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Warsong

von

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Blutige Spuren (II)

Der vielstöckige Appartementblock, in dem Marcos Ex-Freundin wohnte, war genauso, wie die meisten Wohnblocks in dieser Gegend - riesig, dunkel und trist. Ein gewaltiges Betonmonster, das aus hunderten Wohneinheiten bestand und sich über mehrere Ebenen der Stadt erstreckte, die durch ein kompliziertes und weit verzweigtes Netz aus Straßen und Brücken miteinander verbunden waren. Wohnraum war in der Megametropole ein Luxusgut, das sich der Großteil der Bevölkerung nicht so ohne weiteres leisten konnte.
 

Law blickte abschätzend an dem Gebäude hinauf, dessen obere Stockwerke im dichten Grau des Dezembers verschwanden, während Marco das Auto ein Stück weit entfernt in einer Parkbucht abstellte und eine seiner Sig Sauer aus dem Handschuhfach zog, um sie unter seiner Anzugjacke zu holstern. Die andere hielt er Law mit dem Griff voraus entgegen, der kurz überlegte, die Waffe dann aber mit einem Nicken entgegen nahm und sie - nach der Überprüfung des Lade- und Sicherungszustand - in seinen Hosenbund schob, bevor er ausstieg.
 

Er benutzte eigentlich eher selten Schusswaffen und bis vor kurzem war das auch kaum erforderlich gewesen, da er mit einer Mischung aus Telekinese und Schwertkunst stets gut zurechtgekommen war und sich auch gegen Beschuss ohne Probleme hatte zur Wehr setzen können. Doch im Moment sollte er den Gebrauch seiner Kräfte wohl besser auf das absolut notwendige Minimum beschränken.
 

Law schulterte seine Schwertscheide und begrüßte das beruhigend vertraute Gewicht des Katanas auf seinem Rücken. Es war meist besser, die hier zahlreich ansässigen, kleinen Straßengangs, die im Schatten der großen Kartelle ihr Dasein fristeten, von vornherein von dummen Ideen abzuhalten.
 

Sie befanden sich am Rande von Downtown - weit genug weg von den wirklich üblen Vierteln der Stadt, doch immer noch nah genug, dass selbst hier die Einflüsse der größten Unterweltbosse durch kleinere Kneipen und Spielhallen deutlich spürbar waren. Viele Bewohner von Tokio, die des nachts ihren Lebensunterhalt in den der Bars, Casinos, Bordellen und Fetischclubs von Akihabara verdienten, hatten ihre Wohnung hier in diesem Randbezirk.
 

Der Verkehr rauschte monoton an ihnen vorbei, ab und an erklang eine wütende Hupe, da ein paar Jugendliche mit ausgestrecktem Mittelfinger über die dichtbefahrene Straße hasteten, statt eine Überführung zu nutzen. Auf einer der Ebenen unten ihnen erwachte gerade ein asiatischer Wochenmarkt zum Leben. Geschäftiges Stimmengewirr summte durch die schmalen Häuserschluchten und der Geruch von Meeresfrüchten und altem Fett hing schwer im Nebel fest.
 

Vereinzelt lungerten schlecht kybernetisch optimierte Bandenmitglieder mit tätowierten Gesichtern in den überdachten Eingangsbereichen der Wohnblocks zusammen, rauchten, tauschten Hehlerware und Drogen, während aggressiver Bass aus einem weit geöffneten Fenster im Gebäude weiter über ihnen dröhnte. In dem ein oder anderen kleinen Fenster standen Pflanzen oder man hatte versucht durch bunte Vorhänge ein Mindestmaß an Gemütlichkeit herzustellen, doch der Hauptteil der Wohnungen war karg und anonym.
 

Marco und Law näherten sich dem zentralen Eingang des angesteuertem Appartementblocks, während sie ein paar Männer einen Eingang weiter mit gieriger Neugier beäugten. Einer der Kerle grinste sie breit an und reinigte sich mit einem schartigen Messer provokativ die schmutzigen Fingernägel. Ein anderer fuhr sich mit der Zunge über die schwarzen Zähne und sein kybernetisches Auge blinkte rot, als er sie unverhohlen scannte.
 

Doch der Umriss des Holsters unter Marcos Anzugjacke und das Schwert auf Laws Rücken dämpften ihr Interesse wohl ausreichend, denn kurz darauf widmeten sie sich schon einem verschüchtert wirkenden jungen Mann, der sich an ihnen vorbei zu seiner Wohnung drängeln wollte.
 

Sie betraten das hoch aufragende Gebäude nach einer deutlich übermüdeten Mutter, die - ihr Baby auf den Arm und ein weiteres Kleinkind in der Hand - vor ihnen aus der Tür stürmte und nur einen kurzen, abschätzenden Blick aus matten Augen schenkte, die tief unter kybernetischen Augenbrauen lagen. Dann eilte sie mit ihren Kindern auch schon durch den Nieselregen hastig in Richtung Bahnhaltestelle.
 

Im Hausflur roch es unangenehm nach scharfem Reinigungsmittel, doch selbst dieser penetrante Geruch konnte den Gestank von zu vielen Menschen auf zu wenig Raum nicht gänzlich überdecken. Law rümpfte die Nase und zog sich den Kragen seiner Jacke höher, während er flach durch den Mund zu atmen versuchte und hinter Marco die vielen Stufen hinauflief. Der hauseigene Lift schien schon länger kaputt, denn Kinder hatten ihn offenbar als Leinwand erkoren und die Türen mit allerlei Kritzeleien beschmiert.
 

