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Feuerlauf

von

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1.

Als Kolja sie das erste Mal schlug, lief Natalija noch zu ihrer Mutter, um sich auszuweinen.

„So sind die Männer“, sagte die nur, selbst gebrochen und verhärmt durch eine Ehe mit Natalijas Vater, der Treue nur in Verbindung mit seiner Fußballmannschaft und dem Vaterland kannte. „Reg‘ ihn nicht auf, dann passiert schon nichts. Er ist Soldat, was erwartest du?“

„Ich glaube, ich liebe ihn nicht mehr“, sagte Natalija, die schockverliebt in Kolja gewesen war, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte.

Ihre Mutter schnaubte. „Der Junge braucht einen Vater.“

Der Junge brauchte einen Vater, und der Vater liebte den Jungen, liebte auch sie, wenn man seinen Worten glauben konnte, und er konnte auf jeden Fall nicht allein sein. Wenn er sie nicht schlug, weinte er an ihrer Brust, aber wenn er sie weder schlug noch weinte, dann war er fast manisch fröhlich, küsste ihre Hände, nahm Yuriy mit hinaus auf weite Ausflüge, hielt sie beide in den Armen und sagte ihnen, wie sehr er sie liebte. Sie war froh, wenn er nicht da war, sie vermisste ihn, wenn er nicht da war, sie wusste nicht, was sie mit ihm tun sollte. Sein Irrsinn steckte sie an, sie gewöhnte sich an ein Leben zwischen absolutem Terror und absoluter Freude, zwischen Zuckerbrot und Peitsche. Der Zerfall der Sowjetunion zerschmetterte ihre Ehe wie einen Tonkrug. Natalija, unfähig, den Fall einer Nation oder ihren eigenen aufzuhalten, zerschnitt sich an den Scherben die Finger. Es war schlimmer, weil sie wusste, wie es zu Beginn gewesen war und wie es nie mehr sein konnte, weil sie bereits begonnen hatte, Abneigung aufzubauen.

Manche Dinge waren unverzeihlich.

Sie blieb stark. Sie war immer ein wenig unbeholfen gewesen, nie so klug oder so schön wie andere. Aber sie war schnell, und sie war stark. Sie blutete und lächelte durch die blauen Flecken hindurch. Sie brachte Yuriy ins Bett und erzählte ihm Geschichten von Prinzessinnen und Drachen, wenn Kolja zu betrunken war, um ihm von den Sternen zu erzählen. Sie liebte ihren Sohn heiß, seine Klugheit und Kompromisslosigkeit, versuchte ihn genug zu lieben, um all die Momente wettzumachen, in denen er sie weinen sah, wenn sie es nicht schaffte, sich rechtzeitig zurückzuziehen. Er war zu klein dafür. Man war nie alt genug, um seine Eltern weinen sehen zu können; Yuriy war noch so klein und doch schon viel zu erwachsen für sein Alter. Der Junge brauchte einen Vater, aber er brauchte doch auch eine Mutter, oder etwa nicht - oder zählte sie nicht, dachte Natalija nachts oft wild, zählten ihre Gefühle nicht, und auch nicht ihre Träume?

Trotz dieser Gedanken hielt sie still, festgepinnt von den Erwartungen und Lebensentwürfen anderer Leute, festgepinnt von der Angst, mit Mitte Zwanzig eine alleinerziehende Mutter in einem krisengebeutelten Land zu sein, festgepinnt von Pflichtgefühl, das einer Liebe entsprang, an die sie sich noch zu sehr erinnerte, um sie komplett aufgeben zu wollen. Der Junge brauchte einen Vater, aber der Vater liebte ihn mit jedem Tag ein bisschen weniger und den Alkohol ein bisschen mehr, und Yuriy war nicht dumm.

An dem Tag, an dem Yuriy sich das erste Mal vor sie warf, um einen Schlag abzuwehren, wusste sie, dass sie gehen musste.

