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Mein Gott, meine Göttin

von

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Ein neuer Zirkel

Prolog:

Dämonen, oder auch Daimon, gelten heutzutage als der Inbegriff des Bösen. Als das Schlechte an sich.

Auch, oder gerade die Kirchen der vier Stämme pflegen dieses Bild. Die heroische Schlacht der Götter, als sie die Dämonen vernichteten, war der Beginn eines Bündnisses, welches den Menschen und den Göttern seither viel Gutes gebracht hat.

Doch die Dämonen wurden nicht immer so gesehen.

Lange vor der Schlacht auf der Mittleren Ebene, da galten die Dämonen als Geister, als beseelte Natur.

Ist die Natur grausam, wenn sie einen Wirbelsturm erzeugt? Wenn sie zulässt, dass eine Froschspezies eine andere verdrängt? Wenn der Mond eine Springflut erzeugt, die Kilometerweit ins Küstenland hinein dringt?

Wenn die Antwort ja lautet, dann sind Dämonen böse.

Denn für all dies, für eine vergeistigte Umgebung, standen die Dämonen Jahrtausende lang, bevor die Götter an Bedeutung gewannen.

Aber was ist mit den Wundern auf dieser Welt? Dem Regenbogen? Einer aufgehenden Blumenknospe? Dem Lachen eines spielenden Kindes?

Auch dafür müsste man die Dämonen dann verantwortlich machen. Und zählt das dann auch zum bösen?
 

In unserer Zeit gelten sie als Inbegriff einer dunklen Bedrohung.

Aber in der damaligen Zeit waren sie launische Geister, Schutzwesen, Elementarkräfte, gut und böse gleichermaßen. So wie es ihnen gerade gefiel.

Und so, wie sie beschrieben wurden, könnte man meinen, damals seien sie wie Götter gewesen, Elemente beherrschende, launische, schützende, mal gut, mal böse seiende Götter.

(Aus: Unbequeme Ansichten über die Götter, Doktorarbeit von Norton Andrew Myers)
 

1.

Klaus Fischer hatte es nicht leicht. Als wäre sein Lehramtstudium nicht schon schwierig genug, hatte sich seine beschauliche Wohngemeinschaft mit der Mischung aus hübschen Mädchen und harmlosen Langweilern in einen Hexenkessel verwandelt.

Klaus hatte nur einmal kurz geblinzelt, und als seine Augen wieder aufgegangen waren, da lebte plötzlich ein Gott mit in der Wohngemeinschaft.

Zusammen mit seinem einzigen Gläubigen, denn der Gott war noch jung, und wollte sich erst mal nicht so verzetteln. Zudem war der Gott äußerst unbeständig und konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er nun Mann oder Frau sein wollte.

Wobei Klaus aber zugab, dass beide Varianten des Gottes ihre Vorzüge hatten.

Der hoch gewachsene, breitschultrige Student seufzte Mitleid erregend. Dafür war er definitiv nicht in diese Wohngemeinschaft eingetreten.

Was war aus der einfachen Observation eines Dämons geworden? Eine Karussellfahrt.

Nun, wer hatte auch ahnen können, dass die Dozentin Prokovniewa eine Maschine bauen würde, mit der man Götterauren orten können sollte?

Und wer hatte ahnen können, dass Ian O´Brien sich als Dämon, als bösartiger Dämon entpuppen würde, der die Maschine, den Resonator, zum Killerinstrument gegen Götter umwandeln würde?

Das sein logisches Ziel für den ersten Versuch dann der einzige Gott in seiner Reichweite sein würde, war Klaus schon klar gewesen und nicht wirklich eine Überraschung.

Eher schon, dass es O´Brien nicht gelungen war, den ganzen Gott zu töten.

Nach der eher unsanften Behandlung durch den Resonator, verstärkt durch ein magisches Artefakt des Feuerclans, hatte sich der Gott aufgespaltet. In eine weibliche Hälfte, der immer noch Göttliches anhaftete, deren Kraft allerdings nur noch einer Gesegneten entsprach. Der mächtigsten Gesegneten, der er jemals begegnet war, ging es Klaus durch den Kopf.

Zudem um einiges mächtiger… Nein, im Umgang mit den Kräften erfahrener traf es eher.

Weit erfahrener mit den Erdkräften, als der Gott es vor der Aufspaltung war.

Und in eine männliche Hälfte, der alles Göttliche genommen worden war, die seither bestenfalls als normaler Mensch durch ging.

Das würde ein langer Bericht werden. Ein sehr langer Bericht. Und dann musste er doch noch für die Klausur lernen. Es war unfair.

Zum Glück hatte er sich genügend Notizen gemacht.

Nur… Wo war der Notizblock?
 

Klaus durchfuhr es heiß und kalt zugleich. Der Block war wichtig. Es standen Adressen und Telefonnummern da drin, die nicht unbedingt jedermann sehen durfte.

Vor allem nicht seine Mitbewohner, von denen er nicht sagen konnte, wie sie reagieren würden. Im Zweifelsfall stand zumindest das extrem günstige Zimmer auf dem Spiel, welches er in der alten Villa bewohnte.

Im Schlimmsten, nun, er hatte schon Gesegnete erlebt, die richtig sauer gewesen waren. Und er lebte hier gleich mit vier unter einem Dach.

Klaus verließ seinen Raum. Wo hatte er den Block zuletzt gehabt? Unten, im Fernsehraum, als Ralfs Vater und die Göttin zu Gast gewesen waren.

Interessante Geschichte im Nachhinein, wenn er so drüber nachdachte. Hatte ihm tiefe Einblicke gewährt, die sich gut in seinem Bericht machen würden.
 

Er hastete die Treppe hinab und wäre beinahe gestürzt, als er sah, was sich im Flur abspielte.

Shawn Ironheart saß im Schneidersitz und war von hell gleißendem, gelben Odem umgeben, während er mit dem Mund ein lautloses Mantra formte. Soweit so gut, er tat das aber einen knappen Meter über dem Boden. Ihm gegenüber hatte sich Arnim Kleyn zu Boden gehockt. Seine rote Feueraura war nicht annähernd so stark, aber deutlich zu sehen. Zu allem Überfluss hob sich der Mann ebenfalls leicht vom Boden ab und begann zu schweben.

„AH!“, entfuhr es Klaus. Der laute Ausruf störte die Konzentration des Feuergesegneten. Schmerzhaft schnell legte er die Strecke bis zum Kachelfußboden zurück. „Autsch!“

Shawn Ironheart war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Er öffnete ein Auge und musterte den Pädagogikstudenten. „Ist was?“

Klaus riss die Augen auf. „Ihr… Ihr schwebt!“

„Ach, das“, brummte Shawn und ließ ein schmales Lächeln über sein Gesicht huschen. „Da Ihr jetzt sowieso alle über uns Bescheid wisst, dachte ich mir, können wir auch offen üben. Arnim ist noch lange nicht in der Lage, eine ausreichend gute Kontrolle über seinen Odem auszuüben. Wir nutzen jede Gelegenheit, um seine Odemnutzung zu verbessern.“

„Das ist ja schön und gut“, rief Klaus und versuchte, mit der zitternden Linken die flatternde Rechte einzufangen, „aber warum einen Meter in der Luft? Und vor allem: Warum im Flur?“

„Ach, das“, brummte Shawn und winkte ab.

Arnim rieb sich derweil den schmerzenden Hintern. „Gegen so etwas hilft Odem wohl nicht, was?“, brummte er unzufrieden.

„Wir üben uns in Levitation, also schweben durch Gedankenkraft. Es ist eine Art Wechselwirkung zwischen der Aura eines Gesegneten und der Aura der Erde. Um es mal simpel auszudrücken.

Warum wir im Flur sitzen, nun, er bietet genügend Platz.“

„Das tut das Fernsehzimmer auch“, protestierte Klaus.

„Oh. Da sitzen aber Jean und Mako-kun.“

„Dann eben in der Küche.“

„Und Anselm beim kochen stören? Sehe ich aus wie ein Selbstmörder?“
 

Klaus schüttelte den Kopf und hastete weiter. Dabei fiel sein Blick in die Küche. Anselm Stein hatte einen weißen Kittel angelegt und begonnen, mit je einem Messer pro Hand einen Fisch auszunehmen. Dabei ging er vor, als wäre der Fisch ein verabscheuungswürdiger Gegner, der filetiert gehörte – in möglichst dramatischen Gesten.

Klaus wunderten eigentlich nur zwei Dinge. Dass Anselm auf diese Art anscheinend schon zwei Fische ausgenommen hatte, ohne die Kücheneinrichtung zu demolieren und dass die Gedärme und Schuppen geradezu fein säuberlich auf einem separaten Brett lagen. Und das, ohne aus der Küche ein Schlachthaus gemacht zu haben.

Anselm bewegte die Messer so schnell, dass Klaus kaum mit den Augen nachkam. Er schien dabei den Fisch nicht zu berühren, zumindest bewegte er sich nicht. Dennoch war er nach der Kombination an Hieben und Streifschlägen entschuppt und ausgenommen.

Anselm stieß die Messer wuchtig in das Holzbrett und verharrte in einer äußerst martialischen Pose. Wie ein verbissener Sieger nach einer verbissenen Schlacht.
 

Klaus schüttelte den Kopf und betrat das ehemalige Speisezimmer. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Auf dem großen Tisch waren fünf Schachbretter aufgestellt. Auf der einen Seite saß Jean Duvalle und beobachtete konzentriert die aufgestellten Figuren.

Auf der anderen Seite saß Mako-kun und betrachtete die Bretter unter halb geschlossenen Augenlidern. Interessiert warf Klaus einen Blick auf die Bretter. Es sah so aus, als würde Jean zweimal mit weiß und dreimal mit schwarz spielen.

Und alle drei schwarzen Partien sahen nicht sehr gut aus, während die weißen Partien noch nicht über ein Geplänkel hinaus gekommen waren.

„Was macht Ihr denn hier?“, entfuhr es dem riesigen Mann.

Jean sah auf. „Hallo, Klaus. Wir spielen etwas Schach. Ich habe extra noch drei Bretter aus der Schach-AG mitgebracht.“

„Aber…Aber… Hätte ein Brett nicht ausgereicht?“

Makoto-kun lächelte leicht, ohne die Augen zu öffnen. „Jean ist der festen Überzeugung, dass er bei fünf Partien wenigstens eine gegen mich gewinnen wird. Vor allem, wenn er sie simultan spielt. Anfangs dachte er ja noch, wenn er sich auf zwei Partien konzentriert und die anderen schleifen lässt, wäre er im Vorteil.“

Jean wurde rot. „Gar nicht wahr.“

„Aber dann hat er gemerkt, dass ich in so einem Fall natürlich auch Ressourcen frei habe. Vor allem, wenn ich mehrere Partien aufgrund seiner Nachlässigkeit gewonnen habe. Seit einiger Zeit spielt er auf allen fünf Brettern ernsthaft.“

Unauffällig sah sich Klaus im Raum um. Wo lag nur das Notizbuch? Wo nur? Wo? Dort hatte er gesessen, als Theresa eingetreten war. Und da…“

„Klaus.“

Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen. „Ja?“

„Ich habe dich gefragt, ob wir dir helfen können“, sagte Mako-kun leise.

Frech siegt, ging es Klaus durch den Kopf. „Ich suche mein Notizbuch. Ungefähr so groß. Schwarzer Ledereinband. Mit meinen Initialen drauf.“

„Oh. Hm. Habe ich nicht gesehen. Aber frag mal Mako-chan. Sie hat vorhin hier aufgeräumt.“

„Danke. Das ist ein guter Rat. Wo ist sie?“

Der Gott rollte mit den Augen. „Im Garten mit Ralf. Sie üben Nahkampf.“

Klaus spürte, wie er rot wurde. „Oh. Dann störe ich sie besser nicht. Aber im Garten? Ich meine, in unserem Garten?“

„Freya steht dabei und gibt den Schiedsrichter“, kommentierte Mako-kun weiter und reagierte auf einen von Jeans Zügen mit einem riskanten Läufervorstoß. „Ich denke, sie greift schon ein, bevor sich einer der beiden zu sehr verausgabt.“

Götter. Die hatten vielleicht Nerven.

„Eigentlich hatte ich ja gedacht, sie würden Kendo trainieren, aber Mako-chan hat seit einiger Zeit einen Narren an diesem Sport gefressen, Judo. Würde mich nicht wundern, wenn sie gerade dabei sind.“

Klaus wurde bleich und gleich wieder rot. Die Göttin und ihr Gläubiger trainierten wirklich Nahkampf. Richtigen Nahkampf.

„Danke, Mako-kun“, rief Klaus und hastete weiter. Seltsam. An welchem Punkt war es ihm nur plötzlich so leicht gefallen, den Gott Mako-kun zu rufen?
 

Er drückte sich an dem Tisch mit den fünf Brettern vorbei und öffnete die schwere Tür zum hinteren Saal. Die Bewohner nutzten ihn kaum. Das lag vielleicht daran, dass der Platz, der ihnen mit ihren Zimmern, der Küche und dem Fernsehraum zur Verfügung stand, schon viel zu groß war. Tatsächlich gab es auch hinter dem Bad noch einen etwas kleineren Salon, aus dem man vor Urzeiten einen Teil abgetrennt hatte, um ein modernes Bad einzubauen, aber der wurde nur noch als Abstellkammer genutzt. Dreißig Generationen an Studenten hatten dort ihre Spuren hinterlassen, und heutzutage betrat man den geheimnisvollen Raum am besten nur noch mit einer guten Bergsteigerausrüstung und einem guten Freund, der einen aus den Trümmern wieder ausgrub.

Zwei neugierige Augenpaare empfingen ihn, als Klaus den hinteren Saal betrat. Katy und Markus hatten sich an den runden Tisch gesetzt, ihn mit Dutzenden alten Ausgaben des Cyanid – der unabhängigen, überparteilichen, Götterunbeeinflussten und einzig wahren Zeitung für den gebildeten Studenten – belegt und bearbeiteten Markus´ tragbaren Computer.