Niemand, der ihnen entgegenkam, interessierte sich sonderlich für sie oder schenkte ihnen auch nur einen zweiten Blick. Die meisten der hier lebenden Menschen waren vollauf mit sich und ihrem Alltag beschäftigt, den sie irgendwie zu bestreiten suchten, um über die Runden zu kommen. Sie könnten hier überfallen oder angegriffen werden, die Chance, dass ihnen jemand helfen würde, war verschwindend gering.
 

Die beiden Männer erreichten auf der achtzehnten Etage eine der vielen, anonymen grau-blauen Wohnungstüren und während Marco klingelte, blickte Law forschend den schier endlosen Gang hinab. Augenscheinlich war ihnen niemand gefolgt. Nur ein ausgezehrter Lagerarbeiter in dunklem Overall schleppte sich mit vollen Einkaufstüten den Flur entlang und verschwand rasch in seiner Wohnung. Dann hallte nur noch das übertrieben laute und lustvolle Stöhnen einer Frau aus einem der Appartements.
 

Eine scheppernde Kette wurde zurückgezogen, dann öffnete sich die Wohnungstür vor ihnen. Law wusste nicht wirklich, was er erwartet hatte, doch er musste zugeben, dass ihn eine gewisse Neugier auf diese Stussy ergriffen hatte… weil es ihn irgendwie interessierte, welchen Typ Frau Marco wohl anziehend fand.
 

In den letzten Tagen hatte er im Tower immer wieder einmal aufgeschnappt, dass der Konzernchef offenbar mit der Popdiva Boa Hancock verkehrte, die als wirklich außergewöhnlich schön galt, aber Law war eigentlich nicht der Überzeugung, dass Marco tatsächlich Äußerlichkeiten Vorrang vor innerlichen Werten und dem Charakter geben sollte.
 

Die kleine, blonde Frau, die jetzt mit müden Augen und zerzausten, leicht gewellten blonden Haaren in der Tür erschien, war alles andere als hässlich… aber auch nichts wirklich Besonderes. Sie war für Laws Geschmack viel zu dünn. Die künstlichen Nägel und das hauchdünne, knappe Negligé, dass sie trug, gefielen ihm persönlich überhaupt nicht. Ihre falschen Wimpern waren übertrieben lang und das sicherlich vormals perfekte Make-up nur halbherzig für die Nacht entfernt.
 

Sie gähnte herzhaft und blinzelte ein paar Mal, bevor sie überhaupt zu realisieren schien, wer dort eigentlich vor ihrer Tür stand. Ein Ausdruck von anfänglicher Verwirrung wurde schnell abgelöst durch einen Funken Hoffnung, als sie jetzt den Gürtel ihres roten Morgenmantels eilig schloss und Marco reichlich verdattert anstarrte, als wäre er eine Erscheinung. »M-marco… du… was machst du denn hier?!«, krächzte sie überrascht.
 

»Können wir reinkommen? Ich muss mit dir reden«, hielt Marco sich gar nicht erst mit langen Höflichkeiten auf und kam sogleich auf den Punkt. Sein Tonfall war hart und wenig herzlich, genauso wie seine gesamte Ausstrahlung. Eine Hand hatte er bereits auf die Tür gelegt, um Stussy daran zu hindern, ihnen diese einfach vor der Nase wieder zuzuschlagen.
 

Stussy schien das auch zu bemerken, denn sie wich einen kleinen, unsicheren Schritt zurück und warf einen schnellen, nervösen Blick über die Schulter. »Ähm… also, ich…-« Erst jetzt bemerkte sie Law an Marcos Seite und stockte irritiert. Ihre langen Wimpern flatterten aufgeregt, als sie nun gänzlich überfordert mit der Situation schien.
 

»Scheiße, Stussy…«, murrte eine kratzige und eindeutig männliche Stimme aus dem Hintergrund, bevor sich schlurfende Schritte näherten. »Sind das schon wieder diese bettelnden Plagen?! Lass‘ dir von denen doch nicht ständig das Geld aus der Tasche ziehen, Herrgott nochmal… die sollen sich verpissen!«
 

Ein Mann in Unterhose erschien jetzt hinter Stussy und riss die Tür weiter auf, um ihnen einen unwilligen Blick durch dunkle, wirre Locken zu schenken. Seine Nase, rotgeädert, erzählte von zu viel Alkohol und die wässrigen, gelbstichigen Augen von dem Nachhall synthetischer Substanzen. Einfache, billige Tattoos schlängelten sich über seinen Arm, mit dem er eine Zigarette an seine trockenen Lippen führte, während er sie gründlich musterte und sich dabei den Speichel geräuschvoll durch die Zähne zog.
 

»Wer is'n der Schnösel?«, fragte er misstrauisch mit Blick auf Marco, nachdem er sich den unsauberen Bart gekratzt hatte.
 

Law hatte augenblicklich das Gefühl, die blonde Frau wolle am liebsten im Erdboden versinken. Verständlich, denn dafür, dass sie Marco vor ein paar Tagen angeblich noch zurückgewinnen wollte, hatte sie sich aber ziemlich schnell getröstet… und dabei ziemlich verschlechtert, wie Law mit gehobener Braue feststellte, der den abgehalfterten Mann in Unterhose jetzt schnell, aber gründlich maß.
 

