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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Meian~*

"Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten." – Johann Wolfgang von Goethe
 

Kapitel 36 – Meian

-Schatten-
 

*Erscheinen die Dinge auf den ersten Blick immer anders, als sie in Wahrheit sind?

Sehen unsere Augen eine Welt, die aus nichts als Illusionen besteht, die auf diese Art und Weise wahrgenommen überhaupt nicht existiert? Gewinnen wir somit einen vollkommen falschen Eindruck von unserem Leben?

Und was geschieht, wenn wir der Wirklichkeit auf die Spur kommen? Glauben wir nicht doch eher unseren Sinnen als unserem Verstand, der es meisterhaft versteht, uns zu täuschen?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Das blasse Licht des Mondes fiel durch den halbgeöffneten Shouji in den Raum, hüllte diesen in eine farblose, weiche Sanftheit, die der Wind mit seinen hauchzarten Böen behutsam streichelte.

Stille umfing die Residenz des Tennô.

Nachdenklich hob ich den Blick gen Himmel, betrachtete die unzähligen Sterne, deren unablässiges Funkeln das dunkle Firmament zierte; meine Fingerspitzen verweilten regungslos auf der weißen Feder…

Wie lange war es her, dass sich Flúgars und meine Wege überschnitten hatten? Wie viele Tage lag jene schicksalhafte Begegnung zurück? Wie viele Wochen waren seitdem vergangen?

Ich wusste es nicht.

Doch in diesem Moment befiel mich seit einer schieren Ewigkeit wieder das erdrückende Gefühl der Einsamkeit. Für einen gewissen Zeitraum hatte ich tatsächlich vergessen, wie schmerzhaft es sein konnte, alleine zu sein. Die Nähe, die zwischen ihm und mir entstanden war, trug das Ihre dazu bei, dass sich die Qual, die an meinem Verstand und meinem Herzen nagte, weiterhin verstärkte. War die Anwesenheit des Loftsdreki zu einer Selbstverständlichkeit für mich geworden? Hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, dass er bei mir war, an meiner Seite stand?

Nach dem Tod meiner Mutter und dem unvermeidlichen Bruch mit meiner Schwester drei Sommer später, hatte ich kaum mehr als höfliche Zuwendung erfahren. Von Zuneigung, von Wärme keine Spur, obwohl ich mich gerade danach gesehnt hatte. Womöglich hätte mich diese schleichende Kälte irgendwann erfrieren lassen…

Ich schluckte hart; bedeutete das…?

War die ganze Angelegenheit von Anfang an falsch verlaufen?

Ja, nun verstand ich. Nicht ich hatte Flúgar vor dem Tode bewahrt, er hatte mich aus dem eisigen Sog der Gesellschaft gezogen und meine Seele davor gerettet, in Starre und Agonie zu verfallen. Es war an mir, dankbar zu sein, nicht umgekehrt. Nicht er hatte Schulden, sondern ich.

All die Strapazen, die er auf sich genommen hatte, die lebensgefährlichen Situationen und schweren Verletzungen, für die letztendlich ich verantwortlich war…

Warum war mir das Offensichtliche entgangen? Hatte ich es nicht sehen wollen? Oder war es mir einfach nicht bewusst gewesen?

Mein unüberlegtes Handeln hatte ihn in Schwierigkeiten gebracht, die ich meinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte. Wie hatte ich – guten Gewissens – so etwas nur tun können?

Ein guter Mensch war ich wahrlich nicht.

Betrübt senkte ich den Kopf, schloss die Augen. Erst in diesem Moment bemerkte ich das leise Meeresrauschen, dessen Melodie für mich der eines Schlummerliedes glich, das einen geruhsam in den Schlaf wiegte.

Aber ich musste mit Flúgar sprechen – vorher würde ich keine Ruhe finden, geschweige denn schlafen können…

Ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür holte mich schließlich aus meinen ruhelosen Gedanken, ließ mich verwundert aufsehen. Es war sicherlich weit nach Mitternacht, wer konnte das sein?

Flúgar war es mit Sicherheit nicht, denn Höflichkeit gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken. Angeklopft hätte der nicht.

Eher zögerlich als bestimmt erhob ich mich, näherte mich mit langsamen Schritten der Schiebetür.

Das leise Geräusch erklang abermals.

