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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Jiboujiki~*

"Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter." – Ralph Waldo Emerson
 

Kapitel 26 – Jiboujiki

-Verzweiflung-
 

*Wie reagieren wir, wenn unsere schlimmsten Alpträume Wirklichkeit werden?

Artet es in ein verbissenes Ringen um das eigene Leben aus? Oder brechen wir einfach unter der Last zusammen, die auf unseren Schultern lastet?

Wie geht es weiter, wenn alles um einen herum plötzlich zerbricht und die Scherben jeden Weg blockieren, den wir gehen könnten? Gehen wir an Ort und Stelle zugrunde, oder kämpfen wir bis zum bitteren Ende?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

„FLÚGAR!!!“

Midorikos Schrei hallte zwischen den Säulen des unterirdischen Felsgewölbes wieder, und gleichermaßen erstaunt wie erschrocken, fuhren Aska und Rakuchou synchron herum.

Fast im gleichen Moment bebte die Erde unter einer heftigen Erschütterung, und das Rauschen und Tosen von unvorstellbaren Wassermassen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Das kalte Wasser aus den Teichen stieg beständig an, ein reißender, sich stetig vergrößernder Strudel entstand, der über die Abgrenzungen trat und alles mit einer unsichtbaren Kraft in die Tiefe zog. Dann teilte sich das Wasser, und aus weiß schäumenden, wirbelnden Fluten erhob sich der kolossale Schädel eines indigoblauen Drachens. Das riesige Tier öffnete seinen Schlund und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, dessen Schall alleine einige Felsbrocken zu Geröll zertrümmerte.

So weit sie es zu sehen vermochte, besaß dieses Ungetüm keine Flügel, nur Flossen - wie ein Fisch, und sein langer geschuppter Leib erinnerte sie mehr an eine Schlange als an einen Drachen; zugegeben, eine überaus große, schwimmende Schlange mit beeindruckend langen Zähnen…

Aber wo war Flúgar?

Das Wasser hatte längst den Boden geflutet, von dem Luftdrachen fehlte jede Spur. Die Schwarzhaarige schrie sich die Seele aus dem Leib, bis ihre Tränen erstickte Stimme ihr nicht mehr gehorchte.

Flúgar konnte doch nicht…

Mit einem energischen Kopfschütteln verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Hirn. Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie jetzt nur machen sollte, wurde sie hinterrücks von Skuggi gepackt und von ihm zurück in den dunklen Gang gezerrt, aus dem sie gekommen waren. Die Priesterin wehrte sich verbissen gegen ihn, er jedoch hob sie auf seine Arme und bahnte sich schnellstmöglich einen Weg zurück zur Oberfläche.
 

Immer weiter stieg der Wasserpegel, und die wahre Kraft des nassen Elements offenbarte sich. Die runden Pfeiler knickten seitwärts ein wie welke Grashalme, und die tobende See verschlang alles an Staub und Felsbrocken, das krachend aus der Höhlendecke brach und lautstark in die brausenden Untiefen eintauchte. Grober Sand und Gesteinssplitter rieselten von der Gewölbekuppel herab, und langsam hielt der Drache, der all dies kontrolliert herbeigeführt hatte, es für besser, wieder unterzutauchen und die Grotte zu verlassen. Klatschend schlugen die hohen Wellen über seinem mächtigen blauen Leib zusammen, als er diesen zurück unter die Oberfläche drückte.

Er hatte eingreifen müssen, denn ansonsten wäre wohl nichts mehr zu retten gewesen. Nicht nur, dass dieser törichte Loftsdreki wirklich Ernst machte und sie die Pulsadern aufschlitzte, nein, diese Menschenfrau musste sich auch noch bei Aska und Rakuchou verraten. Die zwei passten wahrlich zusammen wie Pech und Schwefel…

Graziös manövrierte er sich mit Hilfe seiner Flossen und seinem Rückensegel bis hinunter zum Grund der überschwemmten Höhle, und er brauchte nicht sehr lange, um das zu finden, nach dem er gesucht hatte. Zu seiner Erleichterung war es noch nicht zu spät, und der letzte Funken Leben des Loftsdreki war noch nicht erloschen.

