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Mein Gott, meine Göttin

von

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Der Plan des Feuers

Prolog:

„…Live auf Mittland TD II, zeigen wir alle Bilder der Ankunft des Schlachtwagens des Feuerclans über unserer Hauptstadt Klingburg…“

„…dies der Anfang eines Krieges? Der Kampfwagen, ein unglaubliches Gefährt von fast zwei Kilometern Länge und einer Breite von fast einem Kilometer wurde laut den Legenden über den Feuerclan noch nie in einem Konflikt eingesetzt. Wenn er nun auf die Untere Ebene verbracht wurde, kann niemand sagen, was passieren wird. Bleiben Sie auf Terre de France Television, wir sind für Sie direkt am Geschehen…“

„…Feuerclan, der wildeste, direkteste und auch emotionalste Clan, unberechenbar wie sein Totem hat seine mächtigste Waffe ausgemottet, die er schon seit dem Großen Krieg gegen die Dämonen nicht mehr eingesetzt hat. Was ist passiert? Droht uns ein erneuter Krieg gegen die Dämonen? Ist der Vertrag von Hethit in Gefahr? Johann Spencer live für Klingburg Lokal I für Sie direkt vor Ort…“

„…stehe ich hier inmitten der Mitglieder der atheistischen Bewegung Klingburgs, die göttliche Existenz als Irrglauben und Massenhysterie angesehen haben und die nun heftig gegen die Anwesenheit des Kampfwagens demonstrieren. Laut ihrem Sprecher ist der Kampfwagen eine Finte der großen Kirchen, um bereits säkularisierte Menschen erneut zu bekehren. Ferner werfen sie der Regierung vor, dass…“

„…und ich gucke hoch, und da bricht dieses Riesenteil aus den Wolken. Wow, denke ich. Wow. Wo kommt das denn her? Und wo zum Henker hat der Feuerclan es überhaupt geparkt? Ich meine, verdammte Scheiße, ich bin ein Gläubiger des Wasserclans, aber ich habe sofort gewusst, dass das Riesenteil da Kailins Kampfwagen ist.“

„…strömen erschrockene Menschen in die Kirchen ihrer Götter, um dort zu beten und Schutz zu suchen. Die Polizei tut derweil ihr Möglichstes, um die kleine Gemeinde des Feuers vor Übergriffen hysterischer Menschen oder schlicht gewaltbereiter Personen zu bewahren. Die Lage ist keineswegs ernst oder unüberschaubar. Aber der Feuerclan hat seinen Gläubigen mit dieser Aktion keinen guten Dienst erwiesen. Wurden sie bisher schon misstrauisch beäugt, erreicht dieses Gefühl nun schwindelnde Höhen…“

„..beteuert der Vorsteher der Kirche des Stammes des Feuers erneut auf einer Pressekonferenz, dass es sich nicht um einen kriegerischen, sondern um einen religiösen Akt handelt. Dennoch bleiben Fragen offen. Sind die Rechte der Götter auch durch den Vertrag von Hethit geregelt, auf die Erde herab zu steigen, wann und wo sie wollen, sind nun die Juristen gefragt, ob diese Grundregel auch auf den Kampfwagen zu beziehen ist. Vielleicht sind heute nicht die Politiker und die Militärs gefragt, wohl aber die religiösen Führer und die Juristen. Klingburg steht eine unruhige Nacht bevor…“
 

(Auszug aus den Pressestimmen aus Funk und Fernsehen, nach dem Abstieg des Kampfwagen Kailins auf die Untere Ebene.)
 

1.

Markus Holt beschattete seine Augen mit der Rechten, als er zum Himmel empor sah. „Komisch, ich dachte immer der Wagen wäre gewaltiger. Imposanter. Und nicht so ein verschnörkeltes Etwas mit Anhängseln. Besteht der Wagen vielleicht aus Odem und kann je nach Odemspende wachsen oder schrumpfen?“

Professor Vaillard trat neben seinen Studenten ans Fenster und reihte sich ein in die ehrfürchtig staunende Gruppe junger Menschen. „Nein, soweit wir den Überlieferungen vertrauen können, werden die Kampfwagen lediglich mit Odem betrieben. Ebenso die Waffen. Aber der Wagen dort oben dürfte der gleiche sein, mit dem der Feuerclan gegen die Dämonen ins Feld gezogen ist.“

Ehrfürchtiges Raunen ging durch die Gruppe, als erneut Blitze vom Kampfwagen in den Himmel und zur Erde schossen und faszinierende Muster bildeten.

„Statik“, kommentierte Vaillard belustigt. „Viel Volt, wenig Ampère. Nicht viel harmloser als ein Elmsfeuer.

„Nicht viel?“, hakte Markus nach.

„Nun, es stehen einem die Haare zu Berge.“

Die Studenten lachten leise.

„Herr Holt, bitte stellen Sie doch das in den Himmel gucken für einen Moment ein und kommen Sie mit mir. Die anderen dürfen meinetwegen den Rest der Vorlesung in den Himmel sehen und den Kampfwagen inspizieren.“

Markus warf einen letzten Blick in die Höhe. „Ich komme, Herr Professor.“
 

Auf dem Gang vor dem Hörsaal fragte Markus: „Wie schlimm ist es? Wissen wir schon etwas über Kailins Absichten?“

Vaillard lachte. „Ungestüme Jugend. Nein, bevor der Herr des Feuers nicht selbst herab steigt oder einen Vertreter schickt, wissen wir nicht, was wir von dem ganzen zu halten haben. Vielleicht aber hängt es mit Inissars Auge zusammen. Vielleicht auch mit dem Auraresonator unserer sehr verehrten Frau Prokovniewa. Vielleicht geht es auch um etwas völlig anderes.“

„Wenn das Wörtchen wenn nicht wär´, wär´ das Leben halb so schwer“, kommentierte Markus leise.

„Beachtlich, Herr Holt. Sie haben ja immer noch Humor, trotz der angespannten Lage“, bemerkte der Professor amüsiert.

Markus grinste schief. „Nun, mein Humor ist weit größer als Sie denken. Ich glaube nämlich, dass Theresa mich enttarnt hat.“

„Sie weiß, dass wir einen Agenten neben ihr Kind platziert haben?“

„Sie weiß, dass wir Interesse an dem Sohn von Thomas Schneider haben. Vielleicht zählt sie aber auch zwei und zwei zusammen und versteht, warum plötzlich zwei Zimmer in unserer WG frei waren, nachdem Makoto sich Ralf zum Gläubigen ausgesucht hat. Einmal ganz davon abgesehen, dass das mit den limitierten Zimmern ein besserer Witz ist“, erwiderte Markus.

„Wenn Sie enttarnt wurden, Herr Holt, und noch am Leben sind, dann entweder weil die Göttin keine Gefahr in Ihnen sieht, oder weil sie weiß, dass Sie keine Gefahr sind. Theresa hat Jahrtausendelange Erfahrungen mit unsereins.“

„Sie ist eine bemerkenswerte Göttin“, sagte Markus im Brustton der Überzeugung.

„Ja, das ist sie wohl. Und unsere größte Hoffnung.“

**

Es gab nur wenige Dinge, die Arnim Kleyn wirklich hasste. Eigentlich war er ein sehr umgänglicher Mensch, wenn er seinem Drang, ein Anführer zu sein ausreichend nachgeben konnte und sein Mindestmaß an Kommunikation befriedigt wurde. Aber spontan beschloss er, das neueste Ereignis in seinem Leben in seine Hass-Liste aufzunehmen. Es war eben nicht jedermanns Sache, in einer Nebenstraße plötzlich eine vier Meter hohe Wand aus Flammen entstehen zu sehen. Und das, wenn man selbst gerade Mal einen Meter von ihr entfernt war.

Arnim lächelte gering schätzend und griff mit seiner Macht des Gesegneten nach den Flammen. Wie er erwartet hatte, waren sie nur schwer zu manipulieren. Ein anderer Gesegneter hatte die Wand erschaffen.

Langsam drehte sich Arnim Kleyn um. Vor ihm, am Eingang der Straße, stand eine junge Frau und lächelte entschuldigend herüber. „Du bist Ausyls neuester Gesegneter, richtig? Ich bin Bisals Gesegnete.“

Arnim brauchte nicht lange in seiner Erinnerung zu kramen. Bisal war Kailins Waffenmeisterin und unbedingt loyal zu Clan und Anführer.

„Wie nett“, kommentierte Arnim. „Was kann ich für dich tun?“

„Nun, du könntest sterben. Ist nichts Persönliches.“

Von einem Moment zum anderen entstand in der Hand der Gesegneten eine lange Lanze aus feurigem Plasma und schoss direkt auf Arnim zu. Dieser ließ in seiner Hand das Feuerschwert entstehen und spaltete den Feuerstoß damit.

„Beachtlich. Wie lange trägst du Ausyls Segen? Eine Woche? Zwei? Jemand muß dich trainiert haben“, bemerkte die Bisal-Gesegnete. „Gut trainiert haben. Aber nicht gut genug für mich!“
 

Die Feuerwand hinter Arnim brach über ihn zusammen, hüllte ihn ein. Dabei zog sie sich immer enger zusammen.

Die Feuergesegnete betrachtete das Schauspiel einige Zeit, und wandte sich dann ab. „Es war wirklich nichts persönliches, Ausyl-Gesegneter.“

In diesem Moment explodierte die Feuerwand und zerstieb in der Luft. Arnim lächelte kalt herüber. „Du hast Recht. Ich wurde gut trainiert. Und mein Trainer sagte mir, ich müsse noch hart arbeiten, um mein Limit zu erreichen. Scheint so, als hätte ich dank dir wieder etwas gelernt.“

Arnim senkte den Blick, drückte die Klinge seines Flammenschwertes zu Boden, wo der Asphalt sofort Blasen schlug. „Nun, wenn mich einer töten will, dann nehme ich das leider persönlich, Bisal-Gesegnete.“

Der junge Kendosportler sah auf und fixierte die Gesegnete mit einem mörderischen Blick, der eigentlich alleine schon hätte ausreichen sollen, um halb Klingburg in eine Flammenhölle zu verwandeln. Wütend schrie er auf und sprang in die Luft. Die Feuerklinge riss er hoch über den Kopf, bereit zum Schlag.

Die junge Frau erschuf fünf Flammenspeere, die sie nach Arnim schleuderte, vier gingen vorbei, der fünfte traf ihn am rechten Arm, richtete aber keinen Schaden an.

Arnim grinste dämonisch. Und schlug zu. Eine riesige Welle Hocherhitzter Luft ging von den beiden Gesegneten aus, schmolz den Straßenbelag und riss Laub von den Bäumen. In den Fenstern klirrten die Scheiben.
 

Enttäuscht sah Arnim auf seine Klinge. „Das ist nicht fair, Ausyl! Warum mischst du dich ein? Warum rettest du sie überhaupt? Immerhin wurde ich nur angegriffen, weil ich dein Gesegneter bin!“

Der Feuergott hatte die Klinge des Kendokas mit zwei Fingern gestoppt und sich schützend vor der jungen Frau aufgebaut. „Du bist mein Gesegneter, Arnim Kleyn. Sie ist kein Gegner für dich. Vor allem nicht nach der Ausbildung, die du bereits genossen hast. Diese hier“, er deutete zu der zu Boden gesunkenen und am ganzen Leib zitternden Frau, „führt nur Befehle aus. Aber ich habe kein Bedarf, Bisal ein oder zwei oder alle Gesegneten zu nehmen, die sie in Klingburg hat.“ Er wandte sich der jungen Gesegneten zu. „Du. Steh auf. Sag Bisal, dass ich sie sprechen will. Ort und Zeit übermittle ich noch.“

Die Feuergesegnete kam mühsam auf die Beine. In ihren Augen stand immer noch Angst und Entsetzen. Sie verbeugte sich hastig vor dem Feuergott. „Ja, Herr. Und danke, dass Ihr mein Leben verschont, Herr.“ Dann wandte sie sich um und lief davon.“

Arnim zog die Klinge zurück, ließ sie wieder verschwinden. „Du willst dich mit der Waffenmeisterin treffen, mein Gott?“, fragte er leise.

Ausyl winkte ab. „Nur eine Finte um Kailin zu beschäftigen. Aber wenn Bisal doch zu einem Gespräch bereit ist…

Arnim Kleyn, hat dir Shawn Ironheart bereits gezeigt, wie man seine Aura löscht?“

„Ja, mein Gott.“

„Und warum wanderst du durch Klingburg und strahlst auf der Odemebene wie ein Weihnachtsbaum? Hast du denn noch nichts von den Kämpfen innerhalb des Clans…“

Ausyl lachte plötzlich. „Ja, natürlich. Du hast noch nichts davon gehört. Begleite mich ein Stück. Springen kannst du schon? Gut. Ich bin sicher, du hast viele Fragen an mich. Ich will sie beantworten. Und jetzt folge mir.“

Der Gott wurde unsichtbar und verschwand schließlich ganz. Arnim sah sich um. „Hey, Ausyl! Shawn hat mir zwar gezeigt, wie man springt, aber er hat mir nicht gezeigt, wie man jemandem folgt, der springt.“

Vor dem Gesegneten entstand Ausyls Arm an der Stelle, an der der Gott verschwunden war. Die Hand krallte sich in Arnims Jacke. „Sag das doch gleich.“

Der Arm riss den Kendoka mit sich. Beide verschwanden.
 

Als die Welt für Arnim wieder Bestand bekam, standen er und sein Gott auf dem Flachdach eines Hochhauses. Der Gott stand am Rand, einen Fuß auf die Begrenzungsmauer gestützt und sah in die Tiefe, während über ihnen bedrohlich der Kampfwagen in der Luft hing.

