rob in diesem Moment wie erstarrt in der Türe und sah mich an, wie man den Leibhaftigen ansehen würde. Oder stellen sie sich vor, sie betreten ihr Zimmer und da steht Elvis, der sie nach Kurt Cobains Telefonnummer fragt. Wenn man ihnen genau in diesem Augenblick einen Spiel vor das Gesicht halten würde, wüssten sie, wie Rob mich angestarrt hat.

Dann lief er die Treppe hinunter, während der Rauchmelder ein Lautes Piepsen von sich gab (ich habe mich damals gefragt, ob diese Teile wohl immer so verdammt träge reagieren) und wenige Sekunden später die Decke des Zimmers in eine Regenwolke verwandelte. Sie haben bestimmt schon irgendeinen Film oder ein Comic oder sonst etwas gelesen, wo über dem Kopf irgendeines armen Pechvogels eine einzige, einsame Regenwolke hing, während der Rest der Umgebung durch den schönsten Sonnenschein spazierte? Etwa so fühlte ich mich in diesem Augenblick. Meine Haare wurden durchnässt und fielen mir vor das Gesicht, aber das war mir ebenso egal, wie meine nassen Füße und die Tatsache, dass das Wasser über meinen Hals in den Ausschnitt meines T-Shirts lief.

Ich hatte Rob nicht aufgeregt oder wütend gemacht, ich hatte ihn nicht ausflippen lassen... ich hatte ihn schockiert. Der Junge war erschüttert, und wissen sie, ich fühlte mich unheimlich gut, während der künstliche Regen langsam die wütend zischenden Flammen in schwarzen Qualm auflöste.

Noch am selben Abend hörte ich meinen Vater unten im Wohnzimmer telefonieren. Er hatte diesen Tonfall aufgelegt, an dem man einem Menschen sofort anmerkte, dass er irgendetwas heimlich tun wollte. Ich musste lächeln. Ein wenig erschreckte es mich, dass ich nicht den Hauch eines schlechten Gewissens hatte, im Gegenteil, ich fühlte mich unheimlich befreit.

"... seit dem er seine Mutter sterben gesehn hatte... nicht mehr der selbe... total verrückt, verrückt..." Ich konnte nur Wortfetzen des Gesprächs auffangen, aber im Prinzip war nicht einmal das notwendig, um zu wissen, dass es um mich ging. "... schicke ihn vorbei... Mittwochs... Hilfe, wenn es wirklich... ja... danke... danke..."

Ich wusste damals noch nicht, mit wem Dad wirklich telefoniert hatte, aber als ich hörte, wie er den Hörer auflegte, rannte ich eilig zurück in mein Zimmer. Ich wusste, er würde mit mir reden wollen, nein, er würde mit mir reden müssen. Natürlich hatte ich mich nicht geirrt, und es dauerte nicht lange, bis mein ich hörte, wie jemand an meine Türe klopfte. Ich musste lächeln.

"Hm?" meinte ich wie beiläufig.

"Ravin? Ravin, ich muss mit dir reden." Ach ne, ich dachte schon, du willst mir das Abendessen ans Bett bringen, dachte ich, sprach es aber nicht aus.

"Ja, und?" Ich bemühte mich, gelangweilt zu klingen.

"Weißt du, seit... Wirst du mich wohl reinlassen, ich unterhalte mich doch nicht mit dir durch die Türe!" Seine Stimme klang genervt und wütend, und wie sie sich vielleicht denken können, sank meine Lust auf ein Gespräch spontan noch viel weiter als in den Keller. Trotzdem stand ich auf und schloss meine Zimmertüre auf. Dad sah mich an, und in seinen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Wut, Entsetzen und... Abscheu. Ich wich spontan einen Schritt zurück und fühlte mich irgendwie scheiße.

"Ich hoffe, dir ist klar, was du heute angerichtet hast," murmelte er. Ich sah genau, dass er sich beherrschen musste, ruhig zu bleiben, und ich sah auch, dass er heute wieder gute Lust gehabt hatte, seine Hilflosigkeit abzureagieren, indem er mir ein paar mal ins Gesicht schlug (ich habe mich oft gefragt, ob ich irgendetwas an mir hatte, was alle Welt dazu inspirierte, ebendieses zu tun). Ich seufzte und begann, zu nicken.

"LÜG mich nicht an!" Klatsch! Schon hatte ich die erste Ohrfeige abbekommen.

"Wenn du mich schlägst, rede ich nicht mit dir."

"Willst du..." Wut in seinen Augen. Ich ging auf Sicherheitsabstand und sah ihm in die Augen, ich wusste, er konnte meinem Blick nicht standhalten und behielt recht. Ich rechnete allerdings auch nicht mit seiner darauf folgenden, blitzschnellen Bewegung. Er packte mich bei den Schultern und begann, mich durchzuschütteln (und ich muss sagen, er machte Mill wirklich scharfe Konkurrenz!!!). Dann zog er mich am Kragen näher zu ihm heran. "So geht das nicht weiter mit dir! Kennst... Erinnerst du dich an Carter?" Natürlich tat ich das! Mir war selten ein schleimigerer Mensch begegnet, und das wollte bei Dads Bekanntenkreis wirklich etwas heißen. Ich nickte. "Gut. Carter war so freundlich, mir die Adresse eines guten Jugendpsychologen zu nennen, der..."

"Ich gehe nicht zu einem Seelenklempner!" Ehrlich, in diesem Moment fühlte ich mich persönlich beleidigt wie selten zuvor.

"Ravin, du wirst dort hingehen, oder ich weiß nicht, ob ich dich hier behalten kann." Ich sah ihm an, dass er es ernst meinte.

"Ich... du willst mich abschieben? In ein Heim für irgendwelche schwer erziehbaren KRIMINELLEN? Ist es das, ja? Ich funktioniere nicht mehr so, wie es dir passt, und dann..." Klatsch! Zum zweiten mal verirrte sich seine Hand ziemlich unsanft in mein Gesicht. Ich war so aufgebracht, dass ich das kaum mitbekam. "Du liebst mich ja eh nicht!" schrie ich ihn an. "Ihr habt doch immer nur Rob geliebt!!!"

"Ist es das?" Dad schrie nicht. Er brüllte. "Führst du dich deshalb so auf wie ein IRRER?!? Wenn Mary das sehen könnte..." DAS sass! Er wusste, meine tote Mutter war einer meiner wunden Punkte, und ich hätte ihm für diese Bemerkung die Augen auskratzen können.

"LASS MICH!!!" Meine Stimme überschlug sich. "Du kapierst gar nichts! Rob, er... er hat sie mir weggenommen! Verdammt, ich habe sie GELIEBT und er hat sie mir weggenommen!!!"

"Was redest du für einen Unsinn?"

"Er hat sie mir weggenommen!" Wieder einmal begann ich zu schluchzen (ich habe es schon immer gehasst, dass Gefühlsausbrüche meinerseits fast jedesmal in Tränen endeten). "Debbie, ich habe sie geliebt, und er hat sie mir weggenommen!!!" Dad sah ein wenig irritiert aus.

"Jedenfalls gehst du nächste Woche zu diesem Psychologen hin, und du wirst sehen, es hilft dir bestimmt."

Ich wiedersprach nicht mehr, und so verließ Dad mein Zimmer, um sich um den armen, geschockten Rob zu kümmern. Ich warf mich auf mein Bett und heulte noch die halbe Nacht hindurch.

So brachte mich das Schicksal in die Jugendpsychiatrieabteilung unseres hübschen Krankenhauses.
 

Am Anfang war es noch ein bißchen wie ein Spiel. Sind sie jemals bei einem Psychiater gewesen? Wahrscheinlich nicht. Sicherlich schwebt ihnen beim Klang dieses Wortes die Vision eines quadratischen, in dämmriges Licht getauchten Raumes vor, an dessen einer Wand eine lange, lederbezogene Couch steht. Auf ihr liegt der Patient, der irgendetwas in Richtung: "Ich bin Napoleon!" oder "Ich kann fliegen!!!" von sich gibt. Daneben der Psychiater - er sitzt auf einem Stuhl neben der Couch, hört dem Patienten zu, stellt seltsame Fragen und macht fortlaufend Notizen auf seinem großen, weißen Block, bis er den armen Irren letztendlich mittels abgedrehter Hypnose-Aktionen und anderen absurden Methoden heilt - oder auch nicht.

Das einzige, was davon der Wirklichkeit entspricht, ist der Notizblock. Ob sie es glauben oder nicht, ein Psycho-Doc notiert wirklich JEDEN Satz von ihnen, und wenn sie ihm sagen würden, dass er ein abgehalterter, unsympathischer Schleimer ist, er würde diesen Ausspruch mit dieser immer gleichen, unbewegten Psychologen-Miene aufschreiben und ihnen daraufhin eine dermaßen bescheuerte Frage stellen, dass sie sich langsam ernsthaft fragen, wer eigentlich der Verrückte im Raum ist.

