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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Minning~*

"Manchmal kann man die Vergangenheit mit den Sinnen festhalten: Die eine riecht nach wohltuender Erinnerung, die andere stinkt zum Himmel." – Ernst R. Hauschka
 

Kapitel 27 – Minning

-Erinnerung-
 

*Ist es wahr, dass die Zeit alle Wunden zu heilen vermag?

Was jedoch bedeutet es, wenn weiße Narben an jenen einst verletzten Stellen zurückbleiben? Ist es eine stetige Erinnerung an die Vergangenheit? Oder ein Symbol für die Unfähigkeit es zu erfassen?

Und was sollen wir tun, wenn uns das Vergangene nicht loslässt und immer wieder einholt? Kämpfen? Es verdrängen? Darauf eingehen…?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

»Die schweißnassen Flanken des grobschlächtigen, aschfarbenen Pferdes mit der kohlschwarzen Mähne beben vor Anstrengung, seine Nüstern blähen sich in einem kurzen, abgehackten Takt. Schaum trieft aus seinem Maul, und die aufmerksamen Ohren erhaschen jedes noch so ferne Geräusch.

Auf seinem Rücken trägt es einen stattlichen Mann in der Blüte seiner Jahre, groß und breitschultrig, gekleidet in Helm und Rüstung in den Farben der Dämonenjäger. Er ist einer von ihnen, und dennoch erscheinen seine Gesichtszüge milde und gütig. Doch seine Gnade gilt nicht den Youkai, die er jagt und tötet, sondern nur seiner eigenen Rasse, den Menschen.

Im Hintergrund schlagen die Flammen, die die Häuser der Siedlung bis auf ihre Grundmauern niederbrennen, höher, bis hinauf zum samtenen blauschwarzen Firmament. Es ist Neumond, und kein einziger Stern ziert den blanken Nachthimmel.

Rauch steigt auf, es riecht nach verkohltem Fleisch, und panische Angstschreie von Menschen und Tieren hallen durch das verlorene Dorf. Der Hilferuf an die Taijiya erfolgte zu spät, doch dem zum Trotz sind sie gekommen, bringen hartnäckig auch den letzten niederen Dämon zur Strecke, der sich noch in der Nähe aufhält.

Geruhsam zieht der Mann sein Schwert, gleitet vom Rücken seines Streitrosses, ohne einen einzigen Augenblick der Unachtsamkeit. Er wird ihn in keinem Fall entkommen lassen, denn dieser Dämon ist anders als das übliche Pack, das ihm beinahe tagtäglich begegnet. Ein Youkai in Menschengestalt, der ihm unverfroren entgegentritt und kalt behauptet, nichts mit den gegenwärtigen Ereignissen zu tun zu haben. Natürlich lügt er, das liegt für den Dämonenjäger auf der Hand, und er vermeint in ihm den Drahtzieher des Überfalls auf das wehrlose Dorf zu sehen.

„So viele unschuldige Menschenleben… dafür werde ich dich niederträchtiges Biest in Gestalt eines Menschen dort hinschicken, wo du hergekommen bist. In die Hölle…“

Damit bezieht er Kampfposition, fasst seinen Gegner als Ziel und stürmt mit einem lauten Schrei auf ihn los. Doch der Dämon gibt sich unbeeindruckt, verengt die farblosen Augen zu schmalen Schlitzen.

Er gewährt dem törichten Menschen seinen Angriff, fängt jedoch mit einer blitzschnellen Bewegung die Klinge des Schwertes ab und blickt dem zutiefst Bestürzten nachdrücklich in die dunkelbraunen Augen. Unbewusst prägt sich dieser Ausdruck des Schocks unauslöschlich in seinen Verstand ein.