„Du musst eines verstehen, bevor du deine Fragen stellst, junger Arnim Kleyn“, sagte Ausyl, ohne seinen Gesegneten anzusehen, „ich bin ein Gott. Und uns Göttern fällt es sehr oft schwer, auf die Gedanken und Bedürfnisse der kurzlebigen Menschen einzugehen. Bitte bedenke das.“

„Gut. Ich wurde gerade von einer anderen Gesegneten des Feuerclans angegriffen, die mich töten wollte, mein eigener Gott verhindert, dass ich es ihr mit gleicher Münze heimzahle. Und er offenbart mir irgendetwas von einem Konflikt innerhalb des Feuerclans, nur um mich anschließend an den Ort von Klingburg zu führen, an dem wir dem Kampfwagen näher sind als an jedem anderen Punkt in der Stadt. Und plötzlich will mein Gott, dass ich ihm Fragen stelle. Nun gut. Ist ja nichts dabei, oder?“

Ausyl wandte sich halb um und lächelte schmal. „Ich bin sicher, die anderen Gesegneten unter deinen Freunden wären dankbar für solch eine Gelegenheit, ihrem Gott Fragen stellen zu können. Übrigens, der Umgang mit Freya Helensdottir scheint dir ein wenig von ihrem Sarkasmus beschert zu haben, Arnim Kleyn.“

„Du brauchst gar nicht darauf zu warten, dass ich mich wundere, dass du diesen Namen kennst, Feuergott“, brauste Arnim auf. „Wir sechs haben schon von selbst herausgefunden, dass du, Thomas und die anderen drei Götter uns mehr oder weniger zusammen gebracht habt.“

„Respekt, Respekt.“

„War ja nicht schwer zu erkennen.

Aber ich habe da tatsächlich eine Frage. Eigentlich zwei: Warum ich und warum jetzt?“
 

Ausyl sah wieder über den Rand der Mauer hinweg. Seine Pose wirkte dabei sehr martialisch. „Rauchst du?“, fragte der Gott unvermittelt. „Meine sind alle.“

Arnim kratzte sich verlegen am Kopf, zog seine Packung hervor, nahm sich eine Zigarette und warf den Rest seinem Gott zu. Ohne ein Feuerzeug zu benutzen, entzündete er die Spitze.

Ausyl nahm sich ebenfalls eine Zigarette und entfachte sie auf die gleiche Weise wie sein Gesegneter. Das übrige Päckchen warf er wieder zurück.

„Daran ist Thomas Schuld. Unser Fokus. Er hat mich zu diesem verdammten Rauchen verleitet. Das war vor tausend Jahren. Wäre ich kein Gott, dann wäre ich keine hundert Jahre alt geworden. Und du solltest dir diesen Quatsch auch schnell wieder abgewöhnen. Rauchen ist nicht cool. Es ist…“

„Nur eine Droge, ja das weiß ich. Der eine trinkt, der andere betet, der nächste spielt, einer hat Sex zum Hobby, dann gibt es welche, die wollen die Welt erobern und ich rauche. Ich weiß selbst, dass es nicht gut für mich ist. Sorge dich weniger um meine Gesundheit und beantworte mir lieber meine Fragen.“

Der Gott stieß nachdenklich den Rauch seiner Zigarette aus und beobachtete, wie der Rauch den Kampfwagen nachbildete. „Nun gut. Warum du? Das ist einfach erklärt. Das Auge Inissars war früher einmal in meiner Obhut. Vor zweitausend Jahren wurde es mir gestohlen. Seitdem ist es verschollen. Nun, beinahe verschollen. Es befindet sich irgendwo hier in Klingburg, zum greifen nahe für mich.

Jedenfalls fiel ich damals bei Kailin in Ungnade, und diese Ungnade bekamen auch meine Gläubigen zu spüren. Deine Familie, eine der Bedeutendsten, musste sogar Amazona verlassen. Doch sie gab niemals auf und errichtete mir zu Ehren sogar in der Fremde eine Kapelle. Ich habe ihr diesen tiefen Glauben bisher nie richtig vergolten. Ich hatte das ernsthaft vor. Und nun tue ich deiner Familie noch weit Schlimmeres an und segne den einzigen Sohn…“

„Hey, mein Gott“, warf Arnim ein, „ich habe mich nicht beschwert.“

„Noch nicht“, erwiderte Ausyl und warf dem jungen Gesegneten einen Blick zu, der diesen schaudern ließ.

„Zur zweiten Frage. Ich beobachte dich schon lange. Du solltest von vorne herein, seit ich deinen Odem das erste Mal bekam, mein Gesegneter werden. Aber der Zeitpunkt, wann dies sein sollte, war vorherbestimmt.“

Arnim zog an seiner Zigarette und blies gedankenverloren den Rauch aus. „Schon klar. Die Sache mit Makoto, Freya und Ralf in der Uni.“

„Richtig. Es war für mich die beste Gelegenheit, zwei Dinge zu testen. Das erste war zu sehen, wie gut du den von mir aufbereiteten Odem verarbeitest, und du hast gesehen, was wir auf dem Campus angerichtet haben.

Das zweite war zu sehen, was Theresas Kind bereits für Fähigkeiten hat. Das Ralf und Freya Makoto helfen würden und dabei Talente zeigen die ich, die wir alle nicht erwartet haben, kannst du dabei als Bonus verstehen.“

Ausyl sah wieder herüber. „Noch etwas in diesem Zusammenhang. Als ich dich übernommen habe, mit meinem Fluidum deinen Körper beherrschte, war dies beinahe so wie meinen Segen zu empfangen. Nur, normalerweise gehen Gesegneter und Gott zusammen an eine Art Barriere der Stärke innerhalb des Unterbewusstseins eines Gesegneten und reißen sie gemeinsam nieder, um ihren Bund zu beschließen. Wir aber sind regelrecht durchgeprescht und haben sie quasi zu Kleinholz verarbeitet. Das gelang vor allem nur wegen dir. Deine Fähigkeiten sind bereits jetzt bemerkenswert. Und du wirst mit jedem Tag noch stärker. Das macht mich stolz.“
 

Einige Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden.

Ausyl fragte schließlich: „Hast du noch Fragen, junger Gesegneter?“

„Ja, einige wären da noch. Was ist mit dieser Bisal-Gesegneten? Warum hat sie mich attackiert?“

Übergangslos verwandelten sich die Haare des Gottes in Flammen. Sie loderten einen Moment, dann hatte Ausyl sich wieder im Griff. „Die Antwort wird dir nicht gefallen.

Über die Hintergründe kann ich nur spekulieren, aber die Ergebnisse siehst du.

Es sieht ganz so aus, als hätte Kailin die Gelegenheit genutzt, um innerhalb des Feuerclans die Rangstruktur neu zu ordnen. Meine Verbündeten wurden angegriffen, und ich weiß nur von sieben, dass sie entkommen konnten. Das Schicksal meiner Frau und meines einzigen Sohnes ist ungewiss. Aber das ist immer noch besser als zu glauben, dass ihr Fluidum erloschen ist.

Der Schlag kam unvorbereitet, und nur weil ich mich heimlich auf der Unteren Ebene befinde, war er nicht völlig erfolgreich. Obwohl ich durch den Verlust von Inissars Auge in Ungnade gefallen war, stand es nie in Frage, dass ich dereinst durch die Heirat mit Kailins Tochter sein Nachfolger werden würde.

Es scheint so, als hätte der Herr des Feuerclans seine Meinung geändert.

Tja. Und deswegen bin ich jetzt in einem Krieg, junger Gesegneter. Und weil ich dich erwählt habe, ziehe ich dich mit hinein. Denn am Ende dieses Krieges kann nur einer an der Spitze des Feuerclans stehen. Und ich habe Angst, dass nicht ich es bin.“
 

Arnim grinste freudlos. „Wir Menschen haben ein Sprichwort, mein Gott. Mitgefangen, mitgehangen. Wir beide gehören jetzt zusammen, richtig? Also stehen wir es auch zusammen durch. Hey, das wäre ja einfach, wenn ich nur dein Gesegneter sein könnte, wenn die Zeiten leicht sind.“

Der Gott sah Arnim an. Dann nickte er. „Gut gesprochen, junger Gesegneter. Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob wir Kailin nicht eine oder zwei Überraschungen bereiten können.“

„Ich bin dabei“, sagte Arnim.
 

2.

Der Kampfwagen des Feuerclans schwebte nun schon über drei Stunden über Klingburg. Seine bedrohliche Präsenz, ja seine bloße Anwesenheit verdüsterte die Stadt – was nicht zuletzt am gigantischen Schatten lag, den das Oval warf. Doch noch immer war nichts weiter geschehen. Weder hatte der Herr des Feuerclans erklärt, warum der Kampfwagen auf die Untere Ebene geschafft worden war, noch konnte man die Kirche der Feuergötter zu irgendeiner Auskunft bewegen. Es war ein unheilvoller Schwebezustand, in dem alles möglich schien.

Das Militär jedenfalls reagierte schnell und ließ den Götterwagen und seine Umgebung von schnellen Jets und Kampfhubschraubern patrouillieren. Was diese von Menschen geschaffenen Waffen im Ernstfall gegen den Kampfwagen zu leisten vermochten konnte niemand sagen. Es wollte auch keiner wissen, am allerwenigsten die Piloten der Jets und Hubschrauber.

Zu Beginn der vierten Stunde kam endlich Bewegung ins Geschehen. Der Wagen wurde von Dutzenden Linien überzogen, die hell aufstrahlten. Die roten Linien bildeten komplexe Muster, unter ihnen auch die stilisierte Flamme, das Symbol für den Feuerclan.

Ganz vorne auf dem Bug des Kampfwagens traten vier Götter und sahen auf Klingburg herab.
 

„Höre mich an, Untere Ebene“, sagte der Älteste der vier. Es klang leise und unspektakulär, aber jene, die sich mit Akustik auskannten, bekamen bei dem Gedanken, den Gott deutlich zu verstehen, einen Riesenschreck. Denn immerhin stand er auf der Oberseite seines Kampfwagens und befand sich somit in gut sechshundert Meter Höhe. Trotzdem hörte man ihn, als stände er einem gegenüber.

„Höre mich an, Klingburg. Ich bin Kailin, der Herr des Feuerclans. In Zeiten der Not bin ich aus der Oberen Ebene herab gestiegen. Dies sind düstere Zeiten. Die Götterwelt ist bedroht. Die Götter selbst sind bedroht. Darum kündige ich hiermit den Vertrag von Hethit!“

Aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen derer, die wussten, wovon Kailin da sprach. Dies waren vor allem die Spezialpolizisten von HELIOS, welche seit dem Auftauchen des Kampfwagens auf strategische Punkte in der Stadt verteilt worden waren.

Den Vertrag von Hethit aufzuheben bedeutete alle Regeln zu verwerfen, welche Menschen und Götter miteinander vereinbart hatten.

Wirklich alle. Von der Struktur der Kirchen über Rechte und Pflichten der Götter bis hin zur Bedeutung der Menschen als gleichberechtigte Partner.

„In zwei Stunden werde ich in das Klingburger Rathaus kommen und meine Entscheidung begründen“, setzte Kailin seine Rede fort. „Die Gefahr, sie ist groß. Wir müssen ihr begegnen, um jeden Preis.“

Abrupt wandte sich der Gott ab, ebenso seine drei Begleiter. Gemeinsam verließen sie den Rand des Kampfwagens und verschwanden.
 

Marianne stand vor dem beliatienischen Restaurant, in dem Georgio kellnerte und starrte mit brennenden Augen in den Himmel. „Das darf doch nicht wahr sein! Was hat dieser Bastard vor?“

Wütend wandte sie sich ab und betrat das Restaurant. Eine Menge Arbeit kam nun auf sie zu. Sie musste das Rathaus absichern, die Arbeit mit der regulären Polizei koordinieren, das Militär in die Besprechungen mit einbeziehen und mögliche Verbündete suchen. Ob sie über ihren Schatten springen sollte, um mit Theresa Kontakt aufzunehmen? Der Erdclan erschien ihr immer noch der sinnvollste Verbündete.

Als Marianne eintrat, erstarrte sie. Ihr Instinkt warnte sie, und unwillkürlich spannte sie sich an. Gefahr? Langsam sah sie sich um. Und erschrak fürchterlich. Unendlich langsam und vorsichtig langte sie zu ihrer Sonnenbrille und schob sie etwas die Nase herunter, um genau betrachten zu können, was sie so in Aufregung versetzt hatte.

An einem großen Tisch weiter hinten im Restaurant saßen sechs junge Menschen, drei Männer und drei Frauen und unterhielten sich. Einen der Männer erkannte sie sofort. Ihre Lippen begannen zu zittern. „Ralf“, hauchte sie. Neben ihm saß ein Mädchen, das ihn sichtlich mit Beschlag belegt hatte. Sie hatte kurzes, blondes Haar und warf einer anderen Frau am Tisch kampfbereite Blicke zu. Die schien sich nicht daran zu stören, weder an den Blicken, noch an der Tatsache, dass die Frau an Ralfs Seite eine Göttin war.

„Carine“, hauchte Marianne. „Carine.“

Sie hätte nichts lieber getan, als zu diesem Tisch zu gehen, sich die beiden aus der Nähe anzusehen. Mit ihnen vielleicht zu reden. Sie zu umarmen, an sich zu drücken und die letzten drei Jahrhunderte ungeschehen zu machen. Doch dann ließ sie den Kopf sinken. Dazu hatte sie kein Recht.