Abwehrend hob Klaus die Hände. Eine Verlegenheitsgeste, die bei dem Riesen aber eher wirkte, als würden sich zwei Kontinente bewegen. „Lasst euch nicht stören, ich will nur durch.“

„Warum gehst du nicht durch den Flur?“, fragte Katy. „Hier, das wäre doch ein Hinweis. In dieser Ausgabe hast du schon was über einen Gesegneten geschrieben, der keine Kontrolle über seine Fähigkeiten mehr hat. Wenn wir uns auf diesen Text berufen…“

„Im Flur sind Arnim und Shawn. Sie… Sie schweben in der Luft.“

Markus sah von seinem Monitor hoch. „Ach. Das schon wieder? Sag ihnen, wenn du sie siehst, wir können sie brauchen wenn die nächste Kirschernte ansteht.

Stimmt, das wäre eine Möglichkeit. Aber wie bringen wir das rüber, ohne Ausyl direkt anzugreifen?“

„Kirschernte, sehr witzig“, brummte Klaus und verließ das Zimmer zum Gang hin.

„Aber irgendwie müssen wir doch zu deinem Artikel mit der Invasion durch die Götter der Oberen Ebene hin leiten“, beschwerte sich die junge Frau aus Terre de France.

„Die haben Nerven“, rief Klaus hastig und riss die Tür zum Garten auf.
 

Etwas großes, Schweres flog direkt auf ihn zu. Instinktiv griff Klaus zu und hatte die Göttin mehr oder weniger in den Armen. Allerdings lagen ihre Beine um seinen Hals, und der Kopf schlug mehr oder weniger hart auf sein rechtes Knie auf.

Die Göttin schien den Schmerz aber gar nicht zu spüren. Und sie schien sich auch nichts dabei zu denken, wo sie gelandet war. Zornig sah sie ihren Gläubigen an und rief: „Na warte, das kriegst du wieder.“

Freya indes versuchte, sich ein lautes Lachen zu verkneifen, während Ralf in der Stellung verharrte, mit der er die Göttin ausgehebelt hatte.

„Punkt für Ralf“, sagte Freya übertrieben ernst.

Mako-chan riss die Beine nach vorne. Klaus ließ sie automatisch los, und die Göttin landete auf den Füßen. Sie klopfte dem Riesen auf den breiten Brustkorb und sagte mit einem wirklich zuckersüßen Lächeln: „Danke fürs Auffangen, mein Großer. Bist genau richtig gekommen.“

„Ach, das“, brummte Klaus und rieb sich verlegen den Nacken. „Nicht der Rede wert.“

Der Pädagogikstudent sah sich die Göttin genauer an und erstarrte. Außer einer kurzen Sporthose und einem Top trug sie praktisch nichts.

Göttin hin, Göttin her, Freundin von Ralf oder nicht, Makoto-chan war definitiv eine Augenweide für jeden Mann. Sie in den Armen gehalten zu haben - wenngleich über Kopf – und dabei auch noch ihre nackte Haut berührt zu haben, machte Klaus zu schaffen. Er räusperte sich laut und vernehmlich, um den plötzlich entstandenen fetten Kloß aus dem Hals zu kriegen.

Mako-chan, die mittlerweile wieder vor ihrem Gläubigen Aufstellung bezogen hatte, sah zu Klaus herüber und fragte mit einem treuherzigen Blick: „Ist was?“

„M-mein Notizblock“, rettete sich der Riese in sein eigentliches Anliegen. „Du hast doch das Fernsehzimmer aufgeräumt, und ich muß ihn dort verloren haben.“

„So ein kleiner? Schwarz? In Leder eingebunden?“

„Ja, genau.“

„Nicht gesehen“, sagte Mako-chan.

Klaus zuckte zusammen. Ralf machte ein wütendes Gesicht und Freya legte resignierend eine Hand an die Stirn.

„War nur Spaß“, beschwichtigte die Göttin mit einem breiten Grinsen. „Ich habe ihn auf die Treppe gelegt. Hättest du eigentlich sehen sollen, als du runter gekommen bist.“

Nicht bei der Geschwindigkeit, mit der er die Treppe genommen habe, durchfuhr es ihn.

„Danke“, sagte er hastig und lief wieder nach innen. Diesmal nahm er nicht den Umweg und drückte sich an Shawn und Arnim vorbei, die beide schon wieder schwebten. Während Shawn aber ein lautloses Mantra murmelte, wie schon vorhin, rezitierte der Kendo-Sportler den Text eines populären Pop-Liedes.

Auf dem Treppenabsatz fand er dann endlich, was er so verzweifelt gesucht hatte: Seinen Notizblock.

Hastig nahm er den schwarzen Block an sich und hastete in sein Zimmer hoch.

Dort angekommen schloss er ab und setzte sich an seinen Tisch. Er öffnete seinen eigenen Laptop und begann zu tippen.

„HELIOS. Bericht an Gruppenchef. Agent Fischer.

Die Lage innerhalb der Gemeinschaft ist nach der Vernichtung des Zielobjektes Ian O´Brien alias Ibran weitest gehend stabil. Anzeichen einer Rematerialisierung des Dämon oder seines Schattens konnten nicht ausgemacht werden. Agent ist bereit für neue Befehle.

Anbei ein Bericht über die Vorkommnisse der letzten Tage, den aufgespalteten Gott des Erdclans, seinen Gläubigen und den Gesegneten des Feuergott Ausyls betreffend…“

Während Klaus schrieb, schweiften seine Gedanken kurz ab. Ursprünglich eingeschleust, um für HELIOS den Dämonen Ibran zu observieren hatte er sich viel zu schnell in diese Gemeinschaft eingelebt. Klaus wusste nicht, warum Marianne ihn noch auf diesem Posten beließ, aber wenn er ehrlich war, dann war er dankbar für jeden einzelnen Tag. Er mochte die Götter. Er mochte die anderen Mitbewohner.

Wütend schlug er auf seinen Tisch. Offensichtlich hatte die professionelle Distanz für den Auftrag beschlossen, ihm den Rücken zu zukehren. Na Klasse.

Merkwürdigerweise störte es ihn aber nicht wirklich.

Hm nachher gab es also Fisch. Hoffentlich mit Reis. Darauf freute er sich schon.
 

2.

Theresa vom Erdclan trug einen schlichten schwarzen Hosenanzug. Er erlaubte ihr zwei Dinge. Ihre wirklich tolle Figur zu zeigen, was bei einer Dreitausendjährigen nun wirklich nicht zu erwarten war, und die Mobilität für einen möglichen Kampf zu erlangen.

Ihr gegenüber saß ein grobschlächtiger Mann in einem teuren Belitalia-Designeranzug. Der Mann mit der feuerroten Mähne mochte grob aussehen, und das manchmal auch sein, aber hinter der faltigen Stirn verbarg sich ein konzentrierter Verstand.

Das Trio komplett machte eine schmale, blonde Frau, die so zierlich wirkte, dass man Angst hatte, das schwere Goldarmband um ihr Handgelenk könnte ihr den Knochen brechen.

Dabei wirkte sie so hübsch in ihrem hellblauen Kostüm, dass der Beschützerinstinkt bei Männern automatisch Überstunden schob.

„Er kommt spät“, brummte der Mann, griff auf den Tisch vor sich und nahm das Glas mit goldenem Schnaps von den Gälischen Inseln auf.

„Naiel ist schon rüber gegangen“, sagte die blonde Frau und nickte mit einem verschmitzten Lächeln in Richtung der Hotelbar.

Theresa unterdrückte ein Schmunzeln, während sie die geringe Aktivität im Hotel beobachtete. Sie hatten sich für dieses Treffen das ROMA ausgesucht, weil keiner der Götter hier logierte. Und es war exklusiv genug, um die Zahl des zahlungskräftigen Publikums auf ein Minimum zu beschränken.
 

Theresa sah kurz herüber und erkannte Naiel an der Theke der Hotelbar. Der dünne, uralt wirkende Mann mit den dünnen weißen Haaren und der wie vertrocknet wirkenden Haut trank mit glänzenden Augen ein großes Bier.

„Nur die Ruhe. Thomas hat viel zu tun, aber er wird uns schon nicht vergessen.“

„Na, dein Vertrauen möchte ich haben“, sagte die blonde Frau wieder. Nachdenklich hob sie eine Hand, konzentrierte sich auf ihr Glas mit Fruchtsaft und sah fasziniert dabei zu, wie sich ein Tropfen kondensiertes Wasser davon löste und einen kleinen Ring bildete, der durch die Luft schwebte.

„Geht es noch etwas auffälliger, Sarenn?“, beschwerte sich der rothaarige Mann. „Willst du nicht besser gleich aufstehen und rufen: Hey, hier sitzen drei Götter?“

„Gute Idee, Ausyl“, erwiderte die Wassergöttin und erhob sich.

„Sehr witzig“, kommentierte der Feuergott, nahm sich eine Zigarette aus seinem Anzug und entzündete sie ohne Feuerzeug.

„Du bist auch nicht gerade diskret“, beschwere sich Sarenn leise.

„Aber, aber, Kinder, wer wird denn streiten“, beschwichtigte Theresa leise. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Wartezeit ja nutzen und zu Naiel in die Bar gehen.“

Ausyl grinste ihr schelmisch zu. Dabei wirkte sein grobes Gesicht auf eine herbe Art attraktiv, ja hübsch. „Da will wohl jemand mit unserem Fokus allein sein, hm?“

Theresa sah nicht einmal auf, während sie mit der Linken eine abwertende Geste machte. „Denk doch, was du willst. Ich meine ja nur, wenn das warten dich langweilt.“
 

„Was muß das für ein Verbrecher sein, der eine Göttin warten lässt. Ich würde ihn dafür öffentlich auspeitschen lassen“, sagte eine leise Stimme hinter der Göttin. Eine Hand hielt eine rote, langstielige Rose direkt vor ihr Gesicht.

Theresa sah die Rose an, danach den Besitzer der Hand. Thomas zwinkerte ihr zu.

„Danke“, sagte die Göttin und nahm die Rose an.

Thomas Schneider nahm die andere Hand hinter dem Rücken hervor und brachte eine weitere Rose zum Vorschein. Auch sie war langstielig, aber weiß.

Er reichte sie Sarenn. „Auch für dich eine Rose, wenngleich sie mit deiner Schönheit nicht mithalten kann.“

Die Wassergesegnete nahm die Rose entgegen und schlug die Augen nieder. „Aber Thomas“, hauchte sie.

„Nun bilde dir nicht soviel darauf ein“, beschwerte sich die Erdgöttin. „Ist ja nur eine weiße Rose.“

Sarenn sah zu Theresa herüber und begann zu lachen. „Ausyl, du schuldest mir ein Abendessen.“

„Mist“, brummte der Feuergott. „Wie ich dich kenne, müssen wir dazu wieder nach Hafenburg, weil es unbedingt ein supertolles Fischrestaurant sein muß.“

„Hafenburg hat nun mal die besten Fischrestaurants“, rechtfertigte sich die Wassergöttin.

Thomas grinste schief und setzte sich direkt neben Theresa auf die Sitzecke. „Wenn Ihr mit necken fertig seid…“

„Das habe ich gerne“, sagte Ausyl grinsend. „Selber necken und noch zu spät kommen. Und dann stellt er auch noch Ansprüche.“

„Hey, ich bin nur ein normaler Mensch, kein Gott.“

„Ja, klar. Normal.“ Sarenn schien sich köstlich über diesen Gedanken zu amüsieren, während sie mit dem Stiel ihrer Rose spielte.

„Jawohl, normal“, sagte Thomas und berührte wie zufällig mit seiner Hand Theresas rechtes Knie. „Wo ist Naiel?“

Ausyl deutete zur Hotelbar. „Beim fünften Bier.“

Thomas drehte sich nicht einmal um. „Fünf Bier. Das bedeutet, er ist vor zehn Minuten rüber gegangen. Hat ihm eigentlich schon mal jemand erklärt, dass ein Mensch, der in der Stunde zwanzig Bier trinken kann, mehr als auffällig ist?“

„Einmal ganz davon abgesehen dass er mit seinem Gesicht, das nach dreihundert Jahren Wüstensand aussieht, auch schon auffällt wie ein Mann im Taucheranzug am Nudistenstrand“, fügte die Wassergöttin hinzu.

„Du hast es versucht. Vor zwanzig, vor fünfzig und auch schon vor hundert Jahren“, brummte der Feuergott. „Du siehst aber, es bringt überhaupt nichts. Für einen Windgott ist unser Freund ein ziemlicher Dickschädel.“

„Wer ist ein Dickschädel?“ Naiel kam zur Sitzgruppe, in der Hand einen große Krug Bier, den er bereits zur Hälfte geleert hatte.

Ausyl nippte an seinem Schnaps und warf dem Windgott einen amüsierten Blick zu. „Du natürlich.“

„Na“, rief Naiel und setzte sich zwischen die Wassergöttin und den Feuergott, „das sagt der richtige. Darf ich dich daran erinnern, was du mit der Staatlichen Klingburg-Universität gemacht hast?“

Der Gedanke erheiterte den Feuergott. „Nun, meine Kirche hat einige großzügige Spenden an die Universität getätigt.“

„Wo wir gerade bei dem Thema sind“, knurrte Theresa wütend. „Musstest du mein Kind so durch die Mangel drehen?“

Entschuldigend hob Ausyl die Arme. „Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass Sarenns Gesegnete sich einmischt. Oder dein Kleiner, Thomas. Da konnte ich ja schlecht zurück stecken. Immerhin war ihre Zusammenarbeit etwas, was wir ohnehin erreichen wollten, oder?