„Miko-sama?“

Das schüchterne Flüstern vertrieb meine Bedenken. Vermutlich handelte es sich nur um eine Kammerzofe, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen sollte.

Durch diese Feststellung erleichtert, zog ich den Shouji auf.

Der schwache Schein einer Kerze, die sie bei sich trug, erhellte die jungen, beinahe kindlichen Züge der Dienerin, die sofort ehrfürchtig den Kopf neigte.

„Verzeiht bitte die Störung, Miko-sama, der Tennô wünscht Euch zu sprechen.“

Skeptisch runzelte ich die Stirn. Der Tennô bat mich um diese Uhrzeit zu einem Gespräch? Warum?

Irgendetwas daran erschien mir eigenartig.

Aus welchem Grund hatte er nicht früher die Forderung nach einer Unterhaltung gestellt? Und über was wollte er bloß mit mir reden? Wollte er mir vielleicht etwas von höherer Wichtigkeit mitteilen?

In mir trieben allmählich Zweifel hoch, ob hinter dieser Anfrage nicht womöglich etwas anderes verbarg, als es nun den Anschein erwecken sollte. Doch ich schwieg, behielt meine Gedanken für mich. Mir lag es fern, fremden Leuten Unterstellungen anzudichten oder über sie zu urteilen.

So folgte ich wortlos dem Dienstmädchen, versuchte, mir den Weg durch zahlreiche Flure und Treppen bestmöglich einzuprägen. Die Residenz des Tennô war gigantisch, und bereits in diesem einen Gebäude fand ich mich nicht zurecht. Ohne eine Führung wäre ich wohl nicht einmal in der Lage gewesen, zu einem Ausgang zu gelangen.

Bis wir schlussendlich unser Ziel, den privaten Trakt des Tennô, der einen gesamten Gebäudeflügel einnahm, erreichten, hatte ich meinen Orientierung bereits gänzlich verloren und den hoffnungslosen Versuch aufgegeben, mir den Rückweg merken zu wollen. Es funktionierte einfach nicht, sinnlos].

Das Mädchen blieb stehen, kniete neben einer der zahlreichen Schiebetüren ab, und bedeutete mir zu warten.

Erst jetzt wurde ich meiner eigenen Nervosität gewahr, dem leichten Zittern meiner Hände, dem raschen Schlagen meines Herzens. Ich konnte es mir nicht leisten, auch nur den Ansatz eines schlechten Eindrucks zu hinterlassen. Gleich, wenn ich jene Tür passierte, würde ich dem wohl einflussreichsten Mensch im gesamten Reich gegenübersitzen – und das, obwohl ich eine Frau war, nur eine Frau. Gebührte mir diese Ehre? Gab es nicht andere, die es viel eher verdient hatten, wenigstens einmal in ihrem Leben mit dem Tennô zu sprechen?

Ich atmete tief durch, ordnete meine Gedanken. Für einen unspektakulären Rückzug war es schon zu spät. Zudem ziemte sich solche eine Unhöflichkeit gegenüber einer hochgestellten Person nicht, und eine Alternative bot sich mir in diesem Fall nicht an.

So nahm ich all meinen Mut zusammen, erteilte der Kammerdienerin mit einem stummen Nicken die Erlaubnis, den Tennô über mein Einverständnis und Hiersein zu informieren.

Eine Weile verging, ehe man mich letztendlich hereinbat.

Schweigsamkeit beherrschte den spärlich beleuchteten Raum, als ich mit respektvoll gesenktem Haupt eintrat, sogleich auf die Knie ging und mich tief verbeugte.

Außer mir spürte ich nur drei andere Präsenzen, wovon eine sicherlich die des Tennô-heika war. Doch wer hielt sich noch in diesem Zimmer auf? War es nicht eine Aufforderung zum Gespräch mit mir gewesen?

„Setzt Euch auf, Miko-sama.“

Ich gehorchte, wagte es aber auch weiterhin nicht, meinen Blick zu heben. Natürlich war ich neugierig, aber ich wahrte meine Selbstbeherrschung, schenkte diesem Drang keinerlei Beachtung. In letzter Zeit mochte ich nicht oft in gehobener Gesellschaft gewesen sein, der Anstand jedoch, den man mich gelehrt hatte, würde ich nie vergessen oder gar vernachlässigen. Wenn ich etwas von meiner Mutter, und danach von Soreiyu, gelernt hatte, dann, wie man sich der Situation entsprechend benahm.

