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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Uppruni~*

"Aber die Wahrheit ist der Ursprung allen Seins. Der Einzelne kann sich dem annähern, aber Worte entziehen sich diesem Ursprung." – Irina Rauthmann
 

Kapitel 41 – Uppruni

-Ursprung-
 

*Welches Geheimnis tragen wir tief verborgen im Innersten unserer Seele?

Ist es abhängig von dem, was wir sind? Von unserer Vergangenheit, und dem, was wir erlebten?

Oder handelt es sich dabei möglicherweise um eine Impression, die selbst uns schattenhaft erscheint, und die wir in ihrer Komplexität nicht zu erfassen vermögen?

Und wer ergründet dann unser geheimes Wesen, das in der Finsternis haust, wenn wir selbst nicht dazu imstande sind?

Bildet unser Ich erst ein Ganzes, wenn wir uns bedingungslos offenbaren?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

„Midoriko.“

War das eine Feststellung…?

Warum Flúgar mich so distanziert, so kalt adressierte, verstand ich nicht, doch Zeit, um darüber nachzudenken, gewährte er mir keine.

„Komm.“

Den Kopf in meine Richtung gewandt, streckte er den linken Arm leicht aus, bot seine Hand in untypisch charmanter Manier an, um mir beim Erklimmen der Mauer behilflich zu sein. Worte und Verhalten passten bei ihm definitiv nicht zusammen – und das verwirrte mich zusehends.

Nichtsdestotrotz nahm ich an, trat an die Mauer und fasste mit Bedacht – und Kanekos Unterstützung - die Hand des Luftdrachen. Aufgrund der widrigen Lichtverhältnisse konnte ich sein Gesicht nicht erkennen und nur einen Eindruck seiner Augen erhaschen, die das Mondlicht wie die eines Tieres reflektierten.

Die Impression verflog, als er mich ohne ersichtliche Mühe auf seine Höhe zog und ein Stück nach hinten rückte, dabei eine Anhäufung von zerknülltem Pergamentpapier und einen Kohlestift hastig zur Seite räumte.

Neugierig gestimmt warf ich ihm einen fragenden Blick zu, den der Luftdrache jedoch tunlichst vermied.

Schämte er sich etwa dafür, sich im Schreiben zu üben?

Und dann war es ihm unverständlich, dass mich die Scham ergriff, wenn ich nackt badete?

Bizarre Logik.

Es war wohl besser, dieses Thema nicht offen anzusprechen; ich wollte ihm nicht zu nahe treten, diesbezüglich war er eindeutig empfindlich, obgleich er das niemals offen zugeben würde. Stur, ja, aber auf durchschaubare Weise, die etwas an sich hatte, was ich nicht exakt einzuordnen wusste…

Unbewusst stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen.

„Hier.“

Skeptisch hob mein Gegenüber eine Augenbraue, betrachtete erst das in weiße Leinen eingeschlagene Päckchen, das ich vor ihm platzierte, dann mich mit kritischer Miene.

„Nun nimm schon, es ist für dich.“

Flúgar wiegte unentschlossen den Kopf nach rechts, ehe er meine Aufforderung letztendlich akzeptierte und den unscheinbaren Stoff zurückschlug; seine Züge hellten sichtbar auf, als er den Inhalt des Bündels in der Finsternis identifiziert.

Schmunzelnd, jedoch schweigend wohnte ich seiner Ungehemmtheit bei, erfreute mich an dem ungezwungenen Anblick, den er, offenbar einer Welle der Euphorie nachgebend, darbot. Seine unmittelbare Umgebung schien er vollkommen vergessen zu haben, denn sein Betragen zeugte weder von Anstand oder Erziehung noch von irgendeiner Form von Selbstbeherrschung. Wie ein kleines Kind stopfte er sich die Süßigkeiten, die die befremdliche Bezeichnung ‚Honigkekse’ trugen, in den Mund, jedweden überflüssige Umstand vernachlässigend – die Krümel auf seinem Haori störten ihn ebenso wenig wie mein Beisein.

