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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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"Zwei Monate!", zischte es wütend, "vor zwei Monaten schon habe ich den Herrn der Erde auf diesen verfluchten Kontinent bringen können, und wir sind noch kein Stück weiter! Nicht ein einziges!"

"Beruhige Dich", antwortete das Tier und gähnte daraufhin gelassen. "Was erwartest Du auch groß?"

"Ich erwarte", schnaubte es, "dass der Herr der Erde endlich handelt! Verdammt! In schöner Regelmäßigkeit schicke ich meinen Ruf nach ihm aus, und zeige ihm in seinen Träumen, wie wichtig es ist, das <Herz der Erde> zu finden, und es scheint, als interessiere ihn das gar nicht!"

"Nun reg Dich doch nicht so auf!", forderte das Tier. "Der arme Junge kommt doch schon gar nicht mehr nach mit seiner Arbeit. In meinen Augen ist sein Handeln durch und durch verständlich! Sieh es doch mal so: Er ist ein Teenager, der zur Schule geht, der sich mit Freunden trifft und der gerade eine sehr wichtige Entwicklung seines Lebens durchmacht! Er wird von einem Jungen zum Mann. Und es ist klar, dass ihm die Suche nach dem <Herz der Erde> eher unwichtig ist. Er weiß ja noch nicht einmal, wofür er den Stein suchen soll! Er weiß nur, dass die Suche wichtig ist. Aber mit seinen beschränkten, menschlichen Fähigkeiten – wie soll er da den Kristall finden? Wenn nicht mal wir Erfolg haben?! Verdammt, er sucht auch schon seit einem Jahrzehnt nach dem Silberkristall und findet ihn nicht. Der Gute soll erst mal lernen, mit seinen schwachen Fähigkeiten, die er bis jetzt hat, zurecht zu kommen. Und dann sehen wir weiter!"

Seine Augen wurden schmal vor Zorn bei den Wortes des Tieres.

"Wie kannst Du da nur so ruhig bleiben?", donnerte es.

"Und wie kannst Du Dich nach all den Jahren des geduldigen Wartens nur jetzt so künstlich aufregen?", antwortete das Tier ruhig.

"Künstlich aufregen???", echote es. "Ich höre wohl nicht recht? Du weißt, was auf dem Spiel steht!"

"Eben", grinste das Tier, "ich weiß es. Der Junge weiß es nicht. Wann willst Du ihm die Wahrheit sagen?"

"Wenn die Zeit gekommen ist", sagten alle beide im Duett. Das Tier hatte nämlich genau diese Antwort erwartet.

"Jedes Mal bekomme ich das Gleiche zu hören", seufzte das Tier. "Denk Dir mal was Neues aus..."

In seinen Augen blitzte es vor Zorn. "Du weißt ganz genau, ich kann, darf und werde nichts überstürzen!"

"Ach!", rief das Tier aus. "Du willst nichts überstürzen? Aber der Junge soll sich gefälligst beeilen?"

Es ballte seine Fäuste vor Wut. Doch nur Sekunden später ließ es wieder locker.

"Du hast ja Recht", gestand es. "Verzeih. Aber ich werde nun mal allmählich nervös. So viel Zeit ist ungenutzt verstrichen. So wenig Zeit bleibt uns noch. Unsere Feinde führen bestimmt bald einen größeren Schlag gegen uns aus. Mich befallen Zweifel, ob unsere Mission erfolgreich sein wird."

"Dann tu Du doch endlich was!", forderte das Tier. "Wenn Du es nicht tust, dann tut es keiner. Du kannst nicht erwarten, dass der Junge bedingungslos an Deinen Worten hängt wie eine Marionette an ihren Schnüren. Er ist nicht einfach irgendwer. Er ist der Herr der Erde! Wenn sich sein Schicksal erfüllt, und er für unsere Sache kämpft, wird er Wichtigeres zu tun haben, als sich Gedanken um Dich zu machen! Und nun ... beruhige Dich endlich wieder. So impulsiv kenne ich Dich gar nicht."

"Schon gut, schon gut", lenkte es ein, nun wieder in seiner gewohnten Kühle, die nahe an die Emotionslosigkeit eines leblosen Gegenstandes herankam. "Du hast ja Recht. Nach fast tausend Jahren des Schlafens und Wartens, und nach weiteren zehn Jahren der intensiven Suche nach dem Jungen, werde ich wohl noch ein paar Wochen hin oder her weiter verharren können."

"Oder endlich mal selbst etwas unternehmen, statt nur auf andere zu warten", unterbrach das Tier mit zynischem Grinsen.

Doch das Wesen ignorierte diese Worte. Als hätte es sie gar nicht gehört, fuhr es fort:

"Die Frage ist nur, wie lange die Feinde noch verharren können..."

"Wieso sträubst Du Dich eigentlich so sehr davor, Dich dem Jungen zu zeigen?", fragte das Tier kopfschüttelnd. "Ich meine ... Du hast es gerade selbst gesagt! Nach insgesamt tausend Jahren der Suche hast Du ihn zu guter Letzt wiedergefunden, und nun drückst Du Dich davor, endlich Deine Mission fortzuführen! Ich verstehe Dich nicht..."

"Das kannst Du auch gar nicht verstehen!", gab es zurück.

"Dann erkläre es mir", forderte das Tier trocken.

"Der Herr der Erde ist nun mal sensibel", erklärte es mit vor der Brust verschränkten Armen. "Vor knapp siebzehn Jahren, als ich zum ersten Mal den Kontakt zu seinem Bewusstsein knüpfen konnte, hat er sehr darunter gelitten. Er war noch nicht bereit gewesen, für unsere Sache als Krieger einzustehen. Und dann, als er vor zehn Jahren sein Gedächtnis verloren hatte..."

Es unterbrach sich selbst. Erst nach einem leisen Seufzer fuhr es fort:

"Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn ich ihn zu dem Zeitpunkt nicht verloren hätte? Die eine Möglichkeit wäre gewesen, dass er mit unserer Mission zurechtgekommen wäre. Er wäre womöglich ein mächtiger Verbündeter geworden. Die Feinde wären unter Umständen lang besiegt, und dieser Planet würde uns allein gehören. Niemand würde uns mehr den Thron streitig machen können. ...Oder aber... Die andere Möglichkeit wäre gewesen, dass sein Geist unter der gewaltigen Anstrengung zerbrochen wäre. Er war wohl damals zu jung, als dass die gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, hätten geweckt werden dürfen. Vielleicht hätten ihn seine eigenen Energien einfach irgendwann in der Luft zerfetzt. Wer weiß das schon? Aber im Augenblick bringt es uns nichts, über eine mögliche andere Vergangenheit zu spekulieren. Fakt ist: Ich habe den Kontakt zu ihm wieder verloren, noch ehe das Eine oder das Andere hatte passieren können. Was nun zählt, ist das Jetzt und Hier. Ja, er ist inzwischen älter geworden, und ja, er ist reifer und stärker. Er lernt mehr und mehr, seine Kräfte zu wecken und zu nutzen. Eines Tages wird ihm wieder seine ursprüngliche Macht zur Verfügung stehen, und er wird auf unserer Seite über das Leben oder den Tod dieses Planeten herrschen. Dann können uns auch diese verfluchten Sailorkrieger, die mich jetzt noch stören, völlig egal sein. Aber bis der Junge soweit ist, wird noch Zeit vergehen. Wenn ich mich ihm zu früh zeige ... wenn ich ihm zu früh zu viel zutraue, dann ... dann kann es sein, dass er sich völlig falsch entwickelt. Und dann wäre unsere Mission fehlgeschlagen. Der Herr und Meister könnte sich von uns abwenden. Versetz Dich doch mal in die Lage des Jungen! Wie würdest Du reagieren, wenn Du auf einen Schlag die ganze Wahrheit erfahren würdest? Ein Sterblicher – und das ist er im Augenblick! – würde dabei wahnsinnig werden. Und das will ich vermeiden."

Das Tier hatte konzentriert gelauscht, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen. Nun aber hob das Tier skeptisch eine Augenbraue und fragte zweifelnd:

"Du schützt ihn – oder vielmehr seine Psyche – indem Du ihm jetzt noch nichts sagst?"

"Genau", bestätigte es nickend.

"...Und Du denkst, es macht einen Unterschied, ob Du ihm jetzt alles auf einmal sagst, oder ob Du einen Monat wartest, und es dann tust?"

Leicht entnervt drehte es sich von seinem Gesprächspartner weg.

"Ach! Ich sage doch, Du verstehst es nicht!" Damit verließ es wutentbrannt den Raum.

Das Tier blieb kopfschüttelnd zurück.

"Du willst es vielleicht nicht wahrhaben – aber ich verstehe sehr wohl. Ich weiß, dass Deine Worte nichts als Ausflüchte sind. Ich kenne die Wahrheit. Und Du kennst sie auch. Aber Du leugnest sie. Weil sie nicht Deiner Natur und Deinem Wesen entspricht. Aber eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen. Eines Tages wird der Junge wissen, wer Du bist und was Deine Ziele sind. Wie er darauf reagieren wird, steht allerdings noch in den Sternen..."

Seufzend setzte sich das Tier dann in Bewegung. Es folgte ihm ins Freie. Dort allerdings blieb es irritiert stehen, als es seinen Partner sah, der stumm dastand und gebannt in eine bestimmte Richtung starrte.

"Was ... ist denn los?", fragte das Tier zögerlich.

"Ich höre den Ruf unseres Herrn und Meisters", wisperte es angespannt. "Das habe ich schon lange nicht mehr vernommen. Unser Herr und Meister hat seit Wochen in Stille verharrt..."

Es setzte sich langsam in Bewegung, in die Richtung, die es die ganze Zeit mit den Augen fixiert hatte.

"Ich muss zu ihm", murmelte es dabei.

"Und was willst Du ihm sagen?", fragte das Tier. "So was wie <hi, wie geht's, lange nicht gesehen>, vielleicht? Meine Güte, nur weil er seinen Ruf ausschickt, muss das noch nicht heißen, dass er uns auch wirklich dringend braucht! Du weißt doch, wie er ist!"

"Ich werde seinem Ruf folgen", antwortete es bestimmt. "Du kannst ja mitkommen ... oder aber, wenn ich Dir zu schnell bin, dann geh in den Garten und jag Schnecken. Das wirst Du ja wohl hinkriegen."

Das Tier rollte mit den Augen. "Der Umgang mit den Menschen tut Dir nicht gut. Früher hätte ich eine derartige Frechheit nicht von Dir zu hören bekommen."

Aber natürlich folgte das Tier ihm dennoch.
 

Zur gleichen Zeit, aber an einem völlig anderen Ort, saß Mamoru an seinen Hausaufgaben. Oder vielmehr: Er starrte unkonzentriert Löcher in die Luft. Der offene Füller lag auf seinem Englischheft. Dort standen bisher nur das heutige Datum, nämlich der 5. Juni 1991, und zwei Sätze. Mamoru fand nicht die Konzentration, um seinen Aufsatz zu schreiben. Das mochte wohl zum großen Teil daran liegen, dass er irgendwann aus purer Langeweile die goldene Spieluhr unter seinem Hemd hervorgekramt, dann die Kette, an der sie befestigt war, ausgezogen und zu guter letzt die Klappe des kleinen Instruments geöffnet hatte, woraufhin die sanfte Melodie erklungen war. Seitdem lauschte Mamoru nur gebannt der leisen Musik und träumte vor sich hin. Er ließ sich auch nicht durch das summende Geräusch der Klimaanlage stören, die für eine angenehme Temperatur sorgte, während draußen in der prallen Sonne eine Hitze herrschte, die schier nicht zum aushalten war. Die Sonne sank immer weiter dem Horizont entgegen und warf ihre flachen Strahlen fast bis an die dem Fenster gegenüber liegende Wand.

<Die Wand von MEINEM Wohnzimmer!>, dachte Mamoru stolz, der den winzigen Staubkörnchen zusah, wie sie in den Sonnenstrahlen tanzten. Auch jetzt noch, nach den zwei Monaten, die er jetzt schon in Texas verbracht hatte, konnte er sein Glück kaum fassen. Seine eigene Wohnung! Das hieß, sofern man außer Acht ließ, dass sein Onkel und seine Tante so ziemlich unter demselben Dach wohnten und nur eine dicke Hauswand sie von einander trennte. Dennoch war der junge Herr der Erde zufrieden mit seiner kleinen, bescheidenen Behausung. Diese vier Wände waren nun seine neue Heimat geworden. So sehr er sein altes Tokyo auch vermisste, er bereute seine Entscheidung, auf diesen Kontinent gekommen zu sein, keineswegs. Er pflegte seinen regelmäßigen Kontakt zu seinem besten Kumpel Motoki, aber er hatte genauso hier Freunde gefunden, die er nicht missen wollte. Auch, wenn sie sich manchmal etwas schräg benahmen. Wie Rick, dieser Chaot, zum Beispiel...