Gleich nachdem ich das Zimmer dieses Mannes betreten hatte, war ich mir vollkommen sicher, dass ich ihn nicht leiden konnte. Es war ein pseudo-afrikanisch eingerichteter Raum, in dessen Mitte ein unvorstellbar breiter Schreibtisch aus glänzend braunem Holz stand. Sie kennen doch bestimmt die Stories von all den unanständigen Dingen, die Chefs in den Arbeitspausen (und Chefs scheinen eine ganze Menge davon zu haben) mit ihren Sekretärinnen anstellen. Wissen sie, wenn man diesen Schreibtisch sah, fing man spontan an, solche Geschichten zu glauben, mal ehrlich, warum sollte sich ein Mensch denn sonst ein dermaßen überdimensionales und vor allem hässliches Ding als Arbeitsplatz aussuchen? Wie auch immer. Hinter dieser Festung hatte es sich ein Mann mittleren Alters bequem gemacht. Sein dünnes Haar hatte eine undefinierbare Farbe irgendwo zwischen blond und grau, sein Schnauzer in demselben Ton passte sich so gut an die Hautfarbe an, dass es schon wieder störend wirkte.

Nebenbei sprach er wirklich in der exakt gleichen Stimmlage wie mein geschätzter depressiver Mathelehrer, was ihn mir einerseits extrem unsympathisch machte, und andererseits auf einen weit über das gesunde Maß herausgehenden Zigarettenkonsum hinwies.

Tatsache, ich konnte ihn nicht leiden, schon bevor er sein widerliches, professionell antrainiertes Lächeln auflegte. Er war einer jener Menschen, denen das Wort "schleimiges Arschloch" auf die Stirn tätowiert zu sein schien. Und genau dieser erste Eindruck bestätigte sich in den folgenden Treffen. Ich fragte mich ehrlich, ob der Mann nicht eher Kindergärtner hätte werden sollen, bei all den lustigen Spielchen, die ihm so einfielen. Gleich beim zweiten Mal meinte er zu mir:

"So, Ravin, jetzt will ich dich gerne ein wenig näher kennen lernen!" (In diesem Moment fragte ich mich nur, ob er bei seinen Dates ähnlich sensibel vorgegangen war, kam dann aber zu dem Schluss, dass mit ihm wohl keine Frau freiwillig ausgegangen wäre.) Das Kennenlernen erfolgte in einer Reihe von irgendwo erniedrigenden Aufgaben und Spielen, deren pädagogischer Sinn sich mir einfach nicht erschließen wollte. Kurz gesagt: Die Termine bei meinem lieben Psycho-Doc waren ein 45-minütiger Hirnfick und ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass mir dieser Mensch nicht im geringsten Helfen konnte. Nein, selbst wenn er ehrliche Ambitionen in dieser Richtung gehabt hätte, er konnte mir nicht helfen. Im Gegensatz zu mir verdiente er jedoch eine ganze Menge Geld mit diesem Unsinn.

Nun, damals konnte ich ja noch nicht ahnen, dass diese scheinbar verschwendete Zeit mein Leben verändern sollte, wenn auch anders als ursprünglich geplant.
 

Alles begann damit, dass ein Neuer in die Klasse kam: Nieve. Um ehrlich zu sein, bis auf die Tatsachen, dass wir beide blondes langes Haar hatten und noch dazu Außenseiter waren, bestanden wirklich keine Gemeinsamkeiten zwischen uns. Anfangs habe ich auf ihn herabgesehen, ihn belächelt, ja fast sogar ein bißchen verachtet. Nieve hatte große, grau-grüne Augen, mit denen er stets rastlos seine Umgebung musterte. Er trug schlampige Klamotten, in denen sein sehr zierlicher, beinahe abgemagerter Körper beinahe zu verschwinden drohte. Und vor allem verfiel sein Blick nur allzu oft in eine seltsame Art von Apathie. Er war durchaus intelligent, das merkte man ihm deutlich an, aber er schien keinerlei Interesse am Unterricht zu haben und noch dazu litt er an einem gehörigen Mangel an Respekt.

Nun ja, er war eher still. Redete nicht viel, nur das nötigste. Aber wenn er einmal seinen Mund aufbekam, dann war er meistens unverschämt, und auch die natürliche Autorität unserer Lehrer schien ihn reichlich wenig zu kümmern.

Ehrlich gesagt: Ich konnte ihn nicht leiden. Trotzdem ärgerte es mich, wenn Rob und seine Clique ständig auf dem Jungen rumhackten. Vielleicht war es damals nur so eine Art Solidarität zwischen Verlierern, aber irgendwie fühlte ich mich selbst angegriffen, wenn Nieve mal wieder grün und blau geschlagen in die Schule kam.

"Rob," sagte ich eines Tages, und mein Bruder warf mir einen dieser verächtlichen Blicke zu. Ich wusste, dass ich in seinen Vorstellungen schon seit langem nicht mehr als ein bemitleidenswerter Verrückter war. Ich ließ mich aber nicht beirren und fuhr fort: "Rob, warum schlagt ihr ihn zusammen? Warum hackt ihr ständig auf ihm rum? Was hat euch dieser Typ eigentlich getan?" Rob lachte.

"Schau ihn dir doch an," meinte er. "Schau dir seine Augen an, seine Arme... alles. Das ist nichts weiter als ein abgefuckter Junkie, von dem sollte man sich fern halten."

"Fernhalten und verprügeln ist aber nicht das Selbe."

"Ach leck mich doch."

Ich versuchte danach nicht weiter, meinen Bruder auf das Thema anzusprechen, mir war klar, das es sinnlos gewesen wäre. Und was soll ich sagen, ich hielt mich fern von Nieve. Bis, ja, bis ich ihn eines Tages überraschend und unvermittelt wiedersah.
 

Ich hatte in diesem Augenblick im Grunde genommen schlechte Laune, kompensierte diese jedoch mit der üblichen kalten Hysterie, wie ich es jedesmal tat, wenn mir ein Besuch bei unserem Hobby-, Verzeihung, Diplompsychologen bevorstand. Kennen sie dieses Gefühl? Wahrscheinlich nicht, aber das tut hier auch nichts zur Sache. Jedenfalls schlenderte ich durch die große Parkanlage des Krankenhauses, den Weg hinab, der zu der alten Villa meines lieben Seelenklempners führte. Es war so eine Villa, in der man genauso gut irgendeinen irre Erfinder ansiedeln hätte können, eben einen, der mit Leichenteilen herumbastelt und mittels irgendwelcher Seren zu einem massenmordenden Ungetüm wird, sie verstehen. Auf jeden Fall hatte ich es nicht eilig, ich trat gemächlich durch die dunkle Holztüre, stieg ebenso geruhsam die Wendeltreppe in den zweiten Stock hinauf und kündigte der jungen Assistentin am Computer meinen Besuch an (jedesmal, wenn ich sie sah, kam mir plötzlich so eine Idee, warum Herr Psycho sich solch einen Fick-auf-mir-Schreibtisch angeschafft hatte) und ging dann in das hässliche Wartezimmer.

Und da sass Nieve und blätterte in einem Rockmagazin.

"Du hier?" rutschte es mir in diesem Moment heraus und ich muss dabei wohl unheimlich dumm ausgesehen haben, denn Nieve grinste plötzlich so breit, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte.

"Na klar, ist doch normal," entgegnete er. "Aber, hey, dich hätte ich hier echt als Letzten erwartet! Was verschlägt dich denn in die Psycho-Werkstatt?"

"Ja, also..." Ich war ehrlich überrascht. Nieve war so ganz anders als in der Schule und ich muss gestehen, dass ich im ersten Augenblick viel zu Perplex war, als dass mir irgendeine Antwort eingefallen wäre. Allerdings war das auch gar nicht mehr nötig, denn schon erschien die ewig lächelnde Helferin in der Türe und bestellte mich zum Herren von Klein-Afrika.

"Sag mal, wartest du vielleicht nachher noch eine Viertelstunde?" fragte Nieve lächelnd. "Kannst auch in meiner Zeitschrift lesen, wenn du magst. Du musst mir das jetzt wirklich unbedingt erzählen... geht das?" Ich sah ihn immer noch ein wenig verwirrt an. Dann nickte ich. Keine Ahnung, warum ich das tat, warum ich mich dazu bereiterklärte, ausgerechnet auf Nieve zu warten. Ich hatte niemals auch nur den Anflug von Lust dazu verspürt, eine Konversation mit diesem Menschen zu beginnen. Aber als ich ihn so dasitzen sass, ohne die übliche Apathie in den Augen und mit diesem freundlichen Lächeln auf den Lippen, diesem nervösen, leicht verlegenen Fingerspiel und der neugierigen Begeisterung in der Stimme, da kam mir ganz plötzlich ein nahezu absurder Gedanke: Vielleicht konnte ich mich ja doch mit ihm anfreunden.

Ich muss wohl nicht erwähnen, wie überflüssig meine Unterredung mit dem Nr. 1-Seelenverbieger der Nation wieder einmal war. Seltsamerweise erschien mir die Dreiviertelstunde heute noch um einiges langatmiger als sonst. Ich werde nicht näher auf unsere fragwürdigen Dialoge eingehen, ich stand die ganze Prozedur also irgendwie doch noch durch und ich muss zugeben, ich war wirklich aufgeregt, als ich aus dem geschmacklos eingerichteten Psychologenzimmer hinaus in den Warteraum trat.