Und die Gelegenheit war günstig.“

„Außerdem haben wir so mal gesehen, was Makoto und Freya drauf haben“, sagte Thomas ernst. „Trotzdem bist du hart mit ihnen umgesprungen.“

Ausyl leerte sein Glas. „Zugegeben. Aber Arnim hat den Odem besser katalysiert als ich gedacht habe. Er war zwar mein Auserwählter, aber ich wollte auch seine Grenzen testen.“

„Die übrigens beeindruckend weit zu sein scheinen“, fügte Naiel hinzu. „Ich war schon drauf und dran, Shawn eingreifen zu lassen.“

„War er in der Nähe?“, fragte Sarenn nachdenklich. „Ich habe seine Aura gar nicht gespürt.“

„Nein, er war nicht in der Nähe. Aber er hat die Auren der beiden Gesegneten überwacht.“

Thomas pfiff anerkennend. „Kein Wunder, dass er dein Favorit ist, Naiel. Selbst ein begabter Gesegneter erreicht dies nur durch jahrzehntelanges Training. Und dann ist es auch nur einer von tausend, der überhaupt das Talent dafür mitbringt.“

„Ich bin auch recht stolz auf ihn. Er ist eine wahre Bereicherung.“

„Wenigstens ein Gesegneter, der auch nur den Hauch einer Ahnung davon hat, was wir von ihm erwarten“, sagte Sarenn nachdenklich. „Oder was ihm bevorsteht.“

Thomas sah zu Boden. „Kommen wir zum Thema. Hat jemand Inissars Auge gefunden oder einen Hinweis auf seinen Verbleib bekommen?“

„Ich konnte verhindern, dass der Feuerclan davon erfährt, dass das Auge wieder aufgetaucht ist“, berichtete Ausyl. „Als der Odem expandierte und die halbe Halle einriss, bin ich gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um die Aura zu verändern. Trotzdem, eine Odemexplosion dieses Ausmaßes bleibt nicht lange unbeachtet. Wenn Kailin ein wenig nachdenkt, oder auch einfach nur an einem weiteren magischen Feuerartefakt interessiert ist, können die Dinge zu schnell eskalieren.“

Die anderen nickten schwer. „Das ist nicht in unserem Sinne“, stellte Thomas fest.

„Aber wir sollten Vorbereitungen treffen. Ich meine, es war nicht geplant, dass Makoto sich aufspaltet. Es wäre beinahe der Todesstoß für unsere Planung gewesen“, bemerkte Sarenn leise und trank einen Schluck Fruchtsaft.

„Aber es wurde ein Glücksfall“, erwiderte Theresa. „So sehr es mir in den Fingern juckt, mein Kind auf die Obere Ebene zu schaffen und sein Fluidum wieder zusammen zu fügen. Die Konstellation scheint nicht die schlechteste zu sein. Anstatt Ralf als Gesegneten und Makoto als Fokus haben wir nun Ralf in der Mitte und Mako-kun in einer Rolle, die wir nie vorgesehen haben.“

„Das hat uns vielleicht immer gefehlt“, sagte Naiel. „Jemand am Rande unseres Kreises, der die Lage überschaut und Befehle gibt.“

„Ach“, meinte Ausyl und grinste schief. „Ich dachte, deine Nörgeleien wären diese Befehle gewesen.“

„Sehr komisch, Feuerkopf“, kommentierte der Luftgott.

„Kann das Artefakt vielleicht zerstört worden sein?“, brachte Thomas das Thema wieder auf Kurs.

„Nein, definitiv nicht. Du weißt selbst, dass die Potentialfelder in sich sehr stabil sind, sobald sie erschaffen wurden. Wenn sie wirklich zerstört werden, setzen sie ein Vielfaches an Odem frei als den, der bei der Vernichtung des Göttersuchers entstand. Wir müssen davon ausgehen, dass das Artefakt meines Clans noch existiert. Allein schon, weil es viel zu mächtig ist, um seine Existenz zu ignorieren.“

„Was eine andere Frage aufwirft“, murmelte Sarenn leise. „Wie kommt ein Dämon in den Besitz des Auges?“

„Ja, wieso hat dein Clan nicht besser drauf aufgepasst, Feuerkopf?“, neckte Naiel.

Ausyl ging nicht darauf ein. Er sah betreten in sein Glas. Wütend drückte er die Zigarette im nächsten Aschenbecher aus. „Weil ich drauf aufpassen sollte. Inissars Auge wurde mir quasi aus den Händen gestohlen. Das ist jetzt zweitausend Jahre her, und seither warte ich darauf, wieder eine Spur des Auges zu finden und mich vor Kailin zu rehabilitieren.

Ohne Zweifel wollte jemand im Clan den Erben des Feuers in Misskredit bringen. Hat ja auch wunderbar geklappt.“

„Noch ein Grund mehr, dieses magische Objekt zu finden“, sagte der Luftgott ernst. „Aber wer kann es haben? Ich meine, es wird doch weder spontan teleportiert sein, noch wurde es während der Explosion davon geschleudert, oder?“

„Nein, definitiv nicht. Jemand muß es an sich genommen haben.“ Thomas rieb sich nachdenklich die Nasenwurzel. „HELIOS. Sie hatten die besten Chancen dafür.“

„HELIOS?“ Sarenn erschauerte bei dem Namen. „Na, danke.“

Thomas sah in die Runde. „Wir werden nachsehen müssen.“

„Du willst dich ernsthaft mit HELIOS anlegen?“ Sarenn machte eine ziemlich eindeutige Geste, den Geisteszustand des Menschen betreffend.

„Ich rede hier nicht davon, einen Krieg auszulösen“, beschwichtigte Thomas.

„Darauf wird es aber hinaus laufen, wenn wir einfach mal… nachsehen.“ Sarenn war von der Idee schwerlich zu begeistern.

„Vielleicht kann ich dabei helfen“, erklang eine uralte Stimme neben der Sitzecke.

Thomas sah auf und musterte den alten Mann. „Javala. Wir sind für jeden Vorschlag dankbar, Dämonenkönig.“

Der Mann setzte sich neben den Feuergott und sah die vier Götter und den Menschen der Reihe nach an. „Das ist meine Idee…“
 

3.

Atemlos hetzte die einsame Gestalt durch die engen Gassen der Altstadt von Klingburg. Wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte all das passieren können? Was war aus dem ruhigen Job bei Akai geworden? Was, wenn nicht ein Leben voller Schrecken, welches versprach, sehr, sehr kurz zu werden?

Neben und hinter der einsam rennenden Gestalt schlugen Gegenstände ein, angeschliffene, gut ausbalancierte sternförmige Metallscheiben, Shuriken genannt.

Der junge Mann hörte das leise Plicken, als die Scheiben auf den Asphalt der Straße trafen und warf sich zur Seite. Damit wich er glücklicherweise einer weiteren Salve aus.

Sie treiben mich, ging es ihm durch den Kopf. Sie wissen es und sie treiben mich zu einem Ort, der ihnen genehm ist!

Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, zischten erneut Shuriken heran, als er auf eine Abzweigung trat und sich nach Rechts wenden wollte.

Dies aber war seine letzte Chance zu entkommen. Er drückte das Stoffbündel enger an seine Brust und spurtete dennoch nach Rechts. Zwei weitere Shuriken verfehlten ihn, ein dritter traf. Er spürte nur den Aufprall, nicht den Schnitt, den die Waffe hinterließ, denn dafür war sie zu scharf. Weitere Shuriken prallten hinter und neben ihm auf den Boden und die nahen Wände auf und er begann, Haken zu schlagen, um nicht erneut getroffen zu werden.

Waren die Klingen der Wurfsterne vergiftet? Hatte er noch Zeit, um zu tun, was er tun musste? Gab es überhaupt ein Morgen für ihn oder gab es nur noch das Bündel und diese Nacht für ihn?

Er wusste, wenn er sich seinem unsichtbaren Feind ergab, dann war sein Ende besiegelt. Dann war das Schicksal des Bündels besiegelt. Und dann hätte er einen Teil der Geschichte geschrieben. Allerdings auf eine Art, die seine Vorfahren in den Gräbern rotieren lassen würde. Als Versager.

Dies war der letzte Gedanke, als er gegen ein hartes Hindernis stieß.

Er verstärkte den Griff um das Bündel und spürte, wie er zurück geworfen wurde.

Die Zeit dehnte sich. Langsam, unendlich langsam fiel er nach hinten, Kopf voran auf den Boden zu. Das wird wehtun, ging es ihm durch den Kopf.

Doch dann war da ein Ruck, und er verharrte eine Handbreit über dem Asphalt.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie verkrampft er das Bündel gehalten hatte. Die Finger schmerzten bei der Anstrengung, aber er ließ nicht los. Nicht zu diesem Preis!
 

„Alles klar mit dir?“, fragte eine angenehme, bekannte Stimme über ihn. Das harte Hindernis entpuppte sich als groß gewachsener, breitschultriger Mann von vielleicht zweiundzwanzig.

Er lockerte den Griff um den Kragen des Liegenden und ließ ihn freundlich lächelnd hinab. „Ich kenne dich. Du warst mit uns in der Halle.“

„Nokutsuna Yoshi desu. Verzeihung. Ich bin Yoshi Nokutsuna. Ich war dein Feind.“

Aus den Augenwinkeln erkannte er eine Bewegung, drückte das Bündel hoch und rief: „Nimm und lauf!“

Er entriss sich dem Griff und wollte los rennen – nur um festzustellen, dass der andere mit der zweiten Hand zugegriffen hatte und ihn fest hielt. Mit einem harten Ruck, der ein Auto aus einem Graben befördert hätte, wurde Yoshi tiefer in den Gang gerissen. Auf seinem Schoß landete das Bündel.

„Denkst du, ich bin blind?“, sagte der Große freundlich. „Natürlich habe ich die Angreifer schon gesehen.“

„Nein!“, rief Yoshi voller Inbrunst. „Nimm das Artefakt und lauf! Mein Leben endet hier, aber du musst deine Aufgabe annehmen! Lauf doch, rette dich!“

Der Große wandte seinen Oberkörper um und warf ein paar Shuriken zu Boden. „Warte einen Augenblick und halte den Kopf unten.“
 

Die nächsten Momente vergingen wie im Rausch für Yoshi. Jahrelang hatte er die Attentäter des Konzerns gefürchtet und verehrt, die absolute Elite im lautlosen Töten, die Meister des spurenlosen Auftretens. Und sein Respekt war noch gewachsen, als sie ihn gejagt hatten, einen ausgebildeten Bushi, und er kaum eine Chance gehabt hatte.

Nun erlebte er fünf der Attentäter im Kampf mit dem Mann, den er hatte kontaktieren wollen.

Zwei von ihnen sprangen herab und zogen ihre Schwerter. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Shuriken verbraucht waren. Drei andere huschten weiter über die Dächer, zwei in den Rücken seiner Kontaktperson, eine auf ihn zu.

Die Schwertkrieger griffen an, der Große wich dem ersten aus und fing die Klinge des zweiten mit zusammengelegten Händen auf.

Bevor es sich der Attentäter versah, brach der Große die Klinge einfach vom Griff ab und warf sie fort – nach hinten, in die linke Mauer, genau eine Handbreit vor das Gesicht des fünften Attentäters, der Yoshi hatte töten wollen.

Der Mann keuchte erschrocken auf. Dies war der erste Laut, den Yoshi jemals von einem Attentäter im Einsatz gehört hatte. Und es lag alles in ihm. Angst, Respekt und Freude. Freude auf einen guten Kampf.

„Hier spielt die Musik“, rief der Meisterkämpfer, fing mit der Linken zwei Shuriken auf und parierte das Schwert des zweiten Kämpfers mit einer Armbewegung, die gegen die Klinge, nicht aber die Schneide schlug.

Der Attentäter, der auf Yoshi angesetzt gewesen war, zögerte einen Moment, dann zog er seine eigene Klinge und lief auf seinen zweiten Gegner zu.

„VORSICHT!“, rief Yoshi in höchster Not.

Sein nächster Eindruck war Blut. Blut, das einen guten Meter hoch spritzte. Und ein Blick voller Überraschung und Angst, den er nie wieder würde vergessen können.

Der fünfte Angreifer griff sich an den linken Arm und versuchte die sieben geworfenen Shuriken wieder zu entfernen, aber sie steckten zu tief im Knochen. Blut rann über den Arm und tränkte den Boden.

Entsetzt wichen die anderen Attentäter zurück. Einen Moment später flohen sie.
 

Der Große sah ihnen nach. Dann ließ er vierzehn weitere Shuriken fallen, die er während des kurzen Kampfes gefangen hatte und kam zu Yoshi zurück.

„Sei nicht unachtsam. Die Assasinen sind Meister der Überraschung. Sie greifen dich an, wenn du es am wenigsten erwartest.“

Der Große lächelte schief. Und bot Yoshi eine Hand zum Aufstehen an. „Keine Angst, es ist vorbei. Ich kenne dich wirklich aus der Halle, richtig? Du bist der, der mir die Pistole mit den Torches gegeben hat.“

Yoshi nickte. „Hai, Ralf-san.“ Der Mann aus Nihon lächelte unsicher und suchte die Umgebung nach Anzeichen von Assasinen ab. Dass er keine fand, beruhigte ihn nicht besonders. Denn Assasinen ließen keine Anzeichen ihrer Existenz zu.

Ralf bemerkte den Blick und wirkte amüsiert.

„Keine Angst, Yoshi-kun. Die Gefahr ist vorbei.“ Er wandte den Kopf nach hinten und rief: „Nicht wahr, Mako-chan?“

Tiefer in der Gasse fielen zwei schwarz getarnte Gestalten zu Boden. Zwischen ihnen landete eine wunderschöne junge Frau in einem fröhlichen Sommerkleid – welches viel Bewegungsfreiheit garantierte – und mit goldblondem Haar.

Sie wirkte überrascht. „Du hast gemerkt, dass ich dir gefolgt bin, mein Gläubiger?“

„Aber es waren fünf“, sagte Yoshi. Es war leise und beiläufig, denn vor ihm stand eine Göttin. Na ja, nicht eine ganze Göttin. Aber die Göttin, die übrig geblieben war, als sie von ihrer männlichen Hälfte abgespaltet worden war. Ein Vorgang, an dem er nicht gerade unbeteiligt gewesen war. Das änderte nichts an der Tatsache, dass es noch drei weitere Assasinen gab.