Ein Dämon mit einer Schwäche für Süßes, wer hätte das gedacht?

Welch absurde Vorstellung…

Wirklich aufgefallen war es mir gestern, als ich das Mittagsmahl verschlafen hatte und, für das zuständige Zimmermädchen aus unerfindlichem Grund, alle Ohagi verschwunden, der Tee und die Onigiri dagegen unberührt geblieben waren.

Heimliche Naschkatze…

In diesem Moment wirkte er beinahe… menschlich… und je länger ich ihn beobachtete, desto stärker wurde dieses Gefühl – obwohl mir bewusst war, dass es die Realität verfälschte. Dennoch wollte ich mir dieses Bild bewahren, nur ein wenig, um es nicht ungesehen vorbeiziehen zu lassen. Es schaffte einen fasslicheren, erträglichen Rahmen für die Ereignisse der letzten Wochen; es milderte die absonderliche Situation in der ich mich befand, beruhigte mein Herz, meine Seele.

Unwillkürlich erfüllte mich eine tief greifende Wärme, mir war wohlig zumute, die nahezu unbeschreibliche Empfindungswallung erfasste meinen gesamten Leib, und es fühlte sich richtig an.

Emotionen logen nicht…

Eben deshalb gab ich dem mir unerklärlichen Impuls nach, den Haori des Loftsdreki von den Keksbröseln zu befreien.

Ich beugte mich zu ihm und strich über den seidigen Stoff, als sich plötzlich etwas um mein Handgelenk schloss, und mich mit sanfter Gewalt nach vorne zog.

Was…? Was sollte das?

Perplex fand ich mich in Flúgars Armen wieder, unfähig, mich zu regen oder zu artikulieren, ich brachte keinen vernünftigen Ton heraus.

Mein Herz raste, das Blut stieg mir in die Wangen.

Ob es ihn innerlich amüsierte, wenn es ihm gelang, mich in Verlegenheit zu bringen…?

Ja, das konnte ich mir lebhaft vorstellen.

Zwischen säuerlicher Verärgerung und konsternierter Paralyse schwankend, strebte ich den Kontakt zu seinen weißen Augen an.

Ein Fehler, denn ich geriet ins Zaudern und meine Stimme versagte; ich verlor mich in den farblosen Iriden, durch die er mich mit einem schwer definierbaren Blick taxierten.

Schachmatt.

In mir erstarb jegliches Verlangen nach Protest, mein Körper entspannte sich und ich lehnte versöhnlich die Stirn an seine Schulter.

Warum hätte ich mich wehren sollen…?

Dazu gab es keinen Anlass, es war in Ordnung.

Ja, ich gestand mir durchaus ein, dass ich Flúgar mochte

Seine Nähe berauschte mich regelrecht, vernebelte mir den Verstand. Analog verschwammen meine Gedanken, wichen einem wohligen, rhythmischen Schaudern, das mir heißkalt die Wirbelsäule hinab jagte, Gänsehaut bereitete, sodass sich die Härchen in meinem Nacken aufstellten. Von klarem Denken konnte ich nicht einmal mehr träumen, mein Geist driftete in mir unbekannte Gefilde ab…

Was ging hier vor sich? Was geschah mit mir?

Langsam, jedoch stetig, trieb ich der Bewusstlosigkeit – oder etwas, das sich dem sehr ähnlich anfühlte – entgegen, der Willkür eines fremden Einflusses hilflos ausgeliefert, der mich, einem dunklen Strudel gleich, tiefer und tiefer in eine samtene Finsternis sog; die mit lieblichen Engelszungen lockende Schwärze erlegte mir ihren Bann auf, und mir war, als würde sie meine Seele an sich binden, in ihre ewige Lichtlosigkeit betten…

Am Rande registrierte ich noch, dass der Atem des Loftsdreki in regelmäßigen, warmen Böen über meine Wange, meinen Hals strich, seine Hände währenddessen über meinen Rücken glitten, die Finger durch mein Haar fuhren.

Was tat er da? Worauf sollte das am Ende hinauslaufen…?

