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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Hryggð~*

"Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Trauer am meisten Schaden für den Leib." – Thomas von Aquin
 

Kapitel 15 - Hryggð

-Trauer-
 

*Wie hoch ist schon der Wert eines Sieges, der mit dem Tod des Kontrahenten verbunden ist, im Vergleich mit der Trauer, die sich in die Herzen der Angehörigen des Verlierers einnistet?

Darf man diesen Schmerz andere als nichtig einstufen, wenn man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann? Oder aber holt einen solch eine gewissenlose Ungerechtigkeit früher oder später mit den entsprechenden Konsequenzen wieder ein?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

»Der Morgen ist grau und unfreundlich; hinter dünnen, zerrissenen Wolkenfetzen prangt undeutlich die helle Scheibe des Tages, die Sonne, am blassen Himmel, wirft ihr ungebräuchliches Licht auf den bedeutungslosen Ort, der den Umständen entsprechend zu einem Schlachtfeld wurde. Die letzte Nacht war bitterkalt, unendlich lang, und die Verluste kaum noch erträglich. Der Feind lauert nun im eigenen Gebiet, bereitet im Verborgenen einen neuen Angriff vor.

Das Meer rauscht leise, unberührt, kleine Wellen spülen über den weißen, kiesdurchsetzten Sandstrand der vereinzelten Inseln hinweg, geben einem großen Teil der Verteidiger das wohlige Gefühl von Vertrautheit und Hoffnung zurück.

Die Angreifer kommen vom Festland, aus den hohen Feuerbergen im Herzen des Westens und beanspruchen jetzt das Land ihrer Vorfahren, das in vergangenen Zeiten in die Pranken anderer gefallen ist; aber weder Wind noch Meer fügen sich dem tobenden Feuersbrünsten, verteidigen als Verbündete den einstmals hart errungenen Boden.

Seite an Seite, der Verzweiflung nahe, kämpfen das zweite und das vierte Element gegen das dritte, aber die Aussichten auf einen Sieg schwinden. Die Situation wird immer bedrohlicher, und langsam schwinden Mut und Hoffnung dahin; das Meer zieht sich zurück, plötzlich, schier grundlos, die Flanken verlieren ihre Durchschlagskraft und der Wind steht dem Feuer nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es ist eine ungleiche Begegnung.

Das verbleibende Oberhaupt des Widerstandes hält eisern an seinen Zielen fest, spornt seinen Clan ein letztes Mal zu Höchstleistungen an, um nichts auf der Welt darf dieser Ort in die Klauen des Feindes geraten.

Der Gegner kann zurückgedrängt und die Schlacht letztendlich gewonnen werden... aber der Preis dafür ist hoch.

Nicht nur der Großteil der Kämpfer ist auf alle Ewigkeit verloren, das Oberhaupt des Windes büßt sein Leben in den Armen seines Enkels ein, wird zu dem, was er einst war, und lässt bloß das Herz eines Lebens zurück, das für die Unendlichkeit bestimmt war.

Gegen seinen eigentlichen Willen muss er mit seinem Tod den Clan seinem Sohn überlassen; ein Sohn, der aufgrund seines schwachen Willens der verbotenen Versuchung nachging und seine Ehre nachlässig verspielte. Ein Sohn mit Stolz, aber ohne Wert...«
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Das Tablett mit dem perlmuttfarbenen Geschirr entglitt ihrem Griff und fiel zu Boden, zersplitterte auf dem dunkelgrünen glasgleichen Boden, der den Anschein eines zugefrorenen Sees erweckte, in tausende Scherben. Geschockt sank sie auf die Knie hinab, unbegreifliche Gedanken jagten durch ihren Kopf. Das konnte einfach nicht sein...

Tränen rannen über ihre blassen Wangen, der Ausdruck in ihren Augen war verstört, als sie sich wieder auf die Beine zwang und ungestüm durch die langen Gänge in den westlichen Teil des Palastes rannte, nur noch das eine Ziel vor Augen. Sie sehnte sich in diesem Moment nach den starken Armen ihres Geliebten, nach dem einzigen Mann, der ihren Schmerz verstehen würde und sie trösten könnte.

"Uminari..."

Der Angesprochene sah von seiner Schreibarbeit auf, das Gesicht von wissender Trauer geprägt. Ihr aufgelöster Zustand versetzte ihm einen weiteren Stich im Herzen, nicht schwächer als der, den die Erkenntnis über den Tod seines Sohnes hervorgerufen hatte.