Mamoru schmunzelte bei dem Gedanken still in sich hinein. Er wusste nicht, was die Zukunft ihm bringen mochte – ob er je wieder nach Japan zurück kehren würde oder nicht – aber er wusste, dass die Leute, denen er hier begegnet war, einen bleibenden Eindruck in seinem Gedächtnis und wohl auch in seiner Persönlichkeit hinterlassen hatten und es auch noch eine ganze Weile weiter tun würden. Dann und wann, in Augenblicken der Ruhe, blätterte Mamoru gerne in seinem alten Tagebuch herum, und dabei musste er immer wieder aufs Neue seine Entwicklung feststellen. Und damit war nicht nur gemeint, dass er inzwischen merklich um einige Zentimeter weiter gewachsen war. Er stellte fest, dass er eine Menge gelernt hatte und dass er mit mehr Selbstbewusstsein auftrat. Vor Tagen, Wochen und Monaten noch hatte er sich vor seinen eigenen, seltsamen Kräften gefürchtet. Zwar konnte er sich auch heute noch nicht erklären, was das alles für ihn zu bedeuten hatte. Aber er hatte in all der Zeit gelernt, sein Schicksal zu akzeptieren – sofern man etwas akzeptieren kann, was man nicht versteht. Mamoru besaß nun mal diese übermenschlichen Kräfte, und er lernte Stück für Stück, präziser damit umzugehen. Wie einst die Mondprinzessin in einem seiner Träume zu ihm gesagt hatte: Der Goldene Kristall war seine Waffe und sein Werkzeug. Er war sich sicher, seine Fähigkeiten gingen in erster Linie von dem Kristall aus. Er wusste noch nicht, warum ausgerechnet er diese Macht nutzen konnte, oder was für andere Kräfte noch in ihm schlummerten (in ihm? Oder eher im Kristall? Da war er sich noch nicht sicher...), aber er wollte sich seinen Fähigkeiten nun nicht mehr ganz verschließen. Er versuchte, sie nicht öfter als nötig zu nutzen, und er hängte sie auch nicht an die große Glocke. Aber er wehrte sich auch nicht, seine Fähigkeiten, also seine Werkzeuge, einzusetzen.

Nur hatte es in der letzten Zeit kein Ereignis gegeben, wo seine Kräfte vonnöten gewesen wären. Seit ziemlich langer Zeit waren weder die Dämonen, noch die fremden Sailorkrieger, noch das Schattenwesen aufgetaucht. Der Frieden war regelrecht ein wenig langweilig, auch wenn Mamoru sich lieber den rechten, kleinen Finger abgeschnitten hätte, als das laut zuzugeben. Aber er fragte sich im Stillen dennoch, was aus all diesen Leuten geworden war. Er wusste noch immer nicht, wer der Feind eigentlich war, und was er vorhatte ... wen man eigentlich alles zu den Feinden zählen durfte. Die Neugierde in Mamoru hoffte darauf, bald eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Doch das hatte auch später noch Zeit.

Später ... nach den Hausaufgaben.

Mamoru seufzte gequält auf. Er war eigentlich nie der Typ gewesen, der sich um seine Schulaufgaben drückte oder irgendwann zwischen Mitternacht und dem Schulanfang irgendwas aufs Papier klatschte; sicher nicht. Aber heute war er so unkonzentriert und abgelenkt, wie es sonst nie seine Art war. Er spielte gedankenverloren an dem kleinen, silbernen Kettchen rum, das nun auf dem Tisch lag, zusammen mit den beiden daran befestigten Gegenständen: der Spieluhr und dem alten Ehering seiner Mutter. Wohl sein wertvollster Besitz, sowohl auf materieller, als auch auf mentaler Basis.

"Das ist sehr schön."

Mamoru wurde durch diese Stimme aufgeschreckt. Sein Kopf ruckte in die Richtung des Sprechenden. Durch den dabei entstandenen Schwung kippte sein Bürostuhl nach hinten und Mamoru landete recht unsanft auf dem Boden. Er stöhnte leise vor Schmerz auf, kniff für einen Moment die Augen zusammen und blieb für vielleicht zwei Sekunden so liegen.

"Geht's? Hast Du Dir weh getan?"

Mamoru rang sich zu einem gequälten Lächeln durch und öffnete die Augen. Über ihm stand Elly mit besorgtem Gesicht. In der einen Hand hielt sie noch ihren Cowboyhut, den sie wohl abgenommen hatte, als sie das Haut betreten hatte; die andere streckte sie gerade nach ihm aus, um sich seinen Zustand näher anzusehen und ihm aufzuhelfen, doch da war schon ihr Wolf Terra heran und schleckte dem Jungen mit klatschnasser Zunge durch das Gesicht.

"Lass das!", befahl Mamoru. "Geh gefälligst runter von mir!" Doch er lachte dabei vergnügt auf. Terra wusch ihm noch einen Augenblick das Gesicht, aber dann unterließ er schließlich doch noch die Sabberorgie. Er setzte sich hechelnd hin und wedelte mit dem buschigen Schweif.

Mamoru fuhr sich angewidert mit dem Hemdsärmel über das Gesicht und stand dabei auf.

"Mach Dir um mich keine Sorgen", antwortete er endlich auf Elyzabeths Frage. "Ich bin immerhin ein Kampfsportler. Richtig hinzufallen ohne sich dabei weh zu tun ist eines der ersten Dinge, die Du im Kampfsport lernst. ...Du entschuldigst mich bitte für einen Moment. Ich gehe mir nur schnell das Gesicht waschen! Bin sofort wieder da, ich brauche nicht lange."

"Ja, ist gut!", meinte Elly und sah kopfschüttelnd auf Terra hinab.

Mamoru ging ins Bad und zog dort das Hemd aus, das ebenso angesabbert war wie sein Gesicht, und warf das Kleidungsstück dann in den Korb mit dreckiger Wäsche.

"Dass so was auch immer nur mir passieren muss!", seufzte er leise.

Er wusch sich und trocknete sich ab, danach ging er in sein Schlafzimmer an seinen Kleiderschrank und suchte sich ein neues Hemd aus.

"Das gerade mit Terra tut mir Leid!", meinte Elly. Dann betrat auch sie das Schlafzimmer und blieb abrupt im Türrahmen stehen. Was sie sah, war Mamoru, noch immer vor seinem Schrank stehend, der sich streckte und auf Zehenspitzen stellte, um an ein Hemd in einem der oberen Fächer zu kommen. Die ausgeprägten Muskeln an seinem Oberkörper zeigten dabei ihre ganze Größe.

"Ist schon okay", sagte er, noch immer die volle Konzentration auf den Schrank gerichtet. Er bemerkte ihre staunenden Blicke erst, als er das Hemd endlich in seiner Hand hatte und sich zu ihr umwandte. Leicht irritiert fragte er:

"Ist was? Du schaust so ... komisch..."

Elly beeilte sich, den Kopf zu schütteln. Sie lächelte sanft.

"Nein, es ist gar nichts. Du hast mir nur bislang diesen so ... beeindruckenden Anblick nicht gegönnt."

Vor lauter Verlegenheit bekam Mamoru eine leicht rote Farbe im Gesicht.

"Ähm", machte er schüchtern, "nun ja ... ich hatte keinen Grund dazu. Aber..."

Er lachte unsicher auf.

"...vielen Dank für das Kompliment! Wie gesagt, ich bin nun mal Kampfsportler. Ich bin froh, dass ich an der Schule einen Kurs gefunden habe, wo ich meinen Karateunterricht fortführen kann."