„Flúgar, was…“

Die letzten Farbschläge der Wirklichkeit verblassten, meine Muskeln entspannten sich unwillkürlich und eine erschreckende Ruhe ergriff Besitz von mir.

Wie aus weiter Ferne, als Echo der schwindenden Realität, erreichten mich die leise geraunten Worte des Loftsdreki…

„Vertrau mir.“
 

„það er engin leið…“

Fassungslosigkeit zeichnete sich auf den feinen Gesichtszügen des Oberhauptes der Loftsdrekar ab, wich jedoch bald Erbostheit und Unverständnis.

Hatte sein Sohn das letzte Bisschen Verstand verloren? War ihm denn nicht bewusst, was er da im Begriff war anzurichten?

Und das für eine Menschenfrau…

Súnnanvindur schnaubte verstimmt, ballte die Hände zu Fäusten; er würde dem hier und jetzt ein Ende bereiten.

„Súnnanvindur.“

Der Angesprochene zuckte angesichts der direkten Anrede zusammen, sträubte sich dennoch nicht gegen die Hand auf seiner Schulter, die seinem Vorhaben Einhalt gebot. Demütig senkte der Drache den Kopf, als die imposante Gestalt des weißhaarigen Hundedämons neben ihm ins trübe Licht eines roten Lampions trat.

„Soll ich etwa tatenlos zusehen, wie er geradewegs in sein Verderben rennt? Habe ich nicht die Pflicht, als sein Vater, ihn vor solchen Dummheiten zu schützen…?“

Aber… hätte er dann Begebenheiten wie diese nicht von vornherein zu verhindern wissen müssen?

Ja, es war offensichtlich; er gestand es sich ein, er hatte versagt, war auf ganzer Linie kläglich gescheitert. Was für einen miserablen Vater er doch abgab…

Nicht genug damit, dass er Flúgar keine ordentliche Erziehung hatte zukommen lassen, er schlug ihn, wenn er sich nicht mehr zu helfen wusste, und manchmal ertappte er sich gar bei dem Gedanken, wie angenehm es wäre, sich nicht mehr mit ihm herumplagen zu müssen…

Wie sehr musste es ihm an Charakter mangeln, wenn er so von seinem Sohn, seinem Erben, dachte?

Der Leib des Luftdrachen bebte vor unterdrückten Emotionen – vor Wut, Hass und Scham, vor niederdrückenden Schuldgefühlen; und die Verantwortung dafür trug allein er. Jegliche Vorwürfe, und der Zorn, der ihn zu überwältigen drohte, richteten sich lediglich gegen ihn selbst. Er verabscheute sich für seine Schwäche…

„Ich habe Verständnis für deine Sorge, doch er ist alt genug, irgendwann musst du loslassen. Glaubst du wirklich, dass er sich den Konsequenzen seines Handelns nicht bewusst ist? Bringst du deinem Sohn denn keinerlei Vertrauen entgegen?“

Nein, Súnnanvindur fürchtete um Flúgars Seele, denn wenn er die Richtung ins Nichts erst einmal eingeschlagen hatte, führte kein Weg mehr zurück. Deshalb fiel es ihm so schwer, einfach den Blick abzuwenden und weiter zu gehen.

Wenigstens dieses Mal wollte er mit reinem Gewissen das Richtige tun… nur, was bedeutete das? Eingreifen? Oder musste er dafür wegschauen?

Verriet jene Überlegung nicht eindeutig, wie selbstsüchtig er nach Eigenbestätigung trachtete…?

„Außerdem ist es bereits zu spät, die beiden bringst du nicht mehr auseinander. Lass sie.“

Der Loftsdreki besann sich, schloss die Augen.

Dann nickte er, einsichtig und widerwillig zugleich, kehrte dem in Eintracht versunkenen Pärchen den Rücken, dankbar für den Beistand und Rückhalt, den der Hundeyoukai ihm sicherte.