Für sie gab es kein Halten mehr, ihre Beherrschung war dahin; das Gefühl einer schrecklichen Leere vernahm ihr Herz ein, verhinderte geflissentlich das Aufkommen eines vernünftigen Denkens.

Die Kraft verließ sie, nur die Umarmung ihres Gefährten hielt sie nunmehr auf den Beinen und vermittelte ihr den Trost und die Wärme, die in jener Situation unentbehrlich für sie waren. Trotz dessen blieben ihr die Fakten unbegreiflich... wie hatte das nur passieren können?

"Shiosai ist..."

Sie verstummte, vergrub schluchzend das Gesicht in Uminaris Kleidung. Er hingegen nickte bloß.

"Ich weiß, Aranami, ich weiß..."

Er wusste nicht, was er sagen sollte, ihm kam nichts in den Sinn, was er hätte äußern können um ihr die Sache leichter oder gar erträglicher zu machen. Behutsam strich er seiner Gefährtin durch das grünblaue, sanft gewellte Haar, fuhr ihr über den Rücken, flüsterte ihr die beruhigenden Worte eines alten Gebetes ins Ohr.

Uminari fühlte sich hilflos, das Oberhaupt der Vatnsdrekar war ratlos, und das mochte bei seinem Alter schon etwas heißen...

"Aber wer...?"

Aranami sah tief in seine meeresgrünen Augen. Sie würde es nicht dulden, dass er ihr keine Antwort gab; mit ihrer bestimmten und energischen Art hatte sie sich schon unglaublich oft gegen ihn behaupten können.

"Es war mit Sicherheit einer von Minamikazes Leuten, sonst wäre niemand zu so etwas in der Lage gewesen... zumal Shiosai Sui No Rinrou bei sich hatte..."

Ungläubigkeit und Verärgerung ergriffen Besitz von Aranamis Zügen.

"Wusstest du über sein Vorhaben bescheid?!"

Unweigerlich löste sie sich von ihm und schüttelte seine Umarmung ab. Jetzt war es eindeutig Wut, die in ihren Augen aufflackerte.

"Nein, ich wusste nichts davon. Er hat sie ohne meine Erlaubnis an sich genommen und war bereits verschwunden, als ich es bemerkt habe."

Aranami schnaubte. Sie kannte Uminari viel zu gut, als dass sie ihm zutrauen würde, dass er log um sie zu beschwichtigen. Das hatte er nicht nötig, auch wenn sie manchmal die Ahnung beschlich, dass er ab und an die Tatsachen zu ihrem Belieben ausschmückte.

Sie seufzte. Schließlich war er auch nur ein Mann.

"Aber ich wusste es..."

Sie fuhr herum; Kyouran, das älteste ihrer zahlreichen Kinder, stand in der noch immer weit offen stehenden Schiebetür, den Blick betrübt, schuldbewusst zu Boden gesenkt.

"Wieso hast du ihn gehen lassen?"

Erneut brach sie in Tränen aus, als sie sich ihrem ältesten Sohn näherte und ihn schließlich an den Schultern packte.

"Mama, ich..."

Mit Mühe hielt er seine Fassung, legte einen Arm um sie, wahrte seine Haltung gegenüber seiner todtraurigen Mutter, die sich sichtlich nicht mehr zu helfen wusste.

"Ich habe es versucht, aber Shiosai hat sich nicht aufhalten lassen... er hat den Gedanken, dass die Loftsdrekar unsere Familie als Erwiderung auf ein gutgemeintes Angebot verspotteten, nicht mehr ertragen können, er... es tut mir leid..."

Aranami lockerte ihren Griff, schlang die Arme um Kyourans Hals und schloss die Augen, als sie den Kopf gegen seine Brust schmiegte. Ihr war bewusst, dass er ein unheimlich schlechtes Gewissen haben musste; er gab sich selbst die Schuld dafür, dass sein Bruder nicht mehr am Leben war.

"Es ist nicht deine Schuld."

Uminari stand mit dem Rücken zu seiner Frau und seinem Sohn, beobachtete abwesend das Treiben des Meeres vor der gewaltigen, durchsichtigen Wand, die eine jede Seitenflanke seines Palastes - Ryugu - auf dem Meeresgrund einnahm und sich durch etliche Räume zog, die nach außen hin zum Meer ausgerichtet waren.

"Er hätte das Gebiet der Loftsdrekar nicht betreten dürfen. Seit dem Bruch unseres Bundes sehen sie uns genauso als Feinde wie jeden anderen Drachen, der es wagt ihr Territorium zu betreten."

