Act III: Brachst die
Mauern um mich
nieder
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"Einander kennen lernen heißt lernen, wie fremd man einander ist."
~Christian Morgenstern (Schriftsteller (1871-1914))~
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_Leicht_ genervt verließ Hisui die Turnhalle. Der Sportlehrer hatte
ihn noch zu einem Gespräch dabehalten und sich mit ihm über seine
Kampfkünste unterhalten. Der Lehrer hatte so lange auf ihn
eingeredet, bis Hisui sich schließlich widerwillig dazu hatte
überreden lassen, an einer Vorführung beim Schulfest teilzunehmen
(und nur damit sie sich richtig verstanden: ganz allein sein geliebter
Shinju war es gewesen, der ihn zur Zustimmung bewogen hatte!!).
Die anderen waren schon längst zurück ins Klassenzimmer
gegangen, um dem Nachhilfeunterricht beizuwohnen, da es bei
ihnen keine extra Juku[1] dafür gab.. Shinju hatte zwar auf ihn
warten wollen, aber Hisui hatte ihn dann doch losgeschickt, denn er
wollte nicht, dass der Kleine seinetwegen vielleicht Ärger bekam.
Schließlich hatte _er_ eine Entschuldigung, sein Geliebter aber
nicht.
"Shiro-sempai[2]!", rief plötzlich eine helle Mädchenstimme hinter
ihm.
Verblüfft drehte er sich um und sah von weitem ein ihm noch
unbekanntes Mädchen, das auf ihn zurannte. Abwartend blieb er
stehen.
Leicht keuchend kam das Mädchen vor ihm zum Stehen, verbeugte
sich dann hastig vor ihm. "Tut mir Leid, wenn ich dich aufhalte,
aber ich versuche schon seit heute Morgen mit dir oder Shinju-kun
zu reden. Ich bin übrigens Hanako."
Mit fragend gehobener Augenbraue sah er nach unten in das leicht
gerötete Gesicht des Mädchens. Schnell kramte sie in ihrer
Schultasche und förderte dann zwei Stapel Briefe zu Tage, drückte
sie ihm in beide Hände.
"Die sind für dich und die hier für Shinju-kun. Ich sollte sie euch
übergeben, weil ich letztes Jahr mit Shinju-kun zusammen in der
Kalligraphie-AG war."
Stirnrunzelnd betrachtete er die Briefe in seinen Händen. "Was soll
das sein?"
Das Mädchen kicherte. "Aber Shiro-sempai! Das sind Liebesbriefe!"
Hisui starrte sie verdutzt an. "Liebesbriefe?", echote er ungläubig.
/Weiber! Ich bin nicht mal eine Woche hier, hab kein einziges Wort
mit ihnen gewechselt und die schicken mir Liebesbriefe!! Haben die
Hühner nen Knall oder haben die nen Knall?/
Hanako lachte. "Oh, das ist gar nicht so ungewöhnlich. Shinju-kun
bekommt andauernd welche."
Das ließ ihn aufmerken. "Tatsächlich?"
Sie nickte und begann mit nicht wenig Begeisterung zu erklären:
"Ja. Bei den meisten Mädchen ist er sehr beliebt, weil er so gut
aussieht, mit allen immer sehr höflich und freundlich umgeht und so
schön sensibel ist." Ihre Wangen röteten sich leicht und Hisui
verwettete seine nächste Ration Blut dafür, dass unter den Briefen
an Shinju auch einer mit Hanako unterschrieben war.
Langsam nickte Hisui und das Mädchen, das offensichtlich schon
Freizeit hatte, wollte sich verabschieden, um ihn nicht länger zu
stören, doch er hielt sie zurück. "Könntest du mir etwas sagen?",
bat er sie.
Das Mädchen mit der dunkelblauen Satinschleife im Haar sah ihn
erstaunt an, stimmte aber zu.
Er zögerte noch einen kurzen Moment, dann fragte er: "Weißt du,
wieso die anderen Jungs Shinju immer ärgern?"
Hanako nickte vorsichtig. "Ich habe zumindest eine starke
Vermutung, was der Grund oder besser _die Gründe_ dafür sein
könnten."