Kaum einen Augenblick darauf nahmen die beiden Dämonen Schritte wahr, das dumpfe, nahezu schwerfällig wirkende Geräusch ließ auf einen der menschlichen Diener schließen. Höflich und in gebührendem Abstand kniete dieser vor dem geschlossenen Shouji ab, verneigte sich tief.

„Der Tennô lässt fragen, ob die edlen Herren einem Schälchen Sake abgeneigt seien. Gesellschaft ist ihm äußerst herzlich willkommen.“

Während Súnnanvindur dem eher zweifelnd gegenüber stand, zögerte der Hund nicht lange und stimmte der diskreten Aufforderung vorfreudig zu, Bedenken kannte er, wenn es um Ausgelassenheit und das Verleben einer angenehmen Zeit ging, nicht. Schließlich besaß man bloß ein Chance, ein Leben, das es auszukosten, in vollen Zügen zu genießen galt.

Trotz dessen sollte der Sake in besagter Nacht bitter schmecken…
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

»Ein sanfter Windhauch, der ihre Wangen liebkost, sich spielerisch in den pechschwarzen Strähnen ihres Haares verfängt, weckt sie aus der bleiernen Benommenheit, die zuvor ihre Sinne umfangen hatte.

Vage steigt ihr das süßliche Aroma der Kirschblüten, durchsetzt von Minze und Zitronengras, in die Nase, während ihre Ohren das ferne Wispern und Raunen fremdartiger Stimmen vernehmen. Dennoch fällt die Ruhe und Entspannung, die ihren gesamten Leib erfüllt, nicht von ihr ab, sondern entfacht stattdessen eine ungekannte Neugierde in ihr, die sie nur so mit Energie zu überströmt.

Blinzelnd öffnet die junge Frau ihre Augen, findet sich in einem wahren Meer aus Rosa und Grün wieder. Offenbar befindet sie sich in einem Garten, denn die weitläufige Wiese ist lediglich von Kirschbäumen gesäumt, in nicht allzu weiter Ferne mündet ein Flüsschen in einen Teich. Ein kleiner Steg führt auf das Wasser, den Weg dorthin beschreibt ein schmaler Kiesweg.

Von der Faszination ergriffen, erhebt sie sich, atmet mehrere Male tief durch und dreht sich um die eigene Achse.

Das muss ein Traum sein…

Fasziniert blickt sie zum Himmel auf, wird sich der schattenhaften Silhouetten gewahr, die darüber hinweg ziehen wie vom Sturm getriebene Wolken. Und es beunruhigt sie nicht.

Im Gegenteil, es stimmt sie in ihrem Inneren glücklich, ihre Seele lächelt bei jenem Anblick und strahlt hell wie die Sonne.

Ist dieser Ort das Paradies?

Noch einmal schaut sie sich um, doch niemand ist in der Nähe. Die Schönheit der Natur scheint verlassen, ja beinahe trostlos. Weder Vögel noch Insekten tummeln sich hier, alles verweilt still und wirkt zeitlos, als sei es nie anders gewesen. Bloß der Wind fügt sich dem nicht, wechselt seine Richtung, seine Intensität, erinnert an die wirren, chaotischen Impulse des Lebens…

Bizarr möchte man es nennen, wie nah Perfektion und Monotonie beieinander liegen.

Mit gemächlichen Schritten überwindet sie eine Anhöhe, spürt das weiche nachgiebige Gras unter ihren blanken Fußsohlen. Umherwirbelnde Blütenblätter verirren sich in ihrem Haar, Rosa auf Schwarz.

Dann hält sie inne.

Hinter einem Hügel erkennt sie die Umrisse eines Gebäudes von westlicher Architektur. Auf einem Balkon, an der weißen Brüstung, steht eine Frau mit langem Haar, den Blick gedankenverloren ins Nichts gerichtet.

Ein leichtes Zupfen an ihrem Ärmel lenkt ihre Aufmerksamkeit um. Erschrocken weicht sie einen Schritt beiseite; aber wie…?

Bis vor einem Moment ist niemand in Sichtweite gewesen. Oder? Woher kommt das Kind, das ihr fordernd in die Augen sieht?