Ralf grinste breit. „Nein, habe ich nicht. Aber nach dem Anruf von Yoshi war ich mir sicher, dass du mir folgen würdest. Übrigens ebenso sicher wie ich wusste, dass Freya dir folgen würde, um auf dich aufzupassen!“

Die letzten Worte hatte Ralf gerufen, und als Antwort sprang die Eisländerin vom Dach, über die Schulter eine dritte schwarz maskierte Gestalt drapiert. „Ist ja gut, ist ja gut. Wir haben uns eben Sorgen um dich gemacht, Ralf. Ist das vielleicht schlimm? Außerdem weiß Mako-chan nicht, dass ich ihr folgen wollte.“

Ralf grinste breit. „Ich weiß, was du sagen willst, Yoshi. Da waren es noch zwei. Aber ich denke, die waren kein großes Problem, oder Mako-kun?“

Hinter der Göttin landete eine weitere Gestalt in der Gasse. Daneben fielen zwei weitere schwarz gekleidete Gestalten zu Boden. Der blonde Mann sah Ralf erstaunt an. „Du hast gewusst, dass ich Freya folge?“

„Gewusst nicht, aber gehofft“, erwiderte Ralf grinsend. Er sah sich suchend um. „Shawn und Arnim sind nicht zufällig auch hier in der Nähe?“

Die vier sahen sich an und begannen zu lachen.

„Das wäre zuviel des Guten gewesen“, bekannte Freya atemlos.

„Aber… Aber… Aber… Das waren Elitesoldaten! Assasinen! Wie konntet Ihr…?“, stammelte Yoshi.

„Deine Assasinen sind über ihre eigene Arroganz gestolpert“, erklärte Ralf. „Sie haben weder mit Gesegneten, noch mit Göttern gerechnet. Das war der Grund für ihre Niederlage.“

„So ka“, murmelte Yoshi leise. Mühsam erhob er sich. „Ralf-san, dies möchte ich dir nun offiziell übergeben. Verwahre es gut und verfahre damit, wie es dir richtig erscheint. Du hast mich und alle anderen in der Halle gerettet. Ich denke, damit sind wir quitt.“

Yoshi drückte Ralf das Bündel in die Hand und machte sich auf, im Dunkel der Gassen zu verschwinden.

Was nun? Ab in den nächsten Flieger? Zurück nach Nihon? Oder in Europa untertauchen? Der Konzern würde ihn bestimmt suchen lassen. Bemaß sein Leben eigentlich Jahre oder Wochen? Vielleicht nur Tage, wenn der Konzern ihn fand. Ein trauriges Leben. Aber er würde jeden Moment davon in vollen Zügen genießen. Denn er borgte diese Zeit. Seit dem Moment, wo Ralf-san ihn und alle anderen gerettet hatte. Langsam wandte er sich um und ging.
 

„Nun mach mal halblang, ja?“, klang Ralfs Stimme auf. „Bevor du auf Nimmerwiedersehen verschwindest, wie wäre es mit etwas zu essen und einem Gespräch über das hier?“

Ralf hielt das Bündel in der Hand und winkte damit in Yoshis Richtung, „Wir werden wohl zu einem Belitalia gehen.“

Yoshi leckte sich über die Lippen. Das war eine Verzögerung, die sein Leben kosten konnte, durchaus wert. Pizza…

**

„Warte mal einen Augenblick“, murmelte Ralf dem Nihon-Mann zu und drehte ihn um. „Du hast da einen Shuriken im Rücken. Freya.“

Ralf zog die Klinge mit einem schnellen, fast schmerzlosen Ruck heraus, der Yoshi nur leicht zusammenzucken ließ. Die eisländische Gesegnete nickte und hauchte auf die Wunde, die sofort aufhörte zu bluten. Wenn man genau hinsah, meinte man sogar sehen zu können, wie sich die Wunde langsam, aber sicher schloss.

„Mako-chan“, sagte Ralf und die Göttin nickte. Sie legte eine Hand auf die Wunde, und das Loch in der Kleidung verschwand. Das Blut schuppte regelrecht aus und die Göttin streifte es mit einer nebensächlichen Handbewegung aus der Jacke Yoshis. Sie lächelte den Nihon freundlich an und kniff dabei die Augen zusammen. Ein wirklich niedlicher Anblick. „So, alles erledigt, Yoshi-kun. Selbst wenn der Shuriken vergiftet war, Freyas Odem wird das heilen.“

Tatsächlich verspürte der ehemalige Mitarbeiter von Akai keinerlei Schmerzen mehr. Er verbeugte sich tief in der Hüfte vor den beiden Frauen. „Arigato, Freya-sama, arigato, Makoto-sama.“

Ralf klopfte ihm kräftig auf den Rücken, stark genug, dass Yoshi befürchtete, die Wunde würde erneut aufgehen – oder noch schlimmer, Ralf würde eine neue brechen.

„Na, na, na. Nicht so förmlich, Yoshi. Du bist hier unter Freunden. Also lass das verbeugen, vor allem, wenn wir in die belebteren Regionen kommen, okay?“

Yoshi wollte sich erneut verbeugen, besann sich dann jedoch und nickte nur bejahend. „Hai, Ralf-sa… Ralf.“

Der groß gewachsene junge Mann lächelte bestätigend. „Gut so.“

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, in geschäftigere Bereiche der Altstadt. Es dauerte nicht lange, und sie kamen zum Belitalia-Restaurant. Genauer gesagt, ihrem Belitalia-Restaurant.

„Hunger, Hunger, Hunger“, lamentierte Mako-chan und trat mit fiebrigem Blick ein.

„Du hast doch gerade erst ein Viertelkilo Reis mit Fisch verputzt“, tadelte Mako-kun grinsend. „Wenn du so weiter futterst, müssen wir dich bald rollen.“

„Das hat doch nur für den hohlen Zahn gereicht“, beschwerte sich Mako-chan. „Außerdem ist es normal, wenn Gesegnete nach dem Einsatz ihrer Kräfte hungrig sind. Nicht, Freya?“

Die Eisländerin warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Hungrig ja, gierig nein.“

„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, beschwerte sich die Göttin und erntete gut gemeintes Gelächter.

Georgio kam um den Tresen herum und lachte laut. „Guten Abend, meine Freunde. Ein Tisch für fünf? Und das übliche, Mako-chan? Freya, wieder die Pazifik-Pizza? Ralf, du stöberst ja lieber in der Karte, nicht? Aber du, Mako-kun, du willst doch bestimmt die Makkaroni mit Käse überbacken essen.

Oh, der junge Mann ist neu. Guten Abend. Nihon?“

Yoshi verbeugte sich leicht. „Hai. Nihon-jin desu. Ich…“

„Er ist ein Freund aus unserer Heimat“, half ihm der Gott aus der Patsche. „Wir haben ihn zufällig getroffen und spontan entschlossen, dass wir unser Wiedersehen feiern sollten.“

„Na dann hole ich doch gleich mal eine Runde mit dem Likör, den du so magst, Makoto.“

Die Göttin verdrehte heimlich die Augen. Sie, das heißt die weibliche Hälfte der Göttin, hatte das Zeug in nicht so guter Erinnerung.

Georgio führte sie alle an einen großen Tisch. Yoshi stand etwas unschlüssig herum, wurde dann aber von Mako-chan am Arm gepackt und unmissverständlich an ihre Seite dirigiert.

„Du sitzt neben mir, Yoshi. Der beste Mann, der beste Platz.“

„Komisch“, kommentierte Freya, „der beste Platz wäre doch neben mir…“

„Oh“, brummte Ralf, der rechts von Mako-chan und links von Freya saß, „dann sollte ich mich ja geehrt fühlen.“

Freya sah zu dem männlichen Gott herüber, der rechts von ihr Platz genommen hatte. „Durchaus, Ralf. Durchaus.“

Der Gott räusperte sich lautstark. Er wurde aus dieser Frau einfach nicht schlau. Wie hatte er das nur gemacht, als er noch mit seiner weiblichen Seite verbunden gewesen war?

Nun erschienen ihm Frauen im Allgemeinen und insbesondere Freya wie ein Buch mit sieben Siegeln.

„So, hier kommt der Likör“, erlöste Georgio sie. Für sich hatte er ebenfalls ein Glas mitgebracht. „Na dann, chin-chin.“

Die sechs prosteten einander zu und tranken.

Georgio lächelte. „Was wollt Ihr trinken? Ralf das Übliche? Mako-chan?“

Plötzlich ruckte der Kopf von Georgio zurück zu Ralf. Er fixierte eine Stelle auf der Tischplatte. „Du…“

Alarmiert sah Ralf hoch. Denn genau an der Stelle lag das Stoffbündel, welches ihm der Nihon-jin übergeben hatte. „Ja?“

Georgio sah hoch, Ralf in die Augen. Dann schüttelte er wie benommen den Kopf. „Schon gut, schon gut. Ich habe da ein neues Bier, Eireland-Import. Interesse?“

„Gerne doch“, erwiderte der mit einem Lächeln. Innerlich aber war er angespannt wie ein Bogen.

Georgio nickte freundlich und wandte sich ab, um die Bestellungen der anderen aufzunehmen, aber Ralf sah, wie der freundliche Kellner ein paar verstohlene Blicke in seine Richtung warf.
 

Als der Mann aus Afrika die Bestellungen erledigen ging, sah Ralf zu Yoshi herüber. „Hey, Yoshi-kun. Ich glaube, es wird Zeit, dass du uns das eine oder andere erklärst.“ Ralf griff unter den Tisch und zog das Bündel hervor. „Vor allem, was das hier ist.“

Entsetzt machte der Nihon mit den Händen eine beschwichtigende Geste. „Nicht zeigen, Ralf-san. Dieser Kellner ahnt bereits etwas. Wenn er das Bündel sieht…“

Ralf gehorchte und legte sich das Stoffbündel auf den Schoß, sodass es unter dem Tisch verschwand. „Also, wir sind ganz Ohr.“

Yoshi atmete sichtbar tief durch. Dann nickte er. „So ka. Um es zu erklären, muß ich etwas weiter ausholen. Ralf, erinnerst du dich, als der Resonator von diesem Feld umgeben war? Als plötzlich dieser Laptop auftauchte? Mit dem Juwel daran?“

„INI…“, rief Mako-chan, schlug sich aber sofort beide Hände vor den Mund. Sehr viel leiser sagte sie: „Inissars Auge.“

„Hai. Inissars Auge. Du, Ralf, hast mit meiner Pistole eine Torch darauf abgefeuert. Dazu haben vier Gesegnete ihren Odem in der Torch vereinigt. Mit dir als Fokus. So sah es für mich zumindest aus, obwohl ich am Boden nicht die beste Sicht hatte.“

Ralf horchte auf. Schon wieder dieses Wort: Fokus. Irgendwie ahnte er, dass es für ihn sehr an Bedeutung gewinnen würde. Und das sehr schnell.

„Inissars Auge ist ein magischer Gegenstand. Oder wenn ich die Wissenschaftler von Akai richtig verstanden habe, ein Potentialfeld.

Entschuldigt bitte, wenn ich etwas weit aushole, aber das muß sein, nicht nur damit ihr versteht, was Ralf in Händen hält. Sondern auch, welche Bedrohung es ausmacht.“

Die anderen nickten. Und rückten sehr interessiert näher.

„Ein magisches Objekt wie das Relikt des Feuerclans, also ein Potentialfeld wird von Göttern oder Dämonen erschaffen. Kleinere Potentialfelder erschaffen die Gesegneten jeden Tag und jede Minute. Der Odem, der ihnen von ihrem Gott zufließt, ist ein sehr kleines, aber nichtsdestotrotz effektives Potentialfeld. Es ist einfach herzustellen und noch einfacher zu erhalten. Eigentlich hält es, einmal erschaffen, ein ganzes Leben lang.“

Die Gesegnete nickte bestätigend. So hatte sie es gelernt. Solange sie lebte war sie mit Sarenn, ihrer Göttin, verbunden.

„Andere Potentialfelder haben wir eben gesehen. Als Freya-sama mir die Wunde verschloss und als Makoto-sama meine Kleidung reparierte.“

„Hör doch mal mit diesem Sama-Kram auf, ja? Wenn du unbedingt ein Kürzel hinter dem Namen brauchst, dann sag Chan.“, bat Mako-chan.

Der Nihon erstarrte für einen Moment, dann lächelte er. „Domo arigato, Makoto-chan.“

Mako-chan lächelte. „Gut so. Und jetzt erzähl weiter.“

Yoshi nickte. „Nun, ich weiß, ich hole erneut weit aus, aber ich will nun auf besondere Potentialfelder eingehen. Neben diesen Potentialfeldern gibt es auch noch in sich stabile Felder. Oder auch sich selbst erhaltende Felder.

Auf unserer Ebene bezeichnen wir sie als magische Gegenstände, weil sie Dinge tun können, die über das hinausgehen, was wir mit unseren Sinnen erfassen können.

Im Prinzip sind es aber eigentlich nur Speicherzellen, die ein Gott oder mehrere Götter kreiert und mit einer beliebigen Dosis Odem gefüttert haben.

Nun, meistens aber kommt noch hinzu, dass dem Potentialfeld ein Auftrag mitgegeben wird, sprich ein fester Verwendungszweck.