Kolja und Natalija fanden einander in der Scham wieder, beide mit dem Bewusstsein, dass sie als Eltern versagten, wenn sie so weitermachten. Doch diese Erkenntnis ließ sie beide in sehr unterschiedliche Richtungen treiben. Während bei Kolja die Verzweiflung und der Zynismus noch größer wurden und er sich vollkommen der Gewissheit überließ, dass die Welt schlecht und er noch schlechter und somit unrettbar war, fasste Natalija einen Entschluss. Sie würde fortgehen. Keine Angst war größer als jene, Yuriys Leben zu zerstören. Irgendwie würde sie es schaffen, auch ohne Mann, gerade ohne Mann. Sie konnte arbeiten, hatte ihr Leben lang nichts anderes getan, und sie konnte die Kraft finden, Mutter genug zu sein, um den Vater zu ersetzen. Sie spürte die Gewissheit darüber in ihren Knochen, und sie fasste den Entschluss, alleine vorzugehen - erst ein Dach über dem Kopf, dann eine Arbeitsstelle, und dann würde sie Yuriy zu sich holen. Natalija malte es sich aus, den Moment, in dem sie ihren Sohn an der Hand in eine Wohnung führte, die sie allein eingerichtet hatte - klein natürlich, aber ein Heim für sie beide, wo es immer warm war, weil das Geld für Notwendigkeiten nicht in der Kneipe ausgegeben wurde.

Sie ging, Frühling in ihren Schritten und unbemerkt von ihrem Mann, der nach einer saftigen Ohrfeige - der letzten, die er ihr jemals geben würde - auf dem Sofa eingeschlafen war, und ihrem Sohn, den sie ins Bett gebracht hatte, um ihm von den Sternen vorzulesen und ihm flüsternd wieder und wieder zu versichern, dass sie ihn liebte und dass sie ein Team waren, während sie ihm durch das ihrem so ähnliche Haar strich, bis er eingeschlafen war.
 

Sie ging, und das Leben in Moskau als alleinstehende Frau war hart, die Träume schwer und mühsam erkämpft. Kompromisse mussten gemacht, Kilometer überwunden werden. Natalija lief, weil sie immer schon gelaufen war, und sie blieb stark, auch wenn sie zuerst mit vier anderen Frauen und zwei kleinen Kindern in einem winzigen Zimmer hockte. Ihr Haar war rot wie Feuer und sie brannte, brannte vielleicht aus. Ihr Körper erinnerte sich an alles, die Schläge und das Kind, das sie unter ihrem Herzen bewahrt hatte, ihr Körper brach zusammen unter dem Stress. Sie wurde krank, sie wurde gesund, sie las beim Schein einer altersschwachen Lampe Sinaida Gippius und formte lautlos mit ihren Lippen die Worte der Dichterin, um Kraft zu finden. Sie fand Arbeit und las Dostojewskij, sie verdiente Geld und las Bulgakow, sie fand eine Wohnung und las Anna Achmatova. Als sie von den Seiten aufblickte und einen Moment lang in ihrem Lauf stillstand, stellte sie fest, dass ein Jahr vergangen war - ein Jahr, vorbeigeflogen wie ein freudig bewegter Vogel, und Natalija erkannte, dass sie schon lange nicht mehr die gleiche war. Es wurde Zeit, ihren Sohn zu holen.

Sie ging, Frühling in ihren Schritten, und klopfte an die Tür der Wohnung, in der sie viele Jahre gelebt hatte. Aber das Heim war längst zerschlagen, Kolja lag immer noch schlafend auf dem Sofa und war umringt von leeren Flaschen. Ihr Sohn war fort, Moskau hatte ihn mit sich gerissen, und sie würde die nächsten Jahre damit verbringen, ihn zu suchen, immerfort zu suchen.
 

2.

Natalija wurde krank. Natalija wurde gesund. Sie blieb allein, hielt sich von Männern fern, hatte mit den Männern abgeschlossen. Sie hörte nie auf, zu zucken, wenn sich jemand zu schnell bewegte oder zu laut wurde. Sie arbeitete, sie war stark, sie hielt es nicht mehr aus vor Kummer, sie weinte über Anna Achmatova, die schrieb: „Man hat das Leben mir vertauscht. Hineingeströmt ist’s in ein fremdes Flussbett, und an fremden Ufern fließt es nicht zu den meinen.”

Sie schleppte sich durch das Leben, Winter in ihren Schritten. Irgendwann erfuhr sie, dass man Kolja begraben hatte, aber es war ihr seltsam gleichgültig. Die Liebe, die sie einmal für ihn gehabt hatte, war nicht fort - aber es war ein anderer Mann gewesen als der, den man unter die Erde gebracht hatte, ein Mann, der schon lange nur noch in ihrer Erinnerung gelebt hatte und für immer jung sein würde. Was er danach geworden war, war eine ganz andere Geschichte. Noch war sie nicht dort, dass sie ihren Frieden mit diesem Teil von ihm machen konnte. Vielleicht würde es ihr auch nie gelingen.