Unwirsch reißt der Youkai seine andere Hand empor, und stößt sie dem bis aufs Mark erschütterten Menschen durch die Brust. Der Blick des Mannes wird fahl, und der Ruck, mit dem der Dämon seine blutbefleckten Klauen zurückzieht, reicht aus, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kraftlos stürzt er zu Boden, und das Letzte, was er wahrnimmt, bevor sein Leben endgültig verlischt, ist der Dämon, der ihm die starren, weißen Augen zuwendet und seine Gestalt in die eines Drachens mit vier riesigen Flügeln wandelt…«
 

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Gefassten Schrittes wanderte Kyouran durch den sonnendurchfluteten Wald, witterte angestrengt in der Luft und suchte den Boden mit den scharfen Augen ab. Er hatte die Wahrheit gesagt, denn er hatte wahrlich keinen Schimmer von Heilkräutern oder allgemein von Pflanzen, die an Land wuchsen. Woher sollte er so etwas wissen?

Beinahe sein ganzes Leben hatte er im Wasser, im Meer verbracht, und ihn zog es auch nicht sonderlich an die Oberfläche oder gar aufs Festland. Einige seiner Geschwister mochten in dieser Beziehung anders denken und handeln, aber für ihn war es schon lange eine klare Sache, dass er trockenen Boden unter den Füßen lieber vermied.

Nicht nur, dass einem hier ständig die eigenartigsten Kreaturen über den Weg liefen, nein, es wimmelte von Menschen. Kaum hatte man sich ein ruhiges Plätzchen ausfindig machen können, drangen wieder die nervtötenden Stimmen dieser äußerst lästigen Wesen bis zu einem vor. Und wenn man sie bloß hörte, hatte man Glück, denn wenn man nicht die höchste Form von Vorsicht an den Tag legte, die man sich vorstellen konnte, dann passierte es von einer Sekunde auf die andere, dass man von einem ganzen Tross Dämonenjägern oder Drachentötern umringt war, die nach einer neuen Trophäe lechzten.

Das war es einfach nicht wert, Kyouran hatte dem Festland abgeschworen, und um seines Wohlergehens Willen verzichtete er eben auf ausgiebige Sonnenbäder und verweilte auf dem finsteren Grund des Ozeans.

Doch selbst dort war es ihm zurzeit unerträglich. Die Stille, die im Palast seines Vaters eingekehrt war, machte ihn fast wahnsinnig. Shiosai war tot, es war unabänderlich, und die Trauer griff um sich, als wäre sie ein Riesentintenfisch mit unzähligen Tentakeln, die er nach seinen Opfern ausstreckte.

Dank Flúgar lebte zumindest Suika noch. Aber auch das war nur eine Nebensache, über die er mit dem Loftsdreki sprechen wollte, er war eigentlich aus einem ganz anderen Grund hierher gekommen. Die Sehnsucht nach dieser einen Person zerriss ihn fast und trieb ihn in ihrer Übermacht in die Ruhelosigkeit – und wer außer Flúgar konnte und würde ihm auch die Auskunft geben, wo sich dieser jemand momentan aufhielt?

Minamikaze oder ein anderer aus seinem Clan würden ihn ohne groß zu zögern in der Luft zerfetzen, und nach einem Kampf war ihm nun wahrlich nicht zumute. Er fühlte sich ohnehin nicht besonders gut, das war jedoch kein Anlass für ihn, mit offenen Augen Selbstmord zu begehen.

Der Vatnsdreki zuckte die Achseln. Womöglich hatte er für dergleichen einfach nicht genug Mumm in den Knochen, aber das kümmerte ihn nicht weiter; ihm verlangte es auf der anderen Seite auch nicht danach.

Kyouran hielt inne, prüfte schnuppernd den ihm bekannt erscheinenden Geruch. Sternenminze… wenigstens ein Kraut, das ihm etwas sagte. Schonend fasste er den Stiel des Pflänzchens und zupfte es samt der Wurzel aus der Erde, steckte es in seinen schwarzen Obi.

Diese Priesterin… soweit er sich entsinnen konnte, hatte der Schattendrache sie Midoriko genannt. War es tatsächlich Midoriko? Die Miko, die in aller Munde war?

