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Vorsichtig löste Yuriy den Angriffsring von der Basis seines Beyblades. Wolborg hatte ein paar Kratzer abbekommen, nichts Ernstes. Die kleinen Zahnrädchen des Spin Gears waren allesamt unversehrt, nur eines zeigte langsam Verschleißerscheinungen. Er würde es bald austauschen müssen.
Mit einem lauten Ächzen ließ Boris sich neben ihn auf die Bank fallen und lehnte sich gegen die Spinde. „Sag mal…”, murmelte er, „Rasiert Hiwatari sich die Brust?”
Yuriy blinzelte verwirrt, dann hob er den Kopf, um Boris anzusehen. Der hatte die Arme verschränkt und stierte geradeaus. Yuriy folgte seinem Blick und bekam gerade noch mit, wie Kai auf der anderen Seite des Raumes ein frisches Shirt über seinen wirklich sehr glatten Oberkörper streifte. „Hmm, ja, könnte sein”, antwortete er und Boris schnaubte verächtlich. „Was soll das, will er angeben oder was?”
Yuriy verkniff sich eine Antwort. Boris war selbst nicht gerade bescheiden; in ihrem heimatlichen Fitnessstudio war er regelmäßig derjenige, der sich halb entblößte und die Muskeln spielen ließ. Noch einmal schielte er zu Kai, der ihnen inzwischen halb den Rücken zugewandt hatte und etwas in sein Handy tippte. Im Verhältnis zu Boris, Sergeij und ihm selbst war er vielleicht klein, doch Yuriy nahm an, dass sie ungefähr das gleiche wogen. Die letzten Jahre hatten ihm zwei schwindelerregende Wachstumsschübe beschert, und es war allein Boris’ Ehrgeiz und seinen unmenschlichen Trainingseinheiten zu verdanken, dass er heute nicht wirkte wie ein Halm im Wind. Trotzdem, ihr Neuzugang war definitiv besser gebaut.
„Gehen wir heute Abend Burger essen?”, schlug Sergeij vor und wedelte mit dem kleinen Stadtführer, den sie vom Hotel bekommen hatten. Yuriy runzelte die Stirn und wollte widersprechen, dann fiel ihm ein, dass es auch Zeiten gegeben hatte, in denen sie sich von Käsebrot und Tee ernährt hatten. Das war zwar nicht mehr der Fall, dennoch war ihr üblicher Speiseplan nicht gerade spannend. Sergeij sprach schon seit einiger Zeit davon, dass er unbedingt die einzelnen Länderküchen durchprobieren wollte, wenn sie schon auf so eine große Reise gingen. Sie waren in New York - wann, wenn nicht jetzt?
„Okay.” Er stand auf und wandte sich an Kai: „Kommst du auch mit?” Der andere hob den Kopf und einen Augenblick lang sahen sie sich nur an. Yuriy erkannte, dass Kai mit den Gedanken ganz woanders gewesen sein musste, denn es dauerte eine Weile, bis seine Frage bei ihm anzukommen schien. Er hatte nichts dagegen; er sah Kai gern an.
„Oh, sicher”, entgegnete sein Tagteampartner schließlich etwas zerstreut und Yuriy nickte zufrieden. Es war gut, dass Kai am Ende ihrer Zeit in Irkutsk über seinen Schatten gesprungen war und sich nicht mehr ständig abnabelte. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte er noch mit dem Schlimmsten gerechnet - nie zu wissen, wo der andere war, was er tat und vor allem, ob er zu seinem nächsten Match wohl erscheinen würde. Im Vergleich dazu lief es momentan wesentlich besser als erwartet. Vielleicht brauchte Kai einfach ab und zu ein paar Schläge; jedenfalls war Boris fest davon überzeugt, seit er erfahren hatte, was zwischen ihm und Yuriy an diesem fatalen Morgen von knapp über einer Woche vorgefallen war. Yuriy selbst war die Erinnerung daran unangenehm; er hätte gern auf Gewalt verzichtet, aber Kai hatte wirklich ein Talent dafür, andere Menschen bis aufs Blut zu reizen. Ihm rutschte die Hand sehr, sehr selten aus, und auch deswegen liebte Boris diese Geschichte so sehr - bewies sie doch, dass Yuriy, wie er sagte, eben ein Alphawolf war. Bei ihm schien das ein Codewort für unendliche Potenz und Coolness zu sein. Peinlicher wurde es eigentlich nur noch dann, wenn sie ausgingen und Boris ihn krampfhaft mit irgendwelchen Frauen zu verkuppeln versuchte. Nicht, weil Yuriy es ihm übel nahm, im Gegenteil, er war ihm oft dankbar dafür, dass er ihn unter Leute brachte. Und auch nicht, weil er die Auserwählten oder diese ihn unsympathisch fanden (Er konnte es sich nicht wirklich erklären, aber er kam bei Frauen gut an, zumindest bei russischen. Vielleicht lag es daran, dass er sich selten gehen ließ.) - sondern weil Boris ihn anpries wie etwas sehr Wertvolles, das aber niemand jemals anschaffen würde, eine vergoldete Standuhr vielleicht. Eine vergoldete Standuhr, die dringend mal wieder aufgezogen werden sollte, um bei diesem Vergleich zu bleiben.