Sie war es gewesen, die einen eigenen Weg gesucht hatte. Sie war es gewesen, die Thomas die schwere Bürde auferlegt hatte, die beiden alleine groß zu ziehen. Sie war gegangen, um HELIOS aus den Trümmern der Vorgängerorganisation zu schaffen.
 

Mit staksigen Schritten ging sie auf die kleine Bar zu, nahm Platz. Georgio begrüßte sie freundlich. „Was ist los mit dir, Marianne? Hat du ein Gespenst gesehen oder nimmt dich die Ankunft des Kampfwagens so mit?“

„Beides“, erwiderte sie leise. Sie schielte vorsichtig zu den lärmenden jungen Menschen herüber. „Sind die öfter hier, Georgio?“

Der ehemalige Polizist grinste schief. „Ralf und seine Bande? Ja, ab und an schauen sie hier mal rein. Aber das Mädchen rechts von ihm ist neu dabei. Seine kleine Schwester, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Ich weiß“, erwiderte Marianne.

Georgio sah zwischen der Gruppe und der HELIOS-Polizistin hin und her. „Soll ich dich mit ihnen bekannt machen?“

„NEIN!“, rief sie laut und sprang auf. Als ihr bewusst wurde, wie impulsiv sie reagiert hatte, setzte sie sich und sagte: „Nein, Georgio, aber danke für das Angebot. Ich habe im Moment einfach keine Zeit für so was.“

Der Afrikaner runzelte die Stirn. „Eine Frage, Marianne. Was ist für dich so was?“

Ein wehmütiger Blick huschte über ihr Gesicht. „ So was ist für mich alles, was mit einem normalen Leben zu tun hat, alter Freund.“

Georgio sah sie einige Zeit an, dann verschwand er in der Küche. Als er wieder kam, hielt er eine große Tasse in der Hand. „Hier, ein Kaffee aus meiner Spezialmischung.“

„Du bist ein Schatz, Georgio“, murmelte Marianne und nahm die Tasse entgegen.

„Also?“ „Was, also?“, fragte sie.

Der Kellner deutete gen Himmel. „Also, was hältst du davon, dass der Hitzkopf Kailin seinen Superschlitten direkt über unseren Köpfen parkt? Ich glaube, das ist das erste Mal, dass er die Obere Ebene verlassen hat, seit die Götter in der Entscheidungsschlacht die Dämonen vernichtet haben.“

Marianne verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Ach, komm. Gerade du solltest nicht so einen Quatsch reden. Du weißt es doch besser.“

„Stimmt“, kommentierte der Kellner. „Oh, mein Typ wird verlangt. Trink in Ruhe deinen Kaffee, ich bediene schnell mal, dann reden wir weiter.“

„Ist gut“, murmelte sie in ihren Kaffee und sah Georgio nach, wie er ein Pärchen an einem Tisch am Fenster bediente.
 

Verstohlen ging ihr Blick wieder zu den sechs jungen Leuten. Sie war so nahe, und doch so fern. Eigentlich die günstigste Gelegenheit, um mit der Spezialbrille ein paar eigene Aufnahmen zu schießen. Marianne rückte die Brille zurecht und fuhr herum.

Und erschrak fürchterlich, als direkt vor ihr jemand stand. Unbewusst ging ihre Rechte zur Torchpistole, aber sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig.

Der junge Mann hob schuldbewusst die Hände. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ehrlich gesagt, ich wollte Sie gerade ansprechen.“

Marianne rang mit ihrer Fassung und gewann, wenn auch nur knapp. „Nun, junger Mann, was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Ralf“, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. „Es ist so, wir konnten kaum übersehen, dass Sie zu HELIOS gehören. Genauer gesagt habe ich Sie wieder erkannt.“

Marianne spürte kaltes Entsetzen in sich aufsteigen, schaffte es aber, ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten. „Wieder erkannt?“

Ralf gestikulierte mit den Armen. „Nun, Sie waren doch neulich auf unserem Campus, nach der Sache mit dem Resonator. Da habe ich Sie gesehen.“

Marianne trank einen Schluck Kaffee, um ihre zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. „Stimmt, junger Ma… Ralf. Ich bin tatsächlich von HELIOS. Was also kann ich für Sie tun?“

„Muss ich denn irgendetwas haben? Ist das Pflicht bei euch?“, fragte Ralf.

Amüsiert erwiderte Marianne: „Nun, die Erfahrung zeigt, dass die meisten Leute, die einen HELIOS-Polizisten ansprechen, irgend etwas wissen wollen. Sind Sie denn so anders?“

Ralf verzog das Gesicht ein wenig. „Vielleicht.“

„Diplomatische Antwort“, bemerkte Marianne amüsiert. Sie deutete auf die Gruppe am Tisch. „Vermissen die Sie nicht irgendwann?“

„Wollen Sie mich etwa loswerden?“, hakte Ralf nach.

„Was, wenn ich ja sage?“

Ralf grinste. „Dann werde ich ohne zu klagen sofort wieder zurückgehen.“

„Nein, ich will Sie nicht loswerden. Setzen Sie sich, Ralf.“

Gehorsam nahm der Student Platz.
 

„Eine Sache gibt es doch, die mich beschäftigt“, gestand er.

„Aha, da haben wir es ja. Was ist es denn?“, fragte Marianne amüsiert.

Ralf deutete gen Himmel. „Was machen wir nur mit diesem Ding da oben?“

„Nun, solange der Kampfwagen nicht landet, kann ich ihm kein Ticket wegen Falschparkens geben, wenn Sie das meinen, junger Mann.“

„Gehört das zu den Aufgaben von HELIOS?“

Marianne lächelte. „Göttern Strafzettel verpassen? Ja. Ich warte nur darauf, dass der Kampfwagen irgend wo runterkommt. Dann kriegt Kailin ein Ticket von mir für Falschparken in fünfundachtzigtausend Fällen, plus minus ein paar hundert.“

Ralf prustete los. „Das wird ihm eine Lehre sein.“

„Und wenn das nichts nützt“, mischte sich Georgio ein, der gerade an den Tresen zurückkam, „dann tritt Marianne dem Gott mal tüchtig in seinen Allerwertesten. Nicht wahr?“

„Aber selbstverständlich“, sagte die Polizistin. „Dafür ist HELIOS ja schließlich da.“
 

„Wo bleibst du, Ralf? Dein Essen wird kalt!“, rief eine Mädchenstimme hell zu ihnen herüber.

„Warum kaust du es ihm nicht gleich mal vor, damit er nicht soviel Mühe damit hat, Mako-chan?“

„Für Ralfs kleine Schwester bist du ganz schön kess. Vielleicht sollte ich dich mal in die Mangel nehmen.“

„Versuch es doch ruhig. Ich habe nichts dagegen, jemandem mal wieder etwas beizubringen.“

„Oh, oh… Ich gehe wohl besser zurück, bevor die Revierkämpfe der beiden noch das Restaurant zerlegen“, sagte Ralf und unterdrückte ein Grinsen.

„Gute Idee“, kommentierte der Kellner.

Ralf legte eine Hand auf Mariannes Schulter. „Ich lege dann mal vertrauensvoll das Schicksal dieser Stadt in Ihre Hände, Marianne.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich glaube, da ist es ganz gut aufgehoben.“

Ralf lächelte noch einmal, dann ging er zurück zu den anderen.
 

„Hast du mal ein Taschentuch?“, fragte die HELIOS-Agentin und wischte sich die Tränen von den Wangen.

„Hm. Das ausgerechnet dich der Enthusiasmus der Jugend noch derart rühren kann…“, bemerkte Georgio belustigt.

„Das tut er…. Das tut er…“
 

3.

Wie es der Herr des Feuerclans versprochen hatte, stieg er nach zwei Stunden, als es bereits dunkel wurde, von seinem Kampfwagen herab.

Drei Götter des Feuers sprangen vor ihm herab, zwei flankierten ihn und drei kamen hinterher.

Als die neun Götter in einem roten Feuerschein vor dem Rathaus auf dem Boden aufsetzten, hatte sich bereits eine große Menge Schaulustiger eingefunden. Ein spontaner Sprechchor protestierte gegen die Aufhebung des Vertrages von Hethit.

Kailin rang das nicht mehr als ein dünnes Lächeln ab.

Mit selbstbewusstem Schritt erklomm der Gott die Stufen zum Rathaus, passierte dabei ein Spalier aus HELIOS-Agenten, eine Mahnung an ihn selbst, dass er keinesfalls unangreifbar und unbesiegbar war. Er verstand sehr gut. Es war aber ohnehin nicht sein Plan gewesen, es sich jetzt schon mit der menschlichen Organisation zu verscherzen.
 

Der Bürgermeister der Stadt Andreas Raderer empfing den Gott mit einer Verbeugung anstatt dem eigentlich in dieser Region üblichen Händeschütteln. Ein Zeichen der Distanz oder des Respekts? Kailin interpretierte die Geste als Mischung aus beidem. Und ließ sich dazu herab, den Menschen mit Namen anzusprechen.

Dies erfreute den Bürgermeister und Kailin wusste, er hatte einen ersten kleinen Sieg errungen, einen Verbündeten gemacht.

Von Raderer geführt betrat der Herr des Feuers das Rathaus und ließ sich von ihm zum Konferenzraum führen, wo bereits wichtige Politiker der Stadt und Mittlands, soweit sie es in der kurzen Frist geschafft hatten, Klingburg zu erreichen, erwarteten. Ebenso ein Pulk aus Reportern und Kameras.

Kailin und Bisal nahmen am Tisch selbst Platz, während sich die anderen Götter strategisch über den Raum verteilten. Bildlich gesprochen stellten sie sich neben die anwesenden HELIOS-Agenten, die bereits eine perfekte Aufteilung eingenommen hatten.
 

Kailin hob beide Hände, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden einzufordern. Die Geste war nicht wirklich notwendig, die Anwesenden hingen ihm bereits jetzt an den Lippen. Sie galt eher den Menschen, die über die Liveschaltungen der Fernsehsender sahen, was hier geschah. Seinen perfekten Auftritt.

„Höre mich an, Untere Ebene. Ja, es ist war. Ich habe den Vertrag von Hethit gekündigt. Ja, ich habe alles zerstört, was Menschen und Götter jemals miteinander ausgehandelt haben. Aber ich tue dies nicht, um den Menschen zu schaden. Ich tue es, um sie zu schützen.

Vor nicht einmal einer Woche wurde auf dem Gelände der Staatlichen Klingburg-Universität ein Gerät in Betrieb genommen, welches Götter töten kann.“

Kailin ließ diese Information sacken, konnte sich beinahe vorstellen, wie ein ungläubiges Raunen durch die Menge ging. Er hatte lange mit seinen Beratern diskutiert, ob er diese offensichtliche Schwäche wirklich Preis geben sollte. Aber der Gewinn, der daraus entstehen konnte, war diesen Einsatz wert.

„Es waren Menschen, die dieses Gerät erschaffen haben.“

Auch diese Information musste erst einmal verdaut werden. Selbst im Konferenzsaal raunten die Menschen erschrocken auf. Sicher, sie mussten nun mit Konsequenzen seitens der Götter, der allmächtigen Wesen rechnen. Nun wurde es Zeit, sich als Wohltäter zu präsentieren.

„Aber, es war nicht die Idee der Menschen, dieses Gerät zu bauen. Nein, denn sie wurden manipuliert, belogen und betrogen. Von Dämonen!“

Diesmal ging ein Aufschrei durch die Menge. Dämonen. Seit ewigen Zeiten das verhasste Wort unter den Menschen. Der Inbegriff allen Übels. Dies wurde nun für Kailin zur Trumpfkarte.

„Deshalb sah ich mich gezwungen, die Götter vom Vertragswerk von Hethit zu befreien. Die Dämonen sind wieder unter uns und sie haben die Menschen unterwandert. Unterwandert, um ihnen zu schaden. Wir, die Götter, werden die Dämonen finden und zur Strecke bringen. Menschliche Einheiten wie die Polizei, die Armee, die Geheimdienste oder sogar HELIOS dürfen uns dabei nicht behindern, denn es geht um das gesamte Schicksal der Unteren Ebene. Doch es wird einen neuen Vertrag geben, wenn die heimliche Herrschaft der Dämonen wieder beendet ist.“

Seinen Worten folgte ein zaghafter Applaus. So als ahnten die meisten Menschen, dass der neue Vertrag nicht annähernd so vorteilhaft für die Niederen Wesen der Unteren Ebene sein würde wie es der Vertrag von Hethit tat.

Kailin hob beide Arme und tat eine Geste, als wolle er alle Anwesenden in seine Arme schließen. „Untere Ebene, Ihr Menschen. Meine Kinder! Fürchtet euch nicht, denn der Feuerclan ist herab gestiegen, um euch vom geheimen Joch der Dämonen zu befreien!“
 

In diesem Moment verschwand die Tür zum Konferenzsaal, als hätte es sie nie gegeben. Dennoch verlangte das knisternde Geräusch soviel Aufmerksamkeit, dass die Köpfe aller Anwesenden automatisch herumfuhren. Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch die Menge.

Durch die verschwundene Tür trat ein Hochgewachsener Mann in einer khakifarbenen Fantasieuniform ein. Sein aschblondes Haar schien im Licht der Deckenbeleuchtung zusätzlich zu schimmern. Seine weichen, aber dennoch maskulinen Gesichtszüge brachte einige anwesende Frauen zum seufzen.

In Klingburg war dieser Mann – oder besser gesagt dieser Gott - sehr gut bekannt. Immerhin hatte man ihm eine eigene Kirche gebaut. Nrota vom Erdclan, der Gemahl Tremas und Oberster Waffenmeister.