Er hatte viele Gerüchte von den Fischerleuten über sie zu Ohren bekommen, und dementsprechend hatte er sie sich auch vorgestellt. Eine skrupellose Menschenfrau, die Dämonen aufs Bitterste verachtete und dementsprechend grausam mit ihnen verfuhr. Angeblich machte sie unerbittlich Jagd auf jeden noch so kleinen Youkai, und ihre feste Entschlossenheit sorgte dafür, dass sie niemals zögerte…

Jetzt, wo sie leibhaftig vor ihm gestanden und er sie mit eigenen Augen gesehen hatte, verflüchtigte sich dieses Bild vor seinem Geiste immer mehr. Sie war wesentlich jünger als beschrieben, und ihre Züge waren von Milde und Barmherzigkeit bestimmt. Kyouran glaubte nicht, dass jemand wie sie imstande war, Dämonen in einer Art und Weise abzuschlachten, so dass deren entfernte Verwandte vor Furcht zitterten, wenn nur ihr Name erwähnt wurde.

Was sollte er von diesem Mädchen denken?

Dieser Blick, als sie Flúgar erkannt hatte… eine Priesterin, die angeblich Dämonen hasste, sorgte sich um einen dieser Rasse? Und wie wohl der Loftsdreki zu ihr stand?

Kyouran wurde nachdenklich. Die beiden hatten offensichtlich etwas miteinander zu schaffen… und dieser Umstand verwirrte ihn. Flúgar hasste Menschen, das wusste man sogar als Außenstehender. Aber wie konnte dann so etwas entstehen?

Er schüttelte den Kopf, bemühte sich um eine Ablenkung, denn diese widerstrebenden Überlegungen machten ihn konfus. Das vergnügte Grunzen eines Wildschweins klang daher wie liebliche Musik in seinen Ohren…
 

Als Kyouran von seinem Streifzug in den Wald zurückkehrte, taten sich am Horizont düstere Wolkenfronten auf. In samtenem Purpur, durchzogen von dunklem Rot und Blau, türmten sich die unheilvollen Regenwolken immer weiter auf, krochen stetig näher, bis sie schließlich die Sonne verdeckten und die Gegend in trübes Zwielicht tauchten. Ein schneidender Wind rauschte in den Wipfeln der Bäume, rüttelte an den Holzbrettern der kleinen Hütte.

Midoriko schrak zusammen, als sich plötzlich die Umrisse des Vatnsdreki im Türrahmen abzeichneten, und ihr erschrockener Blick veränderte sich nicht wesentlich, als sie entdeckte, was sich der Drache über die Schulter geworfen hatte.

„Was… hast du denn mit dem Wildschwein vor?“

Die Priesterin unterbrach für einen Moment ihr kontinuierliches Tun, blickte Kyouran an. Der wirkte überrascht von ihrer Reaktion, schulterte stolz seinen erbeuteten Eber.

„Hast du keinen Hunger?“

Ihr Ausdruck wurde beinahe fassungslos. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, auch nur einen Bissen von dem borstigen Tier zu nehmen.

„Nein… nein, danke. Ich esse kein Fleisch.“

Das Gegenüber der Schwarzhaarigen runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen. War das ihr Ernst?

Irgendwie erschien ihm das befremdlich.

„Das meinst du nicht ernst.“

Midoriko nickte leicht, er seufzte.

„Man sollte sich wirklich nicht auf Gerüchte verlassen…“

Kopfschüttelnd wandte Kyouran sich ab, setzte sich neben dem Zugang des Holzhäuschens nieder und begann für sich, dass tote Schwein zu zerlegen. Skuggi zu fragen, ob er etwas davon haben wollte, konnte er sich getrost sparen; der Schattendrache warf ihm weiterhin durchgehend scheele Blicke zu.

Unterdessen fuhr die Miko in ihrer kleinen Nebenarbeit fort, flocht Flúgars nasse Haarsträhnen zu einem Zopf zusammen. Er regte sich noch immer nicht, und da sie ihn soweit sie es vermochte, versorgt hatte, suchte sie fieberhaft nach einer neuen Beschäftigung, die sie ein wenig auf andere Gedanken brachte.

Jetzt, wo Kyouran wieder da war, ergab sich für sie die Möglichkeit, sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Willig schien er in dieser Hinsicht ja zu sein, aber über was sollte sie mit ihm reden?

Diesmal würde sie versuchen, sich etwas einfühlsamer zu verhalten, da ihr lebhaft ins Gedächtnis trat, wie er auf ihre letzte Frage reagiert hatte.