Der schlecht rasierte Kerl war neben dem Konzerner nicht mal mehr als Trostpreis anzusehen... Law blickte flüchtig zu Marco hinauf, doch das kantige Gesicht des Konzerners blieb ungerührt. Seine blauen Augen waren klar und fokussiert. Offenbar kümmerte sie ihn wirklich keinen Deut mehr und seltsamerweise war diese Erkenntnis für Law erleichternd.
 

Stussy stieß dem irritierten Kerl neben sich jetzt eine Hand vor die Brust, sodass er einen Schritt zurück stolperte und zischte ihn giftig wie eine Schlange an: »Nimm‘ deine Klamotten und hau‘ ab!« Law meinte sogar fast eine Spur Verzweiflung aus ihrer hohen Stimme herauszuhören, denn wenn es auch nur die geringste Chance gegeben hätte, dass sie Marco zurückgewinnen könnte… jetzt war diese verspielt und das wusste sie ganz genau.
 

»Dein Ernst?! Du hattest mir Frühstück versprochen…«, murrte der Mann empört, doch nach einem weiteren Blick in Marcos todernstes Gesicht zog er sich tatsächlich zurück und suchte seine Sachen zusammen. Nur ein paar Sekunden später drängelte er sich angezogen und mit einem Rucksack über dem Rücken an ihnen vorbei und blaffte Stussy im Gehen an: »Ruf' mich bloß nicht nochmal an, klar!? Das nächste Mal besorg's dir selbst!«
 

Die kleine, blonde Frau presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, Scham färbte ihre Wangen, doch sie trat jetzt beiseite und ließ sie ein. Law betrat hinter Marco das kleine Appartement und sah sich rasch um, aus Gewohnheit mögliche Gefahren und Fluchtwege sondierend. Der Wohnraum war überschaubar, aber ausreichend für eine Person und für diesen Teil der Stadt schon annähernd komfortabel.
 

Der Einrichtung haftete eindeutig weibliches Flair an, die Möbel waren filigran, verschnörkelt und in weiß und zartem Rosa und Blautönen gehalten. Überall standen kleine Dekorationen, Blumen, Kitsch und Krimskrams in allen möglichen Variationen und Law erhaschte durch die halb offene Schiebetür der Schlafnische einen Blick auf übervolle Kleiderständer, einen Berg aus Handtaschen und ein berstendes Schuhregal. Stussy schien gern über ihre Verhältnisse zu leben.
 

In der Luft hing ein leicht blumiger Damenduft, der aber nicht gänzlich über das Aroma von Sex, kaltem Rauch und schalem Bier hinwegtäuschen konnte. Auf dem kleinen, runden Küchentisch reihten sich leere Bierdosen an zwei Pizzaschachteln. Auf dem Deckel der einen waren die Reste einer pudrigen Substanz verschmiert und für Law brauchte es nicht viel, sich vorzustellen, wie der letzte Abend abgelaufen war.
 

Stussy trippelte vor ihnen in ihren weißen, glitzernden Pumps zum Wohnzimmertisch hinüber und griff nach der dort liegenden Zigarettenpackung. Ihre Finger zitterten unmerklich, als sie sich eine ansteckte und ihr Blick dabei unstet zwischen ihm und Marco hin und her hüpfte. »W-wollt ihr vielleicht etwas trinken?«
 

»Nein«, antwortete Marco einsilbig und verschränkte die Arme vor der Brust. Law hüllte sich in Schweigen, das erfahrungsgemäß meist das größte Unbehagen verursachte.
 

Peinlich berührte zupfte Stussy am federbesetzten Saum ihres Morgenmantels, in dem sie aussah wie eine der billigen Prostituierten aus dem "Red Zirkel", einem schmierigen Bordell in Akihabara, das man besser mied, wenn man sich keine wirklich hässlichen Krankheiten zuziehen wollte. »Marco, hör‘ mal… das eben, das war nicht das, wonach es…-«
 

»Das ist mir völlig egal, du kannst tun und lassen, was du willst. Es interessiert mich nicht«, schnitt der Konzerner ihr forsch und ungeduldig das Wort ab. »Deswegen bin ich auch nicht hier.«
 

»Verstehe…« Stussy zog die Unterlippe getroffen zwischen die Zähne und sparte sich klugerweise weitere fadenscheinige Beteuerungen. In ihren himmelblauen Augen stand die bittere Erkenntnis, dass diese Schlacht verloren war. Doch sie versuchte ihre Betroffenheit zu überspielen, als sie sich betont lässig auf die Armlehne eines wirklich hässlichen, pinken Sessels setzte, der vor dem einzigen Fenster des kleinen Appartements stand.
 

»Wer ist denn dein Begleiter? Einer deiner Sicherheitsleute?«, fragte sie den Konzerner, währenddessen sie die nackten Beine geschmeidig überschlug. Eine Bewegung, die den Saum ihres Morgenmantels ein Stück hoch rutschen ließ - eine Bewegung, bis zur Perfektion einstudiert, um Männer zu betören... doch die Illusion schlug fehl, denn ihr unruhig wippender Fuß verriet ihre Nervosität.
 

»Nein, er ist ein Freund«, antwortete Marco sehr überzeugt und Law war froh, dass Stussy viel zu fixiert auf Marco war... sonst hätte sie vielleicht seinen überraschten Blick bemerkt. Marco zog die zerbrochenen Edelsteine aus seiner Jackentasche und breitete die Scherben vor ihr auf dem, mit künstlichen Diamanten besetzten, Wohnzimmertisch aus. Ihr halb entblößter Körper schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren oder gar aus der Fassung zu bringen »Erklär‘ mir, was das ist.«
 

Stussys Blick glitt kurz über die schwarzen Scherben und ihr Gesicht blieb bemerkenswert ruhig, doch in ihren Augen blitzte ein ungenügend verhülltes Erkennen auf und wachsende Unsicherheit, bevor sie bemüht gleichgültig mit den Schultern zuckte. »Keine Ahnung… kaputte Steine, würde ich sagen«, erwiderte sie gelangweilt.
 