Er lächelte den Anwesenden zu, erkannte zielsicher jeden einzelnen Anhänger des Erdclans unter ihnen und bedachte jeden mit seinem Namen und einem freudigen Nicken.

Dann trat er vor den Konferenztisch, streckte den rechten Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger theatralisch auf Kailin. „Nette Rede, alter Mann. Du hast in deiner grenzenlosen Güte, die Menschen vor den Dämonen zu retten, nur leider eine Kleinigkeit vergessen. Nur alle vier Clanoberhäupter zusammen können den Vertrag von Hethit kündigen. Und der Erdclan stellt sich gegen die Kündigung des Vertrages!“

Bisal schlug auf den Tisch ein. Ihr Feuer loderte auf und zerstieb einige Dokumente auf dem Tisch zu Asche. Sie beherrschte sich aber rechtzeitig, bevor sie einen Menschen verletzten konnte. „Wie kannst du es wagen, Waffenmeister des Erdclans? Sprichst du jetzt für deinen Stamm, oder wie sollen wir dich verstehen?“

Nrota legte lächelnd eine Hand an sein Kinn und rieb es bedächtig. „Natürlich spreche ich nicht für den Erdclan. Aber du kannst mir glauben, in diesem Fall vertrete ich seine Position.“

„Wie dem auch sei, Nrota, Waffenmeister der Erde. In diesem Fall hätte ich schon gerne direkt mit Trema gesprochen“, sagte Kailin amüsiert.

Nrota stützte sich auf dem Tisch ab und beugte sich vor. „Der Erdclan respektiert die Menschen als Partner und ist sich sicher, die Dämonengefahr auch ohne die Aufhebung des Vertrages von Hethit zu beenden. Dies sind Tremas Worte. Glaubst du ihrem Gefährten nicht?“

„Nein“, sagte Kailin geradeheraus. Machte der Erdclan es ihm etwa so leicht? Natürlich, er hatte alle überrascht. Und das musste die verzweifelte erste Reaktion von Trema gewesen sein. Wenn das alles war, hatte er schon so gut wie gewonnen.

Übergangslos begannen die Scheiben zu zittern. Ein leises Donnern, als würden in der Ferne Gewitter toben, ging durch die Straßen. Aufgeregte Rufe klangen von draußen herein. Und von einem Augenblick zum anderen erhellte Licht, hell wie der Tag die Dunkelheit.

„Dann frag sie doch selbst“, sagte Nrota gefährlich leise und sah dem Herrn des Feuerclans mit einem wölfischen Grinsen in die Augen.
 

„Ein Kampfwagen!“, rief ein aufgeregter Reporter, der in den Konferenzraum gelaufen kam. „Ein Kampfwagen steht über Klingburg!“

Einige Anwesenden lachten und nur wenige verstanden sofort, was der Mann meinte.

„Das wissen wir doch schon, guter Mann“, beschwichtigte der Bürgermeister.

Der Reporter schüttelte den Kopf und japste einen Moment nach Luft. „Quatsch, Quatsch. Noch einer! NOCH EINER! Da draußen ist noch ein Kampfwagen angekommen!“

Nrota stieß sich schwungvoll vom Tisch ab. „Na also. Trema ist da.“

**

„Wow“, kommentierte Ralf, als über ihm aus den Wolken ein weiterer Götterwagen herab stieg. Unübersehbar prangte das Symbol des Erdclans auf der Unterseite. Das gleiche Symbol, welches er als Kette um den Hals trug. „Scheint so, als wäre Trema mit der Anwesenheit des Feuerclans nicht ganz einverstanden.“

Der Fokus warf Mako-chan einen Blick zu. „Was meinst du?“

Die Göttin wurde rot. „Nun… Es war klar, dass die anderen Clans irgendwann darauf reagieren würden, wenn Kailin sich anmaßt, für alle Götter zu entscheiden. Ich hätte nur nicht gedacht, dass… Trema den alten Kampfwagen so schnell flott kriegt.“

Der Blick der Göttin ging über ihre fünf Begleiter. Da war der Mann, der so etwas wie ihr Bruder war, aber in Wirklichkeit ihre andere Hälfte. Mako-kun, der zum Menschen reduzierte Gott. Da war Ralf Schneider, der Fokus ihrer Gruppe von vier Gesegneten und ihr erster und einziger Gläubiger. Und Yoshi, der Nihon-jin, der zum Freund geworden war, seit er aus der Nihon-Firma ausgebrochen war und Ralf Inissars Auge anvertraut hatte.

Und Freya Helensdottir war auch da. Die Wassergesegnete war Teil ihres Kreises und eine gute Freundin. Wenn sie nur endlich das Katz- und Mausspiel mit ihrem Bruder aufgegeben hätte.

Die dritte Frau in ihrer Runde war Carine, eine kleine, dürre und vorlaute Göre, die zufällig Ralfs kleine Schwester war und sich benahm, als müsse ihr der große Bruder jeden Wunsch sofort von den Augen ablesen. Okay, sie hatte Ralf gerettet, als er seiner Kraft beraubt worden war – wahrscheinlich von Makotos Mutter, was die Sache noch schlimmer machte. Und ja, eigentlich war sie recht nett. Aber musste sie so einnehmend sein? Konnte sie Ralf nicht mal einen Moment zum Atem schöpfen gönnen? Konnte sie ihm nicht mal einen Moment alleine mit seiner Freundin gönnen? Nein, natürlich nicht. Stattdessen beobachtete sie jeden Schritt und jede Geste der Göttin, als wäre es ein Versuch, ihren großen Bruder zu vergiften. Aber wie verhielt man sich gegenüber einer Bruderfixierten Teenagerin, die mit ihren Fähigkeiten an eine Gesegnete heran kam? Mako-chan hatte Carine in voller Fahrt gesehen und war beeindruckt gewesen. Die junge Frau hätte mit Arnim mithalten können, obwohl sie nicht einmal gesegnet war, geschweige denn überhaupt eine göttliche Aura trug.
 

Aber vielleicht war es ja auch anders herum. Vielleicht war es die Göttin selbst, die sich aufdringlich verhielt. Dieser Gedanke gefiel ihr nicht, aber sie war ehrlich genug, um ernsthaft darüber nachzudenken. Immerhin war es Carine, die ihren Bruder seit Monaten nicht gesehen hatte. Und es war Makoto, die die letzten Tage und Wochen fast rund um die Uhr mit Ralf verbracht hatte.

Bestürzt kam die Göttin zu der Erkenntnis, dass, wenn die Beziehung mit Ralf hielt und sich noch vertiefte, dieses Gör Teil ihrer Familie werden würde. Und zwar ein Teil, den sie gerade ernsthaft verärgerte. Nun, die Streiterei machte ihr sicherlich genauso viel Spaß wie der Göttin, aber da gab es bestimmt eine Grenze, ab der es ernst wurde. Und Makoto war sich nicht sicher, ob sie diese Grenze nicht schon überschritten hatte.

„…man soviel Odem braucht, um… Hörst du mir überhaupt zu, Mako-chan?“, beschwerte sich Ralf.

Die Göttin sah ihren Gläubigen erschrocken an. Und nahm dankbar zur Kenntnis, dass ihr Handy klingelte. Sie nahm an. „Ja?“ Mit jedem Wort, das sie hörte, erbleichte die Göttin ein wenig. Als sie auflegte, war sie froh über ihre langen Haare. Das war vielleicht der Grund dafür, dass sie ihr nicht zu Berge standen.

„Wer war das?“, fragte Mako-kun beiläufig.

„Nein, nein, nein“, mischte sich Ralf ein, „wichtiger ist die Frage, seit wann hast du ein Handy?“

„Was ist daran so ungewöhnlich?“, kommentierte die Eisländerin. „Ein Mädchen ohne Handy ist ein Krüppel.“

„Das brauchst du ihm gar nicht erst erklären“, bemerkte Carine leise. „In dem Punkt ist mein großer Bruder wie jeder andere Mann auch.“

Die beiden Frauen tauschten einen wissenden Blick aus. Gemeinsam begannen sie zu kichern.

„Hasst du es auch, wenn Frauen so was machen?“, fragte Ralf beiläufig den Nihon-jin.

Yoshi seufzte tief und schwer.

„Das genügt mir als Antwort. Also, warum weiß ich nicht, dass du ein Handy hast, meine Göttin?“

Mako-chan zuckte mit den Schultern. „Ich benutze es selten.“

„Und wer war dran?“, hakte Mako-kun nach.

„Nun lass einer Frau doch mal ihre Geheimnisse“, beschwerte sich Ralfs Schwester.

„Weibliche Solidarität“, brummte Ralf. „Da ist kein Durchkommen, mein Gott.“

Ralf senkte den Kopf und seufzte schwer. Der Gott und Yoshi fielen ein.

Die Frauen tauschten wieder wissende Blicke aus und lächelten amüsiert.
 

„Was auch immer“, meinte die Göttin, „ich denke, ich sollte Ralf und seiner Schwester mal ein wenig Zeit gönnen. Außerdem habe ich noch was zu erledigen. Wir sehen uns in einer Stunde im Haus, ja?“

Die Göttin winkte zum Abschied und ging in eine Seitenstraße.

Carine sah ihr nach. „Habe ich was Falsches gesagt? Sie ist doch nicht böse auf mich, oder?“

Ralf schmunzelte. „Weißt du, kleine Schwester, manchmal ist die einfachste Lösung auch die Richtige. Und die einfachste Lösung in diesem Fall ist, dass sie uns beiden wirklich ein wenig Zeit geben will. Und das sie wirklich was zu tun hat.“

„Und das stört dich nicht, großer Bruder? Das sie etwas zu tun hat? Was wenn es ein anderer Mann ist, oder so?“, argwöhnte sie.

Ralf sah seine Schwester aus großen Augen an. Für eine Sekunde dachte er ernsthaft über ihren Einwand nach. Und verwarf ihn wieder. „Ich will ja jetzt mal nicht von mir selbst überzeugt klingen, aber ich glaube daran, dass Mako-chan mich liebt.“

Carine bekam feuchte Augen. „Ohhhh, dieser niedliche Blick. Du bist echt vollkommen verknallt, großer Bruder. Hach, weiß diese Göttin überhaupt, was sie an dir hat? Du bist ja so süß.“

„Whoa! Mit diesem Blick hast du mich sonst immer angesehen, um dir Geld von meinem Taschengeld zu leihen, Schwesterherz! Was willst du diesmal von mir?“

Carine lächelte selig. „Das ist wahre Liebe. Das muß wahre Liebe sein. Herrlich.“

„Dann solltest du die beiden erst mal sehen, wenn sie glauben, dass sie keiner beobachtet. Da darfst du nichts süßen vorher essen, sonst kriegst du einen Zuckerschock“, brummte Freya amüsiert.

Ralf schüttelte den Kopf. Die Richtung, in die das Gespräch abdriftete, gefiel ihm überhaupt nicht.
 

„Könnten wir dann mal weitermachen?“, beschwerte sich Mako-kun. „Also, um auf deine Frage zu antworten, Ralf: Klar, um einen Kampfwagen auf die Untere Ebene zu schaffen, bedarf es einer Menge Odem. Aber der Erdclan hat es auch ohne Gebetsmarathon geschafft. Wenn du mich fragst, hat der Feuerclan durch den Gebetsmarathon einige Reserven aufgebaut, die der Kampfwagen niemals verbrauchen konnte.“

„Hm“, machte Freya. „Vielleicht produzieren sie ein magisches Potentialfeld?“

„Vielleicht bereiten sie auch die Vernichtung der Menschheit bevor?“, bemerkte Yoshi leise. Es klang zu ernst, um als schlechter Witz durch zu gehen.

„Nun, die Vernichtung vielleicht nicht“, sagte Ralf, „aber vielleicht die Unterwerfung. Denkt doch mal nach. Erst wird Odem gesammelt, dann der Vertrag von Hethit gekündigt. Und am Ende machen sie mit dem aufgesparten Odem irgendetwas Dämonisches und übernehmen die Untere Ebene.“

„Nun mach den Feuerclan mal nicht so schlecht, Ralf“, beschwerte sich Makoto. „Ich gebe zu, seine Mitglieder haben nicht umsonst den Ruf, Hitzköpfe zu sein. Erinnert euch nur an unsere erste Begegnung mit Ausyl.“

„Lieber nicht“, sagten Freya und Ralf aus einem Mund.

„Aber letztendlich sind sie weder gut noch böse. Es sind halt Götter. Was sie tun ist niemals vollkommen selbstlos, und niemals vollkommen egoistisch. Sie können sich ebenso aufopfern wie egoistisch sein und jeder Gott ist anders. In dem Punkt unterscheiden sie sich nicht von den anderen Clans. Im Moment gibt Kailin einen ziemlich rigiden Kurs vor. Aber irgendwann werden die verschiedenen Interessen und Strömungen innerhalb des Feuerclans greifen. Und der rigide Kurs zerfällt in tausend Eigeninteressen. Früher oder später.“

„Dieses später macht mir Sorgen“, sagte Ralf.

„Äh, Leute“, sagte Yoshi.

„Ach genau. Das habe ich dich ja noch gar nicht gefragt. Was ist das für eine Firma, in der dich Georgio untergebracht hat?“

„Ich glaube, das ist im Moment nicht so wichtig wie das da“, bemerkte der Nihon-jin und deutete an Ralf vorbei. Der Gläubige wirbelte herum.

„Hatte ich zuviel Peperoni im Essen, oder steht da wirklich eine Flammenwand zwischen den Häusern?“, fragte Ralf und wunderte sich über seine Gelassenheit.
 

„Mako-chan!“, rief der Gott und sprintete los.