Kyouran blickte auf. Diese alten Geschichten zogen ihre Konsequenzen bis zu dem heutigen Tage nach; es waren so viel Missverständnisse entstanden, es war so Vieles ungeklärt geblieben. Dieser Konflikt erschien ihm so unbegründet, so sinnlos...

"Wir haben dieses Bündnis nicht gebrochen."

Das Oberhaupt der Vatnsdrekar senkte leicht den Kopf, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und seufzte leise. Dann drehte er sich um, fixierte die Augen seines Sohnes.

"Das weiß ich, Kyouran. Es ist nun einmal so wie es ist, wir können nichts daran ändern..."

Der Jüngere setzte zu Widerworten an; wie konnte sein Vater nur so etwas offen aussprechen?

Seine Mutter stieß ihm unsanft den Ellbogen in die Seite, hielt ihn zurück.

Uminari wandte sich währenddessen wieder seinem einzigartigen Panorama zu.

"Zu viel Stolz macht blind, mein Sohn, die Loftsdrekar sehen ihre Verdammnis nicht... ich habe damals erkannt, dass der Sieg nur über die Leichen meiner eigenen Artgenossen führen würde, und das konnte ich meinem Clan nicht antun. Als Oberhaupt ist es meine Pflicht, für das Wohl des Clans zu entscheiden, und das habe ich. Ein Rückzug war die einzige Lösung, ich habe Hríðarbylur inständig gebeten sich mir anzuschließen und seinen Clan zu retten, aber in seinem Stolz und seiner unendlichen Sturheit hat er mich nicht nur als Feigling beschimpft. Während ich meine Leute abzog, trieb er seine weiter zum Kampf an, er wollte seinen Geburtsort, seine Heimat nicht verlieren. Diese Inseln wären zu entbehren gewesen, sie waren nicht wichtig, zumindest für uns... Ich kann ihn verstehen, aber das war es nicht wert, er hatte den Tod nicht verdient..."

Der Vatnsdreki seufzte schwer, die Erinnerungen an diese ehemalige Freundschaft und ihr abruptes, falsches Ende schmerzten ihn sehr. Er dachte nicht gerne daran und darüber sprechen wollte er eigentlich überhaupt nicht.

"Zumindest konnte er an dem Ort sterben, den er so sehr liebte; den Ort, den er mit seinem Tod für seine Nachfahren bewahren konnte."

Kyouran musterte die Gestalt seines Vaters. Bis jetzt hatte er ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt, die Sache mit den Loftsdrekar und das Auseinanderbrechen dieser Allianz hatten ihn wohl schwerer getroffen, als er es bisher vermutet hatte.

"Aber warum behaupten sie dann, wir hätten sie verraten?"

Uminari schwieg, Aranami antwortete anstatt seiner.

"Die Truppen wurden so schnell wie irgend möglich abgezogen. Für die Loftsdrekar muss es so ausgesehen haben, als würden sie fliehen. Sie fühlten sich von uns im Stich gelassen und diese Schlacht forderte mehr als die Hälfte ihres Bestandes. Zum Schluss war niemand mehr übrig, der die wahren Umstände und Hintergründe kannte, und sie ließen einfach nicht mehr mit sich reden. Jeder Versuch von Kontakt hat mit einem Blutbad geendet; die Loftsdrekar sind in ihrem Stolz von diesem vermeintlichen Vertrauensbruch, unserem Verrat, so tief verletzt, dass sie so gut wie alle Bündnisse gelöst und ihre Verbindungen abgebrochen haben."

Ein tiefes Grollen füllte plötzlich den Raum, Uminaris Ärger brachte das Meer merklich in Aufruhr, im Palast und um ihn herum wurde es unruhig.

"Minamikaze hätte niemals das Oberhaupt der Loftsdrekar werden dürfen! Er ist nicht bloß zu jung und zu unerfahren dafür, er hat sich selbst entehrt - seinen Bruder getötet, seine Gefährtin betrogen... er wird in seinem närrischen Starrsinn und verqueren Denken dem Rest des Clans den sicheren Untergang bringen..."

Kyouran verstand nicht, warum seinen Vater diese Gegebenheiten so sehr in Rage versetzten. Es gab keinen Bund mehr, die Eintracht der Clans war längst erloschen. Wieso kümmerte ihn das so offensichtlich?

Sein Interesse galt diesem Sachverhalt, jedoch wollte er seinen Vater nicht weiter unnötig reizen.

"Was ist mit Sui No Rinrou?"