»Lass' die Spielchen!«, fuhr Marco sie jetzt unbeherrscht an. »Ich weiß, dass du eine Kette mit diesen Steinen erst neulich getragen hast, als du mit Weevil im Tower warst… also erzähl‘ mir jetzt nicht, du wüsstest nicht, was das ist! Du hast sie in meiner Wohnung platziert. Also sag' mir, Stussy…«, er beugte sich bedrohlich über die kleine Frau, eine Hand auf die Sessellehne gestützt, »wer hat dich dafür angeheuert, meine Firma und meine Leute in Gefahr zu bringen? Wer hat dich dafür bezahlt, mich umzubringen?!«
 

Stussys Augen weiteten sich erst irritiert, dann wich sie regelrecht vor Marcos hoch aufragender Gestalt zurück, indem sie sich in den gepolsterten Sessel drückte und schüttelte heftig blinzelnd den Kopf. Die Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ich… nein, was?! Umbringen?! Niemand sollte umgebracht werden, ich…-« Sie biss sich auf die Zunge und wich seinem bohrenden Blick aus.
 

»Hast du mir nicht wahrlich schon genug Lügen aufgetischt…!?«, knurrte Marco und hämmerte mit der flachen Hand auf die Sessellehne, wodurch Stussy erschrocken zusammenzuckte. »Erzähl' mir verdammt nochmal die Wahrheit!« Law erkannte, dass Marco emotional eindeutig zu involviert war, um die Feinheiten zu erkennen... nämlich, dass die Bestürzung in Stussys jetzt sehr blassem Gesicht nicht gespielt war. Sie konnte dem unverhohlenen Vorwurf in Marcos tiefer Stimme nicht standhalten und schlug die Augen nieder.
 

Law trat an den Konzerner heran und legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter, um ihn an seine Anwesenheit zu erinnern und zu fokussieren. Er konnte die unterschwellige Anspannung in den Muskeln unter seinen Fingern deutlich spüren und Marcos untypische Unbeherrschtheit durchaus verstehen. Man hatte seine Familie angegriffen und auch Law war wütend, weil man seine Schwester in Gefahr gebracht hatte, aber wenn sie Stussy zu sehr bedrängten, würde die vermutlich irgendwann komplett dicht machen.
 

»Der Newgate-Tower wurde in der Nacht durch die Kreationen eines Summomanten angegriffen«, erklärte Law der blonden Frau jetzt ohne jegliche Wärme in der Stimme. Sie sollte nicht denken, dass er auf ihrer Seite stünde, nur weil er Marco im Augenblick davon abgehalten hatte, sie in der Luft zu zerfetzen. »Von Beschwörungen, die aus diesen Steinen gekrochen sind, als Attentat auf Marcos Leben und das einer weiteren Person im Tower geplant. Dabei sind fünf Menschen gestorben.« Die harten, unbeschönigten Fakten, denn sie musste sich der Tragweite ihrer Tat bewusst werden.
 

»Was…!?« Stussys riesige, blaue Augen flackerten jetzt völlig verunsichert zwischen Laws ausdruckslosem Gesicht und Marcos finsterer Miene umher. Sie hob ihre Zigarette an die zitternden Lippen, um sich kurz zu sammeln, dann drückte sie diese mit hektischen Bewegungen im Aschenbecher aus und legte Marco ihre so klein erscheinende Hand auf die Brust, was in Law den irrationalen Impuls weckte, ihre Finger wegzuschlagen… die Gewissheit, dass sie Marco sicherlich einst auf noch ganz andere Weise berührt hatte, behagte ihm nicht.
 

»Marco, nein… ich… ich wusste nicht, dass jemand zu schaden kommen würde, das schwöre ich dir! Ich würde niemals wollen, dass du verletzt wirst, bitte, das musst du mir glauben!«, beteuerte sie mit wässrigen Augen und Law kaufte ihr das verzweifelte Gestammel sogar irgendwie ab. Sie schien sich langsam bewusst zu werden, dass sie vermutlich in Dinge gestolpert war, die aus dem Ruder liefen…
 

Marco löste ihre Finger von seiner Jacke und richtete sich wieder auf. Unerbittlich blickte er auf sie herab. »Und was wolltest du dann? Warum hast du diese Steine in meiner Wohnung platziert?«, fragte er scharf. Ihr Bekenntnis schien ihn wenig bis gar nicht zu bewegen.
 

Stussy rieb sich mit den Fingerspitzen überfordert über das Gesicht, wobei sie die Reste ihres Make-ups nur noch mehr verschmierte. Inzwischen sah sie aus wie ein Geist mit der fahlen Haut und den dunklen Spuren um die Augen. »Das war doch alles nicht meine Idee…«, erwiderte sie empfindlich. Sie verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch, als würde ihr trotz des Morgenmantels in der warmen Wohnung frösteln. »Da waren diese Leute…«
 

»Was für Leute?«, hakte Marco ungeduldig nach, während Law sich ein wenig in der kleinen Wohnung umsah und ein paar ungeöffnete, signalrot blinkende Briefe auf der Kommode auseinander schob. Rechnungen und Mahnungen und viel effekthaschende Werbung für die neueste Kybernetik. An der Wand hingen einige Holobilder namenhafter Luxusgüterhersteller, auf denen androgyne Männer und Frauen in ewig gleicher Bewegung für Düfte oder Handtaschen posierten.
 