„Euer Kommen zu später Stunde erfreut mich, Miko-sama.“

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass die massige Gestalt, die ich nur schemenhaft zu erkennen vermochte, eine Verneigung andeutete, mich gründlich musterte. Ich hingegen rührte mich nicht, und so lange er keine direkte Frage an mich richtete, war es mir nicht erlaubt die Stimme zu erheben.

Der leichte Hauch eines exotischen Dufts erfüllte die Luft, vermischte sich mit der kühlen Nachtluft, die allmählich durch die offene Tür der Veranda sickerte.

„Miko-sama, unsere allgemeine Lage dürfte sich in Eure Kenntnis fügen. Schlachten und Hungersnöte raffen das Leben dahin, die Schwachen und Toten bieten den Kreaturen der Dunkelheit eine perfekte Grundlage, und ihr Bestand ist unlängst eine Bedrohung. Einhalt gebieten dem nur einige – Mönche, Krieger. Der Erfolg verhält sich mäßig. Unglücklicherweise, denn diese Epidemie breitet sich auf Ausmaße, die nachhaltigen Schaden verschulden wird.“

Mir fiel es schwer, seinen Worten zu folgen. Woran mein Verständnis zu scheitern drohte – ob es meine Müdigkeit oder seine Formulierungen waren - wusste ich allerdings nicht.

Ich verstand nicht recht, was er mir mit alldem sagen wollte.

Offensichtlich war bloß, dass es etwas mit der ungemeinen Vermehrung der Dämonen zu tun hatte, die das Reich im Moment erfuhr. Mir war dieser Umstand bekannt, ich hatte das Leid vieler Menschen mit eigenen Augen gesehen. Ihn jedoch schien weniger das Volk zu interessieren…

„Die Zeit, ein Exempel zu statuieren, ist wahrlich reif. Wenn der niedere Abschaum der Dunkelheit erfährt, dass sogar die mächtigsten Repräsentanten ihrer Rasse der Übermacht der Menschen erliegen, so werden sie mit einer weiteren Herausforderung zögern.“

Worauf wollte er hinaus?

Eine erschreckende Ahnung beschlich mich, setzte sich langsam aber sicher in meinem Verstand fest, und mein Misstrauen ihm gegenüber wuchs. Was meinte er mit ‚ein Exempel statuieren’? Hatte er es auf einen außergewöhnlich starken Youkai abgesehen?

Aber das… konnte es denn sein, dass er auf Flúgars Vater und Inu No Taishou anspielte? Wollte er etwa…?!

„Gewiss seid ihr Euch Eurer Pflichten bewusst, Miko-sama. Ich erlege Euch keinen Zwang auf, Euer Ethos wird Euch die richtige Entscheidung treffen lassen.“

Er drängte mich in die Enge, verwehrte mir jede Ausweichmöglichkeit und versperrte alle Fluchtwege. Ein Ablehnen meinerseits würde keine Akzeptanz bei ihm finden, und er wusste, dass ich das Wagnis eines Widerspruches vor ihm nie eingehen würde. Verdammt, wieso hatte ich seine Absichten nicht früher durchschaut?

Ohne meine Hilfe würde er sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen können, er wollte bloß meine Fähigkeiten für seine Zwecke benutzen… ich hätte es sehen müssen, warum nur hatte ich es nicht bemerkt?

Urplötzlich schrak ich zusammen. Waren womöglich das seine spirituellen Kräfte? Sich und sein wahres Sein im Verborgenen zu halten?

Schon als ich diesen Raum betreten hatte, war es mir aufgefallen. Seine menschliche Aura konnte ich fühlen, doch nichts darüber hinaus.

Das reichte als Erklärung vollkommen aus, und mir wurde blitzartig klar, warum die beiden Dämonen so blindlings in ihr Verderben zu tappen schienen. Nun begriff ich, sie konnten es ebenso wenig wahrnehmen wie ich.

Ich musste etwas unternehmen, und zwar so schnell wie möglich.

Ja, ich war restlos enttäuscht, das hatte ich nicht erwartet, nicht einmal in Erwägung gezogen. Der höchste Shintôpriester des gesamten Reiches… welch eine Schande. Seine Sorge galt nicht den Menschen, die litten und starben, sein Blick war starr auf die Dämonen fixiert, die er für das momentane Geschehen verantwortlich machte. Dabei lag die Schuld letztlich nicht bei ihnen – ihre Anzahl schwoll so dermaßen rasch an, weil die Schwäche der Menschen ihnen leichtes Spiel gewährte.

