Die lange kurze Nacht
"Alle Mann die alten Schinken beiseite." Kokomiko trat in den Raum. Geduckt hielt sie inne, da so etliche Blätter durch die Luft gesegelt kamen.
"Das wurde ja auch Zeit." murmelte jemand von der Couch.
"Sorry." Kokomiko ließ sich auch auf dieser nieder. "Ich wollte eigentlich schon längst wieder hier sein, hab es aber irgendwie nicht geschafft."
"Was macht dein neuer PC?"
"Er läuft. Endlich. Ich muss mich nur noch an die neues Funktionen gewöhnen. Aber das wird schon. So genug gequatscht. Legen wir los."
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Es war ein klarer Spätsommermorgen. Klar und kalt. Die Uhr zeigte 7.00 Uhr. Menschen waren nur wenige in den Straßen Tokyos zu sehen. Zu wenige für eine Großstadt. Aber das alles hatte seinen Grund. Und so wie in den Straßen auffällige Leere herrschte, so war auch in der Detektei eine außergewöhnliche Ruhe. Das allerdings war nicht auf die frühe Morgenstunde zurückzuführen. Schon seit Tagen hatte sich nicht ein einziger Mensch hierher verirrt. Und selbst wenn, hätte es sowieso keinen Zweck gehabt. Hier würde man in nächster Zeit niemanden antreffen.
Und wieso war es so wie war? Eine kurze Frage und eine schnelle Antwort: Die Menschen von Tokyo sind von einer Grippewelle überrollt worden. Und einen Grossteil der Bevölkerung hatte es erwischt. Sie lagen zu Hause in ihren Betten und täglich erkrankten mehr. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die Krankheit die letzten heimsuchte.
"Hatschi!" Kogoro ließ sich schniefend zurück auf seine Kissen fallen.
"Gesundheit Paps." Ran trat hinzu. "Tee steht auf dem Nachttisch. Ich gehe dann zur Schule." sagte sie, erhielt aber keine Antwort.
Ran mummelte sich in eine Jacke und zog sich einen Mundschutz über. Dann verließ sie die Wohnung. An der Ecke traf sie Shin-ichi.
"Guten Morgen." sagte sie.
"Guten Morgen." antwortete Shin-ichi und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Schule. "Wie geht es deinem Vater?"
"Er leidet. Wenn du mich fragst zu viel. Manchmal ist er ein richtiger Jammerlappen."
Ich weiß, dachte Shin-ichi bei sich. Oft hatte er die Mitleidstour von Rans Vater mitbekommen. Damals, als er noch als Conan bei ihr wohnte. Aber nun war das auch vorbei. Nun war er wieder er selbst und sein Leben bei Ran und ihrem Vater war beendet. Schade eigentlich, denn in Ran's Nähe hatte er sich so richtig wohl gefühlt. Stattdessen war er wieder bei sich zu Hause eingezogen und Schmalhans war sein Küchenmeister.
In der Schule ließ sich Shin-ichi erschöpft auf seinem Platz fallen. Irgendwie fühlte er sich ausgelaugt.
"Wirst du jetzt auch noch krank?" Ran befühlte seine Stirn.
"Nein, ich doch nicht." Shin-ichi zog den Kopf weg. Er sah sich in der Klasse um. Außer Ran und ihm selbst waren nur noch 6 andere Mitschüler anwesend. Ja, die Klasse war zusammengeschrumpft. Von Tag zu Tag wurden es weniger.
Shin-ichi döste vor sich hin. Die Schule schien sich heute unendlich in die Länge zu ziehen. Viel wurde an diesem Tag nicht unterrichtet. Die Lehrer nahmen Rücksicht auf die fehlenden, damit diese nicht so weit zurückfielen und auf die noch anwesenden, um sie nicht zu überstrapazieren. Am Nachmittag ertönte dann endlich das Klingelzeichen, welches die Beendigung der Schule anzeigte. Die Schüler erhoben sich.
Vor dem Schulgebäude bildeten sich kleine Grüppchen der verbliebenen Schüler, welche sich jedoch schnell wieder auflösten.
"Du siehst wirklich nicht gut aus." gab Ran von sich. Sie lief hinter Shin-ichi her, der, so fand sie, irgendwie neben sich stand.
"Du übertreibst." Mehr sagte er nicht, sondern strebte seinem Haus unbeirrbar zu. Er fühlte sich wirklich nicht gut. Und Ran hatte es auch noch mitbekommen. Mürrische trottete er den ihm wohlbekannten Weg entlang. Nur noch einige Straßenecken und er konnte es sich zu Hause gemütlich machen. So ein Ärger aber auch, dachte er bei sich, nun hat mich die Grippe zu guter Letzt wohl doch noch erwischt. Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche.
"Soll ich dir was kochen?"
Shin-ichi stutzte und sah sich um. Ran stand hinter ihm und sah ihn besorgt an.
Sie hatte ihn begleitet? Das hatte er gar nicht mitbekommen. Er dachte, sie hätte sich an der üblichen Stelle verabschiedet. War wohl doch nicht der Fall. Ihm war ein entscheidender Schritt total entgangen.