Es gibt eine Reliquie des Wasserclans, das man den Stein von Caledon nennt. Ein Kopfgroßes Potentialfeld, welches von einer Wassergöttin erschaffen und auf die Untere Ebene gebracht wurde, um nur einen Zweck zu erfüllen: Wasser und seine wichtigsten Bestandteile von Dreck und anderem Unrat zu trennen. Er liegt in einer Quelle in den Caledon Highlands und ist die Entnahmequelle für die bedeutendste Schnapsbrennerei des Landes. Die Qualität dieses Hartgebrannten ist wegen dem exzellenten Wasser sehr hoch. Darüber hinaus sagt man dem Schnaps heilende Wirkung nach – wenn man sie nicht durch übermäßigen Konsum wieder aufhebt.“

„Aha, interessant. Und was hat das mit unserem Relikt zu tun? Reinigt es Odem, oder was?“

Yoshi leckte sich nervös über die Lippen. „Als ich noch bei Akai war, haben die Wissenschaftler speziell über die Großen vier magischen Potentialfelder gesprochen. Während des Krieges gegen die Dämonen wurden Dutzende dieser Felder erschaffen, die den Göttern den Sieg bringen sollten. Etliche wurden vernichtet, nicht wenige sind verschollen. Und einige wenige existieren noch in ihren Clans.“

„Hm. Du willst also sagen, dass Inissars Auge eines dieser Artefakte ist?“, fragte Ralf leise.

„Nein. Ich rede hier von den Großen vier Potentialfeldern. Vier Potentialfelder, bei deren Erschaffung und Programmierung fast alle Götter eines Clans beteiligt waren. Sie waren Speicher von Odem in einem Maße, welches wir uns nicht vorstellen können.

Und sie waren auf Krieg programmiert. Auf Kraftverstärkung, auf Energiestöße, auf Vernichtung.“

Ralf wurde es heiß und kalt. Er glaubte, Inissars Auge würde auf seinem Schoß pulsieren und heißer werden. „Und… Du meinst, Inissars Auge ist das Artefakt des Feuerclans von diesen vier?“

Yoshi schüttelte den Kopf. „Nein.“

Der Gläubige atmete erleichtert auf.

„Es ist ein Bruchstück von Inissars Stab, des ultimativen Potentialfeld des Feuerclans.“ Yoshi sah Ralf direkt in die Augen. „Genauer gesagt, Inissars Stab zerbrach im Kampf gegen die Dämonen, die Potentialfelder erwiesen sich nicht als die ultimative Waffe gegen die Dämonen. Etliche Bruchstücke wurden vernichtet, nur eine Handvoll blieben im Clan oder wurden über alle drei Ebenen verstreut. So ist es mit allen vier Großen Potentialfeldern passiert.

Das, was ich dir gegeben habe, Ralf, ist ein Teil des auf Kraftverstärkung programmierten Fragments von Inissar.“

Georgio kam zurück und brachte die Getränke. Er vermied es, zu Ralf herüber zu sehen, aber der meinte dennoch, die Blicke des Kellners zu spüren. In Gedanken sah er herüber. Garantiert.

„Wollt Ihr bestellen?“

„Ja, danke.“ Nacheinander gaben sie ihre Essenswünsche auf. Die anderen konnten gerade noch verhindern, dass Yoshi sich mit einer Verbeugung bis zur Tischplatte bedankte.

„Als wir in der Halle waren“, nahm der Nihon den Gedanken wieder auf, „wusste ich noch gar nichts von alledem. Da war nur der abstrakte, weil für mich unmögliche Befehl, wir würden ausrücken, um einen Gott zu töten. Gomenasai, Mako-kun, Mako-chan.“

Die beiden Hälften des Gottes nahmen die Entschuldigung mit einem Nicken an.

„In der Halle hast du uns alle gerettet, Ralf-san. Du hast das Auge getroffen, und das Potentialfeld gezwungen, die Unterstützung des Resonators aufzugeben. Stattdessen wurde eine Schockwelle reines Odem gewaltsam entlassen. Es hat euch alle von den Beinen gerissen. Nur ich sah, was danach geschah. Das Artefakt, das Potentialfeld schrumpfte und wurde davon geschleudert. Doktor Myers hat mich und meinen Sempai ebenso aus der Halle gerettet wie euch, bevor die Polizisten von HELIOS kamen.

Darum wurde ich nicht verhaftet und konnte in meinen Konzern mit meinem Sempai zurückkehren.

Dort aber habe ich festgestellt, dass sie das Artefakt bereits an sich gebracht hatten.

Und da ich neugierig war, hörte ich ihnen zu.

Spätestens, als ich erfuhr, dass ein trainierter Gesegneter mit diesem Artefakt Klingburg an einem Abend vernichten konnte, war mir klar, was ich tun musste. Ich raubte das Potentialfeld, kontaktierte Ralf-san und war seitdem auf der Flucht.“

Wieder verbeugte sich der Nihon-jin. „Gomenasai. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich mit so einer gefährlichen Sache belastet habe, Ralf-san. Aber mir fiel kein besserer Weg ein. Es einfach dem Feuerclan zu übergeben erschien mir zu gefährlich. Es einem anderen Clan zu übergeben ebenso. Ich wusste doch niemand anderen. Und nachdem ich erfahren habe, wie mächtig Inissars Auge ist, konnte ich auch keinem mehr vertrauen. Nur noch dir, Ralf-san.“

„Ähemm“, räusperte sich Mako-chan lautstark.

„Und deinen Freunden“, fügte Yoshi hastig hinzu.
 

Ralf legte eine Hand auf das Bündel. Diesmal spürte er wirklich, wie das Artefakt pulsierte. „Ich soll also auf das Ding hier aufpassen, hm?“

„Onegaishimassu, ich weiß niemanden, der besser für diese Aufgabe geeignet ist“, sagte Yoshi und verbeugte sich erneut.

Ralf zuckte mit den Schultern. „Okay.“

„Honto?“, rief der Nihon-jin. „Wirklich? Du nimmst eine große Last von mir, Ralf-san.“

„Ja, ja, ja, schon gut. Hör auf, mich dauernd Ralf-san zu nennen. Ralf reicht.“ Der Gläubige musterte den ehemaligen Leibwächter. „Und? Was hast du ab jetzt so vor?“

Yoshi sah betreten zu Boden. „Mein Sempai… deckte meine Flucht mit dem Artefakt. Ich weiß nicht, warum er das getan hat und ob er noch lebt. Aber ich kann nicht mehr nach Akai zurück. Dieses Kapitel meines Lebens ist definitiv vorbei. Ihr müsst wissen, in einen Konzern einzutreten ist für einen Nihon-jin wie eine Lebensentscheidung zu treffen. Man hält seinem Konzern die Treue, ein Leben lang. Wechsel sind selten und äußerst schwierig. Für einen Flüchtigen beinahe unmöglich. Und auch wenn Akai nur ein Tarnunternehmen für einen anderen Großkonzern war, gelten für ihn die gleichen Regeln wie für alle.

Ich weiß noch nicht, was ich ab hier tun werde. Vielleicht zurück nach Nihon. Vielleicht versuche ich auch, mich einem anderen Konzern anzuschließen.“

„Ein anderer Konzern?“, hörten sie Georgio rufen, als er den ersten Schwung Essen brachte. „Wie ich gehört habe, sucht eine renommierte Klingburger Firma Leute für ihr Sicherheitspersonal, vorzugsweise mit internationaler Erfahrung. Wäre vielleicht was für dich, Yoshi-kun.“ Georgio stellte einen Teller mit extra großer Pizza vor dem Nihon-jin ab. „Ich gebe dir nachher mal die Adresse. Der Sicherheitschef ist ein Gast von uns, der hier regelmäßig isst.“

Wieder verbeugte sich der Nihon-jin, und Freya konnte gerade noch die heiße Pizza wegziehen, bevor er kopfüber darin landete.

„Arigato gozaimas, Georgio-san.“

„Nachdem das geklärt ist, Guten Appetit“, rief der Kellner und deutete auf das Essen.

**

„Ein verdammt merkwürdiger Zufall“, brummte Ralf und spritzte sich Wasser aus dem Waschbecken auf der Herrentoilette ins Gesicht. „Kaum taucht Yoshi auf, hat Georgio schon einen neuen Job für ihn.“

Der Klingburger grinste schief. Aber an Zufälle war er mittlerweile ja gewöhnt. Wenn er es genau nahm, bestand sein Leben nur noch aus einer Aneinanderreihung von kleinen Unmöglichkeiten und Zufällen jeglicher Art.

Ralf stockte, während er sich die Hände an Papiertüchern abtrocknete. Was, wenn es kein Zufall gewesen war? Was, wenn all das, was passiert war, Teil eines großen Plans gewesen war? Nun, vielleicht nicht genau so, wie es passiert war, mit Dutzenden Möglichkeiten für ihn und seinen Gott, zu sterben. Aber das Große und Ganze. Was, wenn er nur die Spielfigur auf einem Brett war, dass er nicht sehen konnte? Wenn er sich an Theresas euphorische Stimme erinnerte, als sie seine Selbstheilung bemerkt hatte, erschien ihm das wahrscheinlich.

Und das Makoto ihn zum Gläubigen auserwählt hatte, erschien ihm im Nachhinein auch noch merkwürdig. Vor allem, da Theresa und Thomas zusammen in einem Team waren, dass angeblich Götter tötete…

Ralf stützte sich auf dem Waschbecken auf und atmete tief durch. Er würde mit seinem Gott reden müssen. Mit Mako-chan oder Mako-kun? Oder mit beiden?

Egal, es wurde Zeit, dass die Spielfiguren sich etwas lösten und wenigstens einmal einen Schritt taten, der nicht von den Spielern bestimmt wurde.
 

Ralf wollte gerade die Waschräume verlassen, als Makoto hereinkam. Der Gott drückte ihn gegen die nächste Wand und sah ihm ernst in die Augen. „Ralf, wir müssen reden. Jetzt und hier.“

„Ist gut, das hatte ich sowieso vor. Du brauchst mich nicht gegen die Wand zu drücken“, erwiderte der Gläubige amüsiert.

Für einen Moment betrachtete Mako-kun seinen Arm, der quer über Ralfs Brust lag. Dann wurde er rot und nahm ihn weg. „Tschuldigung. Ich dachte nur, du würdest vielleicht gehen, falls dir der Gedanke unangenehm ist.“

„Schon klar. Nicht jeder sieht der Wahrheit gerne ins Gesicht. Willst du, oder soll ich?“

Makoto blinzelte. „Ich beginne. Ralf, du bist nicht normal.“

Der Gläubige sah seinen Gott konsterniert an. „Was, bitte?“

Abwehrend hob Makoto die Arme. „Nein, nein, nein, tut mir leid, so meinte ich das nicht. Ich wollte nur sagen, dass du weit mehr bist, als du sein dürftest. Ich meine, diese Selbstheilungskraft, die von Mutter so frenetisch bejubelt wurde, und auf die Thomas gewartet zu haben schien… Dann deine sportlichen Fähigkeiten. Ich meine, dein Bauch ist hart wie Stahl, aber ich sehe dich kaum trainieren oder laufen.

Und deine anderen Fähigkeiten. Ich meine, wenn du ein Gesegneter wärst, wäre dieser Geschwindigkeitsvorteil zu erklären. Diese Kraft. Diese Reflexe.

Ich meine, ich bin zum Menschen degeneriert, aber jedem anderen dennoch weit überlegen. Aber du, Ralf, bist besser als ich, vielleicht sogar besser als unsere Gesegneten. Deswegen meinte ich, dass du nicht normal bist.

Wenn wir mal davon absehen, dass du wahrscheinlich unser Fokus bist und sich einem geradezu der Verdacht aufdrängt, dass du, ich, Freya, Shawn und Arnim – Mako-chan nicht vergessen, obwohl sie beim Grundgedanken sicher keine Rolle gespielt hat – gezielt zusammen gebracht wurden.

Vor allem, wenn man bedenkt, dass Thomas und Mutter in einem Team sind, dass Jagd auf Götter macht und sie angeblich tötet.“

„Es war nicht immer so. Ich war nicht immer schon so stark und schnell wie heute. Erst seit ich in der Halle angeschossen wurde, ist da etwas… Was ich nicht erklären kann.“

„Das ist mir auch aufgefallen. Aber du warst vorher schon stärker und schneller als die meisten. Nicht in dem Maße wie heute, zugegeben, aber stark genug, um Arnim auf den Plan zu rufen, oder? Also, was steckt dahinter?“

„Es war ein Befehl“, sagte Ralf leise.

„Was, bitte?“

„Ein Befehl meines Vaters. Seit ich denken kann, hat er mir gesagt, ich soll nicht zeigen, dass ich schneller und stärker als die anderen bin. Ich erinnere mich noch, ich war fünf, und ein Spielzeug, ein Ball war unter die Familienkutsche gerollt. Ich kroch zwischen die Beine der Pferde, und der Hengst stieg in Panik hoch. Die Vorderhufe trafen mich an Kopf und Schultern, aber ich habe keine Narben davon getragen. Ich hätte damals von Rechts wegen sterben müssen. Aber ich tat es nicht. Stattdessen schnappte ich mir den Ball und spielte weiter. Ich meine, bevor der Hengst wieder auf den Hufen landete, warf ich schon wieder meinen Ball.

Vater hat mir verboten, diese Kraft zu zeigen. Er hat mir lang und breit erklärt, dass ich auch mal verlieren muß.

Seitdem bemühe ich mich, normal zu wirken, kein Fähigkeiten über das Maß hinaus. Vater sagte, das wäre wichtig für das Familiengeschäft.“

„Interessant. Und Arnim hat dich mal erwischt, wie du deine damalige volle Kraft eingesetzt hast?“

Ralf schmunzelte. „Arnim ist ein Idiot. Er hat so eine merkwürdige Marotte. Er testet jeden, der die Sportkurse belegt, auf seine Fähigkeiten. Kaum war ich angekommen, attackierte er mich laut brüllend mit seinem komischen Bambusschwert.“

„Es heißt Shinai, Ralf.“

„Was auch immer. Jedenfalls weichen alle anderen aus. Nur ich habe den Schlag mit dem Unterarm abgeblockt. Seit dem Tag hing er an mir wie eine Klette und machte mir das Leben schwer. Er provozierte mich wo er konnte, damit ich meine wahren Fähigkeiten zeigte.