"Hey!" Nieve grinste. "Da bist du ja wieder! Hast du es gut, du hast es schon hinter dir!" Er zwinkerte mir zu. Seine graugrünen Augen blitzten fröhlich. "Wünsch mir Glück!"

"Ja, klar..." Ich lächelte vorsichtig und ließ mir bereitwillig sein Magazin in die Hände drücken, von dessen Cover mir eine Gruppe von langhaarigen Gestalten entgegenbrüllte. "Danke."

"Kein Problem!" Er hob seine Hand und verschwand in der selben Türe, aus der ich eben noch getreten war. Ich blieb allein und immer noch ein wenig verwirrt im Wartezimmer zurück. Mein Blick wanderte über die Wände zu einer der grellbunten Aufnahme irgendeiner Unterwasserpflanze hin, die mir in Übergröße hinter einer Glaswand entgegenleuchtete. Langsam und in Gedanken versunken ließ ich mich auf einen der Stühle sinken und begann, zu warten.

Die Viertelstunde erschien mir sogar noch länger als mein sinnloses Gespräch mit Psycho. Ich konnte es wirklich kaum glauben, als sich endlich die Pforte zur Hölle öffnete und Nieve heraustrat. Sie kennen das bestimmt, sobald man auf irgendetwas wartet, verlangsamt sich die Zeit auf ein Minimum, und manchmal, wenn man die Uhr aus den Augen lässt, bleibt sie vielleicht sogar ganz stehen oder stiehlt sich ein paar Sekündchen zurück.

"Na, wo sollen wir hingehen?" fragte Nieve, während wir die Frankenstein-Villa hinter uns ließen.

"Weiß nicht," meinte ich. "Ich bin nicht so oft weg." Langsam stiegen ernsthafte Zweifel in mir hoch. In meinem Geist hatte ich es einfach doch noch nicht vollkommen geschafft, Nieve nicht mehr von oben herab zu belächeln, das ist auch gar nicht so leicht, wissen sie?

"Am Fluss unten gibt es ein Denkmal, da könnten wir hingehen!" schlug Nieve vor.

"Ein Denkmal?"

"Ja. Da kann man draufklettern und auf das Wasser herunterschauen. Und am Fluss ist es auch nicht so heiß."

"Wir könnten uns ein Eis kaufen."

"Gute Idee!!!"

Und so kam es, dass ich kurze Zeit vor einer überaus hässlichen Ansammlung von Holzbalken stand, die anscheinend einen Schiffsrumpf darstellen sollte. Nieve kletterte mühelos auf das an die zwei Meter hohe Gebilde und lächelte mich aufmunternd an.

"Na komm, es ist ganz leicht!" rief er und streckte mir eine Hand entgegen, wobei mir auffiel, dass seine Arme wirklich erschreckend dünn waren.

"Hältst du mein Eis?" fragte ich skeptisch.

"Klar! Und dann komm rauf, du schaffst das schon!" Ich überreichte ihm mein Waffelhörnchen und machte mich dann zögernd und vorsichtig an den Aufstieg, der mir gar nicht so leicht erschien, wie es bei Nieve ausgesehen hatte. "Nein, leg deine Hand lieber auf den Balken rechts von dir - genau. Und dein Bein dort hin! Ja, und jetzt hoch!" Ich folgte seinen Anweisungen, holte dann noch einmal Schwung und zog mich auf einen der oberen Balken.

Ich war überwältigt. Ich meine, können sie sich vorstellen, dass sie ihr Leben lang in ein und derselben Stadt verbringen, und dann haben sie plötzlich das Gefühl, das Allerbeste bislang einfach achtlos übersehen zu haben? Genauso ging es mir in dem Moment. Das Denkmal war doch recht hoch, aber die breiten Holzbalken boten genug Platz, sich bequem hinzusetzen. Die Sonne warf ihre warmen Strahlen auf mich herab, während vom Wasser angenehm frische Luft zu uns heraufkam. Die Oberfläche des Flusses glitzerte im Licht, die Häuser der Stadt blieben auf der anderen Seite zurück.

"Schön hier oben, was?" fragte Nieve, der meinen versunkenen Blick bemerkt hatte. Er drückte mir mein Eis in die Hand und ich schleckte hastig an der Zimtkugel, die langsam zu schmelzen begann. "Aber jetzt erzähl: Wieso triffst du dich mit diesem irren Seelenklempner? Doch wohl nicht freiwillig, oder?"

"Ich... ich bin doch nicht lebensmüde!" Ich grinste vorsichtig. Irgendetwas an dieser fröhlichen, offenen Art, mit der Nieve redete und lachte, ließ mich langsam vergessen, wie schüchtern und verschlossen ich eigentlich war.

"So lebensmüde kann man gar nicht sein! Es sei denn, man arbeitet als Assistentin am Computer einer Jugendpsychiatrie, was?" Wir lachten beide.

"Nein, im ernst. Mein Vater hält mich für wahnsinnig."

"Wieso das?" Er sah mich an, und plötzlich stieg ein ungeheures Bedürfnis in mir hoch, ihm alles zu erzählen, zu reden. Er wollte mir zuhören, wirklich zuhören, weil es ihn interessierte, und nicht, weil er eine ganze Menge Geld dafür bekommen würde. Ich war überwältigt. Zum ersten Mal in meinem Leben war da jemand, der sich für meine Probleme, der sich für mich interessierte.

"Mein Vater konnte mich noch nie leiden, immer nur Robert, Rob, meinen Bruder, du kennst ihn?"

"Klar!" grinste er und hob seinen Arm, der immer noch mit blauen Flecken übersäht war.

"Ja genau der. Jedenfalls, seit... seit Mum tot ist..."

"Deine Mutter ist gestorben? Das tut mir leid!" Ich suchte vergeblich nach diesem pflichtbewussten Heucheln in seiner Stimme.

"Ja, sie wurde überfahren, und ich habe sie gesehen, wie sie so dalag, tot, und, und..." Ich stockte. Was tat ich da eigentlich? Noch nie hatte ich über meine tote Mutter geredet, auch wenn sich Psycho redlich Mühe gegeben hatte, seine lustigen Kennenlern-Gespräche langsam und unauffällig in diese Richtung zu lenken.

"Hey, ist ja gut, du musst nicht darüber reden." Er legte mir eine Hand auf die Schulter. "Aber wenn du es doch tun willst, kein Problem, ich hör dir auch zu, ja? Das hilft vielleicht." Er sah mich aufmunternd an und zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass mir wieder einmal Tränen in den Augen standen. Ich wischte mir hastig mit dem Handrücken über das Gesicht.

"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jedenfalls war ich dann ziemlich fertig, und bin mit einem Mädchen zusammengekommen, Debbie, vielleicht hast du sie ja schon mal gesehen."

"Das verstehe ich nicht ganz... ähm, ja, die Rothaarige, nicht? Die ist doch mit deinem Bruder zusammen, oder?" Ich nickte.

"Ich meine, sie hatte wohl Mitleid mit mir oder so. Ja, genau, jetzt ist sie Rob zusammen."

"Moment mal, er hat sie dir ausgespannt?"

"Nicht direkt, sie hat sich anscheinend in ihn verliebt."

"Arschloch!" Nieve verzog das Gesicht. "Und wie brachte dich das zum Psycho-Doc?"

"Ich hab das Zimmer meines Bruders angezündet."

Für einige Sekunden herrschte Stille. Dann riss Nieve überrascht die Augen auf.

"Wow! Ehrlich... wow... das hätte ich dir nicht zugetraut..." Er senkte ein wenig verlegen den Kopf. "Ich meine... naja... tut dir das denn leid?"

"Nein!" Antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Täte es mir auch nicht!" Er grinste. "War vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich kann's echt verstehen."

"Mein Vater konnte das wohl nicht. Er meinte, seit Mum tot ist würde ich mich aufführen wie ein Wahnsinniger. Ich hatte die Wahl zwischen Seelenklempner und Nachwuchskriminellenheim."

"Lass mich raten, du bereust deine Entscheidung?" Ich musste grinsen. "Nein, ich meine... tut mir leid, wenn ich das so sage, aber dein Vater hat sie doch nicht mehr alle!"

"Liegt in der Familie."

"Hey, du bist bestimmt nicht wahnsinnig, wenn du das meinst. Eher dein Bruder. Naja." Er schleckte an der Kugel Stracciatella-Eis, die er beinahe schon vergessen hatte.

"Warum bist du bei Psycho?" fragte ich.

"Gehört zur Entzugstherapie." Er starrte auf das Wasser. "Ich hab wohl eine Menge Scheiße gebaut bisher, naja."

"Oh." Etwas besseres fiel mir nicht ein, und ich hätte mich dafür ohrfeigen können.

"Liegt wohl bei uns auch in der Familie. Mein Alter hat das Zeug auch genommen, und immer wenn er dann heimkam, oder wenn er sich besoffen hatte, dann hat er Mum und mich halb totgeschlagen." In seine Augen trat ein Ausdruck von Leere.

"Das... das tut mir echt leid..." Ich biss mir verlegen auf die Lippe.

"Nein, ist schon OK. Ich wohne jetzt bei Pflegeeltern hier, es ist echt in Ordnung, kannst ja mal vorbeikommen, wenn du willst."