Carine lief hinterher und überholte den zum Menschen reduzierten Gott, dicht gefolgt von Freya, die mühelos mithielt. Yoshi war plötzlich dicht hinter den Frauen.

Ralf bemühte sich zu Makoto aufzuholen. „Warum bin ich der letzte? Ich mache mir doch die meisten Sorgen um Mako-chan!“

„Red nicht“, rief Mako-kun von vorne, „lauf lieber.“

Ein guter Rat, fand Ralf.

**

Als die Göttin den Treffpunkt erreichte, eine stille Parkbank unter einem hohen Baum inmitten der Fußgängerzone, ging ihr Blick nach oben. Dort gesellte sich gerade ein dritter Kampfwagen zu den anderen beiden. Der des Wasserclans war angekommen. Für einen Moment fragte sie sich, ob Agrinal vielleicht ein Bündnis mit dem Feuer eingegangen war und für ein Aufheben des Vertrags von Hethit eintreten würde.

„Hallo, Makoto. Schön, dass du kommen konntest.“

Langsam wandte sich die Göttin um. Hinter ihr stand William Cogsworth. „Du hast mir ja kaum eine andere Wahl gelassen, wenn du Ralf bedrohst. Also. Ich gebe dir genau eine Minute um mir zu erklären, was so wichtig ist. Das ist genau die Minute, bevor ich dich durch die Mangel drehe.“

Will hob abwehrend die Hände. „Ruhig, meine Göttin.“

Für einen Augenblick erschrak Makoto, bis sie erkannte, dass es nur eine Floskel gewesen war. Der Gäle hatte ihre wahre Natur nicht durchschaut.

„Ralf ist dich doch überhaupt nicht wert. Ich meine, er ist so schwach. So unscheinbar. Ein Idi… unsensibler Typ. Das kannst du ja nicht erkennen, wenn du dauernd mit ihm zusammen bist. Makoto, du solltest wirklich mehr unter Leute gehen und etwas Abstand von diesem Kerl gewinnen. So zwei, drei Kilometer sollten reichen.“

„So. War es das jetzt? Soll ich mich vor dir hinwerfen und rufen: Ach, William Cogsworth, mit diesen Worten hast du mein Herz gerührt. Nimm mich, hier und jetzt. Ich will für immer dein sein!?

Und was, wenn ich es nicht rufe? Gehen dann deine Idiotenfreunde auf Ralf los?“

„Aber er ist ein Idi… Ich meine, er ist nicht das, was du in ihm zu sehen glaubst. Sieh mal, er trägt ja sogar diesen dämlichen Schmuckstein mit sich rum. Ich habe ihm diesen Stein abgenommen, damit er mir verspricht, dass er dir nicht so auf die Pelle rücken soll. Aber…“

Makoto lächelte plötzlich. Endlich war es soweit. Nach dem Überfall auf Ralf hatte sie keine Gelegenheit gehabt, William abzupassen. Aber hier und jetzt spielte er ihr in die Hände.

Die Göttin legte beide Hände auf ihr Gesicht. „Ralf trägt Schmuck?“

„Ja. Und dazu vollkommen geschmacklosen. Hier, das trägt er sonst um den Hals…“

William zog die Schnur mit Inissars Auge aus seiner Hosentasche.

Makoto ließ das Potentialfeld für eine Sekunde auf sich wirken. Ja, verdammt, das war das Original. Das sie in zwei Personen zerrissen, zur Gesegneten degradiert und Mako-kun zum Menschen reduziert hatte. Eines der mächtigsten – vielleicht das mächtigste Artefakt des Feuerclans.

„Was denkst du darüber, mir dieses Schmuckstück freiwillig zu geben, bevor ich dich dazu zwinge?“, fragte die Göttin gedehnt und knetete mit der Linken ihre rechte Faust durch.

„Was denkt ihr beide darüber, mir den Stein im Austausch für euer Leben zu geben?“, erklang hinter ihnen eine Stimme.

Mako-chan drehte sich in der Hüfte. Sie reagierte sofort und warf sich auf William. Sie riss ihm um und zerrte ihn in die Deckung des Baumes.

Ein leiser Fluch erklang, und links und rechts vom alten Stamm jagten Feuerwände an ihnen vorbei.

Makoto riskierte ein Auge und erkannte eine schlanke, große Frau. Sie trug nicht viel mehr als einen schwarzen Lederbikini, aber die auffallendsten Merkmale an ihr waren ihre Haare, die wie goldene Flammenspitzen auf ihrem Kopf zu lodern schienen. Und die Tatsache, dass sie drei Meter in der Luft schwebte. „Eine Feuergöttin, verdammt. Sie hat das Artefakt bestimmt erkannt“, knirschte Makoto und presste einen Fluch hinterher.

William, der halb unter der Göttin begraben war, seufzte nur vor Glückseligkeit.
 

Was war zu tun? Ob sie wollte oder nicht, sie konnte diesen Trottel der Feuergöttin nicht zum Fraß vorwerfen. Allerdings war dieses Pflichtgefühl für diesen Idioten erschreckend dünn.

Sie musste zusammen mit ihm entkommen. Oder ihm die Flucht ermöglichen und ihm später folgen. Wie es auch immer lief, sie würde kämpfen müssen.

Makoto ergriff William am Kragen. „Jetzt hör mir mal genau zu, mein Großer.“

„Großer. Sie hat mich Großer genannt.“

„Klappe und Lauscher auf. Das da hinten ist eine Feuergöttin. Und sie will Ralfs Schmuckstein. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, rennst du los. Ich lenke die Feuergöttin ab. Und du rettest deinen fetten Arsch. Wenn du schlau bist, rennst du direkt zu meiner WG und gibst den Stein dort ab. Außer, du willst diese Göttin dort näher kennen lernen.“

Makoto atmete schwer. Die Aufregung griff nach ihr. War es nur eine verhängnisvolle Tendenz, dass sie sich auf den bevorstehenden Kampf freute? Das er ihr jetzt schon Spaß machte? Hastig überprüfte sie den Energiefluss, den sie dem Baum mitgab, seit sie hinter ihm Schutz gesucht hatte. Solange sie das tat und die Aura des alten Riesen verstärkte, waren sie einigermaßen vor der Flammenkraft der Göttin geschützt. Bis die auf die Idee kam, um den Baum herum zu kommen.

Aber soweit wollte es Makoto gar nicht erst kommen lassen.
 

„Habt Ihr Angst vor Irele, kleine Menschen? Das verstehe ich nur zu gut. Ihr wärt nicht die ersten Menschen auf meiner Liste. Und gewiss nicht die letzten.“

Makoto erhob sich. Sie gab William einen Klaps auf den Rücken und flüsterte: „Du bleibst hier, bis ich jetzt rufe. Dann läufst du so schnell du kannst hier weg!“

„Warte, warte, warte! Du kannst da doch nicht raus gehen. Das ist eine Göttin!“

„Oh. Deine Fürsorge rührt mich.“ Ein klein wenig stimmte das sogar. Makoto legte eine Hand auf die Parkbank. Der Stahl des Rahmens begann sich zu verformen und bildete zusammen mit dem Holz der Lehnen einen Kampfstab. Makoto ergriff den Stab und wog ihn prüfend in der Hand. „Aber sie ist unbegründet. Ich bin auch eine Göttin.“

Mit einem letzten Blick auf den vollkommen überraschten Gälen trat Makoto amüsiert hinter dem Baum hervor.

„Wer hat schon Angst vor einer kleinen Feuergöttin? Ich bin Makoto vom Erdclan. Und ich fürchte, ich muss dich verprügeln.“

Die Feuergöttin sank auf die Straße herab. Ihr Feuer ließ den Asphalt zu ihren Füßen aufkochen.

„Du willst mich verprügeln? Wie?“, höhnte Irele.

Makoto lächelte kalt. Der heiße Asphalt griff plötzlich nach der Feuergöttin und hielt sie fest. Die dichte Decke zu Makotos Füßen bäumte sich auf wie ein lebendiges Wesen, türmte sich auf und stürzte über der Feuergöttin zusammen.

„Du hast es geschafft!“, brüllte William begeistert auf. „Du hast sie besiegt!“

Wütend sah Makoto zurück. „Habe ich nicht! Bleib in der Deckung, Idiot!“

Es war ein Fehler gewesen sich abzuwenden, das wusste Makoto in dem Moment, als sie aus den Augenwinkeln das erste Licht ausmachte. Kurz darauf zersprang der Sarkophag der Feuergöttin in alle Richtungen und versprühte dabei glutflüssigen Asphalt. Ein besonders großer Brocken traf Makoto an der Stirn. Sie taumelte, sackte zu Boden.

„Ist das etwa alles, was du drauf hast?“, höhnte die Feuergöttin.

Mit ihrem Stab richtete sich die Erdgöttin auf. Sie fasste den Griff fester, um zu ihrer Konzentration zurück zu finden. „JETZT!“, rief sie William Cogsworth zu und lief los.
 

Ihre Fähigkeiten entsprachen nur der einer Gesegneten. Der Unterschied zu einer vollwertigen Göttin wurde Makoto bewusst, als ein Dreizack aus Flammen auf ihr Gesicht zuraste. Sie konnte ihn nur knapp mit ihrem Stab abwehren. Hinter ihr erklangen hektische, panische Atemzüge, als William in einer Seitenstraße verschwand.

Dass sie auf diesen Idioten aufpassen musste, machte ihre Position auch nicht gerade leichter.

Irele wusste das. Und nutzte es eiskalt aus. Sie tat, als wolle sie sich an Williams Verfolgung machen und Makoto musste reagieren, ihr den Weg verstellen. Dies war ihr Fehler. Sie wusste es. Sah es kommen. Dennoch tat es weh, als der Flammendolch, den Irele für sie erschuf, durch ihr Sternum fuhr.

Auf den Dolch aufgespießt betrachtete die Feuergöttin ihre Beute einen Augenblick und hob die freie Hand. Dort entstand erneut der Dreizack. „Wie erbärmlich ihr Erdgötter doch seid.“
 

Übergangslos versank die Fußgängerzone in dichtem Nebel. Irritiert sah die Feuergöttin auf. Und erkannte gerade noch einen schweren Absatz, der ihr direkt ins Gesicht flog. Den Tritt eines normalen Menschen hätte sie nicht einmal bemerkt. Aber dieser hier warf ihren Kopf nach hinten und löste den Griff um ihre Waffen.

„Guter Treffer, Carine“, rief Freya und fing die zu Boden stürzende Makoto auf.

„Danke für den Nebel, Schatz“, erwiderte Ralfs Schwester, ging zu Boden und nahm Kampfhaltung gegenüber der Feuergöttin ein. „Ist sie schwer verwundet?“

„Sorge dich nicht um die Erdgöttin!“, rief Irele wütend. „Dein eigenes Schicksal sollte dir jetzt wichtiger sein!“ Wieder raste der Feuerdreizack heran, aber er ereichte nie sein Ziel.

Ein unglaublich dichtes Feld aus komprimierter Luft ließ die Flammenwaffe zerstieben wie ein Windstoß Konfetti. Yoshi stand neben dem Baum und zielte mit seiner Pistole auf die Feuergöttin. „Kommt auf meine Höhe zurück. Ich gebe euch Deckung.“

Freya umfasste ihre Freundin fester und sprang auf die Höhe des Baumes zurück. Carine bewegte sich vorsichtig nach hinten. Dabei ließ sie die Göttin des Feuers nicht einen Augenblick aus den Augen. „Sag schon, wie geht es ihr?“

„Nichts, was ein wenig Odem nicht heilen könnte“, erwiderte die Eisländerin.

„Kein Odem der Unteren Ebene kann die Wunden heilen, die ich euch zufügen werde“, grollte Irele zornig. „Eine Torch und eine Wassergesegnete halten mich nicht auf.“
 

Aus der nächsten Seitengasse kam Ralf hervor. Im Laufen zog er die Waffe, die Yoshi ihm geschenkt hatte und feuerte ebenfalls eine Torch ab. Sie entwickelte ein Feuerfeld, dass sogar Irele wanken ließ. Doch die Göttin stabilisierte sich wieder. „Auch zwei Torchwaffen bringen mich nicht um.“

Ralf grinste abfällig und trat langsam auf die Göttin zu. Kurz ging sein Blick zu seiner verletzten Freundin. Wütend ballte er die Hände.

„Geh nicht zu nahe ran, Ralf-sama!“, rief Yoshi. „Wir können sie von hier in Schach halten, bis die Frauen fort sind!“

„Vielleicht will ich sie gar nicht in Schach halten.“ Ralf trat einen weiteren Schritt vor und ergriff die Waffe mit der Linken am Lauf. „Wie sieht es aus, Göttin? Du bist doch gerade sicher wütend, oder? Willst du dich nicht ungestraft an jemandem abreagieren? Es muß doch keine Göttin sein, oder? Nimm doch einfach mich. Mach mich fertig, verbrenne mich, töte mich, wie es dir gefällt. Du wirst nicht mal bemerken, dass die anderen überhaupt da waren.“

Misstrauisch beäugte die Feuergöttin den Menschen. „Du opferst dich für sie?“

Ihr eigentlich hübsches Gesicht bekam einen sadistischen Zug. „Akzeptiert. Ich werde dich langsam sterben lassen.“

„Ralf!“, rief Freya aufgeregt. „Das kannst du nicht tun!“

„Ralf-sama! Denk doch an Mako-chan!“

„Das tue ich ja gerade! Zieht euch zurück, sofort! Yoshi-kun, du deckst ihren Rückzug.“

Ralf sah die Göttin an und nickte schwer. Er warf die Waffe hoch in die Luft. Hinter der Göttin ging sie zu Boden. „Bist du bereit?“

„Bereit für die Folter?“, fragte Irele und leckte sich die Lippen. Es hinterließ kleine Flammenzungen.