Ein Jahr verging, dann zwei, dann drei. Natalija baute sich eine stabile, einsame Existenz auf, legte Geld zurück, lebte sparsam und allein. Jeden achten Februar zündete sie eine Kerze an und weinte, bis sie herab gebrannt war. Sie hörte nicht auf zu trauern, und sie hörte nicht auf zu suchen. Aber das Herz war so schwer, dass es sie hinabzog und ihr Kraft abverlangte, die sie so dringend gebraucht hätte.

Und irgendwann traf sie einen Mann.

Er war groß und hatte ein Gesicht, das nicht schön, aber gütig war, und er stammelte so verlegen über das Wetter, verhaspelte sich so sehr, dass sie nicht anders konnte, als zu lachen. Er erstaunte sie, dieser Laut. Und auch Pjotr erstaunte sie, denn er warb ein Jahr lang um sie, dann zwei, umsichtig und mit sanfter Geduld. Sie wusste nicht, warum. Sie konnte ihm lange nichts geben außer Angst und Worten von Schreibenden, die sie ihnen entriss, um sie ihm vorzulesen in der Hoffnung, dass er verstand. Pjotr war kein Mann für Gedichte. Die meisten Metaphern entgingen seiner Aufmerksamkeit. Aber er saß neben ihr und behielt die Augen ruhig auf sie gerichtet, und seine stetige, sanfte Zuneigung wärmte sie langsam von innen wie Kerzenlicht. Sie öffnete sich ihm wie eine Blume, nachdem der Sturm fortgezogen war, und er blieb, er blieb.

Sie heirateten, eine kleine Affäre innerhalb von Pjotrs Familie. (Natalija lud ihre Eltern nicht ein.) Plötzlich hatte sie einen Mann, der nicht trank, einen Schwager und eine Schwägerin, die sie wöchentlich zum Kaffee einluden, Schwiegereltern, die sie regelmäßig anriefen. Sie ging in die Arbeit und baute ein Heim, sie legte Anna Achmatova beiseite und verschlang Turgenjew und Tschechow. Es war eine bescheidene Existenz, aber sie hungerte danach, wachte nachts manchmal schweißgebadet auf, weil sie wusste, wie schnell Glück unter den Fingern zerrann. Das einzige Bild, das sie von Yuriy besaß, blieb in ihrer Schublade. (Sie schnitt Nikolaij heraus, bis auf seine Hand, die ihr Sohn vertrauensvoll hielt.)

Jeden achten Februar brannte eine Kerze. Pjotr respektierte ihre Geheimnisse. Er war ein gütiger Mann und Natalija hatte diese zweite Chance nicht verdient, aber vielleicht war gerade diese Güte Gottes Strafe für ihr Versagen.
 

Und dann: Das Aufblühen ihres Körpers mit neuem Leben.

Und noch mehr Ironie, denn diese zweite Schwangerschaft hatte nichts von der Härte der ersten, ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich gut, sie glühte, sie weinte jeden Tag haltlos vor Angst, vor Schuld, vor Sehnsucht. Sie war ein wildes Tier, ihr Herz brannte ein Loch in ihre Brust, sie las Gippius und verschlang ihre Worte, als die Dichterin schrieb: „Vielleicht ist meine ganze Seele aus diesem Grauen, aus diesem Schmerz gewachsen.“ Sie betete darum, dass alles gut ging. Sie betete darum, dass alles bald vorbei war.

Sie brachte ihre Tochter auf die Welt, unter Blut und Schmerzen und Angst, aber es war nicht das Härteste, was sie in ihrem Leben schon getan hatte. Natalija zeichnete mit der Zeigefingerspitze das rosige, schlafende Gesicht Sinaidas nach, ließ sich von Pjotr auf die Stirn küssen und dachte, dass sie dieses Kind mit Zähnen und Klauen verteidigen würde - es so fest halten würde, wie sie es mit dem ersten verabsäumt hatte, und wenn es sie alles kostete.
 

3.

