Tränen
Buch zwei: Tränen
_____________________________________
Sie mussten hunderte von Stufen hinab gestiegen sein als die Treppe nach einer besonders scharfen Kurve abrupt endete.
An ihrem Fuß tat sich eine Art kleine Höhle auf. Sie war nicht besonders breit oder lang, doch die Decke war sehr hoch. Am gegenüberliegenden Ende der Höhle befand sich ein weiterer verzierter Bogen wie der, den sie vor der Treppe gesehen hatten.
Hinter diesem aber brannten Dutzende von Fackeln und tauchten alles in inzwischen ungewohnte strahlende Helligkeit.
Davon unbeirrt liefen Ivas und Leesha weiter.
Gwyn zögerte nur einen kleinen Moment, dann durchquerte auch sie die Höhle und trat unter dem Bogen hindurch.
Das Licht blendete sie und sie musste die Augen zusammen kneifen. Heftig blinzelnd betrachtete sie den Gang. An seinem anderen Ende erkannte sie eine Tür aus dunklem Holz, die nur angelehnt war.
Unvermittelt blieb ihre Lehrmeisterin stehen und drehte sich halb zu Gwyn um.
Was nun?
Leeshas Augen blitzten ungewohnt.
Ob das am Licht der Fackeln lag?
Leesha deutete Gwyn mit einem Nicken an voran zu gehen.
Was?
Das konnte doch nicht ihr ernst sein!
Sie wusste doch gar nicht, was hinter dieser Tür lag!
Warum ging nicht sie selbst oder wenigstens Ivas vor?
Warum sollte sie gehen?
Andererseits hatte es keinen Sinn zu widersprechen. Wenn ihre Meisterin es so entschieden hatte...
Gwyns Hände ballten sich zu Fäusten, die Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Handflächen.
Also gut!
Leesha würde sie schließlich nichts tun lasen, was gefährlich wäre! Da war sie sich sicher!
Dennoch blieb sie unsicher und trat leicht zitternd auf die Tür zu,.
Langsam streckte sie die eine Hand nach dem Griff aus, berührte ihn und stieß die Tür dann vorsichtig auf. Das dunkle Holz schwang nach Innen und...
Gwyn sah direkt auf das Dutzend schwarzer Gestalten, die in der Mitte des langgestreckten Raumes warteten und zurück blickten.
Es waren Riesen, bedeckt von schwarzen wallenden Umhänge, die in ständiger Bewegung waren, obwohl ihre Träger vollkommen reglos da standen. Die Köpfe waren unbedeckt, langes schwarzes Haar fiel jedem von ihnen in den Nacken und glänzte wie Metall im Feuer der Fackeln.
Die Gesichter..
Es gab sie nicht.
Statt dessen waren dort pechschwarze wabernde Flecken aus denen ein paar blutrot funkelnde Augen wie glühende Kohlen hervor stachen.
Gwyn war noch nie einem von ihnen begegnet, aber sie erkannte sie sofort: Nachtmahre, Wächter der Dunkelheit.
Wesen aus unheimlichen Geschichten, mit denen man Kinder und auch Erwachsene erschrecken konnte. Wesen des Bösen, die immer wieder Menschen töteten.
Der dunkelhaarigen Frau blieb nicht einmal Gelegenheit darüber nachzudenken, was die dunklen Existenzen an diesem Ort taten, denn der Nachtmahr, der ihr am nächsten stand machte eine blitzschnelle Bewegung und griff nach einem Krummsäbel, dessen Griff hinter seinem Rücken empor ragte. Die lange gebogene Klinge funkelte rot im Fackelschein.
Das war das Zeichen für die anderen.
Mit einem lauten metallischen Schleifen zogen auch sie ihre Schwerter, einige zogen zusätzlich ebenfalls geschwungene Dolche hervor.
Ansonsten bleiben die Gestalten jedoch vollkommen lautlos. Ihre schwarzen Gewänder wirbelten und wogten wild um ihre Körper als sie los stürzten, Gwyn entgegen.
Diese war noch immer zu erschrocken um zu reagieren.
Bewegungslos starrte sie aus weit aufgerissenen Augen den heranstürmenden Nachtmahren entgegen.
Sie musste etwas tun!
Wenn sie es nicht tat würden die Mahre sie...
Aber so sehr sie es auch wollte: sie konnte sich nicht bewegen! Ihre Beine fühlten sich an, als seien sie aus Pudding.
Auf ihrer Schulter erklang ein scharfes Fauchen.
Mit einer heftigen Bewegung stieß sich Kayleigh von ihrer Schulter ab, breitete die Flügel aus, jagte auf den ersten Nachtmahr zu und hieb ihm die Krallen ins schattenumwölkte Gesicht.