„Nein“, erklang es hinter ihr. „Für mich.“
 

Als Irele herum wirbelte, warf sich Ralf in Deckung, für den Fall der Fälle.

Hinter der Feuergöttin stand Mako-kun. Er hatte die Torchpistole aufgefangen, als Ralf sie geworfen hatte. Und bevor die Feuergöttin richtig nach hinten gesehen hatte, feuerte er eine Serie von vier Schuss auf sie ab. Von vorne fiel Yoshis neue Waffe mit ein. Freya ließ ein Wasserrohr platzen und traf Irele mit einem armdicken Strahl. In diesem Wust aus Feuer-, Luft-, Erd- und Wasserattacken ging die Feuergöttin zu Boden. „IHR!“, rief sie und sprang in die Luft. Ihre Schmerzensschreie klangen noch in der Straße nach, während sie schon lange auf dem Weg zum Kampfwagen des Feuers war.

Ralf sah ihr nach. „Machen wir, dass wir weg kommen, bevor noch mehr auftauchen.“

„Ich bin dafür“, sagte Mako-kun. „Freya, gib Mako-chan erst mal genügend Odem, damit sie den Weg übersteht. Heilen werden wir sie Zuhause.“

Der Gott sah Yoshi an. „Tolle Waffe. Wo, sagtest du, hat dich Georgio untergebracht?“

Der Nihon-jin zog eine schwarze Sonnenbrille hervor. „Frag lieber nicht.“

Ralf hatte derweil seine Göttin auf seine Arme genommen. „Was machst du auch immer für Sachen“, hauchte er mit ihrem Gewicht auf seinen Armen.

Die Göttin öffnete die Augen einen kleinen Spalt und flüsterte: „Nur für dich…“
 

4.

Trema, die Herrin des Erdclans, kam nicht von Bord ihres Kampfwagens. Obwohl von dort Götter aufbrachen, um sie zu begleiten, erreichte die Herrin der Erde das Rathaus in einer großen Limousine.

Als sie ausstieg ging ein Raunen durch die Menge. Das enge, hellbraune Kleid mit dem Symbol des Erdstamms als einzigen Schmuck kleidete die Göttin vorzüglich. Allerdings war es so eng, dass die Vorzüge dieser überirdischen Schönheit mehr als zur Geltung kamen.

Schmuck hätte an der großen, schlanken und schönen Frau deplatziert gewirkt. Ihr kunstvoll hochgestecktes Haar war ihr wirklicher Schmuck und unterstrich ihre Göttlichkeit.

Die Erdgöttin erwartete am Fuß des Rathauses ihr Gefolge. Kailin war hingegen unter dem Schutz seiner Leibwache aufgebrochen.

Bewunderndes Raunen für die Herrin der Erde klang aus den Reihen der Zuschauer auf.

Als ihr Aufgebot vollständig war, lächelte Trema freundlich in die Runde und betrat das Rathaus.

Respektvoll machten ihr die Menschen Platz.

Schon nach wenigen Schritten aber applaudierte jemand Trema, der Legendären. Der Freundin der Menschen. Der Gütigen. Und löste damit einen wahren Begeisterungssturm aus, den Trema mit unbewegtem Lächeln aufnahm. Nur das Funkeln ihrer Augen verriet, wie sehr sie die Reaktion der Menschen freute.

Auch ihr Gefolge, bestehend aus den bedeutendsten Göttern des Clans der Erde zeigte offen ihre Freude über den Empfang ihrer Herrin.
 

Als Trema den Konferenzraum erreichte, dankte sie ihrem Gemahl mit einem Nicken für seine Arbeit und wandte sich direkt Kailin zu.

Ihre helle Haut wurde von zorniger Röte übertüncht, als die Erdgöttin den Feuergott mit einem harten Blick maß. „Kailin, Herr des Feuers. Dein Clan versteht es zu überraschen in letzter Zeit. Zuerst der Gebetsmarathon, dann die Reaktivierung des Kampfwagens, danach die Kündigung des Vertrages von Hethit… Und das alles nur, weil du Angst von den Menschen hast?“

Kailins Haare versanken in Flammen, die wütend wie geschlagene Peitschenenden von seinem Kopf fuhren. Die umstehenden Menschen traten hastig einige Schritte zurück, obwohl das Gefolge des Feuergottes ohnehin niemanden hatte nahe genug heran treten lassen, um von den Flammenhaaren getroffen zu werden. „Angst vor den Menschen? Hüte dich, Frau. Du sprichst mit dem Herrn des Feuers!“

Trema erwiderte den Blick kalt. „Und du, Kailin, sprichst mit der Herrin der Erde!“

Eine Zeitlang starrten sich die Erdgöttin und der Feuergott an und maßen sich im stillen Wettstreit des Willens.

Als Kailin von einem seiner Untergebenen angesprochen wurde, unterbrach er den Blickkontakt automatisch, was ihn sichtlich wütend genug machte, dass seine Flammenhaare wuchsen und schwarze Striemen auf dem Tisch vor ihm hinterließen. Der Feuergott, der ihn gestört hatte, ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern berichtete seinem Herrn flüsternd.

Kailin wurde bei jedem Wort ruhiger und seine Flammenhaare verwandelten sich wieder in seinen ehrwürdigen silbernen Haarschopf.

Er lächelte liebenswürdig, als er die Herrin der Erde wieder fixierte. „Trema, gute Freundin. In solch einem wichtigen Moment, am Scheideweg der Zeit, sollten wir uns nicht mit billigen Spielchen messen. Wie ich gerade erfahren habe, ist der Kampfwagen der Luft ebenfalls eingetroffen. Herress kommt soeben auf die Erde herab.“
 

Wenn Trema von der Nachricht überrascht war, zeigte sie es nicht. Die Luft war neutral, seit je her. Mal Verbündeter, mal Gegner der Erde. Ebenso verhielt es sich mit dem Clan des Wassers und seiner Herrin Agrinal. Trema wusste, dass auch die Wasserherrin ihren Kampfwagen ausmotten und auf die Untere Ebene herab kommen würde. Und das war eine Entwicklung, die der Erdgöttin nicht gefiel. Denn wenn alle vier Oberhäupter versammelt waren, konnten sie tatsächlich den Vertrag von Hethit einseitig widerrufen. Und dazu brauchte Kailin lediglich Luft und Wasser auf seine Seite zu bringen.

Und sollte das geschehen, dann würde nichts mehr so sein wie noch wenige Stunden zuvor.

Trema glaubte nicht daran, dass der alte Feuerkopf einen neuen Vertrag aushandeln wollte – er würde einen diktieren. Einen Vertrag, der ihre Partner, die Menschen, sehr benachteiligen würde. Wenn er ihnen im Vertrag überhaupt irgendwelche Rechte zugestand.

Was folgen würde, konnte nur ein Krieg sein. Auf welcher Seite sich ihr Clan wieder finden würde, wusste selbst die Herrin der Erde noch nicht zu sagen.

War es das, was Kailin wollte? Krieg? Und was danach? Eine Obere Ebene, die vollkommen über die Untere Ebene herrschte?

Kailin war ein Rassist, der die Macht der Götter immer wieder betonte und die schwachen Menschen als minderwertig, als Beute hinstellte. Für ihn waren sie nur für eine Sache gut. Odem liefern. Und unter einem Obergott Kailin würden sie eine sehr lange Zeit auf diese Rolle beschränkt bleiben.
 

Der Eintritt von Herress, der Herrin der Luft, veranlasste Trema, kurz zur Seite zu sehen. Sie tauschte mit der Luftgöttin einen kurzen Blick und ein Nicken aus. Und sie sah die Bescherung, bevor die greise Herrin ihres Clans überhaupt ein Wort gesagt hatte. Denn die Götter aus ihrem Gefolge taten einen Schulterschluss mit den Feuergöttern aus Kailins Gefolge.

„Ich will nicht sagen“, begann Herress mit einer Stimme, die klang, als wollte man alte Stahlseile dazu benutzen, um Holz zu sägen, „dass es sinnvoll ist, den Vertrag von Hethit zu kündigen. Damit hast du uns alle überrascht, Herr des Feuers. Aber wenn die Menschen wirklich in der Lage sein sollten, uns Götter zu töten, müssen wir unser Verhältnis zu Unteren Ebene von Grund auf überdenken.“

Trema seufzte ergeben. Das war nicht mehr und nicht weniger als ein Freibrief, um den Vertrag möglichst vorteilhaft für die Götter neu zu verhandeln.

Als auch noch Agrinal eintrat, hübsch wie eine Porzellanpuppe und mit einem Lächeln aus Wachs, glaubte Trema ihre Sache schon verloren. Doch ein kleines Wunder geschah, als die wächsernen Gesichtszüge für einen Moment aufbrachen, um sowohl Herress als auch Kailin mit je einem bösen Blick zu bedenken.

Ohne zu zögern trat die Herrin des Wassers neben die Herrin der Erde. Von dort sah sie in die Runde. „Ehrenwerte Menschen. Ihr Götter. Hohe Lords der Götter. Es ist richtig, was die Herrin der Luft gesagt hat. Wenn die Menschen eine Waffe entwickelt haben, die Götter töten kann, ist dies alleine schon ein Bruch des Vertrags von Hethit. Möge der Herr des Feuers seine Beweise vortragen, und uns dann entscheiden lassen.“

Mit anderen Worten, dachte Trema amüsiert, er sollte seine Beweise vortragen, so er denn welche hatte.
 

Aus den Augenwinkeln sah Trema, wie mehrere Agenten von HELIOS den Saal betraten. Angeführt wurden sie von einer großen, blonden Frau mit dem für sie so typischen engen Rock. Sie fixierte Trema einen Moment durch ihre Sonnenbrille hindurch, und für einen winzigen Moment meinte die Erdgöttin zu sehen, wie sich die Lachfältchen an den Augenwinkeln zusammen zogen.

Agrinal forderte mit einer sanften Berührung ihre Aufmerksamkeit ein. „Wir haben ein Problem, Trema“, flüsterte die Wassergöttin und sah in die Aufstellung. Kailin stand noch immer am Stirnende des Konferenztisches, umgeben von seiner Garde und einigen Menschen wie dem Bürgermeister und wichtigen Ratsherren. Dort hätte eigentlich mittlerweile der Ministerpräsident Mittlands stehen müssen. Mochten die Dämonen wissen, was ihn aufhielt.

Auf der linken Tischseite stand Herress und beanspruchte die Seite für sich und ihr Gefolge. Hinter ihr säumten Reporter und HELIOS-Agenten die Wand. Die Opposition zu Kailin beanspruchte Trema für sich; hinter ihr stand ihr Gefolge, ihr Gemahl und weitere Reporter sowie HELIOS-Agenten.

Die rechte Seite blieb leer, denn Agrinal teilte sich mit Trema eine Seite. Ein mehr als deutliches Zeichen, wo der Clan des Wassers in dieser Angelegenheit stand.

„Ich weiß“, hauchte Trema zurück. „Kailin wird noch einen Krieg heraufbeschwören. Einen Krieg, in dem ein Clan durchaus zwischen die Fronten geraten kann.“

„Das meine ich nicht“, erwiderte Agrinal und folgte lächelnd der Einladung Kailins, am Konferenztisch Platz zu nehmen.
 

Der Herr des Feuers wirkte konzentriert, als er begann. „Das Problem, vor das uns die Menschen stellen, ist um einiges schwieriger, als sich alle Anwesenden vorstellen können. Es ist der Lauf der Welt, dass selbst Götter irgendwann einmal sterben. Wir werden geboren, wir sterben. So ist es nun einmal.

Aber die Menschen haben etwas Ungeheuerliches erschaffen.“

Der Herr des Feuers stützte sich auf der Tischplatte ab und erhob sich wuchtig.

„Es ist der Odem, Erdgöttin. Die Feuergläubigen beten immer noch“, sagte Agrinal leise. „Und der Kampfwagen hat nur einen kleinen Teil dieser Vorräte an Odem aufgebraucht, als er den Transfer durch den Korridor auf die Untere Ebene antrat.“

Trema wollte antworten, aber ein wuchtiger Finger deutete direkt auf sie.

Kailin forderte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ein. „Fragt Trema doch selbst, was die Menschen erschaffen haben. Ihr eigenes Kind hat es spüren müssen!“

Aufgeregtes Raunen ging durch den Raum. Hatten Menschen wirklich einen Gott getötet?

„Das, was die Menschen ihrem Kind angetan haben, lässt es beinahe schon gnädig aussehen, wenn es getötet worden wäre!“, blaffte Kailin mit glutender Flammenmähne und wütender Stimme. „Die Waffe, den sie Götterresonator nennen, hat Tremas Kind nicht nur gefangen, nein, der Resonator hat ihm auch alles Göttliche ausgebrannt! Die Waffe der Menschen macht aus uns Göttern Ihresgleichen! Es reduziert sie zu Menschen!“

Von einem Augenblick zum anderen schrieen alle Anwesenden wild durcheinander.

Trema war erschüttert. Woher wusste Kailin das? Und wie hatte er es gegen sie verwenden können?

In dem Tumult warf die Erdgöttin ihrem Gemahl einen kurzen Blick zu. Nrota trat näher und wartete auf ihre Worte. „Geh, beschütze Mako-chan und Mako-kun. Und bitte Thomas um Hilfe.“

Der Erdgott und Waffenmeister verzog bei den letzten Worten das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen, aber er nickte schließlich und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
 

„Ruhe, bitte. Ruhe, bitte“, sagte Kailin, als der effektvolle Tumult lange genug angedauert hatte. „Herrin des Erdstamms. Bestätigst du meine Worte?“

Langsam erhob sich Trema und warf einen langen Blick in den Raum. „Es ist wahr“, sagte sie, obwohl sie jede einzelne Silbe zutiefst schmerzte. Wieder brach Tumult aus. Die Menschen schrieen durcheinander und erste Reporter verließen den Saal, um die ungeheuerliche Neuigkeit zu verbreiten.