Die Frage verhallte zwischen den aus roten und weißen, aus Korallen gefertigten Wänden des Raumes, und es dauerte eine ganze Weile, bis sich Uminari dazu äußerte.

"Einerseits würde ich es vorziehen, sie wieder hier zu haben, andererseits ist dieses Unterfangen zu riskant. Ich könnte niemanden ruhigen Gewissens dorthin schicken."

Aranami runzelte besorgt, von einer bösen Ahnung befallen, die Stirn.

"Heißt das, du gibst sie auf?"

Uminari nickte gewichtig.

"...ja."
 

Den gellenden Schmerzensschrei, der die dünnen Korallenwände des Palastes durchdrang und jeden, der sich dort aufhielt, erreichte, hatte Suika ausgestoßen.

Suika war Shiosais direkte Schwester; die beiden waren ein Geschwisterpärchen, wie es nur äußerst selten bei Drachen zustande kam. Etwas Derartiges war unumstritten ein gutes Omen, dass besondere Freude mit sich brachte. Aber mit diesem doppelten Glück verstärkte sich auch das Leid, das mit dem Tod eines Zwillings einherging, denn ihre Verbundenheit erlaubte es ihnen, gleichermaßen zu empfinden.

Rakuchou und Irie betrachteten voller Besorgnis ihre Schwester.

Suika war einfach zusammengebrochen, als sie das Wissen über den Tod ihres Zwillingsbruders überkommen hatte. Seitdem war sie nicht mehr zu sich gekommen, wälzte sich in Fieberträumen umher, rief in ihrer Bewusstlosigkeit immer wieder nach Shiosai.

Niemand konnte ihr helfen und allmählich wurden den Anwesenden die Herzen schwer; würde Suika ihrem Bruder folgen? Würde nun auch sie ihre Familie in Trauer zurücklassen?

Niemand sprach diese Befürchtungen, die ihnen allen innewaren, aus; jeder hüllte sich in sein eigenes Schweigen, versuchte auf seine Weise damit zurechtzukommen. Was würde die Zukunft mit sich bringen? Den Tod eines weiteren Vatnsdrekar? Oder gar einen Racheschlag gegen die Loftsdrekar, der noch mehr Opfer fordern würde? Konnte man diese schreckliche Tat ungesühnt lassen?

"Raku..."

Es bedurfte keiner Worte, Rakuchou nahm seine ältere Schwester in den Arm, legte den Kopf auf ihre Schulter.

Sie saßen zusammen neben Suikas Lager, spendeten sich durch ihre bloße Anwesenheit Trost. Irie kam sehr nach ihrer Mutter, und das nicht nur ihrem Aussehen nach, aber ihr war nicht nach reden zumute. Wahrscheinlich wäre sie bei Rakuchou in jener Hinsicht ohnehin auf Granit gestoßen; sehr redselig war ihr Bruder nicht, und durch seine emotionsfreie Fassade setzte sich auch jetzt kaum ein Zeichen von echtem Kummer durch.

Die Ältere wusste nur zu gut, dass er innerlich litt, und seine Trauer in sich hineinfraß. Seit dem tragischen Tod seiner Gefährtin ließ er nichts mehr sichtbar an sich heran, und auch über diesen Vorfall an sich sprach er nie. Er war ein undurchsichtiger Einzelkämpfer geworden, dessen verletztes Herz wohl keine Heilung mehr erfahren würde. Weiße Narben zeugten von der Vergangenheit, die er so gerne vergessen hätte; weiße Narben erinnerten ihn an die Gräueltaten der Loftsdrekar...

"...Irie..."

Ein heiseres Flüstern kam über Suikas Lippen; sie war schweißgebadet, ihr nasses Haar klebte an der Stirn, das Fieber glänzte in ihren Augen und ihr Atem ging hastig.

Die Angesprochene fasste die Hand ihrer kleinen Schwester.

"Ich bin hier, Suika-chan."

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die unweigerlich über ihre roten Wangen liefen. Die weiteren Ansätze zu sprechen, musste sie erfolglos abbrechen, es dauerte, bis sie auch nur ein paar Worte herausbekam.

"Shiosais Herz..."

Noch immer spürte sie den Todesschmerz ihres Bruders tief in ihrer Brust, seine Qual war rasch zu Ende gewesen, sein Gegner hatte ihm einen schnellen Tod bereitet, aber sie durchlebte diese Tortur, seinen kurzen Moment der Pein wie eine Dauerschleife, immer und immer wieder. Sie war sich selbst nicht im Klaren darüber, ob sie nun sterben musste, oder diese Folter irgendwann zu einem finalen Punkt gelangen würde.