Und um genau diese Schwäche ging es, denn sie resultierte aus den unzähligen Schlachten und Kleinkriegen, den Seuchen und Hungersnöten, die die Leute heimsuchten. Dagegen tat niemand etwas, die Adligen scherten sich nicht um die Bauern, Dörfler und Städter, die dem Tod oder der Finsternis zum Opfer fielen…

Die Gleichgültigkeit der Hochrangigen in der Gesellschaft tötete die, die den untergeordneten Schichten angehörten. Sie kümmerten sich nicht darum, schwelgten in ihrem Reichtum und genossen ihre Macht, ohne sie für etwas Gutes zu gebrauchen.

Der Tennô bildete keine Ausnahme. Nicht allein seine Worte, die Residenz, in der wir uns befanden, auch die Umrisse, die von seinem Körper wahrzunehmen waren, belegten dies weiterhin. Korpulent war eine maßlose Untertreibung… während anderorts Kinder verhungerten, mästete er sich selbst mit erlesenen Speisen und fremdländischen Lebensmitteln.

Dieser Mann widerte mich an.

Ich mochte die Allgemeinheit meiden, ihre Moral und Ansichten ablehnen, und zuweilen verachtete ich sie auch für ihre Taten, doch ich hasste sie nicht, das hatte ich niemals, und ich schätzte nicht einen einzigen von ihnen so gering, dass ich ihm den Tod wünschte.

„Eine gestirnlose Nacht wäre zu bevorzugen gewesen, das Licht des vollen Mondes bestärkt die Mächte der schwarzen Wesen – der Zeitpunkt erscheint ungünstig gewählt. Warten jedoch hätte fatale Folgen, der Exorzismus muss baldigst erfolgen.

Miko-sama, Eure Dienste werden eine angemessene Abfindung bedingen, der natürlich Folge geleistet werden wird. Was immer Euer Begehr ist, es wird Euer sein – Macht und Einfluss, Reichtum, Freiheit. Ganz gleich, die Entscheidung ist die Eure, denn jeder Mensch hat schließlich eigene Träume und Wünsche, nach deren Erfüllung er sich sehnt.“

Freiheit…?

Ich schluckte meinen aufkommenden Unmut, und gleichermaßen den abfälligen Laut, der sich meiner Kehle zu entringen versuchte, presste die Lippen aufeinander. Er versprach etwas, das er nicht halten können würde – was für ein Heuchler…

Meine Aufmerksamkeit schweifte mit einem Mal ab… die Präsenz eines Dämons. Ein gewaltiges Heulen schallte durch die Ruhe der Nacht, zerriss diese wie ein dünnes Blatt Pergamentpapier. Es war die Stimme eines Hundes. Inu No Taishou…

Innerlich schüttelte ich den Kopf, nein, der Tennô ging definitiv zu weit, niemals würde ich ein hinterhältiges Anliegen wie dieses unterstützen, gleichgültig, was er mir als Belohnung offerierte. Nicht für Geld, nicht für Macht… um nichts auf dieser Welt würde ich jemanden töten, nicht einmal einen Dämon!

Meine Hände krampften sich zu Fäusten. Was dachte er nur von mir…?
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Anspannung prägte die starre Atmosphäre, die dem Augenschein nach bloß Ruhe und Sachlichkeit vermittelte, und eine Distanz in der Gesamtsituation schuf, die unüberbrückbar zwischen den beiden Fraktionen klaffte. Wie ein Abgrund, eine unendliche Schlucht ohne Boden tat sie sich zwischen dem Tennô und den Dämonenfürsten auf, verhinderte geflissentlich, dass sie sich auf einer Ebene einander annäherten.

Seitens des Tennô bestand nicht einmal die Absicht dessen, sein Verhalten war eher defensiv, und keines seiner Worte blieb mir dauerhaft im Gedächtnis. Im Nachhinein konnte ich mich im Grunde an nichts erinnern, was an jenem Morgen besprochen wurde…

Doch eines wusste ich nur zu genau; er belog sie, und sie bemerkten es nicht einmal. Der Grund dafür behielt sich simpel.