Tja, da war ich wohl selber Schuld daran.“

Makoto nickte schwer. „Verstehe. Deswegen diese Szene, als wir einkaufen waren. Aber sag mal, eines wundert mich. Ich weiß, deine Familie soll Geld haben. Aber ist eine Pferdekutsche nicht etwas sehr extravagant?“

Ralf sah seinen Gott erstaunt an. „Aber das war doch vollkommen normal, als ich klein war. Ich meine… Argh.“

Ralf sackte in den Knien ein und hielt sich den Kopf. „Theresa“, hauchte er.

Makoto legte seine Hände um ihn. „Ruhig, Ralf. Ich bin ja da. Denk nicht mehr daran. Komm zurück, hörst du? Komm zurück.“

Langsam entspannte sich der Gläubige und erhob sich wieder. „Danke, Makoto.“

„Da nicht für“, erwiderte der Gott und lächelte beinahe so süß wie seine weibliche Seite.

Gott und Gläubiger sahen sich einen Moment lang in die Augen. Dann brach Ralf hastig den Blickkontakt. „Es scheint, als hättest du Recht, Mako-kun. Es sieht ganz so aus, als würden wir einem Plan folgen, den wir nicht kennen.

Was uns zu dir bringt. Wie hast du mich gefunden? Ich meine, wenn es ein Plan war, dann, zum Henker, muß dich jemand geradezu mit der Nase auf mich gestoßen haben, als du einen Gläubigen gesucht hast.“

Makoto wurde rot. „Uh. Äh, Ralf, ich… Das Thema ist mir…“

„Nun rück schon raus damit, ja? Mein Geheimnis, dein Geheimnis. Der Gott ist dran“, sagte Ralf fest und zwang den Gott, ihn anzusehen.

„Äh, tja, wie soll ich das erklären? Wie du weißt, können Götter in gewissem Rahmen die Untere Ebene beobachten. Wir sehen die Welt natürlich etwas anders von da oben. Ich meine, wir haben zwei Sichten. Einmal die Odemsicht, in der jeder Mensch wie ein Leuchtfeuer an Odem erstrahlt, natürlich in den Farben seines Clans und Gottes, und die Sicht, wie Ihr Menschen sie habt.

Als Mom mir gesagt hat, dass es Zeit für meinen ersten Gläubigen wurde, hat sie mir den Tipp gegeben, in Klingburg zu suchen, weil diese Stadt sehr tolerant ist und viele Religionen nebeneinander existieren. Also habe ich mir das Leben angesehen und viele Dinge gelernt. So als Vorbereitung auf meine Zeit da unten. Wie du weißt, hat es nicht immer gereicht.“

„Ja, das waren die lustigen Aspekte“, erwiderte Ralf grinsend.

„Wie dem auch sei, ich habe die Welt natürlich auch in Odemsicht erkundet, und dabei bin ich auf dich gestoßen. Du warst nur eines von unzähligen Leuchtfeuern, aber dein Odemausstoß war besonders groß. Nichts gewaltiges, aber groß genug, um aufzufallen. Und er war von einer großen Reinheit. Außerdem wies nichts darauf hin, dass du an einen Gott glaubst.“

„Na, das klingt doch ganz gut.“

Makoto sah verlegen zur Seite. „Ich bin mit der Geschichte noch nicht ganz fertig. Mein Geheimnis, dein Geheimnis, ja? Ich habe dich danach ab und zu in der richtigen Sicht beobachtet. Und ich habe dich dann letztendlich ausgewählt, weil…“

„Weil?“ „Weil… Weil du einem Spielzeug ähnlich gesehen hast, dass ich auf der Oberen Ebene besessen habe, als ich noch klein war. Ein Odemschatten, der einem Menschen nachempfunden war, mit dem ich viel gespielt habe und herumgetollt bin.“

„Ein Spielzeug?“, argwöhnte Ralf.

Makoto nickte. „Sauer?“

Ralf winkte ab. „Nein. Aber wenn ich dem Spielzeug ähnlich sah, verdammt, dann klingt das so, als hätte man dir ins Unterbewusstsein eingepflanzt, ausgerechnet mich auszusuchen. Aber das klappt doch irgendwie nicht. Ich meine, du bist dreihundert Jahre alt.“

„Und ein bisschen.“

„Und ein bisschen. Ich hingegen bin nur ein normaler Mensch. Theresa kann doch vor dreihundert Jahren nicht gewusst haben, dass Thomas einen Sohn haben würde, der genauso aussieht wie der Odemschatten, mit dem du gespielt hast…“

„Abgesehen davon, du bist wirklich nicht böse?“, fragte der Gott und sah mit traurigen Augen zu seinem Gläubigen auf.

Ralf lachte und legte beide Hände um Makotos Schultern. „Warum sollte ich? Es ist doch nur Gutes daraus entstanden. Na ja, fast. Ich meine, auch wenn du aufgespaltet wurdest, mein Gott, und auch wenn ich fast gestorben wäre, die Zeit mit dir ist definitiv die beste Zeit meines Lebens.“

Ralf schmunzelte und zwinkerte seinem Gott zu. „Ich habe dir versprochen, zu dir zu stehen. Ich bin dein Gläubiger, heute, Morgen, solange ich lebe.“

„Ralf…“, hauchte der Gott ergriffen.

Sie sahen sich in die Augen, und bevor sie sich versahen, trafen sich ihre Lippen zu einem Kuss.

Erschrocken riss Ralf die Augen los und nahm die Arme von Makotos Schultern. „Ent… Entschuldige, Mako-kun. Das wollte ich nicht. Ich meine, du sahst gerade so süß aus, dass… Ich meine… Tut mir leid, kommt nicht wieder vor.“

Der Gott sah verlegen zu Boden. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mir ging es genauso.“ Er sah hoch. „In diesem Moment vermisse ich meine weibliche Seite mehr als jemals zuvor.“

„S-sieh mich nicht so an, Makoto“, sagte Ralf und drückte sich an der Wand zur Tür. „Es… Es wäre nicht richtig so.“

„Ihr Menschen…“, murmelte der Gott. „Ich weiß doch selbst nicht, was gerade passiert ist. Es verwirrt mich.“

Ralf gab seinen Fluchtversuch auf. Er merkte, dass er sich wieder im Griff hatte und legte eine Hand auf Makotos Schulter. „Noch ein Geheimnis, dass wir aufdecken müssen. Komm, wir gehen zurück zu den anderen.“
 

Als sie hinaus traten, kam gerade Freya aus dem Waschraum für Frauen. Sie sah auf Ralfs Hose und sagte: „Hey, sag mal, ist das Inissars Auge in deiner Hose, oder freust du dich nur, mich zu sehen?“

„Der ist uralt, Freya“, sagte Ralf und bemerkte eine Unsicherheit in seiner Stimme. Unbewusst strich er über das Artefakt, dass er tatsächlich in der Tasche bei sich trug.

Die Wassergesegnete sah kurz zu ihm zurück und streckte ihm neckisch die Zunge heraus.

„Frauen“, brummte Ralf. „Würden wir sie nicht zum Erhalt der Menschheit brauchen…“

„Sie sind es wert“, kommentierte Mako-kun leise. „Sie sind es wirklich wert, dass man es mit ihnen versucht, Ralf. Genauso wie mit manchen Göttern.“

Ralf schmunzelte. „Wenn du es so siehst.“
 

4.

„Wieso lass ich mich immer rum kriegen?“, stöhnte Thomas Schneider, und versuchte, unauffällig auszusehen. Auf einer belebten, abendlichen Straße im Vergnügungsviertel von Klingburg, gekleidet in einem weiten schwarzen Mantel und gerüstet mit einer nachtschwarzen Sonnenbrille, ein Ding der Unmöglichkeit.

Alleine seine stattliche Erscheinung zog die Blicke auf sich und nur die Gefährlichkeit seines Anblicks verhinderte, dass er angesprochen wurde.

„Warum bin ich es überhaupt immer, der die dämlichen Aufgaben übernehmen muß?“

„Ruhig, Thomas“, wisperte es aus dem knopfkleinen Empfänger hinter seinem linken Ohr. „Ich bin im Geiste bei dir und leide mit dir.“

„Du hast gut reden, Theresa. Du hockst irgendwo auf einem Dach und siehst dir an, was mit mir passieren wird. Lachst dich dabei krank, und freust dich schon darauf, meine Überreste wieder zusammen zu flicken.“

„Ha, ha. Davon träumst du doch nur“, konterte die Göttin.

„Könnt Ihr mal mit dem turteln aufhören?“, beschwerte sich Sarenn ärgerlich. „Es gibt auch Leute, die hier arbeiten müssen.“

„Typisch“, setzte Thomas hinzu, „ich spiele den Köder, und du beschwerst dich auch noch.“

Thomas klopfte auf seine Manteltasche und zog einen länglichen Gegenstand heraus. „Wo der Dämonenkönig das wohl aufgetrieben hat…“

„Steck es wieder weg, Thomas“, erklang Naiels Stimme. „Du brauchst noch nicht derart aufzufallen. Wenn HELIOS ausrückt, ist es immer noch früh genug. Und hör auf, Javala Dämonenkönig zu nennen. Er mag das nicht.“

„Na und? Jeder Dämon, der älter als dreitausend Jahre ist, hat diesen Ehrentitel verdient. Und Javala ist selbst unter denen schon ein Alter. Das war so, das bleibt so und wird auch immer so bleiben“, brummte Thomas.

„Genau deswegen ja. Es erinnert ihn an sein Alter. Vorhin hat er mir erzählt, er wird die nächsten tausend Jahre nur noch seinen dreitausendeinhundertsten Geburtstag feiern…“

„Männer“, bemerkte Sarenn amüsiert. „Ihr seid wirklich eine eitle Bande. Obwohl es wirklich eine Leistung ist, dreitausend Jahre als Dämon zu überleben, sich nicht selbst zu verzehren oder in das Stadium als… Moment Mal, es tut sich was! HELIOS rückt aus. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?“

„Alle bereit machen“, brummte Thomas und zog den Gegenstand erneut aus der Tasche. Er wickelte ihn aus und besah sich das prachtvoll funkelnde Oval. Es war wirklich ein guter Plan vom Dämonenkönig. Wenn HELIOS das Auge Inissars hatte, dann würden sie nicht auf die Finte hereinfallen, die Thomas hier bereitete. Da sie es aber taten, konnte dies nur bedeuten, dass das Potentialfeld erneut verschollen war. Eine ärgerliche Situation.

Aber sie mussten Gewissheit haben. Das Artefakt in seinen Händen war ein nicht annähernd so mächtiges Potentialfeld des Wasserclans wie das Auge. Jorgons Stimme war aber das, was man ein Odem-Leuchtfeuer nannte. Seine Aura strahlte weit über die Grenzen der eigentlichen Kraft der im Feld verankerten Odem-Energie. Das ideale Artefakt, um Inissars Auge vorzutäuschen, eines der mächtigsten magischen Potentialfelder, das alle drei Ebenen je gesehen hatten.

Prüfend wog Thomas es in der Hand. Der Legende nach war dieses magische Objekt während der Kämpfe gegen die Dämonen auf der Mittleren Ebene verschollen. Erneut fragte sich der Mensch, ob Javala nicht noch viel älter war und an diesen Kämpfen selbst teilgenommen hatte. Wenn, dann hatte sich der alte Dämon mittlerweile den Ehrennamen Dämonenkaiser verdient.

„Sie kommen. Vier Teams. Eines frontal. Eines umgeht dich. Zwei über die Dächer. Sei vorsichtig. Wir ziehen uns zurück, damit sie uns nicht entdecken.“

„Gut, Sarenn. Haltet die Ohren steif.“ Thomas straffte sich.
 

„Da ist es!“, rief ein Rotschopf in einem schwarzen Jogginganzug. Auf seiner schwarzen Sonnenbrille pulsierte ein roter Punkt. „Bei Trema und Heress, das Ding sprengt die Bandbreite meiner Skala.“ Sofort zog der Mann eine Pistole. Unverkennbar hochgerüstet für Torches. „Stehen bleiben!“ Neben ihm kamen vier weitere Polizisten der Spezialeinheit heran und zückten ebenfalls ihre Waffen.

Thomas lächelte und nahm amüsiert seine Sonnebrille ab. „Aber ich stehe doch, Herr Kommissar.“

Der Rotschopf keuchte erschrocken auf. „Das ist… Das ist der Unsterbliche.“

Getuschel klang zwischen den Polizisten auf. „Er hat das Artefakt, und unsere Befehle sind eindeutig.“

„Ja, aber er trägt den Namen Unsterblicher nicht, weil er schon so lange lebt. Er ist nicht zu verwunden. Egal ob Gott oder Dämon, dieser Mann ist nicht zu schlagen.“

„Gegen Marianne wird die Mittlere Ebene aber wie Waikiki wirken, wenn wir das Auge nicht mitbringen.“

„Wenn wir zugleich angreifen…“

Der Rotschopf verteilte ein paar Kopfnüsse. „Klappe halten und Linie aufnehmen.“

Die Getroffenen führten die Befehle betreten aus.

„Also, Herr Thomas Schneider, Sie haben da etwas in Ihrer Hand, was Teil eines dämonischen Verbrechens sein könnte. Sind Sie so nett und überlassen es uns?“ Zu seinem Team gewandt, meinte er: „Das aber auch keiner von euch daran gedacht hat, dass wir einfach auch fragen können.“

Von hinten kam der Trupp heran, der Thomas den Weg abschneiden sollte. Spätestens jetzt ergriffen die Passanten die Flucht, bis auf einen Alten mit Hut, der selig auf einer Bank schlummerte.

„Von was für einem Objekt sprechen wir hier, Herr Kommissar?“

„Ich bin Oberinspektor“, blaffte der Rotschopf. „Oberinspektor! Und was wir suchen, ist Inissars Auge!“

Ein Gefühl von Triumph schoss durch Thomas. Endlich. Die Bestätigung. Das bedeutete zwar mehr Arbeit für sie, um das verdammte Auge aufzutreiben. Aber es von HELIOS zu erobern wäre so schwierig geworden, dass jede andere Herausforderung auf jeden Fall leichter sein würde.