Ungeduldig bedeutete der Schwarzhaarige ihr, weiterzusprechen.
Das Mädchen zog ihn nach kurzem Zögern zu einer nahen Bank,
setzte sich dann darauf und wartete, bis er es ihr gleich getan
hatte. Bedrückt rang sie sich die Hände in ihrem Schoß, bevor sie
leise aufseufzte und traurig begann: "Es ist eigentlich seine ganze
Art. Shinju ist sehr verträumt, oft geistig abwesend, manchmal
auch vergesslich und irgendwie... irgendwie _durchscheinend_, als
wäre er nicht von dieser Welt...
Er hört das Gras wachsen, wenn du verstehst was ich meine, und
er arbeitet viel eher mit Intuition und Gefühl als mit Verstand und
gelangt so auf von anderen nur sehr schwer nachvollziehbare Art
und Weise zu Einsichten, dass er oft im ersten Moment nicht ernst
genommen wird. Ganz plötzlich sieht er Lösungen klar vor sich, die
allen anderen entgangen sind oder er gibt rätselhafte Warnungen
und Ratschläge... und wenn sich seine Ahnungen bestätigen - was
nicht selten der Fall ist -, dann wirkt das natürlich sehr unheimlich,
gerade so, als hätte er in die Zukunft oder unsere Köpfe schauen
können.
Gleichzeitig ist er sehr sensibel und fast ein wenig zu weich,
weswegen ihn die _harten_ Jungen oft verspotten. Ich glaube,
manchmal ist ihm die harte Wirklichkeit ein bisschen _zu_ real und
dann flüchtet er sich wieder in seine Tagträumereien. Außerdem
wird er von vielen Mädchen gemocht und das zieht natürlich auch
Eifersucht nach sich. Ganz zu schweigen davon, dass er sowohl viel
intelligenter als auch attraktiver als die meisten der anderen Jungen
ist.
Trotzdem gibt es selbst bei den Jungen viele, die ihn eigentlich
mögen, weil er so hilfsbereit und mitfühlend ist, aber sie haben
Angst, etwas anderes als die "Anführer" zu sagen, die in ihm
vermutlich schwere Konkurrenz sehen. Sowohl was die schulischen
Leistungen, als auch die Mädchen angeht.
Wäre er nicht so verträumt und könnte er seine Angst vor diesen
Schlägertypen besser verbergen, dann würde er vermutlich sogar
hohe Anerkennung erfahren, schließlich ist er doch ein ziemlich
guter Kampfsportler und kann sich in einem fairen Kampf auch
durchaus wehren. Aber er hat wohl einfach schon zu viele
schlechte Erfahrungen in seinem Leben gemacht, nimmt sich alles
sehr schnell zu Herzen und lässt keinen mehr an sich ran..."
"Fast keinen", korrigierte Hisui sie leise.
Das Mädchen sah erstaunt zu ihm auf, nickte dann leicht lächelnd.
"Stimmt. Dich scheint er sehr zu mögen. Wir haben Shinju-kun wohl
noch nie so fröhlich und aufgeweckt gesehen, wie in dieser
Woche..."
Langsam stand Hisui auf, verneigte sich leicht vor ihr. "Arigatou
gozaimasu[3]."
Sie schüttelte den Kopf. "Gern geschehen."
Er nickte ihr noch einmal zu und ging dann zu seinem
Klassenzimmer, um den ganzen Stoff von heute noch einmal über
sich ergehen zu lassen.
Als er jedoch das Schulgebäude betrat, hörte er schon wieder
jemanden nach sich rufen.
Dieses Mal war es jedoch Akamatsu-san, die ihm vom anderen Ende
des Ganges fröhlich zuwinkte und ihm bedeutete, auf sie zu warten.
"Sensei?", machte Hisui erstaunt. "Ich dachte, Sie haben jetzt
frei?"
Die junge Lehrerin nickte. "Habe ich auch, aber der Direktor möchte
sich wegen der Organisation des Schulfestes mit Hirano-san
beraten und ich soll ihn inzwischen vertreten."