„Darf ich dich etwas fragen… Kyouran?“

Der Angesprochene blickte auf, stellte das Einnehmen seiner Mahlzeit erst einmal zurück. Mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend hoffte er, dass die Priesterin ihn nicht mit zu komplizierten oder langatmigen Fragen aufhalten würde, damit er möglichst bald zum Essen übergehen konnte.

„Sicher.“

Höflichkeit jedoch war etwas, auf das sein Vater und die Gesellschaft der Vatnsdrekar an sich viel Wert legten, und daher ließ er sich auch nicht anmerken, wie ungelegen ihm die Anfrage auf ein Gespräch erschien.

„Stimmt es, dass der Drachenkönig Ryujin in seinem Palast Ryugu auf dem Grund des Meeres lebt? Da du ein Wasserdrache bist, müsstest du so etwas ja wissen… oder?“

Kyouran grinste, brach schließlich in ein amüsiertes Gelächter aus, das den gesamten Innenraum der Hütte ausfüllte. Ein warmes, melodisches Lachen, das angenehm in ihren Ohren nachklang, und von Ehrlichkeit zeugte, wie kaum etwas anderes.

„Ihr Menschen seid wahrlich ein lustiges Volk… aber so Unrecht hast du nicht. Der Palast der Vatnsdrekar, Ryugu, existiert tatsächlich, und er befindet sich auch auf de Meeresboden, doch mein Vater ist weder der Drachenkönig, noch lautet sein Name Ryujin. Er heißt Uminari, und ein Herrscher ist er höchstens über den Clan der Wasserdrachen. Ryujin ist der Name meines Großvaters, aber Drachenkönig … das wäre bei beiden doch etwas hoch gegriffen…“

Midoriko errötete, ließ den Blick verschämt schweifen. Ihr war es peinlich, vor dem Sohn des vermeintlichen Drachenkönigs die Geschichten zu hinterfragen, die sich die Fischer und Seeleute untereinander erzählten, und die mit den Händlern tiefer ins Landesinnere hinein gelangten. Sie hatte die Sage um den Drachenkönig und seine Tochter schon oftmals gehört, und wenn sie jetzt schon einmal einem echten Vatnsdreki begegnete und sich ihr die Gelegenheit bot, etwas Näheres über die Hintergründe in Erfahrung zu bringen, dann sollte sie diese auch nutzen.

„Ist es denn wenigstens richtig, dass er die Gezeiten kontrollieren kann?“

Scheu sucht sie seinen Augenkontakt, blinzelte ungläubig, als dieser bloß nickte und sie mit einem warmherzigen Lächeln bedachte.

Das matte Stöhnen, das Flúgar plötzlich von sich gab, veranlasste sie augenblicklich zum Herumfahren. Besorgt musterte sie seine verspannte Haltung, die von Unwohlsein geprägten Gesichtszüge. Was war los mit ihm? Ob er Schmerzen hatte?

„Er träumt wohl nicht sonderlich gut.“

Midorikos Beunruhigung flaute ein wenig ab, verschwand aber nicht gänzlich. Seltsamerweise hatte sie das drückende Gefühl, dass es bei Flúgar nicht bei einem simplen Alptraum bleiben würde…
 

»Braune Augen, in denen die Entschlossenheit glüht wie das unlöschbare Fegefeuer der Hölle, mitternachtsschwarze Haare, die bis zum Steiß reichen, und dazu die vollkommen gegensätzlichen Züge eines Menschen, der sonst nur mit dem Herzen entscheidet, dessen herausragende Eigenschaften Güte und Barmherzigkeit sind…

Der stechende Blick scheint alles zu durchdringen, durch alles durchzusehen, bis bloß noch die Seele verbleibt; ein Blick, der so tief geht, dass es ihm beinahe Schmerzen bereitet.

Wie kann ein Mensch nur solche Augen haben? Ein gewöhnlicher Mensch, der bis auf die Seele eines Dämons zu blicken vermag?

Unmöglich… und doch, er steht vor ihm, fixiert ihn, legt die Hand auf den Griff seines Schwertes.

