09.12. „Oh Gott... ist das... BLUT?!“
Hilary seufzte, als sie das laute Geschrei schon von weitem vernahm. Sie arbeitete jetzt seit circa einem Jahr in diesem Kindergarten und wusste inzwischen wie ihre vierjährige Rasselbande so tickte. Sie hatte zwar eine der ruhigeren Gruppen bekommen, dennoch gab es ein paar kleine Terroristen, die manchmal für Unruhe sorgten.
Sie war nur kurz draußen, um Brooklyn zum Vesper rein zu holen. Der Kleine liebte die Natur und würde, wenn er könnte, bei Wind und Wetter draußen sein. Es waren vielleicht nur zwei Minuten und dennoch muss es gereicht haben, um für Zwist zu sorgen.
Sie kam gerade, mit dem kleinen Orangehaarigen an der Hand, durch die Terrassentür, als sie entsetzt stoppte. Ein stark weinender Takao kam auf sie zugerannt. Doch das war nicht der Grund für ihren Schock.
„Oh Gott... ist das... BLUT?!“ geschockt eilte sie ihm entgegen, dabei ein Tuch aus ihrer Tasche ziehend, um schnellstens die Blutung seiner Nase zu stoppen. Doch bevor sie fragen konnte, was passiert war, kamen schon weitere Kinder angerannt.
„Er ist selbst dran schuld, Fräulein Tachibana!“, behauptete sogleich ein kleiner rothaariger Junge.
„Wie kommst du darauf, Yuriy?“ Während sie zu dem Rotschopf schaute, hielt sie weiterhin das Taschentuch vor Takao´s Nase und drückte seinen Kopf leicht nach vorn.
„Weil ich es gesehen habe!“ Er verschränkte überzeugt die Arme und hob leicht das Kinn an. „Er ist gestolpert und auf die Nase gefallen.“
Neben ihm stand ein Kind mit graublauen Haaren. Dieses schielte kurz zu seinem Nebenmann, bevor es ihn nach ahmte und die Augenbrauen gespielt verärgert zusammen zog, die Arme verschränkte und bestätigend nickte. In den Augenwinkeln konnte sie Tränen schimmern sehen. Langsam dämmerte Hilary ein Verdacht. Yuriy und Kai waren wie Pech und Schwefel. Sie hingen rund um die Uhr aneinander und waren unzertrennlich. Baute der eine Scheiße, wurde er vom anderen gedeckt. Und wehe jemand drängelte sich zwischen die beiden, dann herrschte Krieg. Probleme mit den beiden artete immer in einen Fall á la Sherlock Holmes aus. Die Braunhaarige wusste schon jetzt, dass die beiden eine essentielle Rolle bei diesem Zwischenfall spielten.
„Ok, alles nacheinander.“ Erstmal beruhigen und die Gedanken sammeln. „Takao, was ist passiert?“ Besser war es immer sich zuerst beide Seiten anzuhören. Der Kleine hatte inzwischen aufgehört laut zu weinen, schniefte nur noch ab und an. Er war schon immer sehr tapfer.
„Y…Yu….Yu…Yuriy hat …hat mich gehauen.“
„Hab ich gar nicht!“
„Hast du wohl!“ Und schon wollten sich beide aufeinander stürzen, doch Hilary hielt sie vorher auf. Sie musste sich etwas einfallen lassen, sonst saßen sie heute Abend noch hier.
„Wisst ihr, bald ist ja Weihnachten und der Weihnachtsmann bringt nur artigen Kindern Geschenke. Unartige Kinder bekommen nichts und ihr seid doch artige Kinder, oder?“
Einige Sekunden herrschte Stille, man sah regelrecht wie es in den Köpfen der Kids arbeitete. Dann ging alles ganz schnell. Die Vorstellung, zu Weihnachten keine Geschenke zu bekommen, schien bei den Streitenden zu wirken.
„Takao ist ein Dieb!“, „Takao ist selber schuld!“, „Yuriy hat mir auf die Nase gehauen!“, die drei Hauptverdächtigen schrien wild durcheinander.
„Stopp, stopp, stopp. Was heißt ‚Takao ist ein Dieb‘?“ Hilary sah zu Kai, der dies vorher rausgeschrien hatte. Verlegen blickte Takao daraufhin, soweit er es konnte, von der Erzieherin weg. Yuriy schmollte plötzlich und Kai sah beschämt nach unten. Sie war auf der richtigen Spur, der Diebstahl und die blutige Nase hingen zusammen.