Das riss Gwyn endlich aus ihrer Erstarrung.
Sie konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen, aber instinktiv ballte sie die eine Hand zur Faust, machte eine schwungvolle Bewegung mit dem Arm, schleuderte sie den Nachtmahren regelrecht entgegen und öffnete dabei die Finger.
Grüne Blitze schossen zuckend und laut knisternd hervor, hüllten drei der dunklen Wesen ein und wanden sich um ihre Leiber wie lebendige schlangen. Der Gestank von brennendem Stoff erfüllte die Luft und zornige, aber dennoch schmerzerfüllte Schreie waren zu hören, doch Gwyn wandte sich schon den nächsten Angreifern zu. Sie riss den Arm abermals hoch in die Luft und spreizte die Finger so weit wie möglich. Blaue Funken und dünne nebelartige Schleier umhüllten ihre Finger, breiteten sich aus und kurz bevor einer der Nachtmahre sie mit erhobenem Schwert - bereit zum Zuschlagen erreichte - ballten sich Funken und Schleier zusammen, lösten sich von ihrer Hand und verschlangen die restlichen Nachtmahre.
Ein entsetzliches kaltes Reißen ertönte, Krummsäbel fielen klirrend zu Boden und zeigte nichts als dunkle Blutflecken auf dem Boden, als sich die Dunstschwaden langsam hoben.
Zitternd ließ Gwyn die Hand sinken.
"Kayleigh?", keuchte sie erstickt und wandte suchend den Kopf.
Das kleine Drachenweibchen hockte nicht weit entfernt auf der Brust eines Nachtmahrs. Schwarzes zähes Blut lief ihm über das Gesicht, das aus mehreren großen Kratzern und einigen tiefen Wunden stammte, die allerdings kaum im schaurigen Gesicht zu erkennen waren. Das Wesen war offenbar besinnungslos.
Die übrigen Nachtmahre dagegen....
Übelkeit stieg in Gwyn auf.
Die grünen Blitze hatten nur verbrannte Knochen und schmorende Fleischfetzten von denen übrig gelassen, die sie getroffen hatte und der blaue Dunst....Sie wollte nicht wissen, was innerhalb der Schleier mit ihnen geschehen war so das nichts mehr von ihnen übrig blieb als einige große Blutspritzer.
Sie bekam kaum noch Luft.
Sie hatte getötet.
Heftig zitternd ging sie in die Knie und sank auf den Boden.
Tot durch ihre Magie.
Sie würgte und war kurz davor sich zu übergeben.
Aber ein Gedanke ließ Gwyn nicht los: Nachtmahre! Schattenwesen, gefährlich und von jedem gefürchtet, sie zitterte noch immer vor Angst.
Was taten sie an diesem Ort?
Mitten in der Festung der Priesterkaste?
Andererseits war es so kein Wunder, dass sie in den Gängen oben niemandem begegnet waren!
Nachtmahre waren gute Wächter. Und noch bessere Mörder. Wo sie waren benötigte man keinen anderen Wachen mehr.
Ohne Magie wäre sie verloren gewesen.
Aber trotzdem: es änderte nichts daran, dass sie sie getötet hatte.
Gwyn hörte, wie Kayleigh näher schlurfte und ihr beruhigend den Kopf auf die Knie legte. Sie schniefte leise.
"Es war notwendig.", erklang urplötzlich eine Stimme hinter ihnen.
Leesha!
Gwyn fuhr herum.
Leesha und Ivas standen nur wenige Schritte hinter ihr. Auf Leeshas Gesicht lag ein beinahe trauriges Lächeln.
Warum hatte sie ihr nicht geholfen?
Sie hätte doch......
Sie war dagewesen und hatte nichts getan!
Sie hatte zugesehen, wie die Nachtmahre auf sie zustürzten und hatte nichts getan, um Gwyn zu verteidigen!
Es wäre ihr doch mit ihrer Macht sicher leicht gefallen...
Warum hatte sie nichts getan?!
Ein Schauer durchfuhr Gwyn.
"Es war notwendig.", wiederholte ihre Lehrmeisterin ruhig.
"Notwendig? Wie kannst du so etwas sagen?!", fragte sie mit zitternder schriller Stimme: "Ich habe...und du..." Verzweifelt brach sie ab.
"Du wirst es bald verstehen."
Verstehen?
Was gab es da zu verstehen?
Es war wie in einem furchtbaren Alptraum!
Gwyn spürte wie Leesha näher trat. Und dann tat sie etwas, dass sie noch nie getan hatte: Sie strich Gwyn über den Kopf.
"Es war notwendig. Und es ist erst der Anfang...", flüsterte sie.