Ein aufdringliches, süßes Aroma, das die Sinne abtrünnig werden ließ, hing schwer im Raum, rief in mir Schwindel und Übelkeit hervor. Die Wirkung des mir unbekannten Geruchs wurde noch dadurch verstärkt, dass man alle Ausgänge und Türen geschlossen hatte, und es für die Luft keine Möglichkeit gab, sich zu bewegen.

Trotz der hohen, mit Schnitzereien dekorierten Holzbalkendecken und der ungemeinen Weitläufigkeit des Saals war es stickig, kaum auszuhalten, die Intensität dieses Duftes setzte nicht nur mir zu. Die drei Dämonen bewiesen erstaunliche Disziplin, einem wachen Beobachter jedoch entging ihre Unbehaglichkeit nicht.

Mir selbst war nicht anders zumute… ich fühlte mich matt und elend, meine Erschöpfung, die wohl aus dem Mangel an Schlaf resultierte, der durch die letzte Nacht entstanden war, ergänzte sich verhängnisvoller Weise nur zu gut mit den widrigen Umständen.

Zumindest verfiel die Möglichkeit, dass ich einen entsprechenden Anblick bot. Die schiere Menge an Farbe, die die Haut meines Gesichts bedeckte, machte meinen Ausdruck selbst für mich unleserlich. Für meine Verhältnisse hatten es die beiden Dienerinnen, die man mir zugeteilt hatte, etwas übertrieben. Auch der purpurne Kimono mit dem weißen Lotusblütenmuster, den man mir bereitgestellt hatte, entsprach nicht unbedingt meinen Geschmack.

Ich räumte ein, dass er wunderschön war, doch an mir verlor er seinen Reiz – um den praktischen Aspekt, der mein größtes Problem war, einmal zu vernachlässigen. Kimonos waren schlichtweg umständlich und für mich ungeeignet… zuweilen lohnte es sich absolut nicht, eine Frau zu sein.

Mein Blick schweifte zu Inu No Taishou, Súnnanvindur… und zu Flúgar.

Im Gegensatz zu den Luftdrachen, die sich dem Anlass gemäß gekleidet hatten, präsentierte sich der Hundedämon fortwährend in seiner weißen Tracht und Rüstung, selbst sein Schwert trug er noch über dem Rücken – anscheinend gehörte Höflichkeit nicht zu den Tugenden, denen er einen übermäßigen Stellenwert beimaß. Sogar Flúgar nahm sich zusammen… was für ein Geselle war dieser Youkai bloß?

Ich seufzte innerlich, senkte leicht den Kopf. Warum musste ich dem hier eigentlich beiwohnen?

Etwas zu sagen hatte ich ohnehin nicht, und mein Beisein war logisch betrachtet vollkommen überflüssig. Meine Meinung zählte nicht, und somit war mir etwas anderes als schweigen und zuhören nicht erlaubt.

Ich fügte mich, obschon es mir widerstrebte… schließlich war ich nicht die einzige in dieser Lage. Flúgar teilte mein Leid, denn auch er verblieb ohne das Recht seine Stimme zu erheben.

Er saß neben seinem Vater, blickte abwesend auf die bemalten Wandschirme, neben denen es nichts weiter gab, was das karge Zimmer schmückte; es machte einen trostlosen, verlassenen Eindruck, formlos und unpersönlich. Solche Belanglosigkeiten wie die Lokalitäten interessierten mich allerdings weniger…

Ich musste mit Flúgar sprechen, und zwar dringend. Nicht um meiner Überlegungen willen, nein, im Moment war es wichtiger, ihn über die Machenschaften des Tennô zu informieren. Mit Sicherheit war es am einfachsten, ihn einzuweihen, damit er es anschließend seinem Vater und Inu No Taishou erzählte. Eine Kontaktaufnahme zu einem der Fürsten wäre zu auffällig, und ein Misslingen, wenn ich es dennoch versuchte, war durchaus wahrscheinlicher als Erfolg…
 

Das nachfolgende Bankett gestaltete sich gleichermaßen.