Rakuchou nickte langsam.

"Ich verstehe."

Ohne Eile richtete er sich auf, verließ lautlos das Schlafgemach seiner jüngeren Schwester und schloss die Schiebetür. Auf dem Gang lehnte er sich gegen einen der elfenbeinfarbenen Pfeiler.

Suika hatte Recht, Shiosais Herz war das Einzige, das nun noch an seine vergangene Existenz erinnerte. Dort, wo immer es auch war, gehörte es nicht hin; es gehörte hierher, in die Tiefsee, in sein Zuhause, in den Kreis derer, die ihn liebten...

Ob es wirklich einer der Loftsdrekar gewesen war?

Seitdem sie ihm seine Geliebte genommen hatten, sinnte er nach Rache, und sollten sich diese Prognosen bewahrheiten, würde er noch einen Grund mehr haben, seinem Vater endlich den Vorschlag zu unterbreiten, gegen Minamikazes Clan vorzugehen...

Gedankenverloren schüttelte er den Kopf; er wollte sich nicht ins Gedächtnis rufen, was sich damals zugetragen hatte. War er tatsächlich so verbittert geworden? Oder war das auflodern seiner Rachegelüste bloß eine Folge des herben Verlustes seines Bruders?

Er war sich unsicher, was er denken sollte. Galt sein Hass ihren Lügen? Dem Tun, das sie verleugneten? Oder der Tatsache, dass er sie nicht einmal mehr hatte sehen dürfen? Füllte er vielleicht die klaffende Lücke der Unwissenheit über die wahren Umstände ihres Todes mit Hass?

"Vater wünscht dich zu sehen."

Rakuchou blinzelte überrascht, blickte geradewegs in Kyourans grüne Augen. Wortlos stieß er sich von der runden Säule ab, schlug die Richtung ein, aus der sein Bruder gekommen war.

"Sei nicht töricht, Rakuchou, tu jetzt nichts Unüberlegtes. Spiel deinem Gegenüber nicht in die Hände."

Kyouran sah ihm noch eine Weile nach, ehe er das Zimmer seiner Schwester betrat und sich neben ihr Schlaflager kniete. Ihr Zustand war schlechter, als man ihm mitgeteilt hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, zerfielen seine Hoffnungen in diesem Augenblick zu Staub, den der Wind zerstreute und in die ungewisse Ferne mit sich fort trug...

Kyouran war entschieden gegen einen weiteren Konflikt mit den Loftsdrekar, eine Schlacht gegen sie zu führen war der reinste Irrsinn. Er hatte sie kämpfen sehen, und auch einmal am eigenen Leibe erfahren, was es hieß sich mit einem der Ihrigen anzulegen. Nur dem Zufall hatte er es zu verdanken gehabt, dass er überlebt hatte. Minamikazes Sohn war im Gefecht eine Bestie ohne Verstand, gefährlicher als jeder andere Drache, der ihm jemals begegnet war.

Der Vatnsdreki war froh, dass er aus ihrem Zweikampf geflohen war, ansonsten hätte ihn Flúgar wohl mit seinem nächsten Angriff buchstäblich in der Luft zerfetzt. Hinter seinen blinden Aggressionen stand eine solche Gewalt, dass es Kyouran schwer fiel zu glauben, dass Minamikaze stärker als sein Sohn sein sollte. Von der anderen Seite gesehen war es unlogisch, denn er kannte Flúgars Respektlosigkeit gegenüber seinem Vater sehr gut, er hatte es mehr als einmal mitbekommen, und jemand wie er würde nicht zögern, seinen eigenen Vater zu töten.

Zudem fügte sich noch, dass er von Hríðarbylurs Intentionen, Minamikaze in der Erbfolge zu übergehen und gleich Flúgar als Oberhaupt nach seinem Tod einzusetzen, wusste. Im Clan selbst schien es bei den Loftsdrekar große Probleme zu geben; wie konnte dort jemand zum Oberhaupt werden, dessen Betrug an seiner Gefährtin allen bekannt war? Wie konnte man jemanden zulassen, der seinen eigenen Bruder um des eigenen Wohls Willen getötet hatte? Und wie um alles in der Welt konnte es nur sein, dass sich Väter und Söhne so dermaßen verachteten?