Er ist ein Mensch, und nicht mehr als das, ein schwächliches, niederes Wesen, das keinerlei Macht besitzt… aber seine Augen, sie sind anders, und sein Blick empfindet er als unangenehm. Ist das die Realität? Ein Mensch, der die Gabe hat, die Wahrheit – und nichts als diese – zu erkennen?

Langsam gleitet er vom Rücken seines gewaltigen Rosses, das unruhig auf seinem Gebiss kaut, mit den Hufen auf der rußgeschwärzten Erde scharrt, und zieht sein Schwert, tritt ihm entgegen.

Was für ein Narr… denkt er etwa Aussichten auf einen Sieg zu haben?

Niemals, nicht solange ein Fünkchen an Leben in ihm weilt. Ein Drache, der durch die Hand eines einzelnen Säugers stirbt?

Natürlich tritt das Gegenteil ein, und er tötet den Dämonenjäger, aber wer triumphiert nun wirklich?

Dieser Blick… es wird unerträglich für ihn, selbst, als der Mensch zusammenbricht und ihn nur noch aus leeren Augen anstarrt. Letztendlich ist es genau das, was ihn in seine wahre Gestalt und danach in die Flucht treibt…«
 

Ein verzerrtes Keuchen entwich meiner Kehle, und kalter Schweiß bedeckte meine Haut als ich aus meinem Traum hochfuhr und von einem Moment auf den anderen wieder bei Bewusstsein war.

Mein gesamter Körper schrie förmlich vor Schmerz, meine Lungen brannten bei jedem Atemzug, und das dumpfe Dröhnen in meinem Kopf intensivierte sich unentwegt. Ein heftiges Schwindelgefühl ergriff mich, verband sich mit der Übelkeit, die von meinem Magen ausging, und in mir wuchs das unstete Gefühl, dass ich mich früher oder später übergeben musste. Doch entgegen dem herrschte eine Leere in meinen Eingeweiden, die mich rasch vom Gegenteil überzeugte.

Der Geruch von etwas Vertrautem stieg mir in die Nase, ließ mich müde die Lider heben. Meine Sicht war verschwommen, schwarze und graue Schatten vereinigten sich zu einem unscharfen Bild von vagen Umrissen, mit denen ich gleichermaßen nichts anfangen konnte.

„Flúgar… alles in Ordnung?“

Ich fühlte mich furchtbar… nein, es war nichts in Ordnung; wie konnte man nur so eine stupide Frage stellen?

Schnell wurde mir bewusst, dass es eine unheimlich schlechte Idee war zu versuchen, sich umzudrehen. Ich musste mir sämtliche Rippen gebrochen haben…

Es war Midorikos Blick, der meine Wahrnehmung aufklaren ließ, und in diesem Augenblick durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Dieser Blick… das konnte doch unmöglich wahr sein, ich musste mich gehörig täuschen. Aber… nein, niemals hätte ich ihn vergessen oder verwechseln können, es war derselbe, aus den gleichen braunen Augen…

Der Dämonenjäger und sie… sie hatten dieselben Augen, denselben Blick, und dieser Umstand war kein Zufall. Das, was ich in meinem Traum gesehen hatte, war keine zwei Jahrzehnte zuvor geschehen…

Unweigerlich krampfte sich in mir alles schmerzhaft zusammen; es war meine Schuld, ich hatte ihn getötet. Damals hatte ich keine Gedanken über mögliche Konsequenzen gehegt, schließlich war er nur ein Mensch gewesen, nur ein Mensch…

„Hörst du mich?“

Midoriko

Ich deutete ein Nicken an, vermied es, ihr ein weiteres Mal in die Augen zu sehen, ich konnte einfach nicht. Wie hatte ich das nur tun können?

Das würde ich niemals entschuldigen oder gar wieder gut machen können, das würde sie mir niemals verzeihen…

„Flúgar…?“

Ich spürte ihre Hand unter meinem Kinn, wie sie mich sachte anwies, den Kopf leicht anzuheben und sie anzuschauen. Es hatte keinen Sinn, sich zu sträuben, denn meine Muskeln verweigerten mir geflissentlich den Dienst, und somit blieb mir nichts weiter übrig, als die Augen zu schließen, um ihrem Blick zu entgehen.