Irgendetwas an diesem Kind kommt ihr unheimlich bekannt vor.

Neutrale, kalte Züge, betont von den farblosen, weißen Iriden…

Ohne ersichtlichen Grund nimmt das blasse Kind sie an der Hand, und erst jetzt fällt ihr das rote Windrädchen auf, das es in der Linken trägt. Es dreht sich, obwohl das Element der Luft schweigt.

Alarmiert fährt sie herum, die Umgebung jedoch verschwimmt bereits, verkommt ins Unerkenntliche. Die Welt um sie herum versinkt in Schwärze, auf dem glatten Boden bilden sich kreisförmige Wellen.

Fragen, wie tausend bunte Schmetterlinge, schwirren durch ihren Kopf, und das beklemmende Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, überkommen sie. Der Ausdruck des Kindes ist teilnahmslos.

Sie will etwas sagen, aber kein Wort dringt aus ihrem Munde. Stumm betrachtet sie ihr Spiegelbild auf dem Glasgrund der Nichtwelt, in der sie sich befindet – nein, in der sie eine Gefangene ohne Stimme ist. Ihre Angst kann sie nicht leugnen, eine Alternative stellen jähes Entsetzen oder heillose Panik trotz dessen nicht dar.

Nebelschleier ziehen auf, und eine unbarmherzige Kälte bricht über sie herein, der Untergrund wird felsig und schroff. Dass sie sich die ganze Zeit über fortbewegt hatte, realisiert sie erst jetzt, und das mit einigem Erstaunen.

Die kalten Finger des Kindes umschließen noch immer die ihren – der mahnende Druck animiert sie unterbewusst zum Gehorsam, zum Weitergehen. Was soll sie auch sonst tun?

Ohne Führung ist sie verloren.

Senkrechte, aus rötlichem Stein gefertigte Mauern ragen plötzlich hoch vor ihnen auf, massiv und ihrem Aussehen nach Jahrhunderte alt, unüberwindbar. Kletterpflanzen und Flechten überwuchern die Eintönigkeit des Gemäuers, das sie bald umringt. Kein Ausweg, jeder Gang ähnelt dem vorigen, kreuzt sich allem Anschein nach immer wieder mit sich selbst.

Zwecklos, nach einer Möglichkeit der Orientierung zu suchen, und somit ist ihr eine Flucht aus diesem Labyrinth unmöglich. Alles, was ihr bleibt, ist Vertrauen…

Der Weg durch den Irrgarten ist zermürbend, ihr Verstand rebelliert. Wohin sind sie überhaupt unterwegs? Existiert so etwas, wie ein Ziel? Oder wird sie letztendlich die Ewigkeit verschlingen, da es hier keinen Ausgang geben kann?

Müdigkeit und Frustration zehren an ihren Nerven, tonlose Flüche lösen sich von ihren Lippen. Ihre Hoffnung beginnt zu schwinden, Argwohn drängt sich in ihr Urteilsvermögen.

Dieses Kind…

Misstrauisch mustert sie das eindeutig unmenschliche Wesen, über das sie nicht einmal zu urteilen mag, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Unglaublich, wie wenig Aussagekraft jenes Antlitz hinsichtlich dessen besitzt…

Kurzerhand entscheidet sie sich, versucht sich loszureißen, doch das Kind umklammert fest ihr Handgelenk. Warnend schüttelt es den Kopf, wahrt dabei die Unleserlichkeit seiner Miene.

Schwindel und Übelkeit übermannen sie, sämtliche Konturen verschwimmen vor ihren Augen und sie fühlt, dass sie das Falsche tut. Auch ihr Instinkt rät von ihrem Vorhaben, sich gewaltsam zu befreien, ab. So fügt sie sich, gibt ihren Widerstand auf.

Als unmittelbare Reaktion darauf lockert das Kind seinen Griff, setzt sich wieder in Bewegung.

Völlig unbeeindruckt schreitet es voran, offenbar einem nur ihm sichtbaren Pfad folgend – schier willkürlich biegt es ab, ändert die Richtung oder geht simpel geradeaus.