Kyouran war es unbegreiflich. Noch immer schwirrten die Worte seines Vaters durch seinen Kopf, Uminari waren die Loftsdrekar nicht gleichgültig, es schmerzte ihn diesen mächtigen Clan so untergehen zu sehen. Gleichermaßen tat ihm der Umstand über den Tod seines einstigen Bündnispartners, der ihn aufs Bitterste beleidigt hatte, merklich in der Seele weh.

Das passte nicht zu seinem Vater... hatte er sich so geirrt? Bedauerte Uminari den Entschluss, für die Sicherheit des Clans dieses Bündnis geopfert zu haben?

...nein, es war simpler. Uminari ertrug den Gedanken nicht, mit seinem Beschluss Hríðarbylurs Tod indirekt herbeigeführt zu haben... was für ein Verhältnis hatten diese beiden wirklich zueinander gehabt?

Irie bemerkte die Abwesenheit ihres Bruders, berührte zaghaft seine Wange. Kyouran fuhr in sich zusammen, als er die vorsichtige Berührung seiner Schwester spürte.

"War es das...?"

Er stürzte förmlich aus dem Zimmer, ließ eine überfragte Irie zurück, die in ihrer Verwirrtheit nicht viel mehr tun konnte, als die Schiebetür zu schließen.

Männer waren schon eine seltsame Erfindung der Schöpfung... sie schüttelte den Kopf. In dieser Hinsicht dachte sie wie ihre Mutter, aber im Gegensatz zu dieser gab es für sie keinen Mann in ihrem Leben und im Grunde war Irie erleichtert darüber. Schon ihre Brüder waren ihr oftmals ein Buch mit sieben Siegeln, die sie nicht zu brechen vermochte. Wozu auch?

Viele bezeichneten sie als schüchtern in dieser Beziehung, und aus diesem Grunde würde es noch keinen Gefährten an ihrer Seite geben. Wer sie einigermaßen kannte, wusste, dass es nicht so war. Sie war weder schüchtern noch zurückhaltend, ein zuweilen hitziges Temperament wie ihre Mutter.

Sie fragte sich bereits geraume Zeit, wieso die Leute sich Sorgen um einen Gefährten für sie machten, wobei der Älteste von ihnen allen, Kyouran, noch nicht einmal das Versprechen für eine Gefährtin bekommen hatte. Er war mit anderen Dingen beschäftigt und kümmerte sich nicht um solche Nebensächlichkeiten, wie er diese Vermählungsgeschichten immer zu nennen pflegte. Irie konnte sich dabei etwas denken, aber sie erwähnte es nicht laut; Kyouran in dieser Überdeutlichkeit herauszufordern, würde gezwungenermaßen in einem Desaster enden. Und das war etwas, das man hier im Moment absolut nicht brauchte.

Shiosais Tod beklemmte sie, aber so richtig ging es ihr nicht den Kopf; sie mochte nicht glauben, dass er nicht mehr am Leben war. Es war einfach undenkbar.

Allerdings bemerkte sie die Stille des Raumes, des gesamten Palastes, und das machte es ihr deutlich. Ohne ihn würde es ruhiger werden, stiller, einsamer, und vor allem lebloser. Shiosais Verlust war ein bitterer Schlag für die Vatnsdrekar, aber einen Krieg mit seinen vermeintlichen Mördern war es nicht wert. Diese Möglichkeit sollte nicht einmal in Betracht gezogen werden. Die Brutalität und Unbarmherzigkeit der Loftsdrekar war bekannt, sie würden bis zum letzten Mann kämpfen und das würde wiederum schwere Verluste für den Clan ihres Vaters bedeuten. Ihre Brüder würden in die Schlacht ziehen müssen, und obwohl ihr jegliches Verständnis für diese Idioten fehlte, würde sie den Tod eines weiteren von ihnen wohl nicht verkraften...
 

Uminari hatte sich strikt gegen Rakuchous Schlachtpläne gewandt. Ein solcher Zug war nicht tragbar, noch weniger für den Clan als für ihn. Es ärgerte den jüngeren Vatnsdreki immens, dass sich sein Vater so dagegen sträubte, etwas gegen die Loftsdrekar zu unternehmen. Er verstand ihn in dieser Beziehung einfach nicht.

Ohne eine Verabschiedung war er schließlich gegangen, hatte in seiner von Zorn getriebenen Eile noch fast seinen großen Bruder umgerannt, der ihm schnellen Schrittes entgegengekommen war.

Hastig zog Kyouran die Schiebetür auf, fixierte Uminari.

"Chichi-ue."