„Nein“, sagte Thomas schlicht.

„Was? Sie wollen nicht mit der Polizei der Republik Mittland zusammenarbeiten? Sie, ein angesehener Geschäftsmann…“

Thomas warf einen schnellen Blick auf die Häuser links und rechts von ihm. Die anderen beiden Trupps Spezialpolizei ging in Stellung.

„Nein, das ist nicht Inissars Auge. Es handelt sich hierbei um Jorgons Stimme, ein Artefakt des Wasserclans. Wenn Sie mit Ihren tollen Hightech-Brillen mal eine Spektralanalyse vornehmen, werden Sie sehen, dass die Aura weiß ist. Nicht rot, wie bei einem Artefakt des Feuerclans.“

„Und wenn schon. Ich bitte Sie noch einmal, uns das Artefakt für eine eingehende Prüfung zur Verfügung zu stellen.“

Thomas setzte die Sonnenbrille ab und warf sie hinter sich aufs Pflaster. „Hm? Sie wollen das Artefakt haben, obwohl es nicht das in ein Verbrechen verwickelte Auge ist? Wissen Sie, wie man das nennt? Behördenwillkür und Schweren Raub.“

„Ich muß darauf bestehen, dass…“

Thomas grinste wölfisch und zog den Mantel aus. Noch während sein linker Arm aus dem Ärmel glitt, zog er seinen Kampfstab hervor und ließ ihn auffahren.

„Vorsicht, Herr Kommissar, ich bin nicht in der Stimmung, um mit mir machen zu lassen was Sie wollen.“

Nervös leckte sich der Rotschopf über die Lippen. „Sie stören eine behördliche Ermittlung, Herr Schneider.“

„Blödsinn. Ihr wollt nur wieder ein magisches Artefakt einsacken!“ Wütend stieß Thomas den Stab auf den Boden und durchbrach dabei einen Pflasterstein.

„Sieht der Idiot eigentlich nicht, dass gerade fast dreißig Pistolen auf ihn zielen?“

„Halt die Klappe, Andreas. Ich habe schon mal gesagt, er hat den Beinamen der Unsterbliche. Den hat er nicht für lau, verdammt.

Okay, Herr Schneider. Ich komme jetzt auf Sie zu und nehme Ihnen das Artefakt ab. Leisten Sie keinen Widerstand.“

Langsam, die Waffe sichernd vor sich gehalten, schob sich der HELIOS-Polizist näher.

Thomas grinste breit, zog mit den Lippen eine Zigarette aus seiner Brusttasche und sagte wie beiläufig: „Wie wäre es mal mit etwas Feuer, Ausyl?“

Vor dem Menschen entstand eine Feuersäule, die bis über die Dachgiebel hinaus schoss.

Thomas senkte leicht den Kopf, um die Spitze der Zigarette in die Säule zu halten. „Danke.“

Das Feuer erlosch, und der einzige Zivilist, der noch hier war, erhob sich von einer Bank hinter Thomas. Er legte seinen schmutzigen Hut ab und entledigte sich des löchrigen Mantels. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die Löcher hinein gebrannt worden waren. „Gerne geschehen, Thomas.“

Der Feuergott trat neben den Menschen. Übergangslos schienen sich seine roten Haare in Flammen zu verwandeln. Flammen, die in einem starken Wind umher getrieben wurden und beständig wuchsen. Schließlich waren die Stränge seines Flammenhaars so lang, dass die Enden über die Dachrinnen der umliegenden Häuser peitschten.

„Scheiße, verdammt, ein Gott.“

„Laber nicht, mit Göttern wischen wir jeden Tag den Boden auf.“

„Aber das ist nicht irgend ein Gott. Das ist Ausyl, der Berserker!“

„Und er ist auf Schneiders Seite. Das endet böse.“

Wütend wollte der Oberinspektor seine Kameraden anfahren. Stattdessen legte er eine Hand an das linke Ohr. „Was? Ja. Ja. Gut.“ Er sah in die Runde. „Das Artefakt ist nicht Inissars Auge. Wir ziehen uns zurück. Entschuldigen Sie die Störung, Herr Schneider, und einen schönen Abend noch.“

Zuerst verschwanden die HELIOS-Polizisten hinter Thomas und dem Gott. Danach die vor ihnen. Anschließend zogen sich die auf den Dächern zurück.
 

Als er sicher war, dass alle fort waren, brach Thomas in schallendes Gelächter aus, in das Ausyl einfiel. Die beiden krümmten sich vor Lachen und stützten sich dabei gegenseitig.

„Das sollten wir öfter machen“, japste Ausyl atemlos. „Hatten die einen Schiss vor uns. So viel Spaß hatte ich nicht mehr, seit…“

„Seit wir den Allmächtigen Jondri zurück auf die Obere Ebene gejagt haben“, lachte Thomas.

Die Flammenhaare verschwanden und machten wieder dem normalen brandroten Haarschopf des Gottes Platz. „Darauf müssen wir einen trinken gehen. Komm, Thomas, ich kenne eine gute Kneipe in der Nähe.“

Grinsend hob der Mensch die Sonnenbrille und den Mantel auf, verstaute Stab und Artefakt und sah auf die Dachfirste. „Kommt Ihr mit?“

Direkt vor Thomas schien Theresa zu entstehen. „Meinst du, wir lassen euch den ganzen Spaß alleine haben?“

Sarenn sprang vom Dach herab. „Wehe, Ihr schaut mir unter den Rock, Ihr“, drohte sie grimmig.

Direkt unter ihr stand aber bereits der Luftgott mit der vertrockneten Haut. „Nehmt sie ernst. Ihr würdet euch zu Tode langweilen“, kommentierte er und entkam dem Drehkick der gerade gelandeten Göttin nur knapp.

„Blau“, sagte Thomas ernst.

„Nein, türkis“, erwiderte Ausyl. „Übrigens, toller Tritt, Sarenn.“

Die Wassergöttin wurde rot. Sie warf verzweifelt die Arme hoch und rief: „Was soll’s, bin ja selber schuld.“ Sie ging an der Dreiergruppe vorbei, mit Naiel im Schlepp, der aber einen Sicherheitsabstand hielt. „Die erste Runde geht jedenfalls auf mich.“

Thomas lachte wieder, umfasste die Schultern von Ausyl und Theresa und folgte der Wassergöttin. „Mit euch wird das Leben nie langweilig, wisst Ihr das?“

Theresa warf ihm einen schelmischen Blick zu. „Oh, es wird sicher noch besser. Viel besser.“

**

In einem vornehmen Terre de France-Restaurant stellte derweil Natalia Prokovniewa fest, dass der Rotwein sehr viel schwerer gewesen war, als sie gehofft hatte. Sie war nun genau in dem Stadium, dass sie bei sich vorbesoffen nannte. Eigentlich genau der Zeitpunkt, rechtzeitig das Weite zu suchen, wenn sie nicht in einem fremden Bett aufwachen wollte.

Sie sah auf und unterdrückte einen Schluckauf.

Norton Myers lächelte zu ihr herüber. „Trinken Sie ein Glas Wasser, Natalia.“

„Oder essen Sie einen Löffel Zucker“, fügte Professor Vaillard hinzu. „Hilft bei mir immer.“

„Danke, aber es ist schon gut. Es ist nur dieser Rotwein… Ich… Darf ich mir vielleicht lieber ein Bier bestellen?“

Norton nickte lächelnd. „Ich denke nicht, dass uns der Kellner deswegen an die Kehle gehen wird. Immerhin sind wir bereits beim Dessert. Was sagen Sie dazu, Herr Professor?“

„Was? Oh, in meiner Heimat ist es kein Verbrechen, zu einem guten Mahl Bier zu trinken“, sagte der alte Mann lächelnd. „Außer, es ist Fisch. Dann gibt es nichts anderes als Weißwein, oder Sie landen auf dem Restauranteigenen Pranger.“

„Das ist ein Scherz, oder?“, fragte Natalia nach.

„Aber natürlich“, erwiderte der Professor und machte ein ernstes Gesicht dabei, welches das Gegenteil vermuten ließ.

Natalia lachte amüsiert, aber auch etwas unsicher.

Norton lachte ebenfalls und wesentlich überzeugter, dass der alte Mann aus Terre de France scherzte.

„Auf jeden Fall“, sagte der Doktor und erhob sich mit einem Glas in der Hand, „will ich die Gelegenheit nutzen, und mit Ihnen beiden auf unser drei zweitem Geburtstag anzustoßen. Wir haben etwas überlebt, was nur wenigen Menschen überhaupt je zu sehen vergönnt war. Und Überleben war dabei stets nur eine Option.“

Der Professor und die Dozentin hoben ebenfalls ihre Gläser.

„Auf unseren Geburtstag“, sagte Doktor Myers.

„Auf unseren Geburtstag“, erwiderten die anderen beiden.

Sie tranken in kleinen Schlucken, der Professor aber leerte sein Glas auf einen Hieb.

„So, das reicht für einen alten Mann. Ich werde dann mal gehen. Meine Matratze ruft mich, ich kann es hören. Nein, nein, setzen Sie sich, Norton. Bleiben Sie doch noch etwas mit Frau Prokovniewa. Ihr seid jung und vertragt mehr.“ Er nahm die Rechte von Natalia und hauchte einen Kuss darauf. „Wie versprochen, ich sorge dafür, dass wir anhand der aufgezeichneten Daten eine Grundlagenforschung etablieren, die Ihr Resonator aufgezeichnet hat. Mit etwas Glück entsteht eine neue Wissenschaft, die einmal Ihren Namen tragen wird, liebste Natalia.“

Die Frau aus Rus wurde rot. „Wenn, dann nur dank Ihnen, Herr Professor.“

„Schmälern Sie Ihre Leistung mal nicht, Natalia“, beschwerte sich der alte Mann.

Er beugte sich zu Norton herüber und flüsterte: „So, die Bahn ist frei. Eine bessere Gelegenheit bekommen Sie nie wieder, Norton.“

Der Mann aus Amerika versuchte mit Mühe, ein neutrales Gesicht zu bewahren. „Ich habe kein Interesse an Natalia, Herr Professor.“

„Das ist aber schade. Sie hat nämlich Interesse an Ihnen, Norton.“

Erstaunt sah der Doktor auf. Und erkannte, dass er dem Älteren in die Falle getappt war.

Der alte Mann grinste und schenkte beiden noch einen Blick. „Also, habt viel Spaß, Ihr beide, ja?“
 

Verlegen sah Norton zu Boden. Natalia spielte nicht minder verlegen und unruhig mit dem Stiel ihres Weinglases. „Danke“, sagte sie nach endlosen Minuten des Schweigens.

„Was?“

„Danke, Norton. Danke, dass Sie mich vor meiner Dummheit gerettet haben. Danke, dass Sie mich mit Ihrem Leben beschützt haben. Danke, dass Sie immer für mich da waren. Obwohl ich Sie so hart geohrfeigt habe. Es tut mir leid. Wie kann ich das jemals wieder gut machen?“

Norton sah die Dozentin erstaunt an. So einsichtig, nett, ja liebenswert erlebte er die Frau aus Rus selten. Pah, eigentlich das erste Mal.

„Sie könnten damit beginnen und Ihren Leuten einschärfen, dass sie Makotos Geheimnis nicht verraten.“

Verletzt sah sie ihn an. „Aber das ist doch selbstverständlich. Ich meine, ich bin schuld daran, dass dieser Gott aufgespaltet wurde. Ich habe das einem Gott angetan. Ich stehe so tief in seiner Schuld, das ist das Mindeste, was ich machen kann.“

„So habe ich das nicht gemeint, Natalia. Es ist nur so, dass… Ihre Worte haben mich verunsichert. Ich… Alles, was ich vorhatte, war Sie zu beschützen. Diese Worte aus Ihrem Mund zu hören ist wie eine Belohnung für meine Mühen. Nicht, dass ich irgendeinen Lohn haben wollte.“

Die schwarzhaarige Frau lächelte. „Norton, Sie sind ein erstaunlicher Mann. Manchmal scheint es mir, als seien Sie der große Bruder von unserem Herrn Schneider. Nur frecher, gewitzter.“ Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Weinglas und sah ihn dabei über den Rand des Glases an. „Erfahrener.“

Norton hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, seinen Krawattenknoten zu lüften. Er bekam auf einmal sehr schwer Luft.

Natalia beugte sich vor. Der Ausschnitt ihres Kleides geriet dabei in den Blick des Doktors.

Warum habe ich nicht Medizin studiert?, ging ihm ein wirklich dummer Gedanke durch den Kopf.

„Sie sind etwas besonderes, Norton“, hauchte sie.

Norton Andrew Myers beugte sich wie unter Zwang ebenfalls vor. „Das Kompliment kann ich zurückgeben“, hauchte er.

Ein lautes Piepen aus dem Jackett des Doktors forderte seine Aufmerksamkeit ein. Er sah zur Seite, und Natalia seufzte viel sagend.

Norton holte seinen Pager aus der Tasche und warf einen schnellen Blick darauf. „Entschuldigung, ich bin in einer Minute zurück. Wichtiger Anruf“, rief er, griff nach seinem Jackett und eilte an ihr vorbei zum Hinterhof hinaus.

Natalia stützte das Gesicht in die Hände und seufzte erneut. „Na toll. Na toll. Männer.“
 

Norton indes trat auf den Innenhof und zog seine Pistole. Er sprang über eine Mauer, durchquerte einen weiteren Innenhof und entsicherte die Waffe. Er machte sich klar, dass auf der anderen Seite dieser Mauer der Dämon Hoa stand, gerade bereit, mit zwei Leibwächtern in eine gepanzerte Limousine zu steigen.