„Hast du Schmerzen?“

Tonlos ächzend biss ich die Zähne zusammen, als mir vor Schmerz ganz anders wurde, und ein schummriges Gefühl durch meine Glieder lief. Mir war schwarz vor Augen, und auch alle meine anderen Sinne versagten.

Das einzige, was ich noch bemerkte, waren Midorikos weiche Fingerkuppen, die sorgenvoll über meine Wange strichen.

„Mach den Mund auf.“

Ich zögerte, da mir kein plausibler Grund einfallen mochte, warum ich dem gehorchen sollte. Sie berührte meine Lippen, und der Duft von frischer Minze wurde stärker. Kraftlos gab ich ihrem fortwährenden Drängen nach, akzeptierte, dass sie mir die aufdringlich riechenden Pflanzenblätter in den Mund schob. Matt zerkaute ich diese, schluckte mühsam, wartete auf die mir wohlbekannte Wirkung.

„Kannst du mir sagen, wo es weh tut?“

Es dauerte einen Moment, ehe ich genug Atem geschöpft hatte, um bloß einen Versuch unternehmen zu können zu sprechen.

„Kopfschmerzen…“

Meine Stimme klang heiser, stockte nach nur einem Wort, und versiegte anschließend vollkommen. Ich fühlte mich elend, und Midorikos Anwesenheit und unmittelbare Nähe linderte diese Empfindung nur minimal.

Beinahe zeitgleich wanderten die Fingerspitzen der Priesterin beidseitig von meinen Wangen zur Schläfe, verweilten dort in gemächlich kreisenden Bewegungen, die vorsichtig Druck auf die empfindsame Stelle ausübten. Suchte sie nach etwas wie einem Druckpunkt…?

Ich zuckte unweigerlich zusammen, als das schmerzliche Pulsieren in meinem Schädel plötzlich entsetzlich zunahm. Scheinbar war sie geschickter darin, den zentralen Schmerzpunkt zu finden… Bauerntrampel…

„Halt still.“

Erinnerungen an ihr sonstiges Feingefühl reizten unnachgiebig meinen Verstand, der mir riet, sich eben davor strengstens zu hüten. Doch die Linderung, die ich in diesem Augenblick erfuhr, entlockte mir sogleich ein wohliges Aufseufzen. Wenn sie es wagte, damit aufzuhören, konnte sie sich auf etwas gefasst machen…
 

So rasch, wie ich eingedöst und dem folgend eingeschlafen sein musste, erwachte ich auch wieder, gewaltsam geschüttelt von grauenvollen Schmerzen in meiner Brust und meinem linken Unterarm; die gebrochenen, teilweise sogar geborstenen Knochen heilten, und das nicht eben in einem angenehmen Prozess. Brüche traten bei Drachen eher selten auf, und in meiner wahren Gestalt hätte es wohl kaum ein Wesen geschafft, mir eine derartige Verletzung zuzufügen. Wie ich diese menschliche Hülle dafür hasste…

Ich presste meine Kiefer so fest aufeinander, dass mir das knirschende Geräusch, das dabei entstand, selbst auf leidigste Weise in den Ohren surrte. Meine Muskeln krampften sich zusammen, unbewusst bohrten sich die Klauen meiner unverletzten Hand in die Matratze und das Holz darunter.

Es war kaum zu ertragen, und das Atmen fiel mir schrecklich schwer, meine Sinne waren stumpf und ungebräuchlich.

Was sie letztendlich aufgeweckt hatte, wusste ich nicht, und in meiner Situation vermochte ich ohnehin nicht viel nachzudenken, doch irgendwann spürte ich eine Regung neben mir, gefolgt von einer sanften Berührung, die nur von Midoriko stammen konnte.

Sie legte ihre Handfläche auf meine Stirn, und murmelte unverständlich vor sich hin. Dann drehte sie sich kurz um, und der stille Laut von tropfendem Wasser erinnerte mich an meinen drängenden Durst.