Selten machte er von dieser höflichen Form der Anrede Gebrauch, denn sein Vater legte zwar Wert auf Respekt, schrieb seinen Kindern aber nicht vor, wie sie ihn anzusprechen hatten.

Er blickte nicht auf, beschäftigte sich mit seiner halbfertigen Arbeit als wäre nichts weiter gewesen.

"Bist du auch gekommen um mich darum zu bitten, endlich einen Krieg anzufangen?"

Uminari klang gereizt, Rakuchous Anfrage hatte ihn verärgert; seine Söhne sollten nicht in solchen Dimensionen denken. Es gab andere, bessere Lösungen als den Weg der Gewalt.

"Nein, ich habe eine Frage an dich."

Der ältere Vatnsdreki wurde hellhörig, rührte sich aber noch immer nicht. Kyouran verschränkte die Arme vor der Brust, er würde nicht locker lassen, dieses Mal bestand er auf eine Antwort.

"Was war es wirklich?"

Ein Hauch von Unverständnis zog über Uminaris Züge, dann aber begriff er die Frage. Sein Ausdruck wurde emotionslos.

"Das geht dich nichts an, Kyouran."

Der bedrohlich schwankende Unterton in der Stimme seines Vaters veranlasste ihn nicht dazu, sein Vorhaben frühzeitig abzubrechen. Er würde diesen Raum nicht verlassen bis er erfahren hatte, was er wissen wollte.

"So wie Hríðarbylurs Tod dich noch heute mitnimmt, kann es keine pure Freundschaft im eigentlichen Sinne gewesen sein. Uminari, was war wirklich zwischen euch beiden?"

Der Gefragte schlug die Faust auf den Tisch, strafte seinen Sohn mit einem drohenden Blick.

"Sei still und verschwinde, wenn dir deine Unversehrtheit am Herzen liegt! Das geht dich absolut gar nichts an, kümmere dich um deine Angelegenheiten..."

Kyouran hatte mitten ins Schwarze getroffen. Er verstand die Reaktion seines Vaters nicht, warum regte ihn das so auf?

Fast schon enttäuscht schüttelte er den Kopf.

"Ich verstehe dein Problem damit nicht... Vater, hasst du dich dafür, dass du dich damals gegen ihn entschieden hast?"

Mit dieser Frage handelte der junge Vatnsdreki sich eine heftige Ohrfeige von seinem Vater ein. Mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Enttäuschung sah er Uminari an.

"Geh mir aus den Augen, Kyouran, und zwar sofort."

Er gehorchte - innerlich widerwillig - und verließ das Arbeitszimmer. Uminaris Verhalten bestätigte ihm bloß seine Vermutung; er konnte den Schmerz seines Vaters in gewisser Weise nachempfinden. Zu wissen, das jemand unerreichbar für einen war und es bleiben würde, belastete auch sein Herz...

Beiläufig fuhr er sich mit der Hand über die schmerzende Wange. Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass Uminari sich zurückgehalten und ihm nicht gleich eine Tracht Prügel zugemessen hatte.

"Kyouran, was...?"

Jemand legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter, musterte ihn eindringlich.

"Alles in Ordnung?"

Es war eine seiner Schwestern, Mizushibuki, ein zierliches Mädchen, das weder viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater noch mit ihrer Mutter aufwies. Anfangs hatten viele Gerüchte kursiert, dass sie ein aufgenommenes und kein eigenes Kind war, aber entgegen dieser Annahmen hatte Mizushibuki bald ein sehr familientypisches Verhalten entwickelt und das Zweifeln hatte ein rasches Ende gefunden.

Kyouran ging nicht auf sie ein, wollte sich an ihr vorbeidrängen, doch sie hielt ihn fest, gestattete es ihm nicht zu gehen.

"Du weißt doch genau, was Shiosai vorhatte. Du warst mit ihm zusammen kurz bevor er ging; ich habe euer ausführliches Gespräch danach gehört. Was war der wahre Grund, Kyouran?"

Der Ältere knirschte mit den Zähnen. War er seiner Schwester in dieser Hinsicht Rechenschaft schuldig?

Nein. Das, was zwischen ihm und Shiosai gewesen war, ging sie nichts an, und das war ihr bewusst. Allein schon für diese Dreistigkeit, sie zu belauschen, hatte sie sich die Aussichten auf eine Antwort verwirkt.

"Mach endlich den Mund auf, und wag es nicht mich anzulügen!"

Er schüttelte leicht den Kopf, befreite sich mit einem heftigen Ruck aus ihrem Griff und ging.