"Oh", machte Hisui. Es musste wohl ziemlich wichtig sein, wenn der
Direktor den Lehrer mitten in einer Stunde zu sich rufen ließ.
Akamatsu-san lachte über sein Gesicht und setzte sich dann in
Bewegung. Hastig folgte der Vampir ihr.
"Schon so viele Verehrerinnen, Shiro-kun?", lächelte die Lehrerin,
als sie die Briefe in seinen Händen sah, die er noch immer nicht
eingepackt hatte, was er nun hastig nachholte.
"Die sind ja nicht alle für mich", erwiderte er leicht verlegen.
Sie lachte und fragte dann aus heiterem Himmel: "Du magst Shinju
auch sehr, nicht wahr Shiro-kun?"
Hisui blinzelte erstaunt, nickte ganz automatisch. Natürlich mochte
er Shinju - mehr als das!
Seufzend schob sich die junge Frau eine Strähne hinter das rechte
Ohr, sah ihn plötzlich um einiges ernster an. "Und du wirst ihm auch
nicht weh tun, nein?"
Beinahe empört schüttelte Hisui den Kopf. "Aber Akamatsu-san! Ich
würde Shinju _niemals_ weh tun! Wieso sollte ich denn so etwas
machen?"
Akamatsu-san zuckte hilflos mit den Schultern. "Ich weiß es nicht.
Genauso, wie ich nicht weiß, warum die anderen Jungen Shinju
unablässig geärgert haben, bevor du dich zu seinem Beschützer
erklärt hast."
Hisui schwieg traurig, dachte an das Gespräch, das er eben mit
Hanako geführt hatte.
Plötzlich jedoch beugte sich die Lehrerin vor, strich ihm sanft über
die Wange, so wie er es sie einige Male bei Shinju hatte tun sehen.
"Danke, dass du ihn beschützt und auf ihn aufpasst. Und danke,
dass du ihn glücklich machst. Ich bin zwar nicht seine Mutter, aber
ich bin trotzdem sehr erleichtert darüber, dass Shinju jemanden
gefunden hat, dem er bedingungslos seine Liebe schenken kann und
der auch das Gleiche für ihn empfindet und seine Gefühle erwidert."
Hisuis Gesicht gefror, entgeistert starrte er sie an. Überrascht
machte der Schwarzhaarige den Mund auf und brachte doch kein
Wort hervor.
Sie lächelte ihn zufrieden an und nickte leicht. "Ja, ich weiß, dass
ihr euch liebt - _Und_ ich freue mich sehr für euch."
"Aber... woher...?", machte Hisui völlig aus dem Konzept gebracht.
Akamatsu-san lachte hell. "Also nun mal ehrlich, Shiro-kun! Ich bin
weder kurzsichtig noch verkalkt! Man muss sich ja nur anschauen,
wie ihr miteinander umgeht und redet, wie ihr gemeinsam lacht und
schweigt! Man müsste schon blind und emotionslos sein, um nicht
zu bemerken, wie viel ihr euch bedeutet - ihr seid ja schlimmer als
eineiige Zwillinge! Aber ich gebe zu, es war auch sehr
aufschlussreich, als ich euch gestern unter der alten Weide kleine
Zärtlichkeiten austauschen sah. Das einzige, was mich doch sehr
überrascht hat, war, dass sich Shinju dir so schnell geöffnet hat,
wo er sonst doch immer eher vorsichtig und verschlossen ist."
Hisui starrte sie noch einen Moment verblüfft an, dann musste er
leise lachen beim Anblick der breit grinsenden Lehrerin.
"Und wehe du bringst ihn zum Weinen, du großer Beschützer! Dann
bekommst du ein Jahr lang jeden Tag Strafarbeiten!", sie sah ihn
gespielt finster an.
Der Schüler schüttelte lächelnd den Kopf. "Ich werde gut auf ihn
aufpassen, Akamatsu-san."
Die Lehrerin nickte zufrieden, dann erreichten sie nach kurzer Zeit
das Klassenzimmer.
Hisui entschuldigte sich schnell und höflich, nannte den Grund
seiner Verspätung und ging nach einem stummen Kopfnicken des
Lehrers an seinen Platz.