Rakuchou war geflohen, gemeinsam mit dem Eldursdreki. Er hatte Recht behalten, seinem Bruder nicht zu vertrauen, denn schon längere Zeit war ihm aufgefallen, dass sich dieser sonderbar benahm. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass Rakuchou so weit gehen würde und sich mit Aska verbündete. Obwohl… in seiner Not fraß der Teufel Fliegen, sagte man, und er musste einräumen, dass sich die Empfindungen seines Bruders entgegen der Loftsdrekar mit den Jahren nur gefestigt und verstärkt hatten. Und er wollte nicht, dass noch einer seiner Brüder seinen Gefühlen zum Opfer fiel.

Nein, noch einmal würde er es nicht mit ansehen, wie die Seele eines Vatnsdreki von seinem Hass und Rachegefühlen konsumiert und zerstört wurde, niemals…
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Ungläubig fixierte ich den von massiven Felsblöcken verschütteten Eingang der Höhlung; der Berg selbst war wieder in Schweigen verfallen, präsentierte sich in seiner neuen, gewaltsam veränderten Form als würde er bereits hunderte von Jahren so existieren.

Ich war schockiert, vom Entsetzen gepackt, und unfähig, zu handeln oder nur klar zu denken. In mir tobte ein Orkan von gemischten, bitter-süßen Empfindungen, die sich mir teils aufdrängten, teils versucht schienen, sich möglichst rasch wieder zu verflüchtigen. Mir war nicht bewusst, was ich von alledem halten sollte, ich wollte nicht begreifen, was soeben geschehen war.

In meinem Kopf gähnte eine undefinierte Leere, wie ein schwarzes Nichts, das alles in sich hinein sog und unwiderruflich verschlang; ein unheimliches Loch ohne Gestalt, das sich durch meine rationalen Gedankengänge fraß und sie restlos ausmerzte…

Ich nahm wohl Notiz davon, dass Skuggi direkt hinter mir stand, mir einen verständnisvollen, mitleidigen Blick schenkte, aber seine Anwesenheit spendete mir keinen Trost, milderte nicht einmal im Geringsten den Schmerz, den der Verlust des Luftdrachens in meinem Herzen verursachte. Es tat weh zu wissen, dass ich ihn im Stich gelassen hatte, und dass er deswegen jetzt…

Aber… warum? Was hatte ihn dazu angespornt, sich selbst in den Tod zu stürzen? Was für ein Motiv verbarg sich dahinter? Hatte er etwa gezweifelt, dass ich kommen würde, um ihn zu befreien? Oder war es wieder Aska, die ihre Finger im Spiel und ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte?

Noch immer rannen mir salzige Tränen über die Wangen, tropften auf den ockerfarbenen, felsigen Untergrund.

Alles erschien mir wie ein Traum, ein bitterböser Alptraum, der mich malträtierte und nächtelang verfolgte, mich nicht mehr erwachen ließ. Doch es war schlimmer als das; es war die Realität, und etwas Geschehenes war nicht mehr rückgängig zu machen, ganz gleichgültig, wie sehr man sich auch danach sehnte.

Früher oder später musste ich mich mit diesem Vorfall abfinden, wenn ich daran nicht zugrunde gehen wollte. Blitzartig kam mir meine Mutter in den Sinn… nun verstand ich sie. Jahrelang hatte sie durchlitten, was ich gegenwärtig fühlte, und war schließlich daran zerbrochen. Sollte mir dasselbe widerfahren? Hatte sich das Schicksal mittlerweile so gegen mich verschworen? Oder war es das, was man Leben nannte?

Trauer und Verlust begleiteten jeden Menschen, ich stellte keine Ausnahme dar, und blieb demnach auch nicht davon verschont. Aber musste es denn so ausgehen? Musste das Schicksal einem das, was man zaghaft lieb gewann so harsch entreißen?