Kaum jemand wechselte mit seinem Gegenüber ein Wort, die Stille wurde allmählich unerträglich. Die stumme Spannung zwischen den Anwesenden war weiterhin präsent, und schürte unbeirrt meine Nervosität. Ich hatte ein miserables Gefühl bei dieser Sache, meine Intuition warnte mich…

Meine Aufmerksamkeit jedoch wandte sich alsbald dem Auftragen der Speisen zu, die an Fülle und Vielfalt alles übertrafen, was ich bisher gesehen hatte, und die Auswahl war so beträchtlich, dass ich rasch den Überblick verlor. Mein Appetit hielt sich ebenso in Grenzen, ich war zu erschöpft, um viel essen zu können, oder es nur zu genießen.

Unauffällig schaute ich zu Flúgar, der gerade eifrig das Fleisch in seiner Schale aus Gemüse und Reis sortierte, studierte einen Augenblick lang seine Gestalt – die Haltung, das Gesicht. Im direkten Vergleich zu seinem Vater, Súnnanvindur, erschienen seine Züge unheimlich jung, beinahe kindlich. Sie sahen sich ähnlich, ihre Mimik glich sich ab und an, doch Flúgar fehlte die Milde und Wärme, die bei dem Älteren sofort offenbar wurde.

Wie viele Jahrhunderte mochte sein Vater bis zu diesem Tag überdauert haben, wenn es bei ihm bereits über zwanzig waren?

Mein Blick kreuzte zufällig den des frontal zu mir sitzenden Mannes – es war der, dem ich kurz nach meiner Ankunft in der Residenz mit Inu No Taishou begegnet war, und mittlerweile wusste ich auch, um wen es sich bei dieser Person handelte.

Nire, eine der Zofen, hatte mir die Auskunft gegeben, dass er ein bekannter Schwertkämpfer aus ärmlichen Verhältnissen war, der heimatlos durch das Reich zog und sich für die Rechte der Armen und Schwachen einsetzte, Gleichstellung und somit die Abschaffung des Adels forderte. ‚Akaihoshi’ nannten ihn seine Bewunderer und Anhänger.

So, wie ich ihn erlebt hatte, war die Behauptung, er wäre ein ehrenvoller Krieger, der etwas zum Wohl anderer verändern wollte, nicht vorstellbar. Womöglich war dies ein Irrtum, und mein Urteil zu unüberlegt gefällt, doch seine engstirnige Einstellung Youkai gegenüber konnte ich nicht befürworten, und akzeptieren wollte ich sie nicht. Mein inneres Selbst begann sich gegen Verallgemeinerungen zu sträuben, auch im Falle der Menschen.

Er musterte mich eindringlich, dessen wurde ich mir bald gewahr, aber nicht dieser Umstand allein war es, der mich alarmierte.

Flúgars Miene in jenem Zusammenhang gefiel mir ganz und gar nicht, denn er hatte sehr wohl mitbekommen, was hier ohne Aussprache ablief, und das passte ihm augenscheinlich überhaupt nicht in den Sinn. Das konnte böse Konsequenzen nach sich ziehen…

Schließlich neigte sich nun auch diese – mehr oder minder – erzwungene Zusammenkunft ihrem Ende entgegen, und ich packte meine Chance beim Schopfe. Die Abschlussrede, die der erste Berater des Tennô zum Ausklang vorbrachte, war, zu meinem ganz persönlichen Glück, knapp und bündig gefasst, sodass man sich bloß der Förmlichkeit halber voneinander verabschiedete und danach wieder seiner eigenen Wege ging.

Die Gelegenheit war günstig.

Dezent heftete ich mich an Flúgars Fersen, folgte ihm mit großzügigem Abstand. Ich musste Vorsicht walten lassen, denn sein Vater lief nur wenige Schritte voraus, unterhielt sich derweil mit dem Hundeyoukai an seiner Seite.

Hoffentlich griffen sie, und insbesondere Flúgar, meine Verfolgungsaktion nicht als Belästigung oder etwas dergleichen auf, sonst hatte ich schlechte Karten…

Hinter der nächsten Biegung verschwanden die drei Dämonen aus meinem Sichtfeld, und obgleich ich mich beeilte aufzuschließen, war die Mühe vergebens. Als ich um die Ecke trat, war niemand mehr da, ich war allein.

Verdammt…
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

***>>>Kapitel 37:

>“In einer Welt, in der alles im Gegensatz zueinander zu stehen scheint, regieren Hass und Vorurteile, Angst und Gewalt den Verstand derer, die mit Argwohn um sich, mit Spott im Blick nach unten schauen. Dennoch gibt es Ausnahmen, Bindeglieder, die die vermeintlichen Widersprüche als das entlarven, was sie wirklich sind…“

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Lizard
2007-05-04T12:31:37+00:00 04.05.2007 14:31
Hoppla...
Auch hier fehlt noch ein Kommentar meinerseits...
(Ich hoffe bloß, du glaubst nicht, ich hätte meine Faszination für diese Geschichte verloren?!?)