Sinaida wuchs, und Natalija wuchs mit ihr mit. Yuriy war in seinen Leidenschaften immer sehr fokussiert gewesen, aber Sinaidas Aufmerksamkeit sprang von Interesse zu Interesse, klammerte sich eine Weile daran fest und machte sich dann wieder los. Es gab nichts, was sie nicht faszinierte und in ihrer Neugier auf das Leben riss sie die Menschen um sie herum mit unerträglicher Leichtigkeit mit sich. Sie war ein lautes Kind, weil sie nicht leise sein musste, sie war offen und neugierig, weil die Welt ihr freundlich begegnete. Ihr permanentes Gefühl von Sicherheit im Herzen ihrer Familie war Natalijas größter Triumph. Auch sie hatte ihr rotes Haar geerbt und Natalija konnte nicht anders, als sich darüber zu wundern, dass sie in dieser Sache mit ihren Kindern immer triumphierte. Feuer wurde mehr, wenn man es teilte, aber sie fragte sich manchmal, ob sie den Brand an ihre Kinder weitergegeben hatte und selbst am Verglühen war.

Es spielte keine Rolle. Sie war dämmernde Glut, die unter Asche weiterschwelte - für Sinaida, für Pjotr, für sich. Für ein Leben, das sie nicht loslassen wollte, für einen Herzschlag, der sie weiter vorantrieb, für all die Dinge, die sie noch nicht gesehen hatte. Hunger war ein zerstörerisches Ding, besonders für eine Frau, und man hatte ihn ihr schon früh genug aus den Knochen gebrochen. Aber ein Rest davon blieb und, sorgfältig in Ketten gelegt, ließ er sie vorwärts gehen - durch Kindergeburtstage, durch Zooausflüge, durch Elternabende, Firmenfeiern, romantische Jahrestage, zwanglose Treffen mit Freunden.

Es war oft friedlich und schön, so schön, dass sie daran hätte verbluten können.
 

4.

Sinaida wurde vier, und Natalija stand an einem ganz normalen Sonntag in der Küche und wusch Geschirr, als Pjotr über die Zeitung schnaubte wie er es nur tat, wenn er keine Worte mehr für die Schlechtheit der Welt fand.

„Es sollte mich nichts mehr wundern”, murmelte er. Als Natalija einen fragenden Laut von sich gab, ergänzte er: „Anscheinend hat da so ein Irrer Kinder von der Straße aufgesammelt und unter schlimmen Bedingungen zu Kreiselsoldaten ausgebildet. Mitten in Moskau, das muss man sich mal geben. Ja, ja, wenn die Behörden nur genug geschmiert werden, dann sieht keiner hin, da kann man auch Unschuldige für Sport quälen. Es hat sich nichts verändert. Und sie haben ein paar japanische Kinder dazu gebraucht, dass es so international geworden ist, dass man was machen musste. Kannst du dir das vorstellen?”

Natalija runzelte die Stirn und trocknete langsam einen Teller ab. „Gab es da nicht unlängst erst eine Weltmeisterschaft?”

Pjotr nickte und hielt ihr die Zeitung an der aufgeschlagenen Stelle hin. Der Angelegenheit war eine Doppelseite gewidmet worden, die unter anderem das Foto einer Gruppe von vier Jugendlichen vor einem Gerichtshof zeigte. „Der Leiter des russischen Teams hat scheinbar eine Art Jugendzentrum in einer Abtei geführt und wird jetzt angeklagt wegen Veruntreuung, Misshandlung Minderjähriger und-”

Natalija ließ den Teller fallen.

Scherben schossen über den ganzen Boden und rissen hungrig nach Blut an ihren nackten Beinen. Pjotr sprang auf, mehr überrascht als wütend, aber Natalija sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts.

Koljas Augen sahen sie von der Doppelseite her an.

Das ist mein Kind, dachte Natalija wie betäubt. Das gleiche, genau das gleiche rote Haar wie ihres brannte um ein Gesicht, dem die kindlichen Rundungen noch nicht ganz abhanden gekommen waren und sie erkannte es, oh, sie kannte es, sie liebte es, und ihr Herz hämmerte im Takt von Yura, Yura, Yura. Das war ihr Kind und doch auch wieder nicht, und sein Anblick war wie ein Herzinfarkt. Sie versuchte zu atmen, aber alle Luft hatte sie verlassen. Sie wollte Ruhe bewahren, aber alle Instinkte riefen ihr zu, dass sie laufen musste.

„Natascha, was ist los?”, fragte Pjotr entsetzt und sie flüchtete vor seinen Händen, vor seiner Stimme, während die Glut in ihr aufflammte und sich durch die dicke Aschendecke brannte.