Trema lächelte dämonisch. Sie hatte ihr Pulver noch lange nicht verschossen. „Aber“, begann sie und hatte sofort die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden, „dies konnte nur geschehen, weil die Dämonen ein magisches Potentialfeld im Resonator integriert hatten – ohne das Wissen der Menschen. Ein Artefakt, welches der Feuerclan vor gut zweitausend Jahren nicht in der Lage war zu schützen. Ein Artefakt, von dem der Feuerclan bis heute nicht weiß, wo es sich befindet.“

Der Hieb saß. Beinahe erwartete Trema, Kailin bei diesem verbalen Angriff zu Boden gehen zu sehen. Doch der Feuerherr verhielt sich anders, als die Erdgöttin es erwartete. Er sah sie an und grinste wölfisch.

Trema wurde es plötzlich kalt. Er wusste, wo das Artefakt war! Er wusste es!

Trema wollte springen, diesen Raum verlassen, reagieren! Der Feuerclan sammelte Odem und suchte ein Artefakt, welches Odem verstärkte! Die Gefahr musste jedem mit ein wenig Verstand ja geradezu ins Gesicht springen.
 

Trema fühlte ihren Körper übergangslos schwer werden. Neben ihr stieß Agrinal einen Ruf der Überraschung aus, während eine unsichtbare Kraft sie aus ihrem Sessel drückte und zu Boden warf. Rings um Trema herum sanken die Menschen ohnmächtig zu Boden. Auch sie wurde aus ihrem Sessel geworfen und zu Boden gedrückt. Sie verstand. Kailin hatte weit mehr getan, als den Vertrag von Hethit aufzukündigen und seinen Kampfwagen auszumotten. Er hatte den Göttern, die auf der Seite der Menschen standen, eine Falle gestellt.

Der Odem, den er hatte sammeln lassen, bildete ein neues Potentialfeld – ein Feld, dass sich über den Raum senkte, und Mensch und Gott zu Boden zwang.

Gegen ihren Willen wurde der Kopf der Göttin herunter gedrückt. Aus ihrer neuen Position suchte Trema die Wand ab. Auch die HELIOS-Polizisten waren zu Boden gegangen. Nur ihre Anführerin konnte die Erdgöttin nirgends sehen.
 

„War es das wert, Kailin?“, fragte Herress mit ihrer alten Stimme, während sie sich erhob.

„Das war es und das wird es sein. Die Anführer und wichtigsten Götter von Erde und Wasser sind in diesem Raum gefangen. Nun hindert uns nichts mehr daran, Inissars Auge an uns zu nehmen und die Untere Ebene zu erobern, Herrin der Luft.“

Mühsam wandte Trema den Kopf und sah, wie die Luftgötter und die Eskorte des Herrn des Feuers den Raum verließen.

Und mit erschreckender Sicherheit wusste Trema plötzlich, wo sich Inissars Auge befand.
 

5.

„Kommt her! Das müsst Ihr gesehen haben!“, rief Anselm Stein von der Haustür in die alte Villa hinein.

Der Erste war Klaus Fischer. Er sah nach oben und brummte: „Heilige Scheiße. Die Kampfwagen beschießen sich!“

„Was, bitte?“, rief Arnim Kleyn aufgeregt.

„Die Kampfwagen beschießen sich gegenseitig. Es sieht so aus, als würde der Wagen des Feuers zusammen mit dem der Luft den Erdwagen in die Zange nehmen.“

„Heilige Scheiße“, brummte Arnim beim Anblick der Gewalten, die ein Kampfwagen verursachte, wenn er seine Odemgespeisten Waffen abfeuerte.

„Hey, Leute, ich weiß ja, dass sich Mako-chan wieder auf den Weg der Besserung befindet“, sagte Ralf, als er zu den anderen hinaus trat, „aber sind fünf Minuten Ruhe wirklich so viel ver… Bei sämtlichen Dämonen und allem, was meiner Mami heilig ist, was machen die Idioten da?“

Arnim zuckte die Achseln, während der Kampfwagen Agrinals zugunsten der Erde in das Gefecht eingriff. „Krieg führen?“

„Aber… Aber… Götter führen doch nicht gegeneinander Krieg! Das kann doch gar nicht sein!“, rief Ralf zweifelnd.

Mako-kun kam zu ihnen heraus. Er besah sich die Szene und seufzte schwer. „Verschiedene Fraktionen innerhalb der Clans, Ralf. Hast du schon vergessen, was ich dir erklärt habe? Kailin war schon immer etwas extrem. Aber das er wirklich mal so etwas wagen würde… Er bräuchte schon eine wirklich große Unterstützung, um seine Pläne durch zu führen.“

„Du meinst so etwas wie…“, hauchte Freya mit Grabesstimme, „ein magisches Potentialfeld wie Inissars Auge?“
 

Zwischen Mako-kun und Freya drückte sie eine schlanke, blonde Gestalt durch, zog im Laufen ihre Jacke an und war schon fast an der Straße.

„Dafür, dass es Mako-chan eben noch so schlecht ging, hat sie aber am schnellsten von uns allen geschaltet!“, blaffte Arnim und hetzte der Erdgöttin hinterher.

„Ich weiß, wo Inissars Auge ist!“, rief Mako-chan vom Bürgersteig herüber. „Kommt!“

Ralf reagierte sofort und hetzte der Göttin – seiner Freundin hinterher.

Mako-chan sah zufrieden, wie auch Freya und Mako-kun los liefen und spurtete ihrerseits davon. Dabei rannte sie einen jungen Mann um.

„Tut mir leid!“, rief sie und kam taumelnd auf die Beine. „Ich habe es leider eilig. Ein Idiot ist in Gefahr!“

„Göttin!“, rief ihr der gestürzte Mann hinterher.

Makoto blieb stehen und wandte sich um. Tatsächlich, sie hatte William Cogsworth umgerannt! Sofort eilte sie zurück und zerrte ihren Verehrer auf die Beine. „Trottel! Warum bist du nicht sofort her gekommen?“

Doch ihre Worte taten ihr sofort leid.

Will war in einem wirklich schlechten Zustand. Seine Haut war stark gerötet, seine Haare teilweise angesengt. In der Rechten hielt er Inissars Auge fest umklammert. „Wäre ich ja. Aber die da hat mich nicht gelassen!“
 

Er deutete in den Himmel, wo in diesem Moment eine drahtige Frau in eine blutroten Body mit pechschwarzem Haar herab fiel und wenige Meter vor den beiden landete. Als Waffe trug sie eine Art Muskete bei sich. „Tochter von Trema“, sagte sie höflich. „Mein Name ist Bisal. Mir liegt nichts an deinem Tod. Also übergib mir Inissars Auge, und wir gehen alle wieder unserer Wege.“ Fordernd hielt die Waffenmeisterin ihre Hand auf.

Mako-chan betrachtete die geöffnete Hand.

Aus der Erde wuchsen plötzlich Wände, die Bisal umschlossen und dann bedeckten. „Fass das als nein auf, Zicke!“, blaffte Makoto und zerrte William mit sich zurück zum Haus.

Hinter ihr gab es eine Detonation, als Bisals heißes Feuer das Gestein ihres Käfigs sprengte.

„Das hält mich nicht lange auf.“

Eine Serie von Torches schlug in der Seite der Waffenmeisterin ein. Sie wankte für einen Moment und sah dann zur Seite. Ihr Blick fixierte den von Ralf Schneider. „Auch das hält mich nicht auf.“

Sie hob eine Hand, und von ihrem Handgelenk löste sich eine Kette aus Flammen, die nach Ralf griff.

„Steh da nicht so dumm rum“, brummte Shawn Ironheart, erschien direkt neben Ralf, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sprang mit ihm zurück zum Haus, bevor die Kette ihn erreichen konnte.

Nun griff Freya an. Sie formte an ihren Händen Wasserpeitschen und schlug damit nach der Feuergöttin. Doch Bisal war zu alt, zu erfahren. Sie benutzte den Lauf ihrer Muskete, um die Wasserstränge abzuwehren.

Arnim und Shawn versuchten es zusammen, von zwei Seiten.

Bisal lächelte amüsiert, als sie Arnims Aura erkannte. „Sieh an, du musst Ausyls Favorit sein. Zu Schade, dass er nicht hier ist, um zu sehen, wie seine große Hoffnung versagt.“

Während sie das sagte, wehrte sie die Flammenklinge Arnims ab und erzeugte mit der anderen Hand einen Flammenball, den sie auf Shawn abfeuerte, sodass dieser ausweichen und seinen Angriff abbrechen musste.

Mako-kun rief: „Freya! Nebel!“

Von einem Moment zum anderen war die Straße in eine derart dicke Suppe getaucht, dass man die eigenen Füße nicht mehr sah.
 

Shawn sprang zwischen ihnen umher und versammelte sie alle am Hauseingang. Eilig betraten sie die alte Villa und verließen sie genauso schnell wieder durch den Hinterausgang. Sie liefen durch den großen Garten und kamen auf einer unbefestigten Straße heraus. Von dort wandte sich Mako-kun nach rechts und die anderen folgten ihm automatisch.

„Warum springen wir nicht einfach?“, fragte Arnim ärgerlich.

„Weil sie uns dabei auf der Odemebene sehen könnte, so nahe wie sie uns noch ist. Und dann kann sie uns folgen“, keuchte Mako-chan, die nicht nur selbst lief, sondern auch noch William Cogsworth hinter sich her zog. „Wo willst du eigentlich hin, Mako-kun?“

Der zum Menschen reduzierte Gott blieb übergangslos stehen. „Ich wollte uns nur etwas Zeit kaufen. Das hier ist weit genug. Es wird einige Zeit dauern, bis Bisal uns wieder gefunden hat.“ Über der Straße lag noch immer dichter Nebel. Aber aus dieser dicken Suppe zuckte eine gewaltige Flammensäule in den Nachthimmel.

„Wehe, sie macht das im Haus“, brummte Anselm wütend, „ich räume dann nämlich nicht auf.“

„Scherzkeks“, erwiderte Ralf. „Sind überhaupt alle da?“ Er sah in die Runde und erkannte die anderen fünf Mitglieder seines Kreises sowie William, dazu Yoshi, Klaus und Anselm. Wo die beiden Duvalles waren, Jean und Katy, wusste er nicht. Sie waren zum Glück nicht da gewesen, als William angegriffen worden war. Und Carine, seine Schwester, war vor einer halben Stunde gegangen.

Ja, damit waren sie wohl vollzählig.
 

Eine schwere Hand legte sich auf Ralfs Schulter. Müde und abgespannt sah ihn Will Cogsworth an. „Es tut mir leid, Ralf. Ich hatte ja keine Ahnung, welche Last du tragen musst. Es tut mir wirklich, wirklich leid. Und um es wieder gut zu machen, will ich dir einen Teil der Last abnehmen und den Schmuckstein für dich tragen.“

Ralfs Blick ging zu Inissars Auge, dessen Band sich um Williams Hand verheddert hatte. Ahnte der Gäle überhaupt, was er da in der Hand hielt? Ralf bezweifelte es.

„Das braucht es nicht, Will“, sagte Ralf leise. „Gib ihn mir einfach zurück. Ich kümmere mich darum.“

„Den Wassergöttern sei gedankt“, stöhnte der Gäle erleichtert und fummelte die Schnur von seiner Hand herunter. Wortlos überreichte er das Artefakt an Ralf, der es sich wieder um den Hals hängte. Noch vor wenigen Stunden war dies der sicherste Platz auf der Unteren Ebene gewesen.
 

Er sah in die Runde. „Inissars Auge ist wieder in unserer Hand. Und ein Gott verfolgt uns. Was also machen wir?“

„Ausweichen!“, blaffte Mako-kun und sprang Ralf an. Der Schwung des Gottes trieb sie beide über einen Zaun. Neben und hinter ihnen spritzten die anderen auseinander. Yoshi zog im fallen seine Waffe und feuerte eine Serie ab.

Drei Meter weiter hinten schoss nun auch Klaus Fischer mit einer torchfähigen Pistole.

Ihr Ziel, die schwebende Bisal, wurde unter drei verschiedenen Odemfeldern verborgen, die auf die Göttin einprügelten.

Bisal taumelte und fiel den Weg bis zum Boden herab wie ein Stein. Erst kurz vor dem Boden fing sie sich ab. Mit einem triumphierenden Blick sah sie, dass die Läufe der beiden Torchpistolen rot glühten und sobald nicht wieder schießen würden.

Flammenbälle schossen von ihren Händen auf die beiden Schützen zu und zwangen sie, über den nächsten Zaun zu hechten.

„Seit wann hast du eigentlich ne Torchpistole?“, rief Yoshi, während er sich neben Klaus in einem Garten abrollte. Hinter ihnen wurde ein Baum getroffen. Die Hitze brachte das Wasser in ihm zum kochen und ließ ihn explodieren.

Klaus zog eine schwarze Sonnenbrille hervor und setzte sie auf, während er herum wirbelte und nach der Feuergöttin suchte. „Frag nicht.“

Yoshis Miene verzog sich zu einem düsteren Grinsen. „Okay.“
 

„Ihr könnt nicht gewinnen!“, blaffte Bisal und ließ in ihren Händen die Muskete entstehen. Sie richtete den Lauf in die Richtung, in der die anderen geflohen waren. „Ergebt euch und übergebt mir das Auge.