So sehr er Elyzabeths bewundernde Blicke auch genoss, er zog es dennoch vor, bekleidet herumzulaufen. Er legte sich das Hemd an, knöpfte es dann zu und stopfte es zügig in seine Hose.

"Setzen wir uns doch ins Wohnzimmer", bot er an. "Magst Du was trinken?"

"Danke, ich bin nicht durstig", antwortete sie.

Elly und Mamoru verließen das Schlafzimmer und gingen ins Wohnzimmer zurück, wo Elyzabeth schon vorher den umgefallenen Bürostuhl wieder aufgerichtet und dann ihren Hut einfach mal auf dem Couchtisch abgelegt hatte. Die Spieluhr lag noch immer samt Kette und Ring auf dem Schreibtisch, in der südöstlich gelegenen Ecke des Raumes. Mamoru ging hin, schloss endlich den noch immer offen herumliegenden Füller und nahm die Kette mit den beiden Anhängseln an sich. Elly beobachtete ihn dabei.

"Störe ich Dich etwa gerade bei den Hausaufgaben?", fragte sie verunsichert nach.

"Nein, nein", winkte Mamoru ab und wandte sich lächelnd an sie. "Mein Gehirn braucht sowieso gerade eine Pause. ...Bitte, mach es Dir doch bequem."

"Danke." Noch während sie sich hinsetzte, fragte sie:

"Was ist das für eine Spieluhr?"

Mamoru sah auf das faustgroße, goldene Instrument auf seiner Hand runter. Er lächelte leicht. Dann schloss er den Deckel und die Melodie verstummte.

"Ich ... hab das hier schon ziemlich lange", log er. "Es ist nichts Besonderes."

"Es gefällt mir", erklärte Elyzabeth mit schüchternem Lächeln. Mamorus Antwort bestand auch aus einem Lächeln. Irgendwie, so fand er, hatte dieses Mädchen eine warme, sympathische Ausstrahlung. Auf kaum näher beschreibbare Art war ihr Lächeln einzigartig. Vielleicht nicht unbedingt das, was man allgemein als <absolut bezaubernd schön> bezeichnen konnte, immerhin besaß sie nicht unbedingt das Aussehen eines Topmodels. Aber etwas an ihr war ... besonders. Ihre Augen. Ihre dunklen, grünen Augen schienen dann und wann leicht bläulich aufzuschimmern. Es war eine außergewöhnliche Farbe, wie Mamoru sie bewusst noch nicht bei einem anderen Menschen gesehen hatte.

Dann bemerkte er irgendwann, dass er sie bestimmt eine geschlagene Minute lang nur angestarrt hatte. Verlegen wandte er das Gesicht ab und starrte in eine Ecke des Zimmers.

Einen langen Augenblick herrschte eine schon fast peinliche Stille. Elyzabeth war es schließlich, die das Schweigen brach:

"Warum ... setzt Du Dich nicht ein wenig zu mir?"

Darauf nickte er und ließ sich neben ihr auf der Couch nieder. Nun endlich hob er sich seine Kette an den Hals, um sie sich wieder anzulegen.

"Warte, lass mich Dir helfen", bot Elyzabeth an.

Sie nahm ihm die beiden Enden der Kette ab und ließ den Verschluss der einen Seite in die Öse der anderen einrasten. Dabei stützte sie kurz ihre Handgelenke auf seine Schultern auf, um ihre Finger für diese feine Präzisionsarbeit ruhig halten zu können. Durch den Stoff des Hemdes hindurch konnte Mamoru die sanfte Körperwärme spüren, die ihre Haut abstrahlte, und sein sechster Sinn fühlte noch mehr. Geborgenheit, Vertrauen, Fürsorge, ehrliche Hilfsbereitschaft, und ... noch etwas ... Sehnsucht? Er konnte das Gefühl nicht richtig bestimmen. Es war ein seltsames Empfinden ... als sei Elyzabeth in ständigem Konflikt mit sich selbst; ganz so, als müsse sie sich entscheiden zwischen ihren Instinkten, denen sie unbedingt folgen wollte, und ihrer Kultur, die ihr das genaue Gegenteil vorschrieb. Doch was konnte es wohl sein, das sie tun oder lassen wollte? Welche so dermaßen schwerwiegende Entscheidung hatte sie zu fällen? Fragen konnte er sie schlecht. Wie hätte er ihr erklären sollen, wie er auf diesen Gedanken gekommen war?

"Was grübelst Du so schweigsam vor Dich hin?", fragte sie leise nach und unterbrach so seine Gedankengänge. Sie hatte derweil ihre Finger wieder zurück gezogen und somit die unfreiwillige, geistige Bindung zu ihm wieder gelöst.

"Ach ... ähm ... ich...", stammelte er, auf der Suche nach einer halbwegs plausiblen Antwort, "...ich hab nur gerade überlegt, was ich demnächst noch so einkaufen gehen muss..."

Er lachte verlegen auf.

Elly sah ihn einige Sekunden lang mit skeptischem Blick an. Er hatte gelogen und sie ahnte es wohl, doch sie beließ es mit einem Schulterzucken dabei.

"Sag mal...", so begann sie und zeigte auf die Kette, die nun an Mamorus Hals hing, "...was ist das da eigentlich für ein Ring? Den hab ich ja noch gar nicht gesehen. Trägst Du den immer bei Dir?"

Reflexartig griff Mamoru nach der Kette, die über seiner Brust hing, und schloss die Faust um den Ring. Sonst ließ er die Kette gewohnheitsmäßig nie über seiner Kleidung hängen. Der Ring und die Spieluhr – das waren seine beiden wohlbehüteten Schätze, die er nur ungern öffentlich zur Schau stellte. Nicht mal seine Tante Kioku und sein Onkel Seigi wussten von der Spieluhr. Nur von dem Ring wussten sie, und dabei sollte es bleiben. Mamoru mochte es nicht, wenn man ihm Fragen zu diesen beiden seinen persönlichsten Besitztümern stellte. Er tat alles, um die Neugierde aller Anderen so gut als möglich einzudämmen. Vielleicht, weil er sich vor den Erinnerungen fürchtete, die in ihm wachgerufen wurden, sobald man ihn nach der Herkunft des Ringes fragte. Seit er seine Vergangenheit verloren hatte, war dieses Schmuckstück das Einzige aus der damaligen Zeit, an das er sich heute noch klammern konnte.

Nun war er unvorsichtig gewesen; hatte zugelassen, dass ein Fremder von der Existenz des Ringes erfuhr. Doch – so eigenartig ihm das auch vorkam – es störte ihn noch nicht einmal sehr!

Elyzabeth hatte irgendwie eine vertrauenerweckende Wirkung auf ihn. Ja, wenn er es recht bedachte, hatte er fast das Gefühl, sie beide seien schon seit vielen, vielen Jahren gute Freunde. Und doch hielt ihn sein unterstes Bewusstsein davon ab, ihr die ganze Geschichte um den Ring zu erzählen.