"Ja... ja klar!" Ich nickte. Dann legte ich Nieve eine Hand auf die schmale Schulter. Er sah überrascht auf. Dann lächelte er.

"Hey, ich find das cool, ich kenne dich eigentlich gar nicht, aber wir reden über dieses ganze Zeug, du weißt schon, was ich meine, das ist doch echt nicht normal."

"Stimmt..." Mir wurde plötzlich bewusst, wie absurd diese Situation eigentlich war.

"Naja, ich dachte mir, dass du echt OK bist." Er grinste. "Und weißt du auch, warum? Du bist ein Außenseiter. Außenseiter sind meistens die besten Menschen, das merken die anderen nur nicht, oder sie sind eifersüchtig, verstehst du?" Und ob ich verstand. Ich blickte auf das glitzernde Wasser.

"Sollen wir morgen wieder herkommen?" fragte ich.

"Ja klar, ich komme oft hierher."

"Super!" Ich war plötzlich unheimlich glücklich und ich freute mich zum ersten mal seit langem wieder auf den bevorstehenden Sommer.

Es sollte die beste Zeit meines Lebens werden.
 

Vielleicht fragen sie sich, warum ich dieses Erlebnis so ausführlich wiedergeben. Wissen sie, ich möchte, dass sie verstehen, wieso diese Freundschaft so etwas besonderes für mich war. Ist es nicht so, manche Menschen sieht man Tag um Tag, Jahr um Jahr, ohne auch nur ein tiefgründigeres Wort mit ihnen zu wechseln. Es will und will einfach keine Vertrautheit wachsen, die Personen bleiben Fremde für einen, und ganz nebenbei wollen einem einfach keine Gesprächsthemen einfallen.

Sehen sie, Nieve und ich kannten nach etwas weniger als einem Nachmittag beinahe unsere ganzen Lebensgeschichten. Wenn man ihn näher kannte, war er wirklich ein toller Freund und wir hatten eine Menge Spaß zusammen. Meist verbrachten wir unsere Tage auf dem Denkmal und, wissen sie, wenn Nieve neben mir sass, konnte ich mich über die gaffenden Passanten prächtig amüsieren. Natürlich, es gab immer noch meinen Bruder und all die anderen Mitläufer um uns herum. Wir wurden weiterhin verprügelt, ausgelacht und verspottet, aber es war eben nicht mehr so schlimm, weil wir es gemeinsam erlebten.

Ich glaube, nein, ich weiß sogar ganz sicher, dass ich damals glücklich war.

Glück ist vergänglich. Der Herbst brach herein, brachte Regen und Kälte und Nässe und jede Menge fallendes Laub mit sich. Ich ahnte nichts Böses, damals, wie denn auch? Im Gegenteil. Die dunkle Jahreszeit begann für mich mit einem Triumphzug, von dem ich noch vor kurzem sehnsüchtig geträumt hatte.

Ich eilte durch die Stadt. Grauschwarze Wolken bedeckten den Himmel, ich wusste, es würde bald regnen und ich legte keinen Wert darauf, nass zu werden. Als es nun auch noch anfing zu Donnern, beschloss ich, mich erst einmal in ein Café zu verziehen und das Gewitter dort abzuwarten.

Und da sah ich ihn. Lachend und flirtend mit einer niedlichen dunkelblonden Tussi. Sie quietschte und kicherte und wurde gespielt verlegen, wenn er ihr Komplimente machte. Ich kannte das Mädchen, es war Sandy Nellison, ein schulbekanntes Flittchen aus unserer Parallelklasse. Achja, und der Dummkopf, der ihr den Hof machte, das war mein lieber Bruder Rob.

Ich zögerte nur eine Sekunde, dann rannte ich zum Telefon des Cafés und wählte Debbies Nummer.

"Ja, hallo?" fragte eine süße Stimme am anderen Ende des Apparates.

"Hi Debbie!" sagte ich ganz ruhig.

"Du? Ich meine, was... was willst du denn?" Sie klang verwirrt.

"Komm in das Lumiere, du kennst es bestimmt, in der Fußgängerzone."

"Und warum?"

"Komm und du siehst es!"

"Ich weiß nicht..." Sie zweifelte noch, aber ihre Neugierde war geweckt.

"Du bist doch noch mit meinem Bruder zusammen, oder?"

"Natürlich, warum..."

"Frag nicht. Beeil dich lieber." Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern legte auf. Ich wusste, sie würde kommen. Ich wusste es schon, noch bevor sie eine Viertelstunde später wirklich aus dem Regen in das Café keuchte, bevor sie meinen untreuen Bruder sah und ihm und seiner Schlampe eine Szene machte. Und ich wusste auch, dass Debbie ihm nicht verzeihen würde.

Das machte mich wirklich glücklich.

"Oh Gott, ich habe ihn doch geliebt!" schluchzte sie mir wenig später vor. "Ich verstehe das nicht! Wir waren doch so glücklich miteinander, wie kann er mich da so einfach wegstoßen und betrügen?"

"Weißt du Debbie, manchmal ist das eben so. Der Mensch, den du am meisten liebst, sieht plötzlich jemand anderen und dann bist du abgemeldet, das tut weh, nicht?"

"Was weißt du denn schon davon!" Sie wischte sich mit dem Arm über die rotgeweinten Augen, die hervorragend zu ihrer Haarfarbe passten.

"Debbie, Süße, du solltest zum Arzt gehen, dein Erinnerungsvermögen lässt nach!" Ich grinste. Einige Sekunden blinzelte sie mich fassungslos an, dann erst trat ein beschämter Ausdruck des Erkennens in ihre Augen.

"Oh Ravin, es tut mir so leid!" Sie warf sich mir um den Hals, wie eine jener Darstellerinnen in diesen kitschigen Seifenopern. "Ich wusste doch nicht, was ich damals tat! Ich war so verwirrt, und er hat mich rumgekriegt, es tut mir so leid! Ich weiß jetzt, zu wem ich wirklich gehöre."

"Debbie, heißt das... du gibst uns noch eine Chance?" Langsam wurde es beinahe schon zu einer richtigen Liebesschnulze.

"Wenn du mir vergeben kannst..." Sie sah zu Boden. "Weißt du, ein Teil von mir hat nie aufgehört, dich zu lieben..."

"Das ist... schade. Denn ich habe sehr wohl aufgehört, dich zu lieben, Debbie." Ich lächelte.

"WAS?!?" Sie riss ihre verheulten Augen weit auf. "Ja, aber..."

"Weißt du was? Du solltest warten, einfach warten."

"Ich sehe... du brauchst Zeit, mir zu verzeihen..."

"Nein. Dann ist es nämlich aus mit Rob und Sandy, und jetzt rate mal, bei wem mein lieber Bruder dann angekrochen kommt? Genau, bei dir, liebste Debbie. Und weißt du auch, was du dann machen wirst? Du wirst keifen und dich furchtbar aufregen und ihn vor die Türe setzen. Gestatte mir, dass ich auf die Szene verzichte, aber der Rest bleibt gleich. Wir waren einmal zusammen, Debbie."

"Ja, ja, aber..." Sie klappte den Mund entgeistert auf und zu und sah dabei aus wie ein Karpfen.

"Bye, Debbie!" Ich winkte ihr zu und trat aus dem Café hinaus in den warmen Regen.

In diesem Moment war mir klar, dass Debbie mir nichts, aber auch gar nichts mehr bedeutete. Es war endlich vorbei.
 

Natürlich bekam mein Bruder Wind davon, wer ihm sein kleines Doppelspiel ruiniert hatte. Ich dachte mir, dass er ausflippen, mich anschreien und zusammenschlagen würde, aber er tat nichts davon. Er sah nicht einmal sonderlich wütend oder traurig aus. Vielleicht, dachte ich damals, war er ja sogar ganz froh darüber, dass er es Debbie nicht hatte sagen müssen.

Ich weiß selber nicht, wie ich so naiv sein konnte.

Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, als Nieve nicht zum Unterricht erschien. Es war ein sehr kalter, aber trockener Tag im Spätherbst, und der Schulhof war von blutroten Blättern übersäht. Ich dachte mir damals nichts Böses, schließlich waren bei dem zu dieser Jahreszeit herrschenden Wetter Grippe und Erkältung sozusagen an der Tagesordnung.

Erst, als Nieve nach der Schule völlig aufgelöst auf mich zugerannt kam, fühlte ich ein erdrückendes Gefühl von Sorge über mich hereinbrechen.

"Was ist denn?" fragte ich und lief ihm entgegen.

"Ich muss weg, oh Gott, ich muss weg, Ravin!!!" stammelte er.

"Du musst weg? Wie meinst du das? Was ist denn passiert!"

"Sie haben Drogen bei mir gefunden, in meinem Schulranzen, aber ich habe doch nichts genommen!" Ich hatte noch niemals einen Menschen so verzweifelt erlebt. "Ich bin doch schon lange weg von dem Zeug, aber sie glauben mir nicht!"

"Wer?" Mein Herz schlug heftig.

"Meine Adoptiveltern. Sie geben mich wieder in ein Heim, Ravin, aber ich habe doch gar nichts getan! Verdammt, ich will nicht weg von hier!"