Aber meinetwegen kann ich es auch euren verbrannten Leichen abnehmen!“

Sie schoss und beobachtete fasziniert, wie eine Flammenkugel aus konzentriertem Odem den Lauf ultraschnell verließ und in den Himmel schoss. In den Himmel?

Bisal sah herab und erkannte einen kleinen, schwarzhaarigen jungen Mann, der sich mit all seiner Kraft gegen den Lauf gestemmt hatte. Zornig sah er die Göttin an. „Ich bin vielleicht nur ein Mensch, aber ich lasse nicht zu, dass du meine Freunde tötest!“

Über ihnen explodierte die Flammengranate und tauchte die Stadt in taghelles Licht.

Ralf wurde übel bei dem Gedanken, dieses Ding wäre ein oder zwei Meter neben ihm eingeschlagen.

„Jean!“, rief Katy, warf sich auf ihren Bruder und zog im Fallen eine elegante kleine Pistole, aus der sie zwei schnelle Schüsse abfeuerte, bevor sie nach einer Rolle wieder auf die Beine kam. Zwei Luftdruckfelder entstanden auf Bisals Körper und drückten die Göttin zu Boden.

Aus ihrer neuen Haltung, den Bruder fest an sich gedrückt, wollte Katy über den nächsten Zaun hechten, aber die Flammenkette schlang sich um ihren linken Knöchel.

Als sie ihre missliche Lage erkannte, stieß Katy ihren Bruder von sich und rief: „Lauf!“

Jean starrte auf seine Schwester, die von der Flammenkette in die Luft geschleudert wurde.

Bisal schien nun wirklich sauer zu werden, denn die Kette rauschte mit Katy am Ende direkt in ein Gartenhaus. „KATY!“, rief Jean und wollte zu ihr laufen, als Arnim direkt neben ihm auftauchte und in trügerische Sicherheit zerrte.

„Meine Schwester! Wir können sie doch nicht…“

„Wieso hat deine Schwester überhaupt eine Torchpistole?“, fragte Yoshi übergangslos.

Der junge Mann aus Terre de France sah zu Boden. „Um mich zu beschützen. Sie ist meine Schwester und mein Bodyguard.“ Er sah Ralf aus traurigen Augen an. „Du hilfst ihr, oder?“

„Ich würde gerne“, erwiderte der Mittländer verzweifelt. „Wenn ich nur wüsste, wie!“

„Jetzt habt Ihr Pack es geschafft!“, blaffte Bisal wütend. „Jetzt bin ich sauer! Sagt Tschüss nur Nachbarschaft!“

Mako-kun riskierte einen Blick und schluckte hart. „Der Boden zu ihren Füßen ist bereits geschmolzen. Sie konzentriert eine Menge Odem. Oh Gott, sie will ihre Waffe erneut abfeuern und lädt sie mit zusätzlichem Odem!“
 

Ralf sah in die Runde. Dies war der Moment. Der einzige Moment der zählte. War er nur als superstarker Mensch etwas wert? Wurde er nur durch seine Kraft definiert?

Jean, ein hochintelligenter, aber körperlich eher schwacher Bengel, hatte sein Leben riskiert, ohne diese Kraft zu haben. Für ihn. Für die anderen.

Ralfs Blick huschte zur zerstörten Hütte. Die Kette schleifte über den Dachstuhl und zog die bewusstlose Katy mit hinaus.

Dies war der Moment.

Der Gläubige seines Erdgottes erhob sich und zog seine Torchpistole.

„Ralf, nein. Du hast deine Kraft nicht mehr“, wandte Freya ein.

„Erinnert Ihr euch an die Halle? Wie Ihr mir Odem für den letzten Schuss gegeben habt? Vielleicht bin ich nicht mehr so schnell wie früher, nicht mehr so stark. Aber vielleicht bin ich immer noch euer Fokus!“ Ohne lange zu überlegen sprang Ralf über den Zaun. „Yoshi! Bisal wird Katy wahrscheinlich gleich los lassen. Du und Klaus bringt sie und die anderen, die nicht zum Zirkel gehören, dann in Sicherheit.“

„Aber Ralf!“, begehrte Mako-chan auf.

Ihr Bruder legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Er hat Recht. Es muß sein.“ Er nickte Freya und Shawn zu, die über den Zaun und über den Weg hinweg sprangen. Dann sah er Arnim und Mako-chan an. „Nehmt eure Plätze ein.“
 

Ralf stand auf dem unbefestigten Weg und zitterte. Verzweifelt versuchte er es zu unterbinden. Aber er hatte eben Angst. Vor allem vor dem dicken Lauf, dessen Mündung direkt auf ihn deutete. Wenn die Waffenmeisterin des Feuers abdrückte, würde er nicht einmal mehr Schmerz spüren, so gewaltig würde der Treffer sein.

Und an diesem Punkt überkam Ralf eine eigentümliche Ruhe. Sein Griff wurde fest. Er legte sicher auf Bisal an.

Die Feuergöttin sah es. „Wie nett. Du willst mir also in die Augen sehen, wenn du stirbst. Und das Artefakt hast du mir auch mitgebracht. Sehr freundlich von dir.“

Sie ließ Katy fallen und zog die Kette wieder ein. Zwei schnelle schwarze Schemen links von Ralf sagten ihm, dass Yoshi und Klaus nun die Frau aus Terre de France bargen. Wenn es nicht zu spät war, konnte Odem von einem der Gesegneten ihr Leben retten.
 

Der Fleck geschmolzener Erde breitete sich weiter um die Feuergöttin aus. Über ihren Körper und die Waffe zuckten Überladungsblitze. In ihre Augen, die bisher nüchtern drein gesehen hatten, trat ein irrer Zug, so als genieße sie das, was sie nun tun würde.

Ralf sah zu Mako-kun herüber und nickte. Der Gott erwiderte das Nicken und verschwand.

„Gebt mir eure Kraft!“, rief Ralf. Zuerst schoss ein Strom blauen Odems heran.

Bisal schoss ihre Waffe ab, und die Granate konzentrierter Odemenergie flog auf Ralf zu. Aber der blaue Odem Mako-chans reduzierte wie eine Wand aus dickem Pudding die Geschwindigkeit der Waffe. Der rote Odem von Arnim kam hinzu, fügte sich fast nahtlos in die Wand ein, reduzierte erneut etwas Geschwindigkeit.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Weißer Odem von Freya und gelber von Shawn kamen dazu. Von einem Augenblick zum anderen sah es fast so aus, als wäre die Kugel in der Luft gestoppt worden.

Ralf feuerte seine Torch ab. Sie traf die Flammenkugel mittig und stülpte sie teilweise auf. Dennoch flog sie weiter auf ihn zu.

Als der Gläubige zu Bisal herüber sah, wusste er auch wieso. Die Feuergöttin stemmte sich regelrecht in ihren Schuss hinein.

Ralf versuchte dies auch. Er spürte wie sein ganzer Körper zu schmerzen begann. Es war, als würde eine Horde Ratten über ihn herfallen und Fleischstücke aus seinem Leib heraus reißen.

Doch die Granate flog immer noch, und wenn sie ihn traf, war das nicht nur das Ende für ihn.

Also stemmte er sich mehr hinein und schrie überrascht auf, als das Reißen stärker wurde. Aus dem Schmerzensschrei wurde ein Wutschrei, als plötzlich ein Stück von seiner linken Hand verschwand und stattdessen ein paar glitzernde Funken nach oben stieben!

Egal! Hier ging es um das Leben seiner Göttin und seines Gottes, um seine Freunde! Um die gesamte Untere Ebene!
 

Erneut stemmte sich Ralf in seinen Schuss hinein und stoppte die Granate der Feuergöttin. Langsam, unendlich langsam, während sich seine Beine auflösten, schob sich die Granate zurück.

Ralf spürte Schmerzen in seinem Magen. Er sah herab und erkannte, dass es Phantomschmerzen sein mussten. Er hatte keinen Bauch mehr.

Die Granate wurde von seiner Torch durchbohrt und verpuffte wie eine Flamme, die man ausgeblasen hatte. Seine Kugel nahm wieder Geschwindigkeit auf und raste auf Bisal zu.

Die Feuergöttin und Waffenmeisterin starrte die Torch an. „Das ist doch nicht möglich!“

Die Pistole fiel Ralf herab, als sich seine Hände auflösten. Er spürte keinen Schmerz mehr, von einem Augenblick zum anderen. Stattdessen fühlte er sich leicht, so leicht. Er wollte sich Mako-chan zuwenden, sich dafür entschuldigen, dass er… Und dann war nichts mehr.
 

Bisal schrie erschrocken auf, als die Torch sie traf. Sie wurde durchbohrt. Ihr Leib wurde von Rissen durchzogen. Kurz darauf zersprang sie wie eine Porzellanpuppe. Ihr Fluidum löste sich vom Körper und verschwand mit einem übermenschlichen Schmerzensschrei.
 

Mako-chan sprang über den Zaun auf die Straße und sah noch, wie sich das Gesicht ihres Gläubigen auflöste. „RALF!“, rief sie und lief auf ihn zu. Sie versuchte, die Funken zu umarmen, ihren Geliebten im Hier zu halten, wie er es für sie getan hatte. Aber es nützte nichts. Auch der Rest von ihm verschwand als goldener Glitter.

„Ralf“, hauchte sie und sank zu Boden. Sie umklammerte ihren Oberkörper und begann leise zu schluchzen.
 

Aus der Krone eines nahen Baumes sah Carine, was passierte. Als sich Ralf auflöste, schluckte sie schwer. Sie hätte ihrem Bruder helfen können, wenn sie bei ihm und den anderen geblieben wäre. Aber dieser Moment war vorbei.

Ihr blieb nur noch, zurückzukehren, zu hoffen, dass die anderen ihre Ausrede schluckten und den Platz von Ralf einzunehmen. Tränen füllten ihre Augen. „Verflucht, Theresa. Verflucht, Vater!“
 

Epilog:

Trema wurde noch immer zu Boden gedrückt. Sie als Göttin konnte das einige Zeit aushalten. Ihre Sorge galt den Menschen, die ebenfalls brutal zu Boden gedrückt wurden. Wie lange konnten sie der Potentialfeldfalle standhalten?

Und was geschah, während sie im Kreis um ihren Fokus Thomas fehlte? Hatte Nrota Mako-chan und Mako-kun gefunden? Was hoffte Kailin wirklich zu erreichen?

Himmel, sie wollte hier raus!

Und dann hörte sie es. Leise gemurmelt, schwach, mit wenig Kraft vorgetragen: „Trema, Herrin des Erdclans. Ich glaube an dich. Ich spende dir, du Gütige, Freundin der Menschen, meinen Odem.“

„Agrinal“, fiel eine Frauenstimme ein, „du Hüterin des Lebens. Ich gebe dir meinen Odem.“

Weitere Stimme fielen ein, und Trema wurde bewusst, dass nicht nur die gefangenen Menschen hier im Konferenzsaal beteten, sondern viele tausend weitere Menschen in Klingburg – und hunderttausende darüber hinaus in ganz Mittland!

„Hoffnung“, hauchte sie leise. Es gab Hoffnung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Erzsebet
2007-11-15T11:06:41+00:00 15.11.2007 12:06
aahhrrr! furchtbar! So kann es doch mit Ralf nicht zuende gehen! Das hast du nur gemacht, damit man nicht einfach nach diesem Kapitel eine längere Pause macht, oder?

Und wieder neue Fragen, aber auch Antworten. Die Hälfte der Freunde und der WG sind also Agenten von HELIOS, die Mama Marianne hat dafür ihre Kinder und Familie vor 300 Jahren aufgegeben. Die Szene mit der nicht erkannt werden wollenden Mama war schon hart.

Theresa ist also Trema. Aber was für eine Organisation ist das, zu der Vaillard und Hold gehören? Und was ist mit Jean, daß er einen Bodyguard mit Torchpistole braucht?

Das Comicelement oder Mangaelement wurde diesmal sehr deutlich, bei den Kämpfen natürlich, aber auch bei der Szene mit Ausyl. Hast du sehr schön gemacht. Allerdings sind mir in diesem Kapitel mehr Tippfehler als in den vorherigen aufgefallen.

Soviel erst mal wieder von Erzsebet

Von: abgemeldet
2007-01-19T12:41:50+00:00 19.01.2007 13:41
Also auch hier schließ ich mich meiner Vorgängerin wuieder an. ^___^

Lese morgen weiter, wenn ich zu komme. *gleich fertig machen muß für arbeit)
Von:  Carnidia
2005-04-18T07:00:11+00:00 18.04.2005 09:00
Sorry, bin schon noch da *schuldbewusst auf die Zehen starre* ich lese, wann immer ich dazu komme, is echt stressig zur Zeit. ^.^°

T.T ... was ist mit Ralf passiert? Die arme Mako- chan ... Trema = Theresa oder? Habe ich das richtig mitgekriegt?
Aber es war absolut genial, wie Yoshi Klaus fragt, warum er eine Torch- Pistole hat und der nur ein trockenes "Frag nicht" von sich gibt XDD
Auch so ist dieses Kapi absolut beeindruckend. Die Ereignisse überschalgen sich nur so und es wird keine Sekunde lang langweilig. Ich hätte nicht gedacht, dass der Erdclan einen Verbündeten bekommt. Cool! Mich hätte interessiert warum es die Stadt selber nicht wirklich betrifft, wenn die vier Kampfwägen auf einander schießen? Werden da nicht gewaltige Mächte frei?
Danke.
^.^v


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