"Kyouran!"

Mizushibuki war empört über sein Betragen, rief ihm noch eine ganze Weile hinterher. Ihr Bruder verheimlichte etwas und das nicht nur vor ihr, vor der ganzen Familie.

Natürlich wusste er jetzt, warum Shiosai gegangen war, aber er hatte ihn nicht aufhalten können. Der Entschlossenheit seines jüngeren Bruders hatte er nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Und erst jetzt, im Nachhinein, dämmerte ihm Shiosais wahres Motiv... es war keine Rache für die Beleidigung gewesen, keine Exkursion zum Erkundschaften des feindlichen Gebietes; Shiosai hatte den Gedanken nicht mehr ertragen, dass er, Kyouran, genauso wie sein Vater, Uminari, einem Loftsdreki verfallen war...
 

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***>>> Kapitel 16:

>"Die Welt der Dämonen und die der Menschen unterscheidet sich wesentlich, scheinbar lernt man nie aus. Doch es sind nicht nur allgemeine Geheimnisse, die sich der Priesterin offenbaren und in Erstaunen versetzen. Im Stillen werden Entschlüsse gefasst, die womöglich größere Wichtigkeit besitzen, als man zunächst denken mag..."

Shinyou



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Lizard
2006-01-20T11:56:16+00:00 20.01.2006 12:56
Auf einen tiefen Einblick in die Drachenwelt war bestimmt keiner vorbereitet. Wirklich, eine gelungene Überraschung (auch ich muss mich Hotepneith anschließen)!

Schon der Anfang mit dem Blick in die Vergangenheit war grandios. Verrat, Ehre, Fehden, ein 'gefallener' Sohn... da hast du uns schon mal einen spannenden Blick in eine bewegte Geschichte gewährt, deren Verflechtungen sich in der jetzigen weiter auswirken. Mehr davon, mehr...!!!

Die Sicht aus dem Blickwinkel der Wasserdrachen war fantastisch. Schon die Beschreibungen des Palastes, der verschiedenen Charaktere mit ihren Gefühlen. Die ganze Trauer, Wut... oh Mann, ich bin begeistert.
Jedes Kapitel ein Genuss!

Übrigens das mit dem Herz der Drachen, finde ich eine besonders schöne Idee.
Von:  Mondvogel
2005-12-17T14:48:33+00:00 17.12.2005 15:48
So viele neue Namen. Da scheinen sich ja viele Probleme anzubahnen. Als Flúgar seinen Gegner im letzten Kapitel getötet hat, hat er sich mächtig viele Feinde gemacht.

Wie immer eine sehr poetische Sprache. Mach weiter so. Diese Stelle hier war besonders schön, irgenwie bedrohlich und doch sehr anschaulich:
>Seite an Seite, der Verzweiflung nahe, kämpfen das zweite und das vierte Element gegen das dritte, aber die Aussichten auf einen Sieg schwinden.<
Von:  Tigerin
2005-12-12T13:54:00+00:00 12.12.2005 14:54
Super Kapitel!
Ich muss mich Hotep anschließen. Du hast alles so scön beschrieben, man konnte es sich bildlich vorstellen. Es ist schade, dass sich die Familien wegen solcher Missverständnisse nicht mehr verstehen. Am besten von den ganzen Kindern, hat mir der älteste gefallen...
Ich bin neugierig wie es weiter geht. Also schreib schnell weiter und schick mir ne Ens!^^

Bye Tigerin
Von: abgemeldet
2005-12-11T18:43:41+00:00 11.12.2005 19:43
ICh schließe mich Hotepneith nur an, alles wie immer PERFEKT ge- und beschrieben. g*+
Die Missverstandnisse von den Drachenaren haben mir besondern gefallen.g*+
Schick mir wieder ne ENs wenns weitergeht, ok.

dich lieb knuddel

24
Von:  Hotepneith
2005-12-11T15:00:14+00:00 11.12.2005 16:00
Oha, eine ziemliche Überraschung hst du da präsentiert. Und die Missverständnisse zwischen den Drachenarten scheinen sich ja auch in den jeweiligen Familien fortzusetzen.
Aber eine freundschaftliche Aussprache scheint im Augenblick ja ziemlich unmöglich geworden zu sein.

Das sihet nciht gerade gut aus.

Wie immer toll geschrieben und beschrieben, auch die ganzen unterschiedlichen Kinder haben jeweils ihren eigenen Charakter bekommen. Ich bin neugierig, wie es weiter geht.

bye

hotep


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