Unverhofft tritt sie hinter der nächsten Ecke in warmes Licht, doch ihre Freude verrinnt, als sie die blendende Helligkeit hinter sich lässt; der Weg endet hier und jetzt in einer Sackgasse.

Aber… das kann nicht wahr sein.

Sie sinkt in die Knie, kraftlos, erschöpft.

Von dem Tun ihrer Begleitung nimmt sie zunächst wenig Notiz, und erst, als das Kind von einem matten bläulichen Glimmen umhüllt wird, kehrt ihre Besinnung zurück. Ehe sie noch einen neuen Gedanken fassen kann, verschwinden die Umrisse der Mauern in der Dunkelheit.

Die Gestalt des Kindes wendet sich ihr zu, das Gesicht starr und unnahbar wie das einer Statur; bedacht legt es den Zeigefinger seiner freien Hand an die Lippen.

„Weck ihn nicht auf!“

Damit steht sie allein in der Finsternis.

Ein vereinzelter toter Baum sticht als Anhaltspunkt in der unendlichen schwarzen Einöde heraus, in einiger Entfernung erkennt sie eine geteilte, aus umrahmten Eisengittern bestehende Pforte, die zur rechten Seite hin einen Spalt breit geöffnet ist.

Wen soll sie nicht wecken?

Vorsichtigen Schrittes nähert sie sich dem riesigen Tor, schiebt sich durch die Lücke zwischen den beiden ehernen Flügeln.

Auch hier ist es düster, tiefe Schatten verbergen das Antlitz des Raumes, der den Anschein vermittelt, sich bis ins Unendliche zu dehnen.

Die Atmosphäre dieses Ortes macht sie nervös – etwas Bedrohliches lauert im dämmerigen Halbdunkel der Unbegrenztheit; eine Gefahr, die sich ihrer Einschätzung entzieht, eine mächtige Präsenz, die ihr heißkalte Schauer über den Rücken jagt.

Ihr Herz rast, und das Unbehagen in ihrer Brust wächst beständig. Was soll sie nur tun?

Umkehren kann sie nicht, der Weg vorwärts ist vorgeschrieben. Also nimmt sie ihren Mut zusammen, fasst neue Entschlossenheit; aufgeben kommt nicht in Frage, niemals.

Eilig durchquert sie den enormen Saal, den Widerhall ihrer eigenen Schritte im Rücken, die Ungewissheit direkt vor sich.

Doch mit einem Mal ist ihr, als trete sie durch den Vorhang jener artifiziellen allgegenwärtigen Nacht hindurch, und im nächsten Augenblick findet sie sich in einer unterirdisch gelegenen Baute wieder. Farbige Kristalle beleuchten das gigantische Gewölbe, tauchen es in angenehmes Dämmerlicht.

Ein Murmeln durchdringt die Stille, jemand ruft nach ihr, nennt sie gar bei ihrem Namen. Leise, aber eindringlich, und sie vermeint, die Stimme, alt und jung zugleich, wieder zu erkennen, obschon sie sie nie zuvor vernommen hatte.

Gestaltlose Schemen kreuzen mehrfach ihren Weg, als sie dem Ruf folgend in Richtung des Höhleninneren geht.

Rechts und links von ihr stützen weiße Marmorsäulen die hohe Decke, der Boden ist mit rosafarbenen, schwarz geäderten Platten des metamorphen Gesteins ausgelegt.

Geistesabwesend steigt sie eine lange Treppe empor, vermutet, sich in einem nach westlichem Stil errichteten Tempel zu befinden.

Wasser fließt in Rinnsalen die Wände, selbst die Stufen hinab; auf zierlichen Podesten sind gläserne Schalen platziert, in denen bläuliche Flammen lodern. Und als sie den Kopf hebt, strahlt ihr das helle Blau des Himmels entgegen.

Offenbar handelt es sich nicht um eine Höhle, wie sie anfangs gedacht hatte, sondern eher um einen kegelförmigen Berg oder einen Vulkan.