„Also?“
Da drängelte sich Mariah aus der hinteren Reihe nach vorn. „Ich hab es ganz genau gesehen!“, sprach die Kleine sofort los, „Yuriy hat Takao geschubst.“
Von dem Angeklagten kam leise: „Olle Petze.“
„Danke Mariah.“ Mariah war ein liebes Kind, nur etwas übertrieben korrekt. Die Braunhaarige machte sich Sorgen, dass die Kleine es dadurch später schwer haben könnte, Freunde zu finden. Sie hatte sich deswegen vorgenommen, der kleinen Chinesin beizubringen, dass man andere nur in wichtigen Fällen verpetzte. Die Kleine kam nämlich oft zu ihr, um ihr von ‚Vergehen‘ der anderen Kinder zu berichten und meist handelte es sich dabei nur um Nichtigkeiten.
„Nun zu dir“, sie richtete sich an den rothaarigen Russen, „warum hast du Takao geschubst?“
Doch der kleine Sturkopf schwieg noch immer beharrlich. Da erklang eine leise Stimme: „Es war wegen mir.“ Kai stand noch immer neben Yuriy, den Blick weiterhin gesenkt und knautschte den Saum seines Shirts zusammen.
„Kai, nicht!“ Das war das Positive an der tiefen Freundschaft der beiden Vierjährigen, sobald einer in der Klemme steckte kam der Andere um ihm zu helfen. Das hieß auch, manchmal die Wahrheit zu sagen und dabei selbst die Strafe zu bekommen.
Hilary kannte solche Situationen und ging weiter feinfühlig an die Sache ran. „Was meinst du damit, Kai?“
Der kleine Halbrusse druckste noch etwas rum, bevor er weiter sprach. „Takao hat das heutige Türchen vom Adventskalender geöffnet, obwohl ich ja heute dran bin. Das hab ich ihm gesagt, aber er hat einfach die Schokolade gegessen. Das war voll gemein“, er schniefte kurz, „und da hat Yuriy ihn geschubst und Takao ist dadurch gestolpert und hingefallen. Aber Yuriy hat ihn nicht gehauen. Wirklich!“ Sie wurde aus rubinroten Augen flehend angeschaut. Der Graublauhaarige durfte nie erfahren, wie entwaffnend dieser Blick war.
„Danke, Kai.“ Nun ergab das alles einen Sinn. Takao hatte, frecherweise, das heute Türchen geöffnet, obwohl er gestern erst dran war. In ihrer Gruppe waren aktuell acht Kinder, hieß jeder durfte drei Türchen öffnen. Sie hatten sogar, damit es keinen Streit gab, einen Plan gemacht, wer wann dran war. Dieser hing obendrein noch genau neben dem Kalender. Yuriy hatte gesehen, dass Kai geärgert wurde und kam ihm zu Hilfe. Er hat Takao geschubst, woraufhin dieser unglücklich stürzte und auf die Nase fiel.
„Ok, meine Süßen“, Takao´s Nase hatte inzwischen aufgehört zu bluten und die drei Kinder standen in einer Reihe vor ihr, „ihr wisst, dass es weder gut ist zu Lügen, noch zu stehlen, zu schubsen oder gar zu hauen!“ Die Drei blickten schuldig zu Boden und nickten.
„Ja, Fräulein Tachibana.“
Sie seufzte. Wenn die Kleinen so vor ihr standen konnte sie schon schwach werden, aber Strafe musste sein.
„Ich werde mit Takao erstmal zu Doktor York gehen und später müsst ihr drei zur Strafe alle Spielsachen alleine aufräumen und den Müll rausbringen.“ Die ‚Verurteilten‘ stöhnten und jammerten, aber sie blieb streng. So etwas durfte sie nicht durch gehen lassen.
„Also, ich bin nur kurz weg. Seid brav!“ Die Braunhaarige dreht sich zu einem kleinen chinesischen Jungen mit langen schwarzen Haaren um.
„Ray, du hast die Aufsicht.“ Ray war sehr zuverlässig und ließ sich auch von Yuriy nicht unterbuttern. Hilary lächelte, als sie sich Takao schnappte und mit ihm zu Emily ging. Diese würde es sicherlich auch interessieren, was nun wieder passiert war.
Auch wenn es öfter mal zu kleinen Streitereien kam, war die Braunhaarige sehr glücklich mit ihrem Job. Es waren alles liebe Kinder und sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass aus ihnen gute Erwachsene werden.