Wie sollte es ab jetzt mit mir weitergehen? Wohin würden meine Wege mich führen? Und was würde ich tun?

Mein altes Leben war keine lockende Alternative… zumindest blieb mir Kaneko, meine treue Weggefährtin, die den Platz an meiner Seite hoffentlich niemals verlassen würde.

Ich schniefte leise, wischte mir mit dem Ärmel meiner Baykue die Tränen aus dem Gesicht… das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Wo versteckte sich der Sinn hinter solchen Ereignissen?

Vielleicht gab es ihn nicht, und…

„Warum weint ihr Menschen, wenn ihr traurig seid? Und warum sind es Tränen, die salzig wie das Meer sind, die ihr vergießt? Denkt ihr in eurer einsamen Traurigkeit an den Ozean?“

Der Klang jener fremden Stimme ließ mich zusammenzucken, und als ich den Blick vorsichtig hob, erstarrte ich, hielt den Atem an. Wie hätte ich diesen Anblick jemals vergessen können… Shiosai.

Die langen tiefblauen Haare, deren Spitzen weiß wie ein schaumiger Wellenkamm erschienen, die meeresgrünen Augen und die silbergraue, mit Tiefseeschätzen verzierte Kleidung. Mir war, als würde er leibhaftig vor mir stehen, und es bedurfte mir einer eindringlichen Musterung der Gestalt, die noch etwas abseits von uns inne hielt, um zu begreifen, dass es sich nicht um den Vatnsdreki handelte, den ich vor nicht allzu langer Zeit mit Flúgar in Yumejis Wald angetroffen hatte.

„Wer bist du?“

Skuggi stellte sich dem Fremden, dem die aufgehende Morgensonne im Rücken stand, entgegen, und sprach ihn nicht gerade in einem höflichen Ton an. Er beschwor den Ärger förmlich herauf. Ich hatte nicht die Lust, und auch nicht die Kraft dazu, etwas dagegen einzuwenden oder zu unternehmen. Sicherlich versuchte der Schattendrache mich nur zu schützen.

„Ich stamme aus dem Clan der Vatnsdrekar. Ich bin Uminaris erster Sohn und Erbe. Um es kurz zu halten: Kyouran.“

Die tiefe Stimmlage mit dem leicht rauchigen Tonfall erinnerte mich ebenfalls stark an Shiosai, allerdings schwang im Unterton dieses Vatnsdreki, der sich mit dem Namen Kyouran betitelt hatte, eine eigenartige Sanftheit mit, die bei Shiosai nicht im Ansatz vorhanden gewesen war. Ob die Möglichkeit bestand, dass er mit ihm verwandt war?

Andererseits, vielleicht glichen sich die Vatnsdrekar alle in ihrem Aussehen, sodass es den Anschein erweckt, als wären sie alle direkt miteinander blutsverwandt.

Kyouran wandte plötzlich den Kopf zur Seite, ging behutsam halbseitig in die Knie. Das schwache Röcheln aus seiner Richtung zog mein Interesse auf sich und ließ mich hellhörig werden. Er war definitiv nicht alleine, jemand war bei ihm. Misstrauisch blickte ich ihn an, blinzelte durch die frühmorgendlichen, goldfarben wirkenden Sonnenstrahlen hindurch, ohne dabei jedoch den gewünschten Effekt zu erzielen.

Der Vatnsdreki war nicht unbedingt zimperlich mit seiner Begleitung, zog diese von seinem Rücken weg und legte sie seitlich auf dem unebenen Boden ab. Dann hob Kyouran leicht den Kopf, warf mir einen eindringlichen Blick zu.

„Hörst du auf zu weinen, wenn ich dir verrate, wen ich aus dem Wasser gefischt habe?“

Skepsis und Unsicherheit vermischten sich in meinem Ausdruck. Was wollte er von mir? War er etwa auch so wüst und derbe wie Shiosai?

Seine Augen waren anders als die von dem Vatnsdreki, den Flúgar getötet hatte, sie strahlten Wärme und einen Hauch von Sanftmut aus, die mich die leise Angst, die in mir aufzukommen drohte, vergessen ließ.