Die Priesterin bemühte sich um kalte Umschläge, wie ich am Rande feststellen konnte, umfasste meine versteifte Hand vorsichtig mit ihrer. Hatte ich Fieber und merkte es nicht einmal? Oder halluzinierte ich und bildete es mir nur ein?

Mein innerer Trieb zwang mich regelrecht dazu, ihr die restlichen Wassertropfen von der Hand zu lecken, nach etwas Flüssigem zu betteln… auf welches Niveau musste ich mich in dieser Lage bloß herablassen, damit ich endlich etwas zu trinken bekam…?

Eine Weile verging, bevor sie realisierte, was ich von ihr wollte, doch dann leistete sie meiner Bitte Folge, und flößte mir geduldig eine ganze Menge Wasser ein, bis ich unmissverständlich ablehnte.

Daraufhin stahlen sich ihre Hände in meinen Nacken, ihre Stirn berührte vage die meine. Was sie damit bezweckte, wollte mir nicht so recht in den Kopf gehen, doch als die Kosungen ihrer warmen Finger einen wohltuenden Schauer durch meinen Körper sandten, überfiel mich allmählich ein Gefühl von Entspannung und Wohlbefinden. Ich wusste nicht genau, was sie tat, aber es fühlte sich gut an, oder mehr als das; es war weniger ein Kraulen, als mehr etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte… hätte sie das an einer anderen Partie meines Leibes getan, wäre es mir ernsthaft die Überlegung wert gewesen in Erwägung zu ziehen, sie Midoriko-sama zu nennen…
 

Es war mitten in der Nacht, draußen regnete es in Strömen, während ein eisiger Wind klagend durch den Wald heulte und in jede noch so winzige Ritze drang, die das Holz ihm bot.

Ich fröstelte, obschon mich im Moment andere Sorgen beschäftigten. Flúgar war wach, und das bereits eine ganze Weile; er zitterte vor Schmerzen, atmete gepresst. Was ihm so dermaßen zusetzte, blieb mir ebenso unklar wie der Grund für mein plötzliches Erwachen. Sicher, das Geräusch, das Flúgar verursachte, indem er die Kiefer übereinander schob, war furchtbar mitanzuhören, aber der schwere Regen, der auf das hölzerne Hüttendach prasselte, erreichte beinahe eine ähnliche Lautstärke.

Angestrengt tat ich alles, was mir möglich war, um den Loftsdreki zu beruhigen und zum Sprechen zu bringen, doch seine Reaktionslosigkeit auf meine Worte verriet mir, dass er meine Stimme nicht vernahm. Daher machte ich mich anderweitig bei ihm bemerkbar, streichelte ihn, vergrub meine Hände in seinem Genick.

Anfangs zeigte er keine besondere Begeisterung für die liebevolle Massage, die ich ihm zuteil werden ließ, doch seine Meinung schlug um, und seine verkrampften Muskeln lockerten sich merklich, sein Körper begann sich langsam zu entspannen.

Seine Haare hatten sich mittlerweile von selbst aus dem Zopf gelöst, und schmiegten sich in seiner außergewöhnlichen Seidigkeit zart an meine Haut. Was hätte ich darum gegeben, diesen Augenblick festzuhalten und nie wieder loszulassen…

Die Müdigkeit fiel bald wieder über mich her, lockte mich mit der süßen Erholung und Ruhe des Schlafes. Ich wehrte mich inständig dagegen, kämpfte gegen meine eigene Erschöpfung an, was jedoch dazu führte, dass ich umso schneller wieder einschlummerte.

Mit einem Mal war es taghell um mich herum, und ich schreckte unbeherrscht zusammen, als sich dem ein grollender Donnerschlag anschloss, der stetig bedrohlicher klingend immer näher heran kroch. Ich schloss hastig die Augen, drängte die in mir aufkeimende Angst zurück, und hoffte, dass das Gewitter so eilig verschwinden würde, wie es hierher vorgerückt war.

Ich rang innerlich mit mir selbst um Kontrolle; wenn ich jetzt in diesen tranceartigen Panikzustand geriet, würde Flúgar nicht in der Lage sein, zu kommen und mich zu retten. Für so etwas fehlte ihm zurzeit einfach die Kraft. Ob Skuggi auf mich aufpassen würde? Oder Kyouran…?