Alles hier erzählte von einer fast verzweifelten Sehnsucht nach mehr, nach einem besseren, glanzvollen Leben, das aber immer in unerreichbarer Ferne blieb - ein mögliches Motiv für die Beteiligung an einem hinterhältigen Attentat? Vielleicht. Hoffnung konnte immer ein starker Antrieb sein, aber... die Sehnsucht in Stussys Augen bei Marcos unverhofftem Auftauchen war genauso real gewesen.
 

Stussys blasse, zierliche Hand flatterte wie ein aufgeschreckter Vogel durch die Luft. Ihre perlmuttfarbenen Nägel glänzten im kargen Licht der blütenähnlichen Deckenlampe. »Irgendwelche Bekannten von Weevil, ich kenne die nicht wirklich…«
 

Marco und Law tauschten einen alarmierten Blick. »Was hat Weevil damit zu tun?«, grollte Marco.
 

»Ich... ich kann dir das nicht erzählen... sie werden es herausfinden... Marco, bitte... ich will keinen Ärger...«, flehte sie und dabei huschte ihr Blick zu Law und dem Schwert auf seinem Rücken, sich wahrscheinlich mehr als bewusst, dass der Ärger schon längst in ihrer Wohnung stand.
 

Marcos Kiefer mahlte und seine geschmälerten Augen fixierten sie hart, als er schonungslos bemerkte: »Den hast du eh schon...« Er entblößte sein Handgelenk und präsentierte ihr das schimmernde Siegel des Senats. »Du bist offensichtlich mitbeteiligt an einem Attentat auf ein Senatsmitglied.«
 

Law hätte es nicht für möglich gehalten, doch Stussy wurde noch blasser und sie griff sich mit zitternden Fingern geschockt an den schlanken Hals. »Oh Scheiße... ich wusste nicht... nein, so war das nicht... Marco, bitte...«
 

»Sag' mir, was du weißt.« Marco ließ den Ärmel wieder über sein Handgelenk gleiten. »Dann kann ich vielleicht dafür sorgen, dass dein Anteil an der ganzen Sache als... unbedeutend gering eingestuft wird.«
 

Stussy nagte an ihrer vollen Unterlippe und haderte sichtlich mit sich, dann griff sie nach der noch halbvollen Flasche Prosecco auf dem Wohnzimmertisch, pfiff auf Manieren und trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Dann erzählte sie mit schwacher Stimme: »Weevil trifft sich seit einiger Zeit mit diesen Leuten, ich weiß nicht, wer die sind oder was die machen, aber seitdem er mit denen rumhängt, ist er komisch geworden, er… redet eigentlich kaum noch mit mir, ist ständig irgendwo unterwegs und wenn ich ihn danach frage, sagt er mir immer nur, das würde mich nichts angehen oder ich wäre eh zu dumm, um es zu verstehen… er hat sich sogar erst neulich ein Tattoo auf die Schulter stechen lassen…-«
 

Marco erstarrte. »Was für ein Tattoo?« Er entdeckte ihr Datenpad auf der winzigen Küchenanrichte und warf es ihr zu. »Zeichne es mir auf«, forderte er, bevor er begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Schritte verursachten kaum einen Laut auf dem dicken Teppich.
 

Während Stussy zu zeichnen begann, bezog Law neben dem Fenster Stellung und schob die hellpinken, hauchzarten Vorhänge mit zwei Fingern ein wenig beiseite, um nach draußen zu spähen. Sein Nacken überzog ein warnendes Kribbeln und er wurde das Gefühl nichts los, dass man sie beobachtete, doch er konnte nichts verdächtiges entdecken.
 

Die Aussicht war gänzlich unspektakulär, denn viel mehr als das nächste Hochhaus sah man nicht, an dessen Fassade auf mehreren, terrassenartig angelegten Vorsprüngen kleinere Reisfelder angelegt wurden waren. Aus dem allseits bekannten Platzmangel wurde stets jede verfügbare Fläche der Stadt genutzt, da die Megametropole nicht aufhören wollte zu wachsen und natürlich auch landwirtschaftlich nutzbare Flächen verdrängte.
 

In der Mitte des Nebengebäudes blinkte die Reklametafeln eines einschlägigen Massagetempels in Downtown - die fast haushohe Neonsilhouette einer vollbusigen Frau, die lasziv ihre Brüste der ganzen Welt darbot. Aus ihrem weit geöffneten Schritt regneten funkelnde Sterne auf den Eingang eines Nachtclubs auf den tieferen Etagen.
 

Weiter unten schob sich der Verkehr wie ein vielfarbig glänzendes Wesen über die sich mehrfach überlappenden Straßen, schwerer Dunst zog aus den tieferen Ebenen der Kanalisation und den Schächten der Energieversorgung herauf. Über allem lag der graue, verwaschene Schleier des anhaltenden Nebels und hielt die üblen Gerüche der Stadt hartnäckig zwischen den Häuserschluchten fest.
 