"Das hier..."

Er lockerte wieder den Griff um das silberne Schmuckstück mit dem kleinen Herzen aus Rosenquarz darauf, sodass Elyzabeth es sehen konnte.

"...das ist ... war ... der Ehering meiner Mutter. Ich trage ihn ständig bei mir; er ist ... so eine Art ... wie soll ich sagen? ... eine Art ... Talisman für mich. Wenn ich ihn nicht hätte..."

Er ließ den Satz unvollendet. Aber offensichtlich war es auch gar nicht nötig, ihn zu Ende zu bringen, denn Elly nickte verstehend. Wie zum Trost, als ob sie ahnen würde, was es mit dem Ring auf sich hatte und welch dramatische Geschichte sich hinter ihm verbarg, legte sie vorsichtig ihre Hand auf Mamorus Knie.

Er lächelte schwach. Seine Augen waren von einer Spur von Traurigkeit und auch Hilflosigkeit durchzogen; wie immer, wenn er an seine verstorbenen Eltern dachte. Aber er lächelte. Trotz der eigentlich entmutigenden Situation brachte ihre trostspendende Geste Mamoru ein warmes Gefühl des Verstandenwerdens und der Geborgenheit ein. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Es war eigenartig ... aber es schien ihm so, als wüsste sie genau, was gut für ihn war...

Nach kurzem Zögern legte auch er seine Hand auf ihre. Er spürte ihre warme, weiche Haut, und irgendwie ermutigte ihn diese Berührung wieder.

"Es tut ... mir Leid für Dich", brachte Elyzabeth nach einer Ewigkeit des Schweigens heraus.

"Es ... ist schon in Ordnung", antwortete er leise.

"Ist es schon lange her?", erkundigte sie sich vorsichtig. "Das heißt ... nur, wenn Du darüber reden willst!..."

"Etwas mehr als zehn Jahre." Er wandte den Blick von ihr ab. Starrte auf den Boden. Er wusste nicht genau, warum er das tat. Wahrscheinlich, weil er es nicht ertrug, dieses Mädchen seine Trauer und seinen Schmerz in seinen Augen lesen zu lassen. Ihre ... wunderschönen, tief dunklen, grünen Augen, die nur dann und wann einen bläulichen Schimmer hatten ... sie schienen bis ins Tiefste seiner Seele blicken zu können...

Was war das nur für ein seltsames Gefühl, das Mamoru in sich verspürte?

Vertrauen? Geborgenheit? ... Oder noch mehr; noch etwas, das er nicht begreifen konnte?...

Als Mamoru eine sanfte Bewegung im Augenwinkel bemerkte, wandte er seinen Kopf um wenige Grade wieder in Elyzabeths Richtung; gerade so weit, dass er genauer sehen konnte, wie sie sich ihm näherte. Ehe er begreifen konnte, was geschah – ehe er in irgend einer Form reagieren konnte – war sie schon an ihn heran und hauchte einen sanften Kuss auf seine Wange.

Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Also tat er nichts. Er erstarrte regelrecht in jedweder Bewegung. Mit angehaltenem Atem wartete er geduldig die langen Sekunden ab, in denen Ellys Lippen sanft seine Haut berührten.

Dann – irgendwann – nahm sie ihren Kopf wieder zurück. Aber nur für wenige Zentimeter. Gerade so viel Abstand, dass sie wieder sein ganzes Gesicht sehen konnte, um seine Reaktion darin zu lesen.

Mamoru erwachte nun endlich wieder aus seiner Erstarrung. Nur sehr langsam führte er seine Bewegung von vorhin weiter und wandte nun Elyzabeth seinen Kopf wieder ganz zu. Er starrte sie überrascht an. Vielleicht lag auch Verwirrung in seinem Blick und möglicherweise auch Verlegenheit.

Elyzabeth sah ihn lange forschend an. Sie wartete auf eine Reaktion von ihm, ein Wort, ein Blick, ein Gesichtsausdruck, der sein Innerstes wiederspiegeln sollte ... doch sie wartete lange Zeit vergeblich.

"S-sorry...", wisperte sie schließlich tonlos. "...wenn ich einen Fehler gemacht..."

Ehe sie den Satz beenden konnte, hatte Mamoru ihr sanft seinen Finger auf die Lippen gedrückt. Nun schüttelte er den Kopf.

"Das hast Du nicht..."

Er nahm in langsamen Bewegungen seinen Finger wieder von ihren Lippen. Nun war es an ihm, sich ihr zu nähern. Sein Herz jagte in seiner Brust, als wolle es ihm jede Sekunde aus dem Körper springen. Sehr vorsichtig berührten sich ihrer beiden Nasenspitzen. Seine Lippen hatten die ihren beinahe schon erreicht... als ein lautes Türschlagen die Stille zerriss.

"Kurzer! Kann ich mir bei Dir ein paar Eier und etwas Mehl borgen? Meines ist alle!", tönte Kiokus Stimme fröhlich auf japanisch aus der Küche, in der sich ja die Haustür zu Mamorus kleiner Wohnung befand.

Erschrocken wichen Mamoru und Elyzabeth wieder auseinander und selbst Terra hob seinen Kopf und spitzte die Ohren in Richtung Tür, die zum Flur hin führte und in der nur Sekunden später Kiokus grinsendes Gesicht auftauchte.

"Oh, Besuch! Ich hoffe, ich störe nicht?", fragte sie – auf englisch diesmal, wenn auch einen Tick zu unschuldig.

Eines der Couchkissen, das Mamoru als wütende Antwort auf seine Tante katapultierte, und dem Kioku locker ausweichen konnte, prallte gegen den Türrahmen und landete auf dem Boden.

"Na, na, na, Kurzer! Nun mach mal halblang! Tust ja grad so, als hätte ich Dich mit einem nicht jugendfreien Heftchen erwischt!", feixte Kioku gelassen. Aus Rücksicht auf den Gast verlegten sie und ihr Neffe ihr Gespräch komplett ins Englische.

Mamoru schnaubte wütend. "Hast Du eigentlich schon mal was von <anklopfen> gehört?!"

Kioku legte nachdenklich den Zeigefinger an den Mund. "Ja, hab ich. Aber ich glaube nicht, dass sich dieses Konzept durchsetzen wird..."

Mamoru verdrehte die Augen.

"Ja, ja, ja, ist gut", winkte er ab. "Nimm Dir die Eier und das Mehl einfach; Du weißt ja, wo sie stehen. Und dann verschwinde!"

"Nicht so unhöflich, mein Kleiner", forderte seine Tante. "Willst Du uns nicht einander vorstellen?"