"Das können die doch nicht einfach so machen!!!" schrie ich. Ich war geschockt, ich konnte nicht glauben, dass ich meinen allerbesten und einzigen Freund einfach so wieder verlieren sollte. Wissen sie, ich war mir vollkommen sicher, dass Nieve nie wieder Drogen genommen hätte. Irgendjemand hatte sich einen verdammt schlechten Scherz erlaubt, mehr nicht. Das konnte nicht das Ende sein! "Nieve, hör mir zu, du bleibst hier, du gehst nicht weg! Das KÖNNEN sie nicht machen!!!"

Sie konnten und sie taten es. Und sie schickten Nieve in irgendein Heim, weit weg von unserer verfluchten kleinen Stadt. Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.

Die folgenden Tage und Wochen durchlebte ich wie in Trance. Wieder einmal stand ich komplett neben mir, ehrlich gesagt, mir war auch alles egal, die Schule, meine Mitmenschen, sogar mein Bruder. Alles. Ich war gefangen in einem schlechten Traum und konnte nicht aufwachen.

Bis ich eines Morgens zufällig diesen Artikel in der Zeitung las.

Ich bin mir sicher, sie alle haben schon einmal einen dieser Augenblicke erlebt, in denen sie eine Erkenntnis trifft wie ein Blitz. Von einer Sekunde auf die nächste sehen sie vollkommen klar, obwohl sie davor nicht einmal gewusst haben, dass sie von Schatten verblendet im Dunkeln getappt haben.

Nun, genau so ein Erlebnis hatte ich an jenem Morgen. Mein Blick fiel auf die schwarz-weiße Titelseite unserer Tageszeitung.

"17-jähriger Gymnasiast wegen Drogenhandels vor Gericht."

Aus irgendeinem Grund weckte die fett gedruckte Schlagzeile meine Neugierde und so las ich weiter. Der Artikel berichtete, dass ausgerechnet einer meiner minderwertigen Klassenkameraden beim dealen erwischt worden war, und ehrlich, als ich sah, dass dieser dumme Junge aus Robs Clique stammte, konnte ich mir ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.

"Hey, Rob!" rief ich. Mein Bruder sah desinteressiert von seinem Wurstbrot auf. "Rob, stell dir vor: Der Timothy war ein Dealer!"

"Ich weiß!" entgegnete Rob schulterzuckend. "Wusste doch fast jeder... von ein paar bemitleidenswerten Außenseitern mal abgesehen."

"Was? Du wusstest... Aber warum..." Ich stockte. Ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf und wurde zur Gewissheit, als ich es in den Augen meines Bruders schadenfroh zu blitzen begann.

"Warum ich ihn nicht verpfiffen habe?" Er verzog genervt das Gesicht. "Mensch, der Junge war mein Kumpel, aber von solchen Dingen verstehst du nix. Hast ja keinen Freund mehr."

Hast ja keinen Freund mehr! Der Satz hallte durch meinen Kopf. Langsam verschwamm das zufriedene Grinsen meines Bruders vor meinen Augen und ich musste mich am Küchentisch festhalten.

"Rob," sagte ich ruhig. "Rob, ihr habt Nieve dieses Zeug in den Schulranzen getan, oder?"

"Kann schon sein!" Er biss in sein Brot. "Man, wir ham halt echt nicht daran gedacht, dass ihr zwei befreundet wart. Sollte nur ein Spaß sein, man, ich mach doch sowas nicht aus bösem Willen heraus. ICH bin ja nicht der Typ Mensch, der einem Beziehungen und Freundschaften aus purer Rachsucht ruiniert."

"DU?!?" Ich riss meine Augen auf und starrte ihn an. "Deine Idee war das also?" Ich keuchte. "Das hast du getan, weil dir Debbie so eine Szene gemacht hat, nicht? Das war nur ein dummer Racheplan."

"Und wenn schon! Dann sind wir jetzt ja quitt, also reg dich nicht auf, das macht hässlich."

"Rob, verdammt, warum hast du das getan!!!" Ich packte ihn bei den Schultern. "Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da angerichtet hast?" Wieder einmal war der Moment erreicht, in dem ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

"Mensch, komm runter von deinem Trip!" Er stieß mich weg, dass ich gegen die Fließen der Küchenwand prallte. "Solche Freaks wie den gibt es an jeder Ecke. Heulsuse."

"Halt den Mund!!!" schrie ich. "Er war mein bester Freund!!!"

"Schade." Rob stand auf, nahm seinen Schulranzen und schlenderte aus der Küche. "Jetzt reg dich nicht mehr auf, wir kommen sonst zur spät zum Unterricht." Dann ließ er mich stehen.

Wissen sie, in diesem Moment verlor ich meinen Glauben an alles Gute im Menschen. Das mag kitschig klingen, aber anders kann ich den tiefgreifenden Schock nicht beschreiben, der mit der unglaublichen Erkenntnis von mir Besitz ergriffen hatte. Stellen sie sich das doch nur einmal vor: Mein Bruder betrügt seine Freundin, die er mir vor nicht allzu langer Zeit ausgespannt hatte. Nun mache ich einen Fehler, den, seien wir einmal ehrlich, wahrscheinlich jeder an meiner Stelle begangen hätte: Ich lasse diese zutiefst verachtenswerte und falsche Aktion auffliegen. Das die Betrogene ihren Freund daraufhin ins Nirwana schickt, nun, das ist ja nun wirklich verständlich und gewiss nicht meine Schuld. Trotzdem ersinnt diese verachtenswerte Persönlichkeit einen Rachefeldzug, wie er schlimmer nicht sein könnte, und wissen sie auch warum? Weil er nicht, oder zumindest nicht nur mir das Leben ruiniert, sondern einem vollkommen unbeteiligten Menschen, der nun zufällig mein bester Freund ist.

Nun, der Schock hielt nicht sonderlich lange vor und mit ihm ging auch die hilflose Wut. Ich wusste plötzlich wieder, was zu tun war, mein bislang von Unglauben gelähmtes Dasein hatte mit einem Mal wieder einen Sinn und ein Ziel:

Ich würde es ihm alles heimzahlen.
 

Ich plante meinen Rückschlag bis ins Detail genau. Alles musste stimmen, alles musste perfekt sein. Ich schlief kaum noch, arbeitete wie ein Besessener an jeder noch so kleinen Feinheit, durchdachte jede mögliche Schikane, bereitete mich auf jeden Fehler genauestens vor. Und wissen sie was? Das Ergebnis war besser als alles, was ich mir jemals hatte träumen lassen. Diesesmal würde ich nicht mit einer unüberlegten, hitzköpfigen Racheaktion zuschlagen wie damals, als er mir Debbie wegnahm.

Diesesmal würde ich es genießen.

Am schwersten an der ganzen Sache war das Warten. Schließlich konnte ich nicht einfach irgendwann zuschlagen, ich hatte eine überaus wichtige Zeitkonstante zu beachten. Meine Rache würde ihn treffen, wenn er hilflos war. Allein. Ich musste warten, bis mein Vater sich zu einer seiner Geschäftsreisen aufmachte. Als der Termin endlich fest stand, zählte ich sehnsüchtig die Tage. Viel zu langsam verstrich die Zeit, und mit dem warten kamen die Zweifel: Was, wenn es schief gehen würde?

Nein, es konnte nicht schief gehen, sagte ich mir. Der Plan war vollkommen.

Und dann war es soweit. Es war Samstag, ein verhältnismäßig heller Tag dafür, dass der Winter langsam anbrach. Ich lächelte und war mir sicher, dass der Himmel mir die Sonnenstrahlen wie ein Triumphzug von Fackelträgern herabschickte. Die anthrazitgraue Limousine meines Vaters verschwand langsam am Horizont wie ein Held in einem dieser Uralt-Western, der auf seinem Pferd der Sonne entgegenreitet. Weder er noch mein Bruder konnten zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass ich die letzte Nacht keine Minute geschlafen hatte. Dass ich das gesamte Haus zu meinen Zwecken präpariert hatte.

Ich pfiff ein fröhliches Liedchen und richtete mein Frühstück.

Die Stunden bis zum Abend zogen sich endlos dahin. Ich lief im Wohnzimmer auf und ab wie ein eingesperrter Tiger im Zoo. Immer wieder sah ich nervös auf die große Standuhr neben dem künstlichen Kaminfeuer. Mein Bruder hatte sich wie erwartet mit Freunden getroffen, doch nun stieg mit jeder verstreichenden Sekunde die Angst in mir, er könnte nicht wieder zurückkommen. Was, wenn er schlicht und einfach beschlossen hatte, bei einem seiner Kumpels zu nächtigen? Was, wenn er sich auf irgendeiner Party so dermaßen zugesoffen hatte, dass er meine Rache am Ende gar nicht mehr bewusst erleben konnte?

Machen wir es kurz: Meine Nerven lagen blank. Und als sich dann kurz vor halb Zwölf ein Schlüssel im Türschloss herumdrehte, hätte ich vor lauter Aufregung - und zugegebenermaßen auch Vorfreude - beinahe laut aufgeschrieen. Erst im letzten Augenblick wurde mir klar, dass ich mir damit schätzungsweise die ganze Arbeit der letzten Wochen auf einen Schlag ruiniert hätte. Ich durfte nicht auffliegen. Mit angehaltenem Atem löschte ich rasch das Licht im Wohnzimmer und versteckte mich hinter den Gardinen. In meiner Hand hielt ich eine alte Fernbedienung, die vor langer Zeit den Geist hatte aufgegeben. Es war mir ein leichtes gewesen, sie zu reparieren und jetzt war sie der Zünder meiner ganz persönlichen Bombe.