Law hasste diese Stadt - er hasste den Schmutz, die Dekadenz und Korruption und das stille Leid der Unterschicht, hasste den Geruch der vielen Menschen, den Lärm und die grenzenlose Anonymität, wenngleich diese ihm eins ums andere Mal gute Dienste geleistet hatte. Wenn er je von einer Zukunft zu träumen gewagt hatte, dann meist von einem Leben außerhalb von Tokio, weit ab von diesem Sündenpfuhl, aber jetzt…
 

Sein Blick über die Schulter fand Marco und er verspürte eine Verbindung zu dem Konzerner, der er sich nicht entziehen und die er schon längst nicht mehr leugnen konnte. Er gewöhnte sich so erschreckend schnell an Marcos Gesellschaft, dass es ihm vermutlich bald sehr schwer fallen könnte, ihn aus seinem Leben zu streichen... wenn er diesen Punkt nicht schon längst überschritten hatte.
 

Law schob diese überfordernden Emotionen und seine Schwäche für Marco für den Augenblick beiseite und wandte sich vom Fenster ab, gerade als Stussy den Stift ihres Pads beiseite legte und dieses Marco nach einem kurzen Zögern entgegen hielt. »Ich bin nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, so sah es aus…«, erklärte sie verhalten und Law sah den Kreis mit dem durchbohrenden Pfeil, bevor Marco das Pad ergriff und sich dessen gewölbte Brauen finster herabsenkten.
 

Er erkannte dieses Symbol wieder.

Marco sah auf und formte für Law tonlos mit den Lippen nur ein Wort. Zirkel.
 

»Diese Leute, sie haben alle das gleiche Tattoo und… sie sind unheimlich«, erzählte Stussy jetzt verhalten, während ihre langen Nägel an einer Feder ihres Ärmelsaumes zupften. »Ich war immer froh, nichts mit ihnen zu tun haben zu müssen, aber Weevil kam mit zwei von denen in der Nacht vor unserem Treffen zu mir und gaben mir die Kette. Er… er sagte, ich solle ein paar der Steine in deiner Wohnung platzieren und meinte, es wäre nur irgendwelche harmlose Überwachungssoftware, eine Wanze, um ein paar belastende Geheimnisse aufzuschnappen… und… ich hab‘ mich geweigert, weil ich mit so was nichts zu tun haben wollte. Ich wollte dir oder deinem Vater nie schaden, Marco«, betonte sie abermals, dann zog sie reumütig die Schultern hoch, bevor sie einen weiteren Schluck aus ihrer Flasche nahm.
 

»Aber er hat nicht locker gelassen und mich gedrängt und… Weevil hatte diesen Kerlen offensichtlich erzählt, dass meine Mutter im Krankenhaus liegt. Sie wussten alles, wo sie stationiert ist, welche Krankheit sie hat und sie sagten... sie sagten, sie würden Leute kennen, die sie heilen könnten...«, ein brüchiges Schluchzen begleitete ihre Worte und sie drückte die Finger gegen die zitternde Unterlippe, »... oder ihr Leiden noch verschlimmern, je nachdem, wie kooperativ ich wohl wäre. Sie sagten, ich hätte die Wahl... es war eine offene Drohung...«
 

Marcos Blick wurde ein Stück weit weicher und auch Laws Abneigung gegen die junge Frau schwand ein wenig. Er hatte schon viele in die Ecke gedrängte Menschen erlebt, die das Blaue vom Himmel gelogen und ihre Unschuld beteuert hatten, nur um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen… aber Stussys Reue, die Verzweiflung über ihre ausweglose Situation war echt und nicht gespielt.
 

Law schien es unwahrscheinlich, dass sie Marco ernsthaft hatte schaden wollen - sie war vielleicht nicht sonderlich geschickt im Umgang und bei der Wahl ihrer Männern, sicherlich oberflächlich und verzweifelt auf ihren Vorteil bedacht... aber eine skrupellose Mörderin? Eher nicht.
 

Stussy hob den Kopf und ihre blauen Augen schwammen in mühsam zurückgehaltenen Tränen. »Also hab' ich es getan, was sollte ich auch sonst machen?! Aber ich habe die Steine in deinem Badezimmer platziert, Marco, weil ich noch dachte, dass Weevil dort wohl kaum wirklich wichtige Informationen würde aufschnappen können...« Mit einer harschen Geste strich sie sich die lockigen, kinnlangen Haare aus der Stirn und biss sich auf die Lippe. »Es tut mir leid, ich... hätte ich gewusst, was das wirklich ist... ich wollte nie, dass irgendjemand verletzt wird oder stirbt, wirklich nicht, aber diese Leute…«
 

Wieder schlang sie die Arme um sich und erschauderte, dann suchte ihr aufgelöster Blick den von Marco. »Du weißt, dass ich meine Mutter über alles liebe. Sie war immer für mich da, egal, wie mies es uns ging und hat mich beschützt, wenn mein Vater wieder einmal einen seiner Tobsuchtsanfälle hatte... sie war wirklich das einzig Gute in meinem Leben, bis ich dich getroffen habe…«, ihre Stimme erstarb in einem kläglichen Hauchen, »... es war nicht gelogen, als ich dir sagte, dass ich noch Gefühle für dich habe, Marco… es war die Wahrheit, ich war nur lange zu verbohrt, um es wirklich zu begreifen und nun... habe ich einfach alles falsch gemacht. Vielleicht hatte Weevil in der Beziehung ja doch recht und ich bin einfach nur zu dumm…«, murmelte sie bitter und mutlos.
 

»Unsinn!« Marco schnaufte aus und massierte sich den Nasenrücken, bevor er einen Schritt auf sie zuging, als wollte er sie trösten. Er war einfach viel zu sehr dieser gutherzige Mensch, der nicht tatenlos dabei zusehen konnte, wenn eine Frau weinte und so völlig verzweifelt war - vor allem, da sie wirklich unschuldig in die ganze Sache geraten schien. »Stussy…-«
 

Ihr Blick hob sich hoffnungsvoll.
 