Oder zumindest hatte er das vorgehabt, _bevor_ er Shinjus
verwaisten Stuhl erblickte.
Fragend drehte er sich zu Hirano-sensei um, doch dessen
Aufmerksamkeit galt im Moment Akamatsu-san.
Verwirrt und besorgt setzte sich Hisui auf seinen Platz, tastete
unsicher über die kalte Sitzfläche des Stuhles neben sich, als könne
er erst dann glauben, dass Shinju nicht da war. Er hatte sich in
dieser kurzen Woche, die sie sich nun schon kannten, einfach so
sehr daran gewöhnt, Shinju bei sich zu haben, dass er sich nun
irgendwie verloren vorkam und sich die leise Angst vor der
Einsamkeit wieder an ihn heranschlich.
In diesem Moment erklärte der Lehrer, dass Akamatsu-san ihn
vertreten müsse und verließ, nachdem er seiner Kollegin noch mit
gedämpfter Stimme etwas mitgeteilt hatte, das Zimmer.
Diese wartete, bis Hirano-san gegangen war, und wandte sich dann
mit strenger, ärgerlicher Miene ihrer Klasse zu.
"Weiß zufällig einer von euch, warum Kimura-kun nicht zum
Unterricht erschienen ist?", fragte sie und ihre eben noch freundlich
glänzenden Augen blitzten nun gefährlich.
Niemand antwortete.
"Wenn ich herauskriege, wer von euch daran Schuld ist, wird
derjenige sich vor mir der Verantwortung stellen müssen...", sagte
sie schließlich und ihre beherrschte Stimme war noch viel schlimmer,
als wenn sie geschrieen hätte.
Ja, es war ganz eindeutig, dass Akamatsu-san sich ein Herz für den
stillen Schüler gefasst hatte, auch wenn sie ihn im Unterricht
natürlich nicht bevorzugen durfte.
Hisui wollte aufspringen, doch die Lehrerin hielt ihn sofort mit einem
stummen Blick zurück, als hätte sie es bereits geahnt.
Frustriert sank er in seinen Stuhl zurück. "Kuso[4]", fluchte er leise.
Indessen stellte ihnen vorn Akamatsu-san eine Aufgabe, die sie für
den Rest der Stunde beschäftigen würde, doch Hisui hörte nicht zu,
bewegte sich nicht, starrte nur wütend auf sich selbst die
Tischplatte an, während er mit geballten Fäusten versuchte sich
wieder zu beruhigen, sich aber gleichzeitig schwor, den- oder
diejenigen, die Shinju so sehr verletzt hatte(n), dass er vom
Unterricht weggeblieben war, allermindestens schön langsam mit
einem stumpfen Kodachi[5] zu foltern.
"Shiro-kun...", hörte er Akamatsu-san plötzlich leise vor sich.
Zornig und aufgebracht sah er zu ihr hoch. "Hai[6]..."
"Bitte Shiro-kun, reiß dich zusammen. Ich will nicht, dass das Ganze
zuviel Aufmerksamkeit erregt, bevor wir herausgefunden haben, was
passiert ist, sonst könnte es am Ende Shinju sein, der schlecht
dasteht, verstehst du?"
Der Vampir schluckte und atmete tief durch, dann nickte er
langsam. "Arigatou", flüsterte er leise. Es war gut, dass die Lehrerin
ihn wieder zur Besinnung gebracht hatte - Vampire waren eben
doch nur sehr lebendige tote Menschen[7].
"Nichts zu danken", erwiderte sie grimmig.
Sobald der Nachhilfeunterricht vorbei war und er seine
Hausaufgaben gemacht hatte, stürmte Hisui aus dem Raum, was
ihm zwar einen missbilligenden Blick von seinem Lehrer einbrachte,
aber ihm egal war. Er hatte Shinju schon viel zu lange mit sich allein
gelassen, dabei hatte er seinem Koibito[8] doch versprochen, immer
für ihn dazu sein - und wenn er ihn noch lange allein ließ, da war er
sich sicher, würde er Shinjus Vertrauen wieder verloren haben.
Und verdammt noch mal nein, das wollte er nicht!