Mit klopfendem Herzen drückte ich den Startknopf für den Videorekorder. Nun war es also soweit: Meine Rache hatte begonnen.

Der Fernsehbildschirm erhellte sich genau in dem Augenblick, als Rob durch das Wohnzimmer schlich, auf dem Weg zur Treppe in das Obergeschoss. Verwirrt sah er auf. Der ganze Raum wurde in blutrotes Licht getaucht und der zuckersüße Klang einer Spieluhr ertönte. Ein kleines Mädchen hielt sie in ihren zarten Händen und starrte mit ihren großen Augen auf das zur Melodie tanzende Püppchen. Dann plötzlich riss die Kleine den Mund auf, ihre weißen kleinen Zähne wichen einer Reihe blutverschmierter, spitz zulaufender Mordwerkzeuge. Aus sämtlichen Körperöffnungen, den Augen, der Nase und Ohren lief dickflüssiges Blut.

Die Spieluhr klimperte weiter und ich konnte mir ein Kichern nur mühsam verkneifen. Ich hatte eine halbe Ewigkeit nach diesem Horrorfilm gesucht, aber ich wusste, dass mein Bruder als kleines Kind eine Heidenangst davor gehabt hatte. Und scheinbar hatte sich das noch nicht geändert, denn er riss die Augen weit auf und starrte keuchend auf den Bildschirm.

"Ravin? Komm raus, lass den Blödsinn?" Seine Stimme bebte vor Panik und Entsetzen. Die normale Fernbedienung lag gut sichtbar auf dem Tischchen mit der Programmzeitschrift, ich wusste, Rob hatte sie schon längst gesehen. Vielleicht war er deshalb so verängstigt.

Niemand hatte diesen Videorekorder einschalten können.

Er näherte sich dem Elektrogerät so vorsichtig, als wäre es eine blutrünstige Bestie, die sich jeden Augenblick auf ihn stürzen wollte. Mit zittrigen Fingern stoppte er das Videoband. Ich konnte mir den Spaß nicht verkneifen, noch einmal den Play-Knopf zu drücken und die Spieluhr noch ein wenig klimpern zu lassen. Rob krächzte entgeistert. Er hämmerte mit dem Finger auf den Stop-Knopf ein. Seine Brust hob und senkte sich rasch. Er hatte Angst.

Doch schon im nächsten Augenblick übernahm der rational denkende Rob wieder die Steuerung und begann, das Zimmer systematisch abzusuchen. Darauf war ich natürlich vorbereitet. Rob warf zunächst einen Blick unter das Sofa, und wandte sich dann den näher gelegenen Gardinen auf der anderen Seite des Zimmers zu. Damit hatte ich gerechnet. Freudig erregt, weil mein Plan noch besser klappte als angenommen, eilte ich lautlos durch den Raum und verkroch mich unter dem Sofa. Ich wusste, dort hatte er schon nachgesehen und würde es kein zweites Mal tun.

Doch dann näherten sich Schritte. Mein Herz blieb beinahe stehen.

Er will auf die andere Seite des Zimmers, redete ich mir ein. Aber die Füße stoppten genau vor der Couch, unter der ich unglücklicherweise gerade lag. Ich hätte vor Enttäuschung schreien können. Wahrscheinlich hatte er mich doch bei meinem Standpunktwechsel bemerkt, und jetzt würde er mich hervorziehen, mich fröhlich verprügeln und dann über mich lachen. Na toll!

Erst einige Sekunden später begriff ich, war wirklich geschah. Ich hörte ein scharrendes Geräusch auf dem Lederbezug des Sofas, dann flogen einige Kissen auf den Boden. Dort sah Rob also auch noch nach! Ich musste lächeln. Er war wirklich klug. Nur nicht klug genug für mich.

Ich wartete geduldig, bis sich unsere gesamten Sofakissen zu einem stattlichen Stoffberg auf dem Boden auftürmten. Bis Rob das Zimmer weiter durchsuchte. Nichts fand. Aufgab. Genau so, wie ich es alles geplant hatte. Ich riet im Geiste, welchen Schritt mein Brüderherzchen wohl als nächsten unternehmen würde, und, ob sie's glauben oder nicht, er handelte so vorhersehbar, dass ich beinahe ein wenig enttäuscht war: er lief ohne irgendwelche Umwege auf sein Zimmer.

Sein Zimmer.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen, dass man wohl nur noch mit dem Wort irrsinnig beschreiben konnte. Mit aufgeregt schlagendem Herzen rannte ich in die Küche, um mich für das unmittelbar bevorstehende Finale vorzubereiten. Ich lauschte. Kein Geräusch. Er hatte das Meisterwerk noch nicht erblickt. Trotzdem musste ich mich beeilen.

"Oh... OH MEIN GOTT!!!"

Todesangst in seiner Stimme. Ich lachte. Die Mühe war nicht umsonst gewesen. Und, glauben sie mir, es ist eine ganze Menge Arbeit, ein Zimmer so albtraumhaft zu gestalten, wie ich es in dieser schicksalhaften Nacht getan hatte.

Es glich einem Schlachthaus.

Wissen sie, ich hatte mich keineswegs damit begnügt, die immerzu weißen Wände mit Tomatensoße, roter Farbe oder ähnlichen Spielchen einzuschmieren, nein, das war mir zu einfach. Mein wahrhaft grandioser Racheplan schrie nach... Authentizität... Verstehen sie? Ich wollte den Geruch von Blut im Zimmer liegen haben... Es sollte warm und lebendig von den Wänden laufen, über das Bett, die Poster, den Schrank und die Regale, es sollte sich in einem tiefroten See auf dem Boden sammeln und ein Lied von Tod und Zerstörung singen.

Schockiert sie das jetzt? Wissen sie, ich habe mich selbst einige Male über mich und mein Handeln gewundert, als ich den Raum mit einigen Kilo rohen Schweinefleisches bearbeitet habe. Sie hätten es sehen müssen, sie können sich einen derart grotesken Anblick überhaupt nicht vorstellen. Probieren sie es nur aus, solch eine Aktion hat in der Tat etwas sehr... belustigendes an sich.

Aber ich merke, ich schweife schon wieder ab. Dabei war der Moment, in dem ich das Treppenhaus nach oben schlich, ein langes Fleischmesser in der Hand, etwas unbeschreiblich aufregendes an sich. Ich wusste nun endlich, wie sich all die wahnsinnigen Killer in den Horrorfilmen fühlen mussten, und ich stellte fest, dass mir dieser Job wirklich gefallen hätte. Meine Waffe hatte ich in das Gefrierfach gelegt, damit das Blut an der Klinge auch schön verklumpte. Der Anblick hatte durchaus etwas Widerliches und Abstoßendes an sich, aber genau das erfüllte mich mit unbändigem Stolz.

Ich war ein Genie.

Ein unbeschreibliches Gefühl unendlichen Triumphes durchströmte mich, schon als ich die geöffnete Zimmertüre auf halbem Wege des Flures erblickte. Dumpfe Schreckenslaute drangen daraus hervor. Ich sah sein von Angst und Entsetzen verzerrtes Gesicht vor mir, noch ehe ich den Raum betreten hatte. Das Adrenalin jagte durch meinen Körper, als ich langsam und lautlos durch die Türe trat. Der Anblick war unbeschreiblich. Blut, überall Blut, ein Wahrheit gewordener Albtraum. Und mittendrin eine Gestalt, zitternd und kopfschüttelnd. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Rob, was es bedeutete, Angst zu haben.

"Hallo, Brüderchen!" Ich hatte lange geübt, meine Stimme auch wirklich irrsinnig, komplett wahnsinnig und geisteskrank klingen zu lassen. In diesem Moment stellte ich fest, dass zumindest diese Arbeit umsonst gewesen war. Der Tonfall stellte sich von alleine ein. Ich kicherte.

"Ra... Ravin... DU?!?" Rob fuhr herum. In seinen Augen stand fassungslose Panik. Oh ja, er fürchtete sich wirklich halb zu Tode, ich hatte ihn in der Hand, endlich, endlich! Mein Herz schlug so schnell, als wollte es zerspringen. Meine Rache, sie war vollbracht! Das Gefühl unendlicher Euphorie überkam mich. Dies war mein Sieg, ein Schmerzmittel für meine blutende Seele.

"Hast du jetzt Angst?" fragte ich. "Was ist denn, ich bin es doch nur! Warum schaust du denn so blöd? Liegt es vielleicht daran, dass ich EIN MESSER IN DER HAND HABE?"

"Oh Gott, du bist ja wahnsinnig!" Er schüttelte den Kopf.

"Ja? Bin ich das? Ist es das, was du denkst? Nun..." Ich grinste. "...VIELLEICHT!!!" Ich weidete mich noch einige Sekunden an dem Ausdruck auf seinem Gesicht, dann beschloss ich, langsam zum Ende zu kommen, schließlich wollte ich ihn ja nicht durchdrehen lassen, nur ein bißchen vielleicht. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. "Aber... VIELLEICHT war es auch viel eher Wahnsinn, was du mit Nieve gemacht hast..."