Eine einzelne Kugel durchschlug das Fenster und traf mit einem sehr weichen, gedämpften Laut auf Stussys Hinterkopf, bevor sie ihre Stirn durchbohrte und sich in die Wand neben der Eingangstür bohrte. Blut verteilte sich wie feiner Sprühregen über den Wohnzimmertisch und den flauschigen, weißen Teppich darunter, spritzte in einem Bogen auf Marcos weißes Hemd, der noch in der Bewegung völlig gefror.
 

Stussys Körper erstarrte, ihre Pupillen weiteten sich und ihr Mund formte ein lautloses O, während ein träger Tropfen Blut aus der perfekt kreisrunden Austrittswunde aus ihrer Stirn floss und ihren Nasenrücken passierte, bevor ihre Augen trüb wurden und sie von dem Sessel kippte. Ihre Pumps rutschten von ihren Füßen und fielen auf den Teppich. Die Flasche Prosecco zerschellte auf dem Fußboden.
 

Law zischte einen Fluch und riss den erstarrten Konzerner mit sich zu Boden, aus der Schusslinie des Schützen, der das Feuer nur Sekunden später erneut eröffnete. Die Kugeln durchsiebten den hauchzarten Fenstervorhang und schlugen wütend in die Einrichtung ein - Holz und Betonputz wurden aufgesprengt, die zierliche Vase auf der Küchenzeile zersprang in tausend Stücke, genau wie die filigrane Deckenlampe ihr Leben in einem Funkenregen aushauchte. Die Schüsse frästen sich dröhnend und unaufhaltsam eine Schneise durch die kleine Wohnung, als wollten sie jeden Hinweis der hier lebenden Frau auslöschen.
 

Law presste sich neben Marco gegen die Wand unterhalb des Fensters, zog den Kopf ein und schätzte hektisch ihre Optionen ab, während er die aufwallende Magie in sich beharrlich zurückdrängte. Der Konzerner neben ihm war noch immer wie weggetreten, trotz des tobenden Chaos, und starrte die tote Frau auf dem Wohnzimmerboden mit einem fürchterlich leeren Gesichtsausdruck an.
 

Stussy lag auf dem Rücken, die glasigen, geweiteten Augen blicklos ins Leere gerichtet, während eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel rann und eine dunkle Spur aus Mascara und Lidschatten über ihr farbloses Gesicht zog. Staub und Glassplitter verfingen sich in ihrem losen Haar und den Federn ihres verrutschten Morgenmantels, bedeckten sie wie ein grobes Leichentuch.
 

Marco griff sich in einer langsamen, verstörten Geste auf die Brust und betrachtete das Blut an seinen Fingerspitzen dann mit unbeweglicher Miene. Ein Rauschen schwoll in seinen Ohren an, ließ jedes Geräusch dumpf und hohl erscheinen. Vergangenheit und Gegenwart überlappten sich, Stussys Gesicht wurde zu Kayles, der ihn selbst im Tod noch vorwurfsvoll anblickte, beide so unerwartet sinnlos aus dem Leben genommen, beide tot… und er hatte nur dabeigestanden, hatte nichts tun können, fühlte sich hilflos und schuldig…
 

Sein rationaler, eigentlich auf solche Situation geschulter Verstand schrie Marco inmitten der prasselnden Gewehrsalven an, sich zusammenzureißen, sich auf seine Ausbildung zu besinnen und aus der Schusslinie zu flüchten, doch die Schreckensbilder der Vergangenheit badeten ihn in kaltem Schweiß und machten seinen Körper taub. Diese alte Wunde war aufgerissen und blutete… blutete… das Blut an seinen Händen…
 

»Marco!« Laws scharfe Stimme schnitt wie kühles Sternenlicht durch das Tosen in seinem Kopf und drängte die Panik und das Herzrasen beiseite. Marco fokussierte seinen Blick mühsam auf das harte Gesicht des jungen Mannes neben sich, der zusammenzuckte, als eine Kugel knapp neben seinem Kopf die Mauer durchbrach. Trotzdem versuchte Law ihn verbissen auf die Füße und aus der Wohnung zu zerren, ziemlich entschlossen, nicht ohne ihn zu gehen.
 

Marco schüttelte die gefährliche Lethargie von sich und nickte Law zu, bevor er sich aufrappelte und sie in einem geduckten Zick-Zack-Kurs zur Wohnungstür sprinteten, die Law mit einem kurzen, sehr kontrollierten Impuls seiner Magie aus den Angeln sprengte. Völlig selbstverständlich stabilisierte Marco Laws Geist dabei mit einem Ausläufer seiner Magie und der junge Mann ließ ihn gewähren. Sie verließen die Wohnung fluchtartig und hasteten den trostlos grauen Flur mit den flackernden Lichtern entlang.
 

Das Echo des anhaltenden Beschusses folgte ihnen genauso wie panisches Geschrei und Hilferufe aus den Wohnungen, die sie passierten - der oder die Schützen hatten ihren Zielbereich offenbar ausgeweitet, vermutlich um ganz sicher zu gehen… oder um ihre Spuren zu verwischen und um Stussy zu einer unter vielen zu machen, damit das Motiv verschwommen blieb. Bandenkriege in diesem Bezirk waren immerhin keine Seltenheit.
 