Ein innbrünstiges Seufzen war zu vernehmen, als sich Kyouran zögerlich auf dem felsigen Boden niederließ und diesmal recht fordernd dreinschaute.

„Könntest du dich jetzt – bitte – hierher bewegen und dich um ihn kümmern? So allmählich vergeht mir die Lust daran diesem Idioten die Schlagader abzudrücken, damit er mir die Klamotten nicht noch mehr versaut…“

Er schüttelte missmutig den Kopf, wartete ungeduldig auf meine Reaktion. Behände erhob ich mich, schritt so schnell wie es meine Verfassung mir noch erlaubte auf ihn zu. Mein Blick haftete sich auf die Gestalt, die neben Kyouran regungslos auf dem Boden lag…

„Flúgar…“

Ich brachte keinen Ton mehr heraus, sackte neben ihm auf die Knie, berührte ihn zaghaft an der Schulter. Er war vollkommen durchnässt, seine Atmung war schwer und von Hustenanfällen durchsetzt. Aus der länglichen Wunde an seinem linken Arm sickerte kaum noch Blut, und als ich Kyouran ansah, der Flúgar einen besorgten Seitenblick zugedachte, wusste ich auch, dass das ihm zu verdanken war.

Seine Hände und die linke Seite seines silbergrauen Haoris waren blutverschmiert, und im Moment bemühte er sich die Blutung gänzlich zu stillen, indem er einfach die Zufuhr durch den Druck, den er auf die Schlagader ausübte, unterbrach.

„Das ist der Drache, der den Einsturz der Höhle verschuldet hat. Trau ihm nicht, Midoriko, er hätte uns um ein Haar genauso ersäuft wie Aska und ihre Gefolgschaft.“

Skuggi behielt sich auf Abstand, ließ den Vatnsdreki nicht mehr aus den Augen. Der Beschuldigte warf dem Schattendrachen einen flüchtigen Blick zu.

„Aska lebt – sie ist zusammen mit Rakuchou geflüchtet, ich habe lediglich ihre Anhängerschaft ertränkt. Das hat mich euch nichts zu tun, obwohl ich hinzufügen muss, dass deine Ungehaltenheit mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, Mädchen. Mein Bruder ist fort… zumindest habe ich Flúgar finden können.“

Sein Bruder? Dieser Vatnsdreki, der mit Aska unter einer Decke steckte, war Kyourans Bruder? Und ich sollte ihm sein Vorhaben vermasselt haben?

Was für ein unangebrachter Kommentar von ihm…

Flúgar erging es schlecht und er sprach von Angelegenheiten, denen jetzt wirklich kein Interesse zu widmen war. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, strich dem bewusstlosen Loftsdreki einige nasse Strähnen seines Haares aus dem Gesicht. Dann schaute ich mich um, suchte die Umgebung nach einem geeigneten Unterschlupf ab, denn hier, mitten im Steinbruch, wollte ich ihn nicht liegen lassen; schon gar nicht in diesem Zustand.

„In der Nähe gibt es eine alte Hütte, reicht das für deine Zwecke aus?“

Ich nickte, beobachtete wortlos, wie Kyouran den Verletzten wieder auf seinen Rücken wuchtete und mir anbot, ihm zu folgen. Kaneko miaute zustimmend, und ich kam seiner unausgesprochenen Anfrage nach.

Skuggi hielt sich im Hintergrund, fixierte den Vatnsdreki mit einem verstohlenen Glitzern in den Augen. Er vertraute ihm kein Stück, und zeigte das auch offen. Aber woher rührte sein ablehnendes Verhalten?

Erst jetzt fiel mir auf, dass er sich nur im Schatten fortbewegte, jeden noch so kleinen Sonnenfleck aufs Dringlichste vermied. Tageslicht war wohl etwas, das sein Körper nicht vertrug; immerhin war das Siegel, mit dem er festgehalten und gebannt worden war, ein Sonnenstein gewesen.