"Nieve?!?" Er starrte mich an. "Moment... Moment mal..." Die Angst wich aus seinem Blick und machte einer Mischung aus Wut und Verachtung platz. "Nur, weil du kleiner Bastard immer noch deinem abgefuckten kleinen Junkiefreund nachtrauerst, schockierst du mich hier halb zu Tode, ruinierst mein Zimmer, spielst den Irren... oh man!!! Du bist so irre, das gibt es schon gar nicht mehr!!!"

"Ich?" Jetzt begann ich zu schreien. "Ich bin also irre, ja? Mann, du hast doch keine Ahnung, was du ihm angetan hast! Er war glücklich, zum ersten mal in seinem Leben, kapierst du das? Du hast alles kaputt gemacht! Jetzt ist er wieder in irgendeinem beschissenen Heim und..."

"Ist er nicht. Idiot." Er verdrehte die Augen. Jetzt war ich derjenige, der entsetzt dreinblickte.

"Wie... wie meinst du denn das?" Mein Hals fühlte sich trocken an beim Schlucken.

"Aber er hat doch... Oh Shit!" Er grinste verlegen. "Ich und meine große Klappe. Vergiss am besten, was ich gesagt habe!"

"Nein! Ich meine... was soll das überhaupt? Woher willst du denn bitte wissen, was Nieve gemacht hat?" Langsam stieg eine verdammt ungute Vorahnung in mir auf, aber noch war sie - selbst für meinen Bruder - einfach zu unvorstellbar und abscheulich, als dass ich sie wirklich in Betracht ziehen konnte.

"Aaaaach, weißt du, Kleiner... Dein Freundchen hat ein Paar Briefe geschrieben, die, nun ja... der Postbote muss sie irgendwo verloren haben... Ähem..."

"Sag nicht... Du, du hast sie gelesen, du Ratte!!!" Ich schüttelte entsetzt den Kopf. "Wo sind sie, wo hast du sie hingetan?"

"Ich fürchte, sie hatten allesamt eine kleine Meinungsverschiedenheit... mit meinem Feuerzeug..."

"Nein!!!" Meine Hände begannen zu zittern. Ich konnte es einfach nicht glauben. Nieve hatte mir geschrieben, wahrscheinlich sogar sehr oft. Und nie war eine Antwort von mir gekommen. Was musste er denn nur von mir denken!

"Was... was hat er geschrieben?" Ich versuchte krampfhaft, jetzt nicht auszurasten. Es fiel mir schwer.

"So dies und das." Rob wusste, dass er nun wieder die Oberhand gewonnen hatte. Er fühlte sich sicher, und das zeigte er auch. "Zum Beispiel, dass er in eine neue Familie gekommen ist, dass der Vater Alkoholiker ist, schon wieder, bla bla, was hat er eigentlich damit gemeint? Wieso - schon wieder?"

"Rob, du bist ein Monster!!!" Wie so oft stiegen mir Tränen in die Augen. Ich war verzweifelt. Am Boden zerstört. Und das war alles, alles nur seine Schuld. "Jetzt hör mir mal zu. Wenn du es JEMALS wieder wagen solltest, dich an einem seiner Briefe zu vergreifen, dann wirst..."

"Ach, ich glaube nicht, dass er nochmal schreibt..." Rob zuckte mit den Schultern.

"Wie-Wieso nicht?" Ein zentnerschwerer Stein schien sich auf meine Brust zu legen.

"Was weiß ich, sein letzter Brief klang schwer nach... Abschied..."

"Abschied?" Ich keuchte.

"Jaja. Er schrieb so irgendetwas von Heimkehr und so ein Blödsinn. Ich kann nicht mehr. Und ungefähr tausendmal: Es tut mir so leid. Er sehe auch keinen Ausweg mehr." Rob lächelte, so wie ein Kind beim Anblick eines zertrampelten Käfers lächeln würde. "Ravin, meinst du, er war wirklich so blöd? Meinst du, er hat sich umgebracht? Nee, oder?"

Das war zuviel. Ich hatte so vieles ertragen im Laufe meines Lebens, und es erschien mir im Nachhinein alles so harmlos und unwichtig. In diesem Augenblick verschwamm alles vor mir, die Umgebung, das Grinsen meines Bruders, das Blut und das Fleischmesser. Ich glaube, für eine winzige Sekunde war ich tot, wirklich tot.

Ich erwachte schnell. Ein grausames Erwachen. Jetzt war alles vorbei, Nieve, mein einziger, liebster, allerbester Freund auf der ganzen Welt war tot. Und es war meine Schuld.

Meine Schuld?

Was dachte ich denn da? Es war nicht meine Schuld, nein, ganz und gar nicht.

Es war seine Schuld. An den Händen meines Bruders klebte das Blut des fantastischsten Menschen auf der ganzen Welt.

"Du... DU MONSTER!!!" Ich schrie so laut, dass es mir im Hals wehtat. "Du kannst doch kein Mensch sein!!!"

"Ich? Kein Mensch?" Rob lachte. "Achja? Und wer hat unsere Familie infiziert wie... wie ein VIRUS? Huh! Ravin, du weißt, was ein Virus ist, du kleiner Klugscheißer. Ein widerlicher Parasit, der alles nur vernichtet. So bist du auch!"

"ICH?!?" Meine Stimme überschlug sich.

"Ja, DU!!! Schau nur, was du mit dem Haus gemacht hast! Und nach Mums Tod hast du ja wohl alles getan, um Dad das Leben noch schwerer zu machen! Kapierst du nicht, wie egoistisch du eigentlich warst?"

"Aber..."

"Ach, halt doch den Mund!!! Du machst immer nur Ärger, du kleines Stück Dreck, und dein Freund war genauso! Darum musste er weg, kapierst du das denn nicht? Irgendwann begreifst du vielleicht, dass ich etwas GUTES getan habe... für uns alle und für dich!"

Ich antwortete nicht mehr. Ich dachte auch gar nicht mehr wirklich darüber nach, was ich als nächstes tat. Ich war wie eine Maschine. Ich fühlte nur einen rasenden, unerträglichen Schmerz irgendwo tief in mir, sonst nichts. Ich war gefangen unter einer unbewegten, starren Maske.

Mein Leben war vorbei.

Ich bewegte mich wie mechanisch auf meinen Bruder zu. Meine ins nichts blickenden, von Tränen erfüllten Augen richteten sich unendlich langsam auf sein Gesicht, und fast im gleichen Augenblick erhob ich auch meinen zitternden Arm und mit ihm das blutverschmierte Messer. Rob wehrte sich nicht. Vielleicht konnte er einfach nicht glauben, dass ich tatsächlich so weit gehen würde. Vielleicht war er auch einfach nur zu erschrocken über die Handlungsweise seines kleinen Brüderchens. Vielleicht lähmte ihn der Ausdruck in meinen Augen.

Tief in seinem Inneren wusste er ganz sicher, dass er sterben würde.

"Bye-bye." sagte ich und lächelte. Dann riss ich mit einem Schrei das Messer hoch, und begann, auf die Gestalt vor mir einzustechen. Immer und immer wieder, bis er am Boden lag, bis er sich nicht mehr bewegte. Dunkelrotes, warmes Menschenblut breitete sich auf dem Boden aus. Ich schrie immer noch. Ein ums andere mal bohrte sich die Klinge in Robs Körper, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem gutaussehenden Jungen hatte.

Ich hatte einen Menschen getötet.
 

Das nächste, was ich weiß, ist, dass ich am nächsten Morgen auf dem Boden des Flures aufwachte. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Ich lag auf dem Rücken. Mein Körper war über und über mit Blut bespritzt, aber das nahm ich kaum wahr. Ich starrte einfach nur an die Decke und begriff nur ganz langsam, was ich eigentlich getan hatte.

Rob war tot.

Wissen sie, in diesem Moment bereute ich, was ich getan hatte. Ehrlich, ich bereute es zutiefst und es war falsch.

Ich lag noch lange einfach so da, und als ich endlich aufstand, schlug ich als erstes die Türe zu Robs Zimmer zu. Dann dachte ich nach. Und kam schließlich, gegen Abend, zu dem Entschluß, meine Geschichte zu Papier zu bringen. Sie halten diese Geschichte jetzt in den Händen. Der Kreis schließt sich, und es dämmert bereits. Der Abschied naht. Wissen sie, Abschiede stimmen mich immer ein wenig melancholisch. Dabei sollte ich mich freuen. Habe ich denn Grund dazu? Wissen sie noch, was ich von ihnen wollte? Genau, nachdenken sollten sie. Und genau deshalb lasse ich sie jetzt mit ihren Gedanken allein. Halten sie mich für Böse? Wahnsinnig? Das bin ich wohl. Aber jetzt seien sie ein einziges Mal ehrlich zu sich selbst. Nur ganz kurz. Es schadet nicht, niemand kann ihre Gedanken lesen. Und jetzt beantworten sie mir eine Frage:

Wie hätten sie gehandelt? Können sie mich nicht wenigstens ein bißchen verstehen? Ich weiß, das können sie. Wenn sie nur für ein paar wenige Augenblicke all ihre festgefahrenen Moralvorstellungen ausser Acht lassen, wenn sie nur ganz kurz einmal auf ihre eigenen, menschlichen Gefühle hören... dann können sie mich verstehen, auch wenn es sie erschreckt.