Marco schob Stussys Tod im Augenblick bewusst von sich, als er mit Law die unzähligen Treppen des Wohnblockes hinablief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Später würde vielleicht Zeit sein, sich mit diesem Umstand auch emotional auseinander zu setzen, doch im Moment musste er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. So einen gefährlichen Totalausfall wie eben durfte er sich auf keinen Fall noch einmal leisten.
 

Sie mussten hier sofort verschwinden, bevor sich jemand zu genau an sie erinnern würde. Bevor die Polizei eintreffen und zeitraubende Fragen stellen konnte… und vor allem, bevor Weevil von der Sache Wind bekam und abtauchen konnte, um seine Beteiligung in diesem Fall zu vertuschen.
 

Es war wohl so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Weevil Newgate seinen fetten Arsch vorher aus der Schusslinie hieven würde, denn immerhin war es das Einzige, worin er immer unschlagbar gewesen war - im richtigen Augenblick zu verschwinden und unsichtbar zu werden.
 

Davor wollte Marco ihn aber unbedingt selbst in die Finger bekommen und er hoffte, er konnte die eisige Wut in seinen Eingeweiden so lang zügeln, damit er Antworten bekam und Weevil nicht sofort das Genick brach... und bevor das der Zirkel womöglich selbst tat. Marco zweifelte nicht daran, dass sie mit Stussys Tod hinter sich aufräumen wollten und vielleicht würden sie mit Weevil genauso verfahren, so er sich als unnütz erweisen würde. Laws und sein Tod wären ein sicherlich praktischer Nebeneffekt gewesen…
 

Eine noch zugedröhnte Sexarbeiterin mit kybernetisch verzierten, übertrieben großen Brüsten, die beinahe ihre knappe Lederjacke aufsprengten, verlor fast den Halt auf ihren glitzernden High-Heels, als sie an ihr vorbei stürmten und fauchte ihnen wie eine Furie über das Geländer hinterher. Die beiden Männer stürmten aus dem Haus, vorbei an einer Gruppe junger Rowdys, die mit ihren illegal modifizierten Schusswaffen Zielübungen auf eine Plakattafel mit dem strengen Gesicht des Kaisers vollführten, sehr zum Entsetzten eines älteren Ehepaares, das eilig vorbei huschte.
 

Marco schloss unauffällig seine Anzugjacke, um das Blut auf seinem Hemd zu verstecken, während die dunkel getönten Brillengläser über seine Augen glitten, als sie in der anonymen Menge der Passanten untertauchten. Einige Leute blieben bereits auf dem Gehweg und den kreuzenden Überführungen stehen, um mit aufgeregten Gesten an dem Wohnblock hinauf zu deuten, wo auf den höheren Stockwerken aus Fenstern Rauch quoll. In der Ferne kündigte sich Sirenengeheul an und die ersten automatisierten Pressedrohnen sirrten durch die nächste Häuserschlucht heran.
 

Sie erreichten Marcos Caliburn gerade rechtzeitig, bevor die Einsatzfahrzeuge über den Highway heranrasten und mit quietschenden Reifen vor dem Wohnblock hielten, vor dem sich inzwischen eine ganze Traube Schaulustiger - und sicher auch potenzieller Plünderer, gierig wie Geier - eingefunden hatte. Die ersten verletzten Menschen wurden von den Einsatzkräften aus dem Hauseingang geführt, als Marco sich hinter das Steuer seines aufröhrenden Wagens schwang und Law geschmeidig auf den Beifahrersitz glitt. Mit durchdrehenden Reifen lenkte Marco den Caliburn auf den Highway, wobei er Laws fragenden Blick auf sich spürte.
 

»Wohin willst du jetzt...?«, fragte Law wachsam.

»Ich werde Weevil für diese Scheiße zur Rechenschaft ziehen«, presste Marco zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das bin ich Stussy schuldig...«
 

Es sprach eindeutig für Laws Intelligenz, dass er ihn nicht aufzuhalten versuchte. Der junge Mann nickte nur. Er zog sich den Gurt seiner Schwertscheide über den Kopf und bettete die dunkle Hülle auf seinen jeansbedeckten Oberschenkeln. »Geht es dir gut?«
 

»Ich bin nicht verletzt.«

»Das meinte ich nicht...«
 

Marco blickte kurz zu Law hinüber, der ihn mit seinen eindringlichen, hellen Augen maß und schluckte schwer. »Das vorhin... tut mir leid«, begann er. »Es war einfach... es war kurz wie mit Kayle und hat mich an damals erinnert. Ich hätte nicht so die Fassung verlieren und uns damit in Gefahr bringen dürfen. Es ist... schon okay...« Marco holte tief Luft, während er das Bild von Stussys totem Körper auf dem Wohnzimmerboden in die hinterste Ecke seines Verstandes schob.
 

Völlig unvermittelt spürte Marco Laws Hand auf dem Unterarm, eine flüchtige, zurückhaltende Berührung, aber trotzdem sehr real. »Ich bin da... falls du mich brauchst«, sagte der junge Mann einfach und benutzte dabei fast genau die gleichen Worte, die Marco selbst vor ein paar Stunden noch zu ihm gesagt hatte.
 

Es war ein schlichtes Versprechen, das auch in Laws grauen Augen stand. Akzeptanz und Verständnis. Ein Versprechen, das Marco eine unbewusste Last von den Schultern nahm - egal, was passierte, Law würde da sein, selbst wenn er wieder die Fassung verlor. Selbst, wenn es eben nicht okay war... »Danke, Law.«



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