Am oberen Ende der Treppe erhebt sich ein von vier verschiedenfarbigen Pilastern – Weiß gegenüber Schwarz, Blau gegenüber Rot - getragener Baldachin, der sich kuppelartig, wie ein zweites Firmament über das flache, ungeflieste Plateau wölbt.

Luft, die sie als sachte Böe umschmeichelt, Erde, fest und Halt gebend, unter ihren bloßen Sohlen, Wasser sprudelt frisch und lebendig aus einer Quelle in der Mitte der abgegrenzten Ebene, Feuer umringt in Form eines unbezähmbare Hitze erzeugenden Magmasees, der den gesamten Krater ausfüllt, die verloren wirkende Insel, auf der der kappellenähnliche Tempelpart erbaut wurde.

Eher beiläufig wandert ihr Augenmerk zur Innenseite der Kuppel – wie gebannt bewundert sie das meisterhafte Fresko, welches seine ganz eigene Geschichte erzählt; zu Beginn, im Zentrum, sind vier Symbole abgebildet, von denen sich je zwei gegenüber stehen, Weiß und Schwarz für Luft und Erde, Blau und Rot für Wasser und Feuer.

Aus diesen großen Vieren manifestieren sich majestätische Geschöpfe, unsterblich wie die Materie, aus der sie bestehen, doch mit einer Seele gesegnet, die sie zu etwas Einzigartigem werden lässt.

Verliert das Wesen sein Leben an die Ewigkeit, so zersplittert seine Seele in abertausende winzige Fragmente, die, jedes einzelne für sich genommen, eine neue Kreatur formen, nämlich eine solche, die ebenfalls einzig in ihrer Art ist, aufrecht geht, und über eine sich stetig weiter entwickelnde Intelligenz verfügt…

Ihr stockt der Atem, die Erkenntnis überfällt sie buchstäblich.

Indessen werden im Hintergrund, weit entfernt, so scheint es, Stimmen laut, aus denen Aufregung und Wut, zuweilen gar Hass spricht. Der Anlass hätte nicht klarer für sie sein können: dieses Wissen ist keines, das für Menschen erdacht wurde.

Dann schallt unvermittelt ein infernalischer Schrei durch den Tempel, was das uralte Gemäuer in seinen Grundfesten erschüttert. Das Bild vor ihren Augen wird blitzartig unscharf, milchig und verblasst schließlich gänzlich.

Erneut ist es finster um sie herum, und dennoch kann sie ohne Schwierigkeiten die monströse Schattengestalt vor sich erfassen. Drohend breitet diese ihre Schwingen aus, formt ein aggressives Grollen in ihrer Kehle.

Die Bestie mit den blanken kalten Augen zögert nicht, sie attackiert ihr wehrloses Opfer, das von den unbarmherzigen Fängen der Kälte aus hell schimmerndem Eis vertilgt wird…«
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

[Anm.]

það er engin leið - (das ist) unmöglich
 

***>>>Kapitel 42:

>“Ein kaltes Erwachen schließt sich dem wirren Traumgebilde an, Angst und Kontrollverlust deuten auf eine Eskalation hin.

Andernorts offenbaren sich die ersten Zeichen für die Zukunft, die turbulente Zeiten ankündigt. Der erste Bote erscheint klein und unscheinbar, doch in großer Anzahl…“