Seine rabenschwarzen Haare reichten nur knapp bis zu den Schultern, und seine Haut war außergewöhnlich blass, seine fremdländische Tracht schlicht und abgetragen. Der wache, amethystfarbene Blick allerdings hatte sich nicht verändert, er war dem gleich, den ich in seiner Gefängniskammer gesehen hatte…

„Willst du dich nicht ein wenig beeilen, Wasserdrache? Meiner Meinung nach sieht er ganz schön abgearbeitet aus.“

Wieso tat er das?

Er konnte sich glücklich schätzen, dass Kyouran nicht auf seine Provokation einging und ihn zufrieden ließ; diese Stichelei war absolut überflüssig.

„Wenn du ihn so unbedingt tragen willst, bitte sehr, aber Flúgar ist nicht gerade ein Leichtgewicht.“
 

Rasch erreichten wir die dürftige Holzbehausung, die leicht verwittert und von den Jahren ihrer Existenz gezeichnet einsam und verlassen auf einer kleinen Lichtung stand. Moose und Flechten wuchsen im Schatten der alten Bäume, zwischen denen sich plätschernd ein kleiner Bach seinen Weg bahnte. Weiche, langblättrige Gräser säumten die mächtigen Stämme, und hier und da entdeckte man in den dichten Büscheln die breite Hutkrempe eines Pilzes.

Es war ein guter Ort für einen - hoffentlich nicht allzu langen - Aufenthalt, den Kyouran da vorgeschlagen hatte. Trotzdem erschien mir das ein wenig seltsam, denn immerhin befanden wir uns, soweit ich das verstanden hatte, im Revier der Loftsdrekar, Flúgars Sippe, und die duldeten, wenn ich mir das Verhalten des Exemplars, das ich kannte, in Erinnerung rief, keine anderen Drachen in ihrem Territorium. Wie konnte es also sein, dass er sich hier auskannte?

Ich hatte bis jetzt keinen schlechten Eindruck von ihm, und folglich auch keinen Grund ihm zu misstrauen. Sicher, er war ein Vatnsdreki und sein Äußeres glich dem von Shiosai ungemein, aber das ergab keinen Anlass für mich, Vorurteile und Argwohn gegen ihn zu hegen. Es lag mir fern, jemanden von Vornherein zu verurteilen.

Ohne Umschweife betrat der Drache mit den dunkelblauen Haaren die Hütte, legte den besinnungslosen Flúgar dort achtsam auf einer eingestaubten Strohmatratze ab und wandte sich dann an mich.

„Kommst du mit ihm alleine zurecht?“

Ich setzte mich neben Flúgar auf den Holzboden, musterte seinen von Schürfwunden, Kratzern und blauen Flecken übersäten Leib. Ausgenommen der Schnittwunde am linken Arm, die er sich selbst zugefügt hatte, wies er keine weiteren gefährlichen Verletzungen auf, und im Ganzen betrachtet war er wohl noch glimpflich davongekommen.

„Könntest du für mich ein paar Kräuter sammeln gehen?“

Mein fragender Blick galt ihm, und nach einem kurzen Zögern deutete er ein Nicken an.

„Wenn du mir genau beschreiben kannst, was du brauchst. Waldpflanzen sind

nicht das, mit dem ich mich bisher beschäftigt habe.“

Etwas wie Verlegenheit beschlich seine Züge, und verlieh seiner Miene einen Ausdruck, der mich innerlich zu einem verschmitzten Grinsen veranlasste. Er bemühte sich ernsthaft, und nur deshalb hatte er mir seine Hilfe angeboten. Wirklich kein Vergleich zu Shiosai…

„Das ist nett von dir, aber… warum hilfst du Flúgar?“

Kyouran stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, schloss für einen Moment die Augen, als ob es ihn Überwindung kosten würde, sich zu meiner Frage zu äußern. Hatte ich mich etwa so im Thema vergriffen?