„Das ist mein Sohn”, sagte sie, und Pjotr setzte sich, und sie hätte vielleicht mehr Rücksicht auf ihn nehmen sollen, aber nun entwichen ihr die Worte wie Lava, die sich über einen Bergrücken ergoss und sie erzählte ihm alles: Von Yuriy, von ihrem Fortgang, von ihrer Suche, von ihrer Aufgabe, von ihrer Schuld, ihrer Schuld, ihrer größten Schuld.

Halb erwartete sie, dass er aufstehen und gehen und nie wieder kommen würde, und sie war die letzte Person, die jemandem dafür einen Vorwurf hätte machen können. Aber er war ein guter Mann, ein verantwortungsvoller Mann, und er liebte sie. Natalija verdiente diese Liebe nicht, sie spürte es deutlich in ihrem ausgebrannten Herz. Aber sie war zu schwach, um sich dagegen zu wehren, als er ihre Hände in die eigenen nahm und sie zu sich zog, langsam, behutsam, wie eine sanfte Geste gegenüber einem wilden Tier.

„Ich wünschte, du hättest es mir gesagt”, sagte er.

Natalija schwieg und schloss die Augen.

Seine Finger strichen über ihre Handknöchel und einen Moment lang war es still, so still. Dann sagte er: „Hol ihn zurück.”

Sie öffnete die Augen und sah ihn an.

Pjotr lächelte, glitt weiter mit der Unterseite seines Daumens über ihre Hand und sagte: „Ein Kind braucht seine Mutter.”

Ein Kind brauchte seine Mutter.

Natalija hob seine Hände an die Lippen und drückte einen Kuss darauf, die Brust zu eng und zu schwer, um zu sagen, was er ihr bedeutete. Aber sie küsste ihn, und dann ließ sie ihn los und lief.
 

5.

Sie nahm Kontakt mit den Behörden auf.

Ihr Sohn wollte sie nicht sehen.

Ihr Sohn wollte sie nicht sehen, und ihr Sohn war sechzehn geworden, während sie nicht da gewesen war, und wenn ihr Sohn sie nicht sehen wollte, dann konnte sie nichts dagegen tun. Aber Natalija war es gewohnt, sich gegen Scherben zu werfen, die sie aufschnitten und es war würdig und recht, für diese Sache zu bluten. Sie ging zu den Behörden und wurde abgeschmettert, sie ging zu den Verhandlungen und wurde vor der Tür fortgewiesen, sie erhaschte Funken eines Bildes und konnte sie nicht festhalten. Sie sah zu, wie Yuriy sich lieber in soziale Betreuung statt in ihre Obhut begab und hinterließ ihre Kontaktdaten bei der zuständigen Sozialarbeiterin. Wieder verbarg sie Tränen vor einem Kind, auch wenn diesmal jemand an ihrer Seite war, der sie beschützte.

Sinaida wurde fünf, und Natalija hoffte.

Sinaida wurde sechs, und Natalija verfolgte mit angehaltenem Atem die Weltmeisterschaften, verschlang Artikel und Interviews, ließ kein Match aus. Da war ihr Sohn, ihr rotes Haar, ein Gesicht, das die Rundungen abgelegt und durch Kanten zu ersetzen begonnen hatte. Die Gleichgültigkeit war aus seinen Augen gewichen und hatte einem Hunger Platz gemacht, der zerstörerisch sein konnte. Von fern sah sie zu, wie er sich gegen die Welt warf und dafür bestraft wurde, und sie konnte nichts dagegen tun. Er kämpfte und blutete und lag in tiefem Schlaf in einem Land, das außerhalb ihrer Reichweite war. Natalija hatte sich geirrt. Nicht ihr bequemes Leben war Gottes Strafe, sondern das: Die Realisierung, wie die Gottesmutter sich gefühlt haben musste, als sie ihren Sohn ans Kreuz genagelt hatten - wissend, dass es nichts gab, das sie tun konnte, um ihm dieses Schicksal zu ersparen, weil er sich ihm selbst entgegen geworfen hatte und sie nur eine Randfigur im Geschehen war. Sie betete, aber es war nur Rauch und altes Gold, während ihr Sohn schlief und kämpfte und schlief. Und er gewann, und er verschwand, und sie schaute weiter aus der Ferne zu, ohne ihn berühren zu können.