Mamoru seufzte resigniert. Der Punkt war gekommen, an dem er merkte, dass Kioku ihren Dickschädel durchsetzen und nicht eher verschwinden würde, bis sie ihren Willen bekommen hatte. Außerdem – so oder so war die knisternde Spannung zerstört, die bis gerade eben noch in der Luft gehangen hatte. Was passiert war, war nun mal passiert, und es ließ sich auch nicht dadurch rückgängig machen, dass Mamoru nun patzig wurde. So ergab er sich eben seinem Schicksal. Kioku würde immerhin auch irgendwann wieder verschwinden, und danach konnte er getrost weiter...

Ja ... was eigentlich?

Was war das, was er mit Elyzabeth zu tun im Begriff gewesen war?

Er hob seine Hand und deutete auf seine Tante.

"Elyzabeth – das hier ist meine Tante Kioku Chiba. ...Und das hier..."

Nun zeigte er auf das Mädchen.

"...ist Elyzabeth Shade. Sie lebt drüben auf der Mustang-Ranch. Wir gehen außerdem in dieselbe Klasse."

Kioku lächelte. Sie trat näher und reichte die Hand. "Es ist mir eine außerordentliche Freude, ein so hübsches Mädchen kennen lernen zu dürfen!"

"Oh, vielen Dank!" Elyzabeth lächelte glücklich. Daraufhin stand sie von der Couch auf, ergriff Kiokus Hand und schüttelte sie. "Die Freude ist ganz meinerseits!"

Als sie beide ihre Hände wieder losließen, stupste Kioku ihren Neffen leicht mit dem Ellenbogen an.

"Hey, Kurzer! Wie wäre es, wenn Du dieses nette Mädchen mal zu uns zum gemeinsamen Abendessen einladen würdest?"

"Tante Kioku!", empörte der Junge sich daraufhin. Er sah sie mit einem erbosten Misch-Dich-da-bloß-nicht-ein-Blick an und bedeutete ihr mit einem angedeuteten Kopfnicken in Richtung Tür, dass es genug sei.

"Also gut", sagte sie, als sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstand. "Dann mach ich mich mal wieder auf! Ich hol mir schnell, was ich brauche, gell, Kurzer? ...Auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen, Elyzabeth! Schönen Abend noch!"

Grinsend verließ sie das Zimmer. Man hörte in der Küche noch ein kurzes Rumoren und das leise Zuschlagen einer Türe. Dann war Kioku verschwunden.

"Puh!" Mamoru atmete erst mal tief durch. "Tut mir wirklich Leid! Sie ist so wahnsinnig aufdringlich und neugierig. Muss ständig ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen!"

Er hob hilflos die Schultern und lächelte verlegen.

"Aber das macht doch nichts!", kicherte Elyzabeth und machte es sich derweil wieder auf der Couch bequem. "Ich fand Deine Tante gerade total nett! Wirklich! Sie macht einen sympathischen Eindruck auf mich!"

Mamoru rollte leicht mit den Augen. "Tja, Du kennst sie eben nicht richtig. Sie kann ein richtiger Teufel sein!"

Aber dann schmunzelte auch er wieder vergnügt. "Nein, eigentlich ist sie ganz okay. Meistens zumindest."

"Das vorhin, ganz am Anfang, das war Japanisch, richtig?"

"Ganz genau", bestätigte er.

"Die Sprache klingt lustig!", erklärte das Mädchen.

"Ja, findest Du?", grinste Mamoru. "Das kann schon sein. Für mich klingt es ... nun ja ... normal eben. Aber ist ja auch ganz logisch."

Elly nickte. "Ja, klar. Verständlich. Apropos verständlich: Ich finde außerdem, dass sie wirklich gut Englisch sprechen kann! ...Du übrigens auch; wesentlich besser sogar! Das heißt natürlich, sofern ich das über die kurze Zeit beurteilen kann, in der ich Deine Tante bis jetzt kenne!..."

Er lachte etwas verlegen. "Vielen Dank für das Kompliment! Ich gebe mir Mühe. Nun ja, glaub bloß nicht, dass es in Japan oft vorkommt, dass jemand gut Englisch spricht! Und Tante Kioku... Sie hat schon mal zusammen mit Onkel Seigi hier in den USA gewohnt, allerdings in Boston."

"Ach, ja? Wie interessant!"

"Nun ja..." Mamoru kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. "Wenn ich so drüber nachdenke, dann war Tante Kiokus Vorschlag gar nicht mal so schlecht... Hast Du denn Lust, mal zum Abendessen zu kommen? Du könntest meinen Onkel Seigi kennen lernen. Und dabei könnten er und Tante Kioku auch davon erzählen, was sie in Boston so alles getan haben. ...Natürlich nur, wenn Du möchtest!"

Elyzabeth nickte begeistert. "Unheimlich gerne! Ich würde mich riesig drüber freuen!"

Ihre Augen strahlten regelrecht. Wieder trat dieser sanfte, bläuliche Schimmer auf, diesmal aber etwas länger und intensiver, wie es Mamoru schien. Genau dieser Schimmer faszinierte ihn irgendwie. Wie konnten Augen, die sonst immer komplett dunkelgrün waren, gelegentlich bläulich aufleuchten? Fast so, als hätte ein Künstler ein Bild angefertigt von einer Frau mit blauen Augen, und dann habe er sich umentschieden, nun doch grün statt blau zu benutzen, aber die Farbe habe die darunter liegende Schicht nicht ganz überdeckt.

War das hier eine optische Täuschung? Eine Spiegelung?

Was es auch war, es zog den Jungen vollständig in seinen Bann. So sehr, dass es vorhin fast dazu geführt hatte, dass Mamoru...

Und da erst wurde ihm alles in vollem Ausmaße bewusst: Vorhin hätte er Elyzabeth fast geküsst!

Mit einem Male schlug sein Herz in fast schon schmerzhafter Geschwindigkeit gegen seine Rippen. Ein Eimer eiskalten Wassers, über seinem Kopf entleert, hätte nicht überraschender sein können, als die Erkenntnis, die ihn jetzt überkam.

Er hatte sich in sie verliebt.

Jetzt, wo ihm dies klar wurde, fielen ihm so viele winzige Dinge auf.

Er konnte sich endlich erklären, weswegen er mit derartiger Faszination die Farbe ihrer Augen bewunderte. Weswegen so viel seines Interesses ihrem Wohlbefinden galt. Weswegen er so begierig darauf war, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Weswegen er sich so stolz gefühlt hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass ihr der Anhänger gefiel, den er ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Weswegen er mit so viel Begeisterung ihre Reitkünste beobachtete. Weswegen seine Neugierde so stark war, zu erfahren, was sie dachte und fühlte und was ihre Meinung war...

Alles völlig offensichtliche Dinge. Eigentlich hätte ihm schon viel, viel früher klar werden müssen, was er für sie empfand. Warum also hatte es so unendlich lange gedauert, bis bei ihm der Groschen gefallen war?