„Ich will mit ihm sprechen, und tot taugt er dazu nicht mehr. Und entgegen dem, was ich geglaubt habe, ist Flúgar ein anständiger Kerl… du solltest dich um seinen Unterarm kümmern, ihn schienen, dann heilt der Bruch schneller aus.“

Mit diesen Worten verließ er lautlos die Unterkunft, und ich wurde das Gefühl nicht los, etwas Falsches gesagt zu haben. Ich hoffte, ihn nicht verärgert zu haben, denn das war nicht meine Absicht gewesen. Vielleicht ging mich diese Angelegenheit einfach nichts an, und ich sollte nicht versuchen, meine Nase dort hinein zu stecken.

Flúgars Körper fügte sich unwillkürlich einem heimlichen Krampf, der alsbald in einen haltlosen Husten ausartete; ein gedämpfter Schmerzenslaut entrang sich seiner Kehle, ging fließend in ein klägliches Würgen über. Ein dünnes Rinnsal farbloser Flüssigkeit rann ihm aus den Mundwinkeln und über das Kinn, tropfte jählings zu Boden. Die geruchlose Lache dehnte sich zusehend aus, und eine ganze Weile verging, bis der Anfall des Loftsdreki wieder abebbte, sein Husten versiegte.

Sachte fuhr ich ihm über den Rücken, wartete ab, ob sich sein Zustand beruhigte. Er tat mir leid, und ich fragte mich inständig, woher diese Menge von flüssigem Zeug kam, die er gerade ausgespuckt hatte - denn um Wasser handelte es sich nicht, so viel konnte ich sagen.

„Das gehört dir, oder?“

Skuggis Stimme unterbrach meine Gedanken; er stand unschlüssig in der Tür, mein Reisegepäck in der Hand, das man mir nach der Gefangennahme abgenommen hatte. Ich freute mich, aber wie war er an die Sachen herangekommen?

Mir einer einladenden Gestik winkte ich ihn zu mir, bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen. So… schüchtern war er mir anfangs nicht erschienen.

„Die Anwesenheit dieses Vatnsdreki macht mich nervös. Der ist nicht zufällig hier, Midoriko, vertrau ihm nicht. Wenn Askas Gehilfe wahrhaftig sein Bruder ist-“

Ich schnitt ihm das Wort ab, obschon ich wusste, wie unhöflich es war, ihn mitten im Satz zu unterbrechen. Es war nachzuempfinden, dass er auf die Vatnsdrekar nicht gut zu sprechen war, doch das hier…? War das in Ordnung?

„Kennst du ihn?“

Der Schwarzhaarige verneinte tonlos.

„Was ist es dann? Hast du Angst?“

Vorab entgegnete er dem nichts, senkte den Kopf und starrte auf die staubige Reisstrohmatte unter ihm.

„Ich weiß es nicht… aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, und mein Instinkt täuscht mich selten. Was will er hier, im Gebiet der Loftsdrekar? Soweit ich weiß, haben sich die beiden Clans bis aufs Blut befehdet, und dann wagt er sich alleine her? Etwas stimmt da nicht.“

Er war ehrlich, das spürte ich, und im Grunde genommen hatte er Recht… oder? Was sollte ich nur davon halten?

Ich musterte Skuggi von der Seite, erfasste seinen angespannten Ausdruck. Ein Seufzen drang aus meinem Munde.

„Kyouran ist ein wenig eigenartig, das denke ich auch, aber das hängt mit etwas Anderem zusammen. Ich bin mir nicht sicher, was es ist, aber es hat scheinbar mit Flúgar zu tun.“

Wir verfielen in Schweigen, und ich begann in meinem Gepäck nach etwas Brauchbarem zu suchen, das mir eventuell helfen konnte, den Arm des Loftsdreki zu schienen. Er war gebrochen, dessen hatte ich mich vergewissert, nachdem Kyouran mich darauf aufmerksam gemacht hatte. Es war jedoch nicht bloß sein linker Unterarm, auch ein Großteil seiner Rippen hatte den Sturz nicht heil überstanden und bereiteten ihm Schwierigkeiten beim Atmen; mit Sicherheit hatte er auch innere Verletzungen davongetragen.