"Du machst dir unnötig Sorgen. Geh nach Hause und sieh nach deinem Vater. Wir beide sehen uns dann morgen in der Schule. Bis dann Ran." Er lächelte mühsam und betrat sein Haus. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen. Leise stöhnte er auf. Es tat gut, wenn sich Ran um ihn kümmerte. Nur Schade, das er das nicht in vollen Zügen genießen konnte. Er war zwar wieder er selbst, aber weiter war er mit ihr immer noch nicht gekommen. Das klärende Gespräch fehlte noch. Seltsamer Weise drängte sie auch nicht darauf. Keine Frage nach seinem Verschwinden und auch ihre brennende Frage nach seinen Gefühlen hatte sich verflüchtigt.
Shin-ichi griff sich mit beiden Händen an die Schläfen und drückte zu. Diese Kopfschmerzen. Das beste ist, so beschloss er, sofort ins Bett zu gehen um sich ausgiebig auszuschlafen. Also schleppte er sich nach oben und fiel, nachdem er sich aus seiner Uniform gequält hatte, erschöpft in sein Bett.
Ran stand noch immer vor der Tür. Sie sah doch, das es Shin-ichi nicht gut ging. Warum stritt er es dann ab. Spielte er den starken Mann? Sie schüttelte den Kopf und zog den Schlüssel aus dem Schloss. "Von wegen. Du bist ja total durcheinander. Sogar den Schlüssel lässt du stecken." Sie betrachtete das gute Stück in ihrer Hand. "Schauen wir mal, ob du morgen in der Schule auftauchst. Wenn nicht, wird mir das hier, gute Dienste leisten."
Mit einer gewissen Vorahnung verstaute sie den Schlüssel in ihrer Tasche und machte sich auf den Weg nach Hause.
Ein kühler Hauch strich über Shin-ichis Stirn. Leicht entspannte er sich, so gut es sein Zustand zuließ. Nicht nur sein Kopf, nein der gesamte Körper wurde von einem entsetzlichen Schmerz gebeutelt. Er war froh überhaupt noch in sein Bett gekommen zu sein. Aber schlafen konnte er nicht. Zudem plagte ihn jetzt auch noch entsetzlicher Durst. Seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet.
"Ich wusste, das du auch noch krank geworden bist."
Shin-ichi öffnete schwerfällig seine Augen. War das nicht Rans Stimme?
"Ich habe doch gesagt, du sollst nach Hause gehen." krächzte er. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte er die wenige Spucke, die sich in seinem Mund befand, runter. Zu allem Überfluss tat jetzt auch noch das Sprechen weh. Doch schon wanderten seine Gedanken zurück zu Ran. Was wollte sie hier? Er konnte sich noch daran erinnern, ihr eben gesagt zu haben, das sie sich um ihren Vater kümmern sollte.
"War ich doch."
Wieder wehte der kühle Wind über seine Stirn. Erst jetzt realisierte Shin-ichi, das Ran ihm einem nassen Lappen auf die Stirn gelegt hatte. Er überlegte. 'War ich doch?' Was hatte das zu bedeuten? Sie hatten sich doch erst vor knapp 10 Minuten verabschiedet.
"Und nicht nur das." fuhr Ran fort. "Ich war auch in der Zwischenzeit in der Schule. Heute waren wir noch zu viert. Die anderen Klassen sind auch nicht besser dran. Und einige Lehrer hat es auch noch erwischt."
"Welcher Tag ist heute?"
"Mittwoch."
"Wie spät ist es?" Er kniff die Augen zusammen. Die Worte, sie kratzen in seinem Hals. Selbst das bisschen Spucke, konnte nicht helfen.
"17.00 Uhr. Wieso?"
"Wie bist du rein gekommen?"
"Ist das ein Verhör? Aber gut, wie du willst. Mit deinem Schlüssel, den hattest du gestern schusseliger Weise draußen hängen lassen." Ran erneuerte den Lappen.
Der Durst wurde unerträglich. Er griff nach dem Lappen und führte in zum Mund, fing an das Wasser daraus zu saugen, nur um seine Lippen und seine Kehle zu befeuchten.
"Durst?" fragte Ran und nahm ihm den Lappen weg.
Shin-ichi nickte. Und schon hatte Ran eine Tasse mit Tee hergezaubert. Sie half ihm auf und hielt ihm das Geschirr an den Mund. Langsam schlürfte Shin-ichi den Tee. Dann ließ er sich zurückfallen. Trotz der Kopfschmerzen versuchte er noch einen klaren Gedanken zu fassen. Ran sagte, es sei ein Tag vergangen. Dann war er definitiv krank und er hatte, nachdem er sich ins Bett geschleppt hatte, doch tatsächlich geschlafen. Auch wenn es sich nicht danach anfühlte. Er war einfach nur gerädert, fühlte sich wie durch eine Mangel gedreht, wie ein Kaugummi, durchgekaut und ausgespuckt.
"Schlaf." Ran deckte Shin-ichi gut zu. "Ich lüfte mal kurz. Also bleib so liegen."
Shin-ichi schloss die Augen. Ran hatte gut reden. Er war froh sich nicht bewegen zu müssen. Da würde er mit Sicherheit nicht weglaufen.