Mein Herz pochte in einem rasanten Rhythmus gegen meine Brust, meine Atmung war nur mehr eine anstrengende Mühsal nach genügend Luft…

Etwas Weiches streifte zurückhaltend meine Wange, strich durch eine der losen Strähnen meines schwarzen Haares. Es war Flúgar - und scheinbar lag er doch noch wach. Er betrachtete mich aus halbgeschlossenen Augen, die aufgrund des Fiebers glasig und leer wirkten.

Dann packte er mich völlig zusammenhangslos an der Hüfte, zog mich so nah zu sich, dass ich das feste Fleisch seines Oberkörpers spüren konnte, sein kühler Atemhauch in meinem Gesicht kribbelte.

Meine Angst hatte sich sofort verflüchtigt, und das heimelige Gefühl von Geborgenheit und Schutz wallte in mir auf, sorgte dafür, dass ich mich noch näher an Flúgar kuschelte. Ich genoss es in vollen Zügen, dass er nicht mehr von mir abließ, seine Hand auf meiner Seite ruhte, bis ich wieder einschlief…
 

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***>>>Kapitel 28:

>“Oftmals entspricht die Wirklichkeit nicht dem, was man darüber zu glauben weiß. Der eigene, begrenzte Standpunkt ist nicht genug, um sie in ihrem vollen Sein zu erfassen, und so kommt es zu Missverständnissen und falschen Überzeugungen, irregeleiteten Gefühlen, unnötigem Schmerz und Leid…“

Aritei



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Tigerin
2006-06-11T13:01:08+00:00 11.06.2006 15:01
Schönes Kapitel!^^

Ohwei... ein paar Missverständnisse. Und Flúgar hat Midorikos Vater getötet... ich bin mal gespannt, ob er ihr dass erzählt.
Midoriko hat wieder mal Angst vor dem Gewitter. Aber bei Flúgar fühlt sie sich ja geborgen und sicher.
Und Kyouran bekommt ein ganz anderes Bild von Midoriko. Man sollte sich eben nicht an Gerüchte halten...
Du hast wieder mal alles super gut beschrieben. Besonders die Krankheiten...^^
Schreib schnell weiter und schick mir bitte wieder ne Ens!^^

Bye Tigerin
Von:  Mondvogel
2006-06-02T10:52:02+00:00 02.06.2006 12:52
Ich bin baff. Wie kannst du bloß so WUNDERBAR schreiben? An deinem Schreibstil ist nichts auszusetzten und die Beschreibungen des Himmels und der Umgebung sind derart schön, dass einem beim Lesen der Mund vor Staunen offen bleibt. Ein wahrer Augenschmaus war dieses Kapitel.
Jetzt weiß man sogar, dass Flúgar Midorikos Vater getötet hat, wenn ich das richtig verstanden habe. Ohje. Wenn Midoriko das erfährt...
*Hände reib*
Das wird immer spannender. ^^
Von: abgemeldet
2006-06-01T11:30:41+00:00 01.06.2006 13:30
Boah WoWo!!! ICh bon wirklich sehr beeindurckt diese SChreibweise, einfach genial. ^-^

Das was Flugar am Ende getan hat hat mich ziemlich überrascht, aber ich hoffe du schreibst bald weiter damit ich mehr darüber weiß. g*


24
Von:  Hotepneith
2006-05-31T21:06:11+00:00 31.05.2006 23:06
Ja, da hast du einigen Leuten Missverständnisse aufgehalst....Der eine hört auf Gerüchte, die andere ist freundlich ausgedrückt mit den Nerven langsam fertig, der dritte im Fieberwahn. Eigentlich ist nur einer der vier wirklich geistig da. Abr ob das was bringt?

Mal sehen, was das nächste Kapitel bringt. Die Rätsel werden so kaum weniger. Hst er wirklich ihren Vater getötet, wie man es durchaus annehmen könnte?

bye

hotep



Deine krnakheitsbeschreibungen sind wie immer sehr gut...


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