Sinaida wurde sieben, und Natalija begann zu akzeptieren: Die Wunde in ihrem Herz, die Dinge, die sie nicht ändern konnte, die Liebe, die sie verloren hatte.

Sinaida wurde acht, und Yuriys öffentliche Spur verlor sich. Sie ließ ihn gehen, jagte ihm nicht nach wie einem Geist, von dem sie besessen war, der an ihr zehrte. Sie ließ ihn gehen und an seinem Geburtstag brannte weiterhin eine Kerze in ihrem Fenster, und sie lächelte durch die blauen Flecken hindurch, die das Leben ihr weiterhin schlug. Sinaida war ein Wildfeuer, ein Energiebündel, das ihre Aufmerksamkeit benötigte, wenn es nicht außer Kontrolle geraten wollte, und sie zog sie mit all der Liebe und Behutsamkeit auf, zu der sie noch fähig war. Asche legte sich, Schicht für Schicht, über sie und bedeckte die Glut.
 

Sinaida wurde neun, und Natalija traf ihren Sohn an einem ganz gewöhnlichen Morgen auf einem ganz gewöhnlichen Markt.
 

6.

Natalija lief.

Sie wartete, Hände fest um den Riemen ihrer Tasche geschlungen, und dann lief sie los - über die Straße, durch die Menschen, blind für alles davon. Da war das Café, da war die Tür, sie fegte hindurch wie Wind über Kohlen. Da war ihr Sohn, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust mit dem Rhythmus seines Namens. Er war ein Mann geworden, den sie nicht kannte, sein Gesicht war Koljas Gesicht und doch überhaupt nicht damit zu vergleichen. Seine Augen waren blau, das Blau seiner Vateraugen, aber es waren ihre Augen, ihr Ausdruck - Wolfsaugen, die Hunger kannten und ihn überlebten. Natalija lächelte und es brach ihr Gesicht, sie wusste nicht, ob er es fühlen konnte. Aber da war er, da war er -

Yuriy erhob sich.

Dann streckte er eine Hand aus, und Natalija warf sich ihm entgegen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  lady_j
2021-02-08T22:20:21+00:00 08.02.2021 23:20
Jo, ich weiß immer noch nicht, ob ich bereit für drama bin aber ich wage es jetzt *holt tief luft*
Antwort von:  lady_j
08.02.2021 23:32
Argh, ich habe. so viele. fühls. diese poesie. ich liebe natalija. und einfach diese ganze hoffnung, die sie hat. und gönne ihr pjotr und sina so sehr. es ist so, so gut. argh.
Antwort von:  Mitternachtsblick
10.02.2021 18:45
<3 Bin froh, wenn’s ein bisschen gefallen hat!
Antwort von:  lady_j
11.02.2021 11:00
Ein bisschen sagt sie. Ich bin immer noch nicht drüber weg. 😩
Von:  kylara_hiku_Lamore
2021-02-03T18:26:30+00:00 03.02.2021 19:26
Sooooo schön!!!! 🥰 Es hat mich einfach mitgerissen und mich bis ins tiefste meines Herzens berührt!
Antwort von:  Mitternachtsblick
05.02.2021 10:16
Danke dir sehr!! <3
Von:  FreeWolf
2021-01-28T07:54:08+00:00 28.01.2021 08:54
Oh Mensch war das traurigschön.
Antwort von:  Mitternachtsblick
28.01.2021 12:55
Hoffe es war kein kompletter Owezahrer!
Von:  Phoenix-of-Darkness
2021-01-26T21:44:48+00:00 26.01.2021 22:44
Mein Herz blutet. Ich kann es nicht anders sagen.
Ich habe sehr viel Respekt vor der Art wie du Yuriys Mutter charakterisierst. Dennoch bin ich nicht in der Lage ihr diesen einen Fehler zu verzeihen. Es ist mir unbegreiflich wie sie ihn bei einem Trunkenbold lassen konnte. Ich verstehe ihre Absicht erst alles geregelt zu haben, bevor sie Yuruy zu sich holt.. doch sie hat ihn dennoch im Stich gelassen.
Auf der anderen Seite habe ich wahnsinnig viel Mitleid mit ihr. Sie hat es definitiv sehr schwer gehabt und ich bewundere ihre Stärke...hach...sie ist für mich persönlich, für mein Gemüt ein Zwiespalt.
Aber ich liebe diese Geschichte
Antwort von:  Mitternachtsblick
28.01.2021 12:54
Danke dir, du Liebe <3


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