Dies ist das Leben. Vielleicht sehen sie ein, dass es mehr gibt als nur Schwarz und Weiß.

Jetzt entschuldigen sie mich, ich muss dringend mal telefonieren.

Einen schönen Tag noch.



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Kommentare zu diesem Kapitel (11)
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Von: abgemeldet
2007-01-02T00:40:05+00:00 02.01.2007 01:40
Ich kann nicht wirklich was neues schreiben... die anderen haben recht.
Das hier ist eines der besten FF, die ich je gelesen habe.

Der Schreibstil ist wirklich ansprechend, als hätte jemand da gesessen und mir seine Geschichte erzählt.
Vor allem die Perspektive gefällt mir sehr gut.
Und wenn man mal darüber nachdenkt.... Die Story beschreibt wirklich einen langen Zeitraum und die Problematik ist wirklich jährlich gestiegen.

Was mir persönlich auch noch gefallen hat ist, diese Schwarz-Weiß-Geschichte, von wegen, die Grenzen können nicht klar gezogen werden. Die hast du sehr gut dargestellt.

Ich weiß nicht ob ich letztendlich so gehandelt hätte wie der arme Ravin, aber seine Gedankengänge sind durchaus logisch und nachvollziehbar.

Fazit: Die Geschichte ist genial absurd... genau, wie ich es mag.
Von:  Melatonin
2006-11-13T23:10:26+00:00 14.11.2006 00:10
Whoah... Ich bin überrascht... entsetzt... fasziniert... Ich habe noch nie so etwas unglaublich tolles, bewegendes gelesen. Ich konnte mich sehr gut mit Ravin indentifizieren. Ich hätte Rob auch getötet. Ich werde jetzt sicher von diesem Bild träumen, von dieser faszinierenden Vorstellung.

Ryuuzaki

Mach weiter so.
Von:  -Evil-
2004-07-24T00:10:07+00:00 24.07.2004 02:10
Ich kann nicht so viel schreiben wie die andern vor mir weil ich einfach..uah,versteh es nicht falsch,diese STory,geschichte ist für mich alles andere als ekelerregend aber es schaudert mich wie weit so was gehen kann
*schauder*
Ich mag dne schreibstil,is so ziemlich jetzt noch das einzige was ich sagen kann ^^"

Jani-chan
Von:  Sakurajima
2004-07-23T18:05:01+00:00 23.07.2004 20:05
... Ja! Das ist eine Geschichte, die einen wirklich zum Nachdenken animiert. Um ehrlich zu sein, ich denke, ich würde ebenfalls so handeln....
Dein Schreibstil ist außergewöhnlich und hebt sich sehr von den Anderen ab. Anhand wie du schreibst, kann man erkennen, dass du dir entweder sehr viel Mühe gegeben und viel Zeit reingesteckt, sowie ständig überschrieben ( neu geschrieben) hast, ODER du einfach nur genial bist, also wirklich intelligent bist. Selten schafft es wer so tiefgründig; erschreckend beängstigend genial solch eine Gefühlslage, das beschissene Leben eines Außenseiters zu beschreiben, so dass der Leser das Gefühl bekommt, du würdest direkt über dich schreiben, und direkt an den Leser gerichtet erzählen, so, dass du sie alle in den Bann ziehst, und selbst wenn sie aufhören wollen zu lesen, zum Beispiel um Essen zu gehen - sie können nicht, da sie viel zu sehr von dieser psychisch tiefgreifenden, traurigen, aber auch irgendwie kranken ( sorry ^^) Geschichte gefesselt sind.
Respekt!!! Und Glückwunsch! Genau in diesem Moment wandert deine Fic unwiderruflich in meine Topliste der besten Fics hier auf Animexx und sonst wo ^_____^
So, und jetzt geh ich, und les mir deine anderen Fics durch.... das wird ne lange Nacht ^^
Von:  Corylus_Avellana
2004-07-04T22:57:39+00:00 05.07.2004 00:57
Eine wirklich nahezu perfekte Story, wie sie keiner hätte besser schreiben können. Auch wenn ich nicht in die Zielgruppe gehöre an die diese Erzählung gerichtet wurde da ich z.B. schon bei einem Psychater war und ihn mir nicht mehr so wie ein 08/15 Normalbürger-Perfektling vorstelle.
Aber ehrlich gesagt hätte ich an seiner Stelle nicht um meine Mum getrauert. Auch wenn ich jetzt kaltherzig erscheine, es ist so. Ich habe eine ähnliche Situation erlebt. Ich habe eine kleine Schwester. Als sie geboren wurde, wurde auch sie nur verhätschelt und ich vernachlässigt (jedenfalls kam es mir so vor), auch von meiner Mutter. Und es wäre mir egal gewesen, hätte sie es plötzlich nichtmehr gegeben um es milde auszudrücken.
Und dabei bin ich ziemlich sensibel.
Nun, jetzt bin ich abgeschweift ^^;
Was soll ich noch sagen...
Eine wirklich empfehlenswerte Geschichte.

Blacky
Von: abgemeldet
2004-04-10T20:23:42+00:00 10.04.2004 22:23
wow.
das lässt mich erst mal sprachlos... diese geschichte ist super. dein stil ist mehr als perfekt, er ist brilliant. sowie die atmosphäre der geschichte, die handlung, das ganze nimmt einen gefangen. am schluss der ersten beiden seiten habe ich vor anspannung gezittert. und mit fehlen beinahe die worte, um meine meinung wirklich zu umschreiben.
wie kamst du eigentlich auf die idee, so etwas zu schreiben?
jedenfalls - weiter so ^^
Von:  KAorBA
2004-02-20T22:44:51+00:00 20.02.2004 23:44
Also wass soll ich sagen, hm irgenwie hab ich es geant das die Geschicte so endet: nämlich das entwieder er sich das Leben nimmt oder er seinen aus wut tötet, aber ich muss auch sagen das ich auch manchmal an ein Happyend dachte. Ein großes Lob an dich für diese sehr gute Geschichte, denn es ist eines der wenigen Storys die hier oder wo anders und vor allem von dieser Länge an einem Abend durchgelesen hatte.
Also noch mal ein großes Lob an dich:-)!!!
Von: abgemeldet
2004-01-27T17:45:36+00:00 27.01.2004 18:45
Nicht schlecht!
Du hast einen außergewöhlichen Schreibstil. Aber ich muss zugeben, dass er mir gefällt. Deine Sätze sind unglaublich lang und es ist bemerkenswert, wie du es trotzdem schaffs Kraft mit ihnen auszudrücken.
Dein Anfang hat mit am besten gefallen. Du hast es geschafft mich mit dem ersten Satz zu stutzig werden zu lassen und somit mein Interesse geweckt. Was die meisten Autoren hier anscheinend nicht fertigstellen.
Deine Charakterstudie ist auch nicht zu vergessen, obwohl sie mich manchmal an ein tagebuch eines pubertierendes, sitzengelassenen Mädchens erinnert.
Kurz gesagt: Du hast ein unglaubliches Gefühl für Sprache und wann und wieman sie einsetzten muss.
Anna
Von:  YourBucky
2002-10-24T11:31:29+00:00 24.10.2002 13:31
*rotwerd* Oooooh, dankedankedankedanke für das Lob!!! *freu* *jubel* *jauchz* Ich war heute so richtig deprimiert, weil meine Bilder immer so schlecht benotet werden, aber das... hat mich richtig aufgebaut... *snif* Das ist wirklich total lieb!!! DANKE das dir meine Geschichte gefällt, DANKE für das Comment... ^_^ Wow...
Von: abgemeldet
2002-10-19T08:10:34+00:00 19.10.2002 10:10
Oh my goddness,
das war WAHNSINN und das in vielerlei Hinsicht.
Ich kann nicht mal ansatzweise so .......brilliant schreiben, wie du. Die Story ist einfach nur........genial............volkommen...........gardezu perfekt.
Wie kommt man nur auf sowas?
Und wenn ich die Frage beantworten müsste: JA, natürlich hätte ich diesen Rob umgebracht, was denn sonst.
Und Ravin, tja, der tut mir leid. Erst seine Mum, dann Debbi und zum Schluss Nieve, es wundert mich,das er sich nicht noch selbst umgebracht hat.
Also, was soll ich sonst nocn groß sagen? Das die Story fabelhaft, absolut geil und unübertrefflich ist? Nein, denn das wäre weit untertrieben.
Also sage ich einfach, das ich es toll finde, das es wenigstens einen gibt, der richtiges Talnt zum schreiben hat(im Gegensatz zu mir) und dass du ruhig noch mehr solche Sachen schreiben kannst.
Ach, ja und hier eine Drohung für alle anderen, die diese Story lesen, aber keinen Kommi schreiben:
Auch ICH habe ein SEHR SCHARFES MESSER!!!!!!, also schriebt gefälligts was drunter!!! SOFORT!!!
So, dann bis demnächst
Chris


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