Doch im Grunde konnte er sich diese Frage schon selbst beantworten:

Nur allzu gut erinnerte er sich noch daran, wie es war, als er das letzte Mal sein Herz einem Mädchen geschenkt hatte...

Zweieinhalb Monate war es nun her, dass er erkannt hatte, welch falsches Spiel Hikari mit ihm gespielt hatte. Sie hatte ihn ausgenutzt, ihn lächerlich gemacht. Sie hatte ihm das Herz nicht nur herausgerissen, sie hatte es regelrecht durch den Fleischwolf gedreht. Die Wut, der Abscheu und vor allem der Schmerz saßen noch tief in Mamorus Knochen, und er würde wohl auch nicht so schnell vergessen können, wie schamlos dieses Teufelsweib doch mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Und da man aus Schaden klug wird, hatte er sich wahrscheinlich geradezu dagegen gesträubt, je wieder das Risiko einzugehen, erneut so tief verletzt zu werden.

Doch dann war etwas geschehen, mit dem er nicht gerechnet hatte. Eine junge Frau war in sein Leben getreten, die so einzigartig war in ihrer Rätselhaftigkeit und in ihrem Charakter, dass sie sein Herz wohl sogar schon in den ersten paar Augenblicken erobert hatte, ohne es überhaupt zu wissen. Und das hatte schlussendlich einen Konflikt in ihm ausgelöst.

Sein Herz hatte wohl förmlich nach ihm geschrieen, seine Aufmerksamkeit gesucht; doch sein Geist war hinter sieben düsteren Sigeln versperrt gewesen. Und die sieben Schlüssel, die nötig waren, um das Tor zu seinem Inneren zu öffnen und sein dunkles Versteck mit Licht zu fluten, hatten in Elyzabeths Augen gelegen.

Ja! Er war einmal, vor langer Zeit, sehr von einem Mädchen, das er liebte, verletzt worden.

NA, UND??

Hikari hatte ihm vielleicht das Herz gebrochen, aber immerhin schlug es noch! Wieso sollte es sich nicht noch einmal verlieben können?

Elyzabeth war nicht Hikari!

Als diese Gedanken durch Mamorus Gehirn schossen, war es, als habe jemand in einem riesigen, finsteren Saal voller böser Schatten ganz plötzlich alle Vorhänge vor den Fenstern aufgerissen. Gerade so, als sei diese Erkenntnis ein unhörbares Kommando gewesen, reagierte sein Körper endlich im angemessenen Ausmaße, wie man es von einer ordentlichen Verliebtheit kannte!

Ein berauschendes Wohlgefühl übermannte ihn, Adrenalin schoss durch seine Blutbahnen, sein Atem beschleunigte sich leicht, eine blassrosa Farbe stieg in seine Wangen, sein Herz pochte in doppelter Geschwindigkeit gegen seine Rippen, seine Fingerspitzen zitterten leicht vor Aufregung. Am liebsten hätte er seine Hand erhoben und ihr sanft über das Gesicht gestreichelt, oder sie fest in den Arm genommen und nie wieder losgelassen, oder er hätte ausprobiert, ob sich ihre Lippen auf den seinen genauso zart anfühlten wie auch auf seiner Wange schon...

Doch dann überkam ihn ein ernüchternder Gedanke:

Wie sollte er herausfinden, ob sie dasselbe empfand?

Zwar hatte sie gewissermaßen <angefangen>, wenn man diesen kurzen, ja fast schon nur gehauchten Kuss überhaupt als <Anfang> bezeichnen konnte! Oder war dies nicht eher noch <nur> eine Geste des Trostes gewesen? Um ihn von dem Gedanken abzulenken, dass seine Eltern auf eine Art gestorben waren, die Elyzabeth zu diesem Zeitpunkt gar nicht kannte, ja nicht mal erahnen konnte?

Wieder fiel ihm auf, dass er dieses liebreizende Mädchen erneut nur angaffte. Seine Gedanken verwirrten ihn zu sehr, sie erschreckten ihn regelrecht, weil sie in einem Zeitraum von wirklich nur wenigen Sekunden schier endlose Informationen in seinem Gehirn freigesetzt hatten, die er nur nach und nach verarbeiten konnte. Er schaffte es dann doch endlich, den Blick von ihr abzuwenden. Was mochte sie sonst von ihm denken? Fast schon richtiggehend verlegen richtete er seinen Blick einfach auf das silbergrau schimmernde Fell des stattlichen Wolfes zu seinen und Elyzabeths Füßen. Fast so, als könne ihm das Tier einen Tipp geben, wie er sich nun zu verhalten hatte. Doch – wie konnte es anders sein? – Terra starrte nur zurück, hechelte und sabberte. Also keine wirklich große Hilfe.

"Ach, ja!", entfuhr es da Elyzabeth. Sie klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Da platze ich einfach so unangemeldet rein, zettele ein Gespräch an, und dann vergesse auch noch vollkommen, weshalb ich überhaupt hier her gekommen bin! Ich habe hier noch etwas, was Dir gehört!"

Damit griff sie sich in den Nacken, löste den Knoten des dunkelblauen Halstuches, das sie trug, und überreichte es Mamoru.

"Das hier hast Du vor ein paar Tagen bei uns auf der Mustang-Ranch vergessen!"

Mamoru nahm das Tuch entgegen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er es noch gar nicht vermisst hatte. Er wollte sich angewöhnen, auch immer eines zu tragen, weil das ziemlich viele Leute taten, die er schon in weitem Umkreis rund um Orendaham kennen gelernt hatte. Er hatte zwar noch nicht herausgefunden, wofür das gut war, aber es sah ganz gut aus. Vermutlich, so dachte er es sich zumindest, nutzten die Leute so was, um sich vor einem überraschend aufkommenden Sandsturm oder zumindest einem kräftigeren, sanddurchsetzten Wind zu schützen, der sich bestimmt alles andere als angenehm in den Atemwegen machte.

"Vielen Dank, dass Du es extra hier her gebracht hat!", lächelte Mamoru glücklich. "Das wäre doch nicht nötig gewesen. Wir hätten uns doch sowieso morgen in der Schule gesehen!"

Sie schüttelte daraufhin den Kopf. "Ich hätte es nur schon wieder vergessen. Und heute hatte ich mir eben vorgenommen, es Dir endlich, endlich mal zu bringen. Ich hab es mir auch extra um meinen Hals gebunden, dass ich es nicht zu Hause vergesse. Wie wir sehen, hat die Methode schlussendlich geklappt!"

Sie kicherte vergnügt.

Es gefiel ihm. Ihr Kichern hatte einen angenehmen, sanften Klang; weder war es zu laut noch wirkte es kindisch. Er lächelte glücklich. Ewig und drei Tage lang hätte er ihr dabei zuhören können.