Ohne auf die ihm entgegenkommenden Schüler zu achten, flog er
geradezu über die vielen Treppen, rannte in das kleine Haus hinein,
riss dann die Fusuma[9] einfach auf, anstatt sie so zu öffnen, wie
es die japanischen Etikette verlangten[10].
"Shinju!", rief er.
Und stockte. Stille schlug ihm entgegen wie ein schwarzer Panther
mit geschärften Krallen.
"Shimatta![11]", schrie er wütend. "Shinju, wo bist du?"
Nach dem Kleinen rufend lief er durch das ganze Haus, doch er war
nicht da. Einen Moment lang war ihm ehrlich zum Heulen zumute,
dann riss er sich zusammen und begann Shinju auf dem ganzen
Schulgelände zu suchen.
Der Gesuchte währenddessen saß nur wenige Meter weit vom Haus
entfernt mit angezogenen Knien an der Quelle des Bächleins und
schien dieser Konkurrenz machen zu wollen, konnte einfach nicht
aufhören zu weinen.
Nachdem er lange auf Hisui gewartet hatte und jedoch niemand
gekommen war, hatte er sich in dem kleinen Doppelzimmer gefühlt,
als würde er gleich von den Wänden erdrückt und hatte sich hierher
geflüchtet, wo er immer wieder Hisuis Namen flüsterte und doch
nicht erhört wurde.
Nein. Hisui war nicht gekommen, wie Shinju inständig gebetet hatte.
Stattdessen war er in der Nachhilfe geblieben, hatte dann noch
seine Hausaufgaben gemacht, vermutlich nicht einmal einen
einzigen Gedanken an ihn verschwendet.
Und als er nun endlich gekommen war und nach Shinju gerufen
hatte, da... da hatte seine Stimme versagt.
Denn als Shinju ihn am meisten gebraucht hatte, war Hisui trotz all
seiner leidenschaftlichen Versprechungen nicht für ihn da gewesen.
Zitternd und schwankend stand er auf. Plötzlich kam ihm der eben
noch sanft streichelnde Wind so unglaublich kalt vor.
"Was hast du denn geglaubt?", sprach Shinju bitter zu sich selbst.
"Hast du wirklich angenommen, jemand könnte einen Schwächling
wie _dich_ lieben?"
>>>>>>>>>>>>Shinju verließ als letzter die Turnhalle. Abgesehen
von Hisui und ihrem Sportlehrer natürlich. Schmollend schob er die
Unterlippe ein wenig vor. Der Sportlehrer hatte sie die ganze Stunde
lang wie Jagdhunde über den anliegenden Sportplatz gehetzt bis sie
kurz vor dem Zusammenbruch standen. Und dabei war er trotz
seiner zierlichen Figur alles andere als unsportlich, von Hisui ganz zu
schweigen!
Shinju fand, dass er sich nun einen Kuss als Trostpflaster vor der
nächsten Stunde unbezahlter Sklavenarbeit redlich verdient hatte,
aber natürlich waren er und sein liebenswürdigster, heiß verehrter
Lieblingslehrer bedauerlicherweise mal wieder ganz und gar nicht
einer Meinung. Und dummerweise hatte _er_ dabei den kürzeren
Strohhalm gezogen... Es war ja nicht so, als würde sich Shinju nicht
freuen, dass er seine Kata nun höchstwahrscheinlich doch nicht
mehr ganz allein unter all den viel trainierter aussehenden Jungen
zum Schulfest, zu dem alle Eltern eingeladen waren, vorführen
musste, aber...
"Baka!", murrte er trotzig, bog dann um die Ecke.
...und wäre beinahe in Fukusawa-kun hineingelaufen.
"Gomen nasai", stotterte Shinju und wollte hastig weitergehen,
doch was für ein Grund sollte es für diesen wunderschönen Tag
geben, sich zu bessern? Eben!
Und noch während sich dieser Gedanke in Shinjus Kopf formte,
hatte Fukusawa ihn auch schon schmerzhaft fest am Handgelenk
gepackt und im nächsten Moment sah er sich von dessen hartem,
muskulösen Körper gegen die kalte Steinmauer des eigentlichen
Schulgebäudes gedrückt.