Das mit dem Tenno war irgendwie sehr seltsam. Hätte nicht gedacht, dass der sich so verhält. Irgendwas stimmt da doch nicht. Alles sehr rätselhaft.
Bezieht man die Geschehnisse des nächsten Kapitels mit ein, kommt mir das alles vor wie eine großangelegte Verschwörung. Fragt sich jezt nur, was da dann wirklich dahinter steckt. Einfache Menschen-Youkai-Antipathie kann das doch nicht sein... D.h. wer sind die wirklichen Drahtzieher dahinter und warum.... das entwickelt sich ja fast zu einen Thriller!

Und was ist jetzt eigentlich mit den Feuerdrachen, da müsste doch auch noch was kommen, oder?! Rätsel über Rätsel...
Von:  Carcajou
2007-04-25T22:14:44+00:00 26.04.2007 00:14
Eine interessante Wendung.
du hattest ja die Frage, was denn nun Mensch und Dämon von einander unterscheidet bereits schon einmal angedeutet...
Die Antwort : nur die jeweilige Stärke.
Das menschen vielleicht sogar noch machtgeiler und egoistischer als mancher Youkai sind dürfte spätestens jetzt klar sein. Und das es ausgerechnet die beiden freundlichsten treffen soll unterstreicht die Ignoranz des Tenno noch einmal. Was da noch auf Midoriko und Flugar zukommt... da du deine Charakter ja anscheinend gern etwas leiden lässt- wohl nichts angenehmes!
Ich mag Midoriko. Sie steht den Menschen genauso kritisch gegenüber wie den Youkai und urteilt nicht pauschal über eine ganze Art. Jemand, der sich völlig frei seine Gedanken macht, unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben und Normen- kein Wunder, das die Arme einsam war, bevor sie auf Flugar traf... Eine Fantastische Geschichte!
Schreib bald weiter!!
Gruß, Carcajou
Von:  Mondvogel
2007-04-09T15:07:16+00:00 09.04.2007 17:07
Haha! Yeah, es geht weiter.
Nun, was soll ich sagen, außer, dass ich wieder hin und weg bin vor Begeisterung?
Midorikos Gefühle am Anfang hast du so wunderbar beschrieben. Ihre Zweifel und ihre Gedanken über Flúgar.

Das Gespräch mit diesem Tennó war sehr interessant. Der scheint doch was im Schilde zu führen... Der hat da ein paar gefährliche Machenschaften am Laufen, kommt mir vor.
Erstaunlich, wie sich diese Geschichte entwickelt. Ich bin wirklich beeindruckt.
Noch eine kleine Frage zum Schluss: Woher hast du so einen immens großen Wortschatz? Es ist immer wieder ein Vergnügen deine Texte zu lesen und dabei auf die unterscheidlichsten Wörter zu treffen. Liest du besonders viel oder bedienst du dich auch manchmal an ein paar Synonymen? Ich schreibe immer mit Word und da kann man Synonyme nutzen. ^.~

Lg
Mondvogel
Von: abgemeldet
2007-04-01T10:44:50+00:00 01.04.2007 12:44
Du hast die Überschirft wie immer pefekt getroffen. ^-^
Ich bin ehrlich gesagt, etwas überrascht von dem Wandel der Geschichte, ich hatte es mir anderes ausgemalt, aber es mich sehr fasziniert. g*

Das war wie immer eigentlich schön g*
Was mich allerdingst in Neugier versezt, wer waredn diese fremden in dem anderen Raum, dass interessiert mich sehr. ^-^


24
Von:  Hotepneith
2007-03-31T19:17:13+00:00 31.03.2007 21:17
Hoppala, da scheint ja etwas ganz anders zu laufen, als man bislang dachte. Scheint, denn es ist ja nciht unbedingt gesagt, dass auch eine noch so starke miko alles mitbekommt.
Aber wer waren die anderen im Raum, als sie mit dem tenno sprach? Und wird es ihr gelingen, die anderen zu warnen?

bye

hotep


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