Fuanshin



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Lizard
2007-08-10T17:38:19+00:00 10.08.2007 19:38
Also, ich habe ja an alles gedacht, was das sein könnte, das Midoriko mit ihrem Päckchen anschleppt. An die Möglichkeit, dass da was Süßes für einen vernaschten Drachen drin sein könnte, habe ich absolut nicht gedacht.^^ Es gab der ganzen Szene einen wunderbaren Touch, eine amüsante Leichtigkeit inmitten von Dramatik. Dieser Wechsel in den Stimmungen war echt grandios gestaltet. Auch durch den Einbau von der Szene zwischen Sunnanvindur und dem Inu no Taishou. Man merkt, wie sich das Rad des Schicksals unerbittlich weiter dreht...
Die Traumvision war dann der Höhepunkt und wirklich beeindruckend. Ein Windrädchen in den Händen eines Kindes... so ein Windrädchen kam doch schon einmal in den ersteren Kapiteln in einem Traum vor... toll, wie du das alles verknüpfst. Flugar hat Midoriko hier offenbar an etwas teilhaben lassen, das ein sehr besonderes Privileg ist, er hat sie quasi zum Ursprung der Drachen, in die Seele eines Drachen geführt... doch manchmal kann Erkenntnis wohl auch gefährlich sein.
Scheint so, als würde sich langsam wieder mehr Dramatik aufbauen, sich die Situation zuspitzen und sich Spannung+Gefahr zusammen brauen.
Von:  Carcajou
2007-08-10T11:30:10+00:00 10.08.2007 13:30
Echt, einfach mal wieder klasse.
Und sehr abwechslungsreich.
Erst die Sache mit den Keksen, die ich einfach zu süß fand, und dann der Wechsel zu einem sehr eindringlichen, emotionalen Teil, in dem sich Midoriko und Flugar endlich einmal näher kommen- auch, wenn es wahrscheinlich der Anfang vom Ende ist.
Sunnanvindurs Hilflosigkeit gegenüber seinem Sohn liegt einem schwer im Magen, denn ist es denn nicht DAS Eingeständnis von Schwäche schlechthin, wenn man Gewalt gegenüber seinem Sohn anwenden muss? Und Sunnanvindur weiß das...macht sich Vorwürfe, ist aber machtlos.
Der Kursive Text ist einfach "Uff"!
Ich weiß noch nicht, ob ich das alles richtig verstanden habe, aber wenn, dann ist das eine faszinierende Idee und Möglichkeit.
Nur, warum hat sie das sehen dürfen? Und was für Folgen wird das haben?

*Wissen will,wie's weitergeht!!!*
Bin mal wieder begeister...
Warum sag ich das eigentlich immer noch?
Wiederhol' mich ja ständig...^^

LG,
Carcajou
Von:  Mondvogel
2007-08-07T14:41:20+00:00 07.08.2007 16:41
>Ein Dämon mit einer Schwäche für Süßes, wer hätte das gedacht?<
Ja, wer hätte das gedacht? So abwegig ist dieser Gedanke gar nicht, aber wenn es sich bei der Naschkatze um Flúgar handelt, sieht die Sache schon anders aus. *gg*

Die Szene zwischen Flúgar und Midoriko war wunderbar. So richtig zum genießen. Jetzt weiß sogar Súnnanvindur von ihrer Beziehung. Sehr erfreut ist er ja nicht, aber wenigstens lässt er die beiden in Ruhe.

Der gesamte kursive Text war atemberaubend geschrieben. Wie machst du das bloß? Und ganz ohne Fehler. Es ist herrlich so einen ordentlichen Text zu lesen.
Die Erzählerin im kursiven Teil war Midoriko oder? Und dieses beängstigende Kind...? Das war schon beinahe unheimlich.


Von: abgemeldet
2007-08-07T10:13:53+00:00 07.08.2007 12:13
WOW ich bin wie immer überwältigt........schade das die beiden sich nicht näher gekommen sind....g*


Ich fand das so schön und dann musste sein Vater kommen.......+




24
Von:  Hotepneith
2007-08-06T06:31:45+00:00 06.08.2007 08:31
Was für eine interessante Theorie, die du Midoriko da in dem geheimnisvollen Tempel erkennen lässst. Auch, wenn die Mahnung des Kindes: weck ihn nicht auf wohl berechtigt war.
Die Szene zwischen Midoriko und Flugar dürfte wieder einmal auf Ärger hindeuten...wobei : warum eigentlich? Was liegt alles in dieser Begegnung beim tenno verborgen, dass alle, die auch nur einen Verdacht einer Beziehung zwischen Mensch und Drache bekommen, sofort dagegen sind? Eigentlich wäre eine solche Beziehung doch nur gut für einen Frieden.

bye

hotep


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