"Fukusawa-kun?", machte Shinju ängstlich und sah etwas
undefinierbares in den Augen seines Gegenübers aufblitzen. Es
machte ihm Angst.
"Hast du heute schon deine Beine für ihn gespreizt?", fragte der
Ältere lauernd, quetschte ihn so quälend fest zwischen sich und der
Wand ein, das Shinju leicht würgen musste, während er entsetzt
die Augen aufriss.
Fukusawas Stimme wurde verächtlich. "Ich habe ja schon immer
gewusst, dass du erbärmlich bist, aber du erstaunst mich immer
wieder. Nicht einmal ich hätte dich für so notgeil gehalten..."
Tränen stiegen ihm in die Augen. "Yame[12]!", flehte er leise.
"Bitte..."
"Was ist? Macht es dich an, meinen Körper auf deinem zu spüren?",
fragte er kalt und gnadenlos, stieß mit seiner Zunge zwingend hart
in Shinjus Mund, ließ dabei eine Hand in seine Hose gleiten und
fasste so fest zu, dass Shinju gequält und erschrocken - nein,
entsetzt! - aufschrie.
Angsterfüllt biss er in Fukusawas Zunge, dass jener aufheulend von
ihm abließ. Shinju zitterte am ganzen Körper heftig wie Espenlaub
und ihm war so entsetzlich übel, dass er glaubte im nächsten
Moment ohnmächtig zu werden oder sich übergeben zu müssen,
doch er hatte keine Zeit für Schmerz! Sein einziger Gedanke galt
der Flucht: Er musste hier weg. Sofort. Sofort!!
Und er rannte, rannte erstickt keuchend, tränenüberströmt und
Fukusawas Blut auf den Lippen, rannte so schnell er konnte, bevor
er in seinem Zimmer zusammenbrach und die Götter darum anflehte,
dass Fukusawa ihm nicht folgen möge.
"Hisui... komm her... Hisui, _bitte_", flüsterte er schluchzend,
wünschte sich gleichzeitig tot zu sein.
Doch weder der Tod noch seine Schwester Ohnmacht hatten
Erbarmen mit ihm...<<<<<<<<<<<<
Es war eine halbe Stunde vor Nachruhe als Hisui schließlich
verzweifelt und halb wahnsinnig vor Angst seine Suche nach Shinju
aufgab. Ein einziges Mal würde er es noch mit ihrem Zimmer
versuchen und wenn Shinju dann nicht da war, würde er zu
Akamatsu-san gehen, notfalls den Direktor höchstpersönlich aus
dem Bett schmeißen!!
Doch noch hielt ihn etwas davon ab: Auf dem Weg, den Hang
hinauf kam ihm Fukusawa-kun entgegen und er begann abfällig zu
grinsen, als er Hisui sah.
"Und? Hat der Ritter in der weißen Rüstung seine arme Prinzessin
schon vor dem großen bösen Drachen gerettet?"
Ehe sein Mitschüler und Hisui selbst sich versehen hatten, hatte der
Vampir Fukusawa auch schon hart gegen einen nahen Baumstamm
gepresst, trieb ihm so die Luft aus den Lungen.
"Du warst es!", zischte er. Ja, er musste nur in die Augen dieses
arroganten Arschlochs sehen, um es sicher zu wissen. Und plötzlich
verspürte er den Drang, seine Fangzähne, die schon bei dem
_Gedanken_ an frisches Blut erschienen, schön schmerzhaft in
Fukusawas Halsschlagader zu stoßen. Weniger aus Blutdurst, auch
wenn er nun schon eine Woche lang kein rotes Leben mehr zu sich
genommen und heute auch noch kein einziges Quäntchen von
Shinjus Körperwärme abgezweigt hatte, sondern mehr aus reiner,
ursprünglicher Rachelust, diesem Urtrieb, einem verhassten Feind
noch größere Schmerzen zuzufügen, als man selbst einstecken
musste.