Einen Augenblick lang schenkte Elyzabeth ihm ein strahlendes, glückliches Lächeln. Es wirkte sanft und freundlich, und auf eine unnachahmliche Weise zauberhaft. Ihre Augen funkelten wie Sterne, und nun zog sich besonders häufig dieser außergewöhnliche, bläuliche Schimmer durch das dunkle Grün ihrer Augen. Mamoru fehlten die Worte, um zu beschreiben, wie sehr ihm dieses Farbenspiel gefiel.

"So!", gab sie kurz und entschlossen von sich. Ganz sanft stupste sie Terra mit der Stiefelspitze an. "Auf geht's, Du Prärie-Dackel da unten. Wir müssen wieder zurück, also beweg Deinen Pelz!"

Terra schenkte ihr einen schiefen Blick, als würde er ihr den <Prärie-Dackel> richtig böse nehmen. Doch er schien die Aufbruchsstimmung in ihrer Tonlage richtig gedeutet zu haben, denn er war nur eine Sekunde später auf den Pfoten. Der Boden unter ihm war von Speichel durchtränkt. Aber das juckte Mamoru im Augenblick wirklich nur am äußersten Rande.

"Musst Du wirklich jetzt schon gehen?", fragte er nach, und ein sanfter Unterton von Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.

"Wenn ich es nicht tue, bekomme ich Ärger", erklärte das Mädchen mit einem Verzeihung heischenden Lächeln. "Ich bin nämlich heute dran, die Hühner zu füttern, und das ist mir dummerweise erst gerade jetzt eingefallen. Sorry."

Mamoru winkte ab. "Ach, ist schon in Ordnung. Versteh ich doch."

Sie beide standen von der Couch auf. Elyzabeth griff noch nach ihrem Cowboyhut, den sie auf dem Couchtisch abgelegt hatte, dann machten sich die beiden zusammen mit dem Wolf auf den Weg, raus aus dem Wohnzimmer, den kurzen Flur entlang, in die Küche und dort zur Haustüre. Draußen auf der Veranda warf Mamoru einen kurzen Blick in Richtung Stall (der ja inzwischen mehr Garage als Stall war, da es ja immerhin an Pferden mangelte) und sah dort Elyzabeths Gabriel stehen. Der braune Peruanische Paso war im Schatten angebunden, an einem der alten Eisenringe, die noch immer an der äußeren Häuserwand befestigt waren. Der Umbau des Stalles zu einer Garage beschränkte sich nur auf die Innenausstattung. Als Mamoru, Elly und Terra auf die Veranda traten, stellte der dunkle Wallach kurz interessiert seine Ohren in ihre Richtung. Er konnte sich wohl schon denken, dass Aufbruch angesagt war.

"Nochmals vielen Dank für die Mühe, Elyzabeth..." Mamoru lächelte.

Sie lächelte zurück. "Ach, war doch nicht der Rede wert."

"Wann sehen wir uns wieder?"

Mamoru musste sich schon schwer zurückhalten, nicht ein <endlich> mit in den Satz zu packen. Obwohl der Unterschied auch nicht mehr allzu groß gewesen wäre. Denn Sehnsucht schwang in seiner Tonlage mit.

"Ähm ... nun ja", machte Elly, "...Du weißt schon ... morgen ... in der Schule." Irgendwie klang sie belustigt. Als hätte er eine ziemlich dämliche Frage gestellt. Also schön, in gewisser Weise hatte er das auch tatsächlich. Aber dennoch wirkte das Mädchen nur amüsiert, und nicht so, als wolle es sich über ihn lustig machen. Nichts Tadelndes oder Herablassendes lag in Ellys Stimme.

Wieder einmal ein Pluspunkt für sie; ein weiterer Unterschied, der sie von Hikari trennte wie den Käse von der Kreide.

"Ja ... klar ... natürlich", stammelte Mamoru verlegen. "Daran hab ich schon gar nicht mehr gedacht..."

"Kann passieren", lachte Elyzabeth. Sie bewegte sich auf ihr Pferd zu. "Wir sehen uns dann also morgen!"

Sie band den Wallach los, hob sich mit Schwung in den Sattel und winkte Mamoru zu.

"Mach's gut!", rief sie dabei.

"Mach's besser!", kam es von Mamoru zurück, der auch zum Abschied winkte.

Dann lenkte Elyzabeth ihren Braunen herum, drückte ihm die Fersen in die Flanke, ließ ihn über den niedrigen Grundstückszaun springen, wobei Terra sich nur unter dem untersten Querbalken durchzwängte, und bald waren das Mädchen und die beiden Tiere nur noch dunkle Schatten in einer großen Staubwolke.

Mamoru sah ihnen noch lange nach. Dann kehrte er um, betrat seine Wohnung, schloss die Haustür hinter sich und setzte sich an den Küchentisch. Das Halstuch, das Elyzabeth ihm gerade erst überreicht hatte, hielt er immer noch in seiner Hand. Er stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch auf, betrachtete das Tuch in seinen Fingern und lächelte selig dabei. Genießerisch schloss er die Augen, als er das dunkelblaue Stück Stoff seinem Gesicht näherte, seine Nase darin versenkte und tief den Geruch aufnahm. Da war tatsächlich ein Duft, der nicht von ihm selbst stammte. Er hatte sich zuvor nie auch nur einen einzigen Gedanken darüber gemacht, wie Elly roch. Nun wusste er es also. Und es war ein sehr angenehmes Aroma.

Christian Morgenstern, ein deutscher Schriftsteller, der vor mehr als einem dreiviertel Jahrhundert verstorben war, hatte einmal gesagt: "Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken."

Genau das schoss Mamoru gerade durch den Kopf. Und er musste zustimmend grinsen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er wohl ernsthaft daran geglaubt, dass dieser Spruch nur für diesen einen einzigen Augenblick – jetzt und hier – verfasst worden war.

Mamoru seufzte tief. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt noch immer sein Gesicht an das Halstuch geschmiegt.

Sehnsucht...

Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken...

Er konnte sich gut vorstellen, dass er in der kommenden Nacht vor Gedanken und Sehnsucht kein Auge würde zutun können.

Er seufzte leise.

Bevor Mamoru an die Nacht denken konnte, musste er erst mal an seine unterbrochenen Hausaufgaben denken.

Er stand auf, abermals seufzend, schlenderte ins Wohnzimmer und setzte sich an seine Aufgaben; das Tuch neben das Heft auf den Tisch legend.

Zögerlich griff er nach seinem Füller und öffnete ihn; wohlwissend, dass er im Augenblick ja doch vergeblich auf seine Konzentration hoffen und warten würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-08-25T19:55:28+00:00 25.08.2007 21:55
Hallo finde deine FF sehr interessant, ich hoffe dass du endlich weiter schreibst. Habe es in 2 Tagen und 2 Nächten verschlungen und immer erwartet, dass endlich Sailor Moon erscheint.
Du hast ziemlich viel geschrieben und ich hoffe das du dich zusammen raspelst und weiter so treu schreibst.



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