Da ich weder Verbandsmaterial noch Bandagen bei mir hatte, fiel mir die Entscheidung vergleichsweise leicht, und so machte ich mich daran, den zartrosafarbenen Yukata aus der kleinen Stadt am Fuße des Gebirges, in der wir kurz gerastet hatten, zu zerreißen.
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

***>>>Kapitel 27:

>“Die Nachwirkungen der letzten Ereignisse bringen Erinnerungen hoch, die niemals in Vergessenheit hätten geraten dürfen. Diese braunen Augen, aus denen nichts als Entschlossenheit und ein eisernen Wille spricht… er kennt diesen Blick nur zu gut, und nun kehrt das Bewusstsein, woher dies rührt, auch wieder zurück…“

Minning



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Tigerin
2006-04-25T15:27:21+00:00 25.04.2006 17:27
Schönes Kapitel!^^

Flúgar lebt noch, wie schön. Die Fragen werden leiden noch nicht geklärt, ich hoffe doch mal, sobald Flúgar wach ist. Auf jeden Fall bleibt es spannend.
Midoriko dürfte auch der erste Mensch sein, der so viele unterschiedliche Drachen kennen gelernt hat. Ich bin gespannt, was Kyouran mit Flúgar besprechen will. Was der Schattendrache gesagt hat, und wo er Recht hat, das sich Kyouran traut, allein in das Gebiet der Flugdrachen zu gehen... es gibt ja alte Feindschaften, es sollte also ziemlich gefährlich sein.
Ich fand alles wunderbar beschrieben, die Umgebung, aber auch die Gefühle von den einzelnen Charakteren.
Schreib bald weiter und schick mir ne Ens!^^

Bye Tigerin
Von: abgemeldet
2006-04-24T18:38:09+00:00 24.04.2006 20:38
Oh hoffentlich beißt der nicht ins Gras!!!!
Der arme kann einem wirklich Leid tun.
Deine Bildersprache gefällt mir sehr gut, so kann man sich immer alles besser vorstellen. ^-^

Auch wirst du mit dem neuen Begleiter weiter Fragen auf, auf jeden Fall bleibt es sehr spannend, das merke ich und deshalb freu ich mich auch wieder auf das nächste Kap..

Hinterlass mir wieder ne Ens. ^-^


24
Von:  Mondvogel
2006-04-24T17:10:22+00:00 24.04.2006 19:10
Schön, schön, schön. *Hände reib*
Es wird immer interessanter und geheimnisvoller. Super wie du die Spannung aufbaust. Und wie gut du alles ins Detail beschreibst und auch auf die Gefühle und Gedanken der einzelnen Figuren eingehst. Damit bekommt man auch einen engeren Bezug zu ihnen.
Ich hatte schon ernsthaft befürchtet, dass Flúgar gar nicht mehr auftaucht, aber dann kam da dein neuer Charakter ins Spiel. Was Kyouran wohl mit Flúgar zu besprechen hat? Ich finde diese Fehde zwischen den Drachen unglaublich interessant. Da wird man neugierig, was das alles auf sich hat. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da etwas Großes dahinter steckt.
Übrigens... ich glaube, dass man "etwas anderem" alles klein schreibt. Wenn mich nicht alles täuscht, dann habe ich in vielen Büchern gesehen, dass man "anders" vor "etwas" immer klein schreibt.
Von:  Hotepneith
2006-04-24T04:20:19+00:00 24.04.2006 06:20
Wunderbar, das reinste Drachentreffen. Und du beschreibst sie auch alle so unterschiedlich.
Aber du lässt dich natürlich- noch- nicht herab, die ganzen Fragen zu beantworten, die du so aufgeworfen hast.
Jedenfalls ist Midoriko da in etwas nettes geraten.
In einem früheren Kapitel hast du ja schon angedeutet, woher die Feindschaft der Sippen kommt...Mal sehen, ob die arme Menschenfrau irgendwann mal eine Aufklärung bekommt, was eigentlich los isz.

Wie immer wunderschön geschrieben und geschildert.

bye

hotep


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