Fukusawas Augen verengten sich zu Schlitzen. Der harte Aufprall
hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben und die Hand an seiner
Kehle sorgte sehr zweckmäßig dafür, dass seine Lungen den
Sauerstoff auch nicht wiederbekamen. Hisui konnte die Angst
förmlich riechen, als Fukusawa klar werden musste, dass er im
Moment und wohl auch sonst keine Chance gegen "Shiro-kun"
hatte.
"Shiro-kun!", keuchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. "Du
erwürgst mich!"
Hisui sah ihm mit hasserfüllt Blick in die Augen. "Vielleicht ist das ja
auch das Beste, was ich mit dir tun kann... was meinst du,
Fukusawa-kun?" Sein letztes Wort wurde durch den verächtlichen
Ton zu einer unverhohlenen Beleidigung.
Fukusawa begann blau anzulaufen und versuchte hysterisch sich
loszumachen, doch die Blutgier und sein Hass verwandelten die
Hand des älteren in einen stählernen Schraubstock.
Als Fukusawa fast ohnmächtig war, hörte er auf, sich an dem
Anblick dieses winselnden rückgratlosen und verdammt erbärmlichen
Muttersöhnchen zu laben, rammte stattdessen seine Fangzähne in
Fukusawas Hals und trank so rücksichtslos wie ein _Tier_ im
Blutrausch.
Das eine Jahr, das er nun schon ein Vampir war, hatte er sich
Sekunde für Sekunde geschworen, nie so triebgesteuert wie seine
Artgenossen zu sein, um den _lebenden_ Menschen nicht weh zu
tun und ihnen nicht nur während des Bluttrinkens ein Gefühl der
Ekstase und Lust zu vermitteln, sondern ihnen im Tod auch einen
ewigwährenden Traum des Glücks zu schenken. Es war nicht nötig
und er hatte bis jetzt auch von keinem anderem Vampir gehört (was
allerdings nicht viel heißen musste), der diese Fähigkeit ebenso wie
Hisui nutzte, doch nun war ihm alles egal. Er _wollte_ Fukusawa
weh tun, er _wollte_ ihn vor Todesangst in den Wahnsinn treiben.
Er wollte _Rache_ - Rache für das, was Fukusawa Shinju heute und
noch unzählige andere Male angetan hatte.
Kurz bevor sein Mitschüler jedoch die Schwelle zur Endlosigkeit, zum
Tod überschritt, wurden seine Gedanken wieder etwas klarer, er ließ
von Fukusawa ab. Nein, nun da er das Blut getrunken hatte und
_es_ wusste, würde er diesem jämmerlichen Menschen den Tod
nicht gönnen. Weder mit noch ohne Traum, und mochte es auch ein
ALPtraum sein.
Wenn Fukusawa wieder aufwachte, würde er alles vergessen haben
- aber die Angst, diese Todesangst, die er verspürt hatte, würde
ihn sein ganzes Leben lang verfolgen. Und genau das war es auch,
was Hisui wollte. Nie wieder sollte sich Fukusawa sicher fühlen, nie
wieder sollte er seines Lebens froh werden.
Nun, da er ihn nicht mehr festhielt, sank Fukusawa leblos zu Boden.
Er würde ewig brauchen, bis er zumindest körperlich wieder der Alte
war.
Hisui starrte auf das leichenblasse Bündel zu seinen Füßen. "Warum
verletzen Menschen, was sie lieben - sag mir warum? Deine wahre
Liebe und trotzdem tust du ihm weh, nur weil du zu kleinkariert bist,
um zu akzeptieren, dass du einen Mann liebst!? Warum gestehst du
ihm und dir nicht die Wahrheit und entschuldigst dich für das, was
du ihm angetan hast und doch nie antun wolltest? Es ist so
einfach... nur 3 Worte: "Gomen ne"... "Aishiteru[13]" Und doch
wirst du sie nie aussprechen..." Verächtlich spuckte er vor dem
bewusstlosen Schüler aus. "Das ist so erbärmlich, dass du selbst mir
Leid tust..."
Fühlend, wie die gestohlene Wärme das geraubte Blut in seinen
Adern pulsieren ließ, noch das Blut seines Feindes schmeckend
verschmolz der Vampir mit den Schatten und verschwand wie ein
solcher in der undurchdringlich schwarzen Nacht...