„Eine Torch pro Leibwächter“, zischte Norton gepresst, „zwei direkt in den Kopf für Hoa.“

Wenn es denn reichte, um den Dämon zu töten. Niemand hatte ahnen können, dass der ehemalige Direktor von Akai Mittland eine weit reichende Schattengesellschaft aufgebaut hatte, die er nun nutzte, wo er seinen offiziellen Posten verloren hatte. Im Gegensatz zu HELIOS, welche den Dämon weiterhin lediglich observierte, sah Norton in dem Mann eine riesige Gefahr. Und dies war seine letzte Möglichkeit, um ihn sicher aufzuspüren und zu erledigen. Was er tun würde. Um jeden Preis. Sogar um den Preis seiner Menschlichkeit.

Gerade wollte Norton auch über diese Mauer springen, als auf der anderen Seite unverkennbar die Schüsse von Torches erklangen. Kurz darauf wurde ein Mensch über die Mauer geschleudert. Er flog bis zum nächsten Hindernis im Weg, einer Hausmauer, und prallte daran ab. Bewusstlos fiel er herab und blieb liegen. Eine zweite Gestalt flog durch das Fenster einer anderen Fassade.

Der Doktor zögerte nicht länger und sprang, den Finger am Abzug, über die Mauer hinweg.

Was er sah, ließ ihm aber das Blut in den Adern gefrieren. Vor ihm standen zwei Dämonen. Genauer gesagt, ein Dämon stand. Und der andere hing. Hing im wahrsten Sinne des Wortes im Griff des anderen Dämon und schwebte einen Meter über dem Boden.

„Javala“, hauchte Hoa, „Gnade…“

Der Größere der Dämonen, ein wirklich riesiges Exemplar mit einem furchtbaren Kiefer und drei mächtigen Hörnern, brummte nur tief und grollend. Von einem Moment zum anderen sah er Norton Myers direkt an. „Verschwinde, Kind“, sagte er leise, aber es schien Norton, als würde ihn jedes Wort, jede Silbe, jeder Buchstabe mit der Kraft eines Hammers treffen. „Sofort!“

Norton sprang automatisch und landete auf dem Sims der Mauer.

„Gut“, sagte der riesige Dämon und sah wieder sein Opfer an. Ja, Opfer. Das war das richtige Wort. „Du warst aufdringlich, Hoa. Du wirst zu mächtig. Und du bist schädlich für die Menschen.“

„Ich… will mich bessern, Herr“, stammelte der Dämon in Todesangst.

„Dafür ist es leider zu spät“, sagte der größere Dämon. Seine Augen glühten auf, und mit einem unwirklichen Schrei, der immer leiser wurde, zerstieb der kleinere Dämon, Hoa, zu Staub. Javala, der größere Dämon lächelte kalt und schüttelte die rechte Hand aus. Weiterer Staub rieselte zu Boden. Er warf einen letzten Blick zu Norton herüber, dann drehte er sich um und sprang davon. Der Satz trug ihn über mindestens drei Häuser.

Norton zögerte nicht länger. Die Pistole verschwand wieder in seinem Jackett. Er sprang herab und beeilte sich, in das Restaurant zurück zu kommen.
 

Dort angekommen zog er schnell das Jackett wieder aus und kam zurück an den Tisch, den er sich mit Natalia teilte. „Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat, Natalia.“

„Ach, es war ja nur eine Minute, Norton.“ Sie lächelte ihn an. „Wenngleich mir die Zeit sehr viel länger vorkam.“

Der Doktor riss die Augen auf. Machten sie etwa da weiter, wo sie vorhin aufgehört hatten?

„Und noch etwas, Norton. Wir sollten endlich mal beim du bleiben.“ Sie nahm einen Schluck Bier und deutete auf das für Norton mit bestellte Glas.

Der Doktor bedankte sich und nahm ebenfalls einen Schluck Bier. „Gut, Natalia. Ich wusste vorhin nur einfach nicht, ob es Ihnen gegenüber… Ob es dir gegenüber Professor Vaillard nicht peinlich wäre, geduzt zu werden.“

„Nichts, was du tust, Norton, würde mir jemals peinlich werden. Du hast verdammt viel Kredit bei mir.“ Sie lächelte ihn an, und der Doktor spürte, wie ihm heiß und kalt zugleich wurde. Hörte sie endlich auf ihn? Das war wunderbar. Nein, es war mehr, weit mehr. Und weitaus schlimmer.

„Hör mal, ich weiß wo das endet. Und du bist angetrunken und ich will dich nicht…“

Sie rückte zu ihm herüber und legte ihm einen Zeigefinger auf den Mund. „Halt. Nicht weiterreden. Ich bin alt genug um zu wissen, was ich tue. Und wenn ich nicht wollte, wäre ich vorhin gegangen, als der Professor uns verließ.“

Sie lächelte ihn erneut an. Unruhig fingerte Norton an seinem Krawattenknoten und lockerte ihn um drei Nummern. „Herr Ober. Ich bezahle zwei Bier.“
 

Epilog:

„Nach einem langen Tag gibt es nichts besseres als ein heißes Bad, um sich zu entspannen“, seufzte Ralf und ließ sich noch etwas ins Wasser sinken.

„Hai. Dem kann ich vorbehaltlos zustimmen“, murmelte Yoshi und griff nach seinem Glas Bier, das auf dem Beckenrand stand.

Misstrauisch öffnete Ralf ein Auge und besah die anderen beiden Gäste in der großen gemauerten Wanne. „Wenn Shawn oder Arnim noch kommen, wird es wohl etwas eng werden, nicht, Mako-kun?“

Der Gott grinste schief und stellte sein eigenes Glas Bier ab. „Dann wird es wirklich etwas eng. Aber das Bad haben wir uns redlich verdient. Und mich stört es eigentlich nicht, dass wir zusammen hier sitzen müssen, damit es schneller geht.“

„Also, ich bin das von Zuhause gewöhnt“, bemerkte Yoshi leise. „Ist also kein Problem für mich. Und dass wir zwei Stunden warten mussten, bis die Damen fertig waren… Das schreit nach Rache, wakarimasuka?“ Er zwinkerte den beiden zu.

Ralf grinste schief. „Lassen wir warmes Wasser nachlaufen. Ob du jetzt oder in einer Stunde auf deine Couch kommst, Yoshi-kun, ist jetzt auch egal.“

Makoto seufzte tief. „Das denke ich auch. Hm. Das ist ein Leben. Und Ihr Nihon-jin habt wirklich Kultur, das muß ich sagen.“

„Es müsste nur mal einer die Getränke nachfüllen“, murmelte Ralf und trank sein Glas leer.

„Was sehe ich denn hier? Es steigt ne Party und ich bin nicht eingeladen?“, erklang es vom Eingang. Arnim trat ein, in beiden Händen ein Sixpack Bier.

„Vorher waschen!“, rief Ralf aufgebracht. „Oder glaubst du, wir wollen in deiner Dreckbrühe baden?“

„Bleib ruhig“, erwiderte der Feuergesegnete und warf jedem ein Bier zu. „Ich kenne das schon.“ Arnim zog sich aus und kippte ausgiebig kaltes Wasser über seinen Körper. „Reicht das, oder soll ich mich noch einseifen? Das ist zwar kein typisches Nihon-Onsen, aber…“

„Reicht“, bestimmten die drei.

Arnim stieg zu ihnen in die Wanne.

„Mehr dürfen jetzt aber wirklich nicht mehr kommen“, stellte Ralf fest und öffnete sein neues Bier.

„Wisst Ihr, was ich gedacht habe?“, fragte Makoto plötzlich. „Warum stellen wir so ein Ding nicht im Garten auf? Arnim ist doch ein natürlicher Heizapparat. Er kann das Wasser immer wieder für uns erhitzen, dann entstehen keine Kosten.“

„Ja, klar. Und mit dir Prachtkerl als Badegast haben wir die halbe weibliche Uni als Zaungäste.“

„Wir könnten den Pool groß genug machen, damit zehn oder mehr Leute rein passen. Denk doch mal nach. Zusammen mit den Frauen baden…“

Ralf erhob sich. „Ich hole den Mörtel.“

Er ließ sich wieder ins Wasser sinken und lachte mit den anderen.

„Übrigens, Ralf-kun, ich habe da etwas für dich“, sagte Yoshi und fasste unter sein Wäschebündel. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er seine Pistole in der Hand. „Hier. Für dich, Ralf-kun. Damit hast du unsere Leben gerettet. Ab jetzt soll sie dir gehören.“

Ralf nahm die Waffe entgegen. „Das ist… Danke, Yoshi-kun. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Bin ich diese Waffe überhaupt wert?“

„Die richtige Frage ist: Brauchst du die Waffe überhaupt?“, kommentierte der Gott und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Es versprach ein lustiger Abend zu werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Erzsebet
2007-11-08T21:34:38+00:00 08.11.2007 22:34
Schöne Schlußszene - da wär ich ja gern Mäuschen gewesen ;-)
Das ging ja mal wieder richtig zur Sache und endlich hat sich auch einiges etwas mehr aufgeklärt. Ralf IST eben kein normaler Mensch, war ja schon klar, und Thomas der Unsterbliche in aller Munde zumindest bei HELIOS. und was Ralf drauf hat ist ja wirklich eindrucksvoll, schön, ihn mal aus unvoreingenommener Perspektive erleben zu können!

Und das 'alte' Team hat ein Nachwuchsteam mit Vorbedacht zusammengestellt? Sieht ja fast so aus. Aber die Jungen kommen wohl noch dahinter. Ich glaub, die wollen sich gar nicht so manipulieren lassen...

Diese Wohngemeinschaft ist wirklich jenseits aller Normalität, einer der wenigen 'Normalos' ist von Helios, würde mich nicht wundern, wenn das Geschwisterpaar aus Terre de France auch alles andere als gewöhnliche Menschen wären, auch wenn bisher noch nichts augenfälliges darauf hindeutete.

Die Fischausnehm-Szene fand ich ja super - aber Anselm ist halt der Japanspezialist, da mußte das wohl kommen.

Georgio ist auf jeden Fall noch ein Kandidat für eine Aufklärung. Und Norton ist ein Dämon im Exil? Oder hat Javala ihn aus einem anderen Grund 'Kind' genannt? Und Natalia weiß offenbar wirklich, was sie will. Ist ihr zu gönnen, find ich, nach dem für sie unvorhergesehenerweise gescheiterten Experiment.

Und die Anziehungskraft zwischen Makoto und Ralf ist ja wohl wirklich ungeheuerlich. Sogar zu Mako-kun, also wirklich, hätt ich gar nicht erwartet, hier zu lesen. Mal sehen, wie sich das nun wieder aufklärt.

Naja, und das Artefakt, ist das wirklich sicher in der WG - erfährt nicht bald auch die alte Truppe davon? Dann stehen Mama Theresa und Papa Thomas wieder vor der Tür, oder?

Und noch zum Schluß eine Kleinigkeit - weil ich nichts zu Meckern gefunden hab - der Satz ist einfach nur Spitzenklasse: >>Offensichtlich hatte die professionelle Distanz für den Auftrag beschlossen, ihm den Rücken zu zukehren.<<

War wie immer wunderbar, bis zum nächsten Mal schöne Grüße von Erzsebet

Von: abgemeldet
2007-01-17T19:01:20+00:00 17.01.2007 20:01
*Vor lachen immer noch am Bodel lieg*
Also deine witze dadrin sind immer wieder genial. ^____^
Lache immer wieder aufs Neue. ^^
das Kapi ist wieder super genial. ^^
Freu mich schon auf morgen, da lese ich weiter. ^^
Gruß,
Susi
Von:  Carnidia
2005-03-22T18:58:27+00:00 22.03.2005 19:58
So, ... ich hoffe das gilt nicht als Cheating, aber ich musste ECHT WEG (beinahe wär ich zu spät gekommen, grad noch kurz von dem Prof in's Zimmer, ... das is mir noch nie passiert ... normalerweise bin ich eine der ersten <.<) *pfhu*
Soooo ... Absolut genial war die Beschreibung am Anfang, als Klaus durch das Haus geht, auf der Suche nach seinem Buch. Allein die zwei im Gang schwebenden Gesegneten, müssen ein Anblick zum kugeln gewesen sein. Als Arnim dann statt einem Mantra den Text dieses Popliedes zitiert bin ich vor Lachen fast am Boden gekugelt.
Dann der Biertrinkende Luftgott XDDDDD
Thomas und Ausyl sind irgendwie die Lausbubenkumpels schlechthin. Passen echt gut in ein Team. Yoshi ist auch genial, äußerst symphatisch. (vor allem als Freya ihm gerade noch die Pizza unter dem Gesicht wegziehen kann *gg*)
XDDDDD So, so Ralph schaut also aus wie ein Spielzeug von Makoto- chan, *rofl* man kann Theresa(wenn sie denn dafür verantwortlich ist) nicht eine gewisse Kreativität absprechen. Den Kuss zwischen Ralpf und Makoto- kun fand ich wirklich überraschend, aber passend. Und jetzt haben sie also das Artefakt und es gibt NOCH einen größeren Dämon (eigentlich sollte ich es aus Star Wars ja wissen: Es gitb immer einen größeren Fisch ...)
Bin ja mal gespannt, wie du sie da wieder rauskriegst.
Du schaffst es sowieso immer wieder sie in Situationen zu reiten, wo man denkt ... also ohne eine unglaubwürdige Story kriegt man die da nie wieder raus, aber ... zwei Kapitel weiter haben sie ein noch größeres Problem vor sich XDDDDD
Danke, deine FF baut mich echt auf (endlich was zu Lachen, nach 12 Stunden Non- Stop Vorlesungen -.-°)
^.^v
Von:  Carnidia
2005-03-22T06:44:50+00:00 22.03.2005 07:44
Ups ... jetzt muss ich aber los ... dass ich über das Lesen aber auch immer die Zeit vergessen muss (spezielle über deine Kapi's)
Genial wie immer.
^.^v


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