- - - - -
[1] Nachhilfeschule. In Japan geht praktisch jeder, der in die
Oberstufe und später vielleicht noch an die Uni will bzw. der eher
weniger gute schulische Leistungen hat, zur Nachhilfe. Diese darf
man sich allerdings nicht wie Nachhilfeunterricht bei uns vorstellen.
In Japan ist es nämlich tatsächlich eine NachhilfeSCHULE, die
ebenso wie die normale in Klassen eingeteilt wird. Man geht
sozusagen nach der Schule noch mal in die Schule. Dort wird der
Stoff wiederholt und man bereitet sich auf Prüfungen vor. Dabei
schreibt man auch Tests wie in der "echten" Schule und mitunter
ist der Leistungsdruck bei der Nachhilfe sogar noch größer (was ich
ein wenig merkwürdig finde, aber gut...). Das hört sich jetzt wie ein
Horrormärchen (J-chan: Ist es auch!!!) an, aber für japanische
Schüler ist das ganz normal und auch wenn der eher geringere Teil
wirklich davon begeistert ist, kommt der Wunsch nach Lernen doch
zumeist von den Schülern selbst (mit vielen deutschen Schülern
also nicht vergleichbar, wenn ich das mal so behaupten darf - das
allerbeste Beispiel sitzt nämlich in meiner Klasse, zwei Reihen vor
mir...). Übrigens kann man in Japan nicht sitzen bleiben. Wessen
schulische Leistungen bedenklich sind, der hat halt zu dieser
Nachhilfe zu gehen und (verdammt noch mal) besser zu werden. Der
japanische Unterricht geht übrigens 50 Minuten lang und ist im Stil
mit einer Univorlesung zu vergleichen: Keine Diskussionen und nix
(dafür ist es aber oft erlaubt, im Unterricht zu Schlafen, wenn man
meiner Erinnerung glauben will und Ethan mich nicht auf den Arm
genommen hat o.o ) und praktisch nur reines Auswendiglernen.
[2] "-sempai" ist die höfliche Anrede nicht nur für Oberstufenschüler
sondern allgemein für Schüler, die älter sind, als man selbst. Kann
auch Jahre später noch benutzt werden, wenn man z.B. mal im
selben Kurs saß ^^°
[3] Nur arigatou ist ein informelles "Danke", mit gozaimasu hinten
dran wird's höflich-neutral also in etwa "Danke sehr"
[4] japanische Version vom deutschen "Scheiße" allerdings die
etwas entschärftere Version. Richtig happig wird's mit "chikusho"
[5] So eine Art Zwischending aus Schwert und Dolch.
[6] Im deutschen ein Fisch mit Killerimage, im japanischen schlicht
und einfach ein höfliches "Ja" ^__^
[7] J-chan versteht es wieder einmal echt wunderbar sich
auszudrücken -.-°
[8] Gibt es überhaupt jemanden, der das Wort nicht kennt?
(*flüster* Japanisch für "Geliebter" ^__^)
[9] japanische Schiebetüre
[10] Der richtige Weg so eine Schiebetür zu öffnen bzw. zu
schließen besteht aus drei Schritten. Man setzt sich im formellen
Stil, seiza genannt, vor die Tür, zieht sie etwa handbreit auf, fasst
dann bei etwa 30cm mit der linken Hand zu, schiebt sie weiter und
mit der rechten Hand dann ganz auf. Was dabei einem Europäer
ziemlich langwierig und kompliziert anmuten wird, wo man doch nur
eine Tür öffnen will, gibt einem in Japan, wo es oft ziemlich eng
zugeht und kaum einer viel Privatsphäre hat, die Möglichkeit, sich
auf das Eintreten der Person einzustellen, wird also nicht einfach so
überfallen. Bei einer stinknormalen europäischen Tür erübrigt sich
das ganze natürlich dann wieder...
[11] "Verdammt!"
[12] Befehls- bzw. Aufforderungsform von yameru, was soviel wie
"aufhören, einhalten" bedeutet.
[13] "Ich liebe dich!" ^-^