Yuriy seufzte, er war so in Gedanken, dass er sich nicht an den Weg vom Stadion zum Hotel erinnerte. Doch hier stand er, vor der Tür ihres Zimmers, die Schlüsselkarte in der Hand. Und Kai war neben ihm. „Was ist?”, fragte der andere ungeduldig und er schüttelte leicht den Kopf, bevor er aufschloss. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf sein Bett und fühlte, wie die Müdigkeit über ihn kam. Es war keine Müdigkeit per se, ihm fehlte schlicht ein besseres Wort. Erschöpfung traf es vielleicht auch, aber meistens war er körperlich sogar fit, doch sein Gehirn arbeitete wie in Zeitlupe. Zusammen mit Kirill Pawlowitsch hatte er versucht, eine Ursache für diese Symptome zu finden, doch im Gegensatz zu vielem anderen, das sie benennen, erklären und schließlich bewältigen konnten, schien seine Müdigkeit eine Folge seiner permanenten Überforderung zu sein. An schlechten Tagen überforderte ihn alles, angefangen bei der Tatsache, dass es viel zu viel Auswahl bei der Zusammenstellung eines Frühstücks gab bis hin zu amtlichen Schreiben, vor denen sie natürlich nicht verschont blieben und die durchaus schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen konnten. Ob er es wohl jemals schaffen würde, Dinge einfach hinzunehmen?
Als Yuriy unter der Dusche stand, fiel ihm ein, dass Daitenji für heute noch ein Treffen der Teammanager anberaumt hatte. Beinahe hätte er seinem Frust in einem lauten Ächzen Luft gemacht, aber Kai war noch im anderen Raum und hätte ihn sicher gehört. Also verdrehte er nur stumm die Augen in Richtung Decke, bevor er das Wasser abstellte. Der ihm immer vertrauter werdende Duft von Kais Haarspray hing noch in der Luft und auf der Ablage standen ein paar Kosmetika mit japanischer Aufschrift, die er neugierig betrachtete, während er seine Haare trockenrubbelte. Kein Wunder, dass sein Tagteampartner immer so gepflegt aussah. Klar, er holte sich regelmäßig Kratzer und blaue Flecken, egal ob beim Training oder in Wettkämpfen, aber er schien darauf bedacht, optisch einen guten Eindruck zu hinterlassen, zumal sie gerade ständig von Kameras umgeben waren. Seine „Freundlichkeit” stand dabei freilich auf einem ganz anderen Blatt. Der Gedanke ließ Yuriy schmunzeln - zumindest in diesem Punkt fügte Kai sich perfekt ins Team ein.
„Boris lässt übrigens fragen, ob du dir die Brust rasierst”, sagte er, als er wieder zurück ins Zimmer kam und begann, Klamotten aus seiner Tasche zu ziehen. Kai antwortete nicht sofort, es schien ihn zu irritieren, dass Yuriy nur mit einem Handtuch bekleidet vor ihm stand. Schlagartig fielen Yuriy verschiedene Gründe dafür ein - japanische Kultur, von der er keine Ahnung hatte; die vielleicht oder vielleicht auch nicht existierende Freizügigkeit zwischen den BBA Bladern (mit Sergeij, Boris und Ivan ging er regelmäßig in die Sauna, da gab es nichts, was er nicht schon gesehen hatte); die Tatsache, dass Kai auf Männer stand. „Stört dich das?”, fragte er also. Kai blinzelte, dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ich bin doch eh schon mal reingekommen, als du geduscht hast”, nuschelte er und blätterte weiter in dem Magazin, das neben ihm auf dem Bett lag.
„Ah. Stimmt.” Yuriy nickte und suchte weiter nach einem Shirt. Es war keine Absicht gewesen, er war es nur nicht gewöhnt, eine abschließbare Badezimmertür zu haben. Er meinte, dass Kai ihn noch einmal verstohlen musterte, es war beinahe spürbar, was hatte der Kleine auch so einen intensiven Blick. Das Magazin raschelte. „Und zu Boris’ Frage”, sagte Kai, „Ja, tue ich. Kann ja nicht jeder herumlaufen wie ein Bär.”
Yuriy lachte auf. „Boris ist auch noch sehr weit von einem Bären entfernt - aber das weißt du sicherlich.”
„Es ist ja nicht zu übersehen.”
Er sah noch einmal über die Schulter zu seinem Partner zurück und war überrascht, dass Kai den Blick erwiderte. Das passierte gerade immer häufiger, wenn die Momente auch sehr schnell wieder vorbei waren.
Gott, diese Augen.
Nachdem er sich angezogen hatte, ging Yuriy noch einmal zurück ins Bad, um seine Haare wieder in Form zu bringen. „Ich muss zu einem Meeting”, sagte er, als er wieder ins Zimmer trat. Kai setzte sich auf und legte das Magazin zur Seite. „Ich komme mit. Ich wollte mich noch mit Max treffen.”
Er hob billigend die Schultern; Kai konnte sich ruhig mit seiner kleinen Clique verabreden, wenn ihm das gefiel. Boris wäre da sicher wieder anderer Meinung. Er misstraute Kai, und wahrscheinlich war das sogar angebracht. Yuriy wusste ja selbst noch nicht, wie er ihn einschätzen sollte, das würde nur die Zeit zeigen können. Allerdings war er sich sicher, dass Kai nicht zu ihm ins Team kommen und sich dann doch mit den Bladebreakers absprechen würde. Auch wenn er, laut Boris, nicht zu solchen Gefühlsregungen fähig sei, war seine Freundschaft mit den anderen mehr als offensichtlich. Kai war nicht so unterkühlt, wie er immer tat; sein Team musste ihm ganz schön ans Herz gewachsen sein. Selbst Yuriy gegenüber wurde er langsam gesprächiger; manchmal machte er sogar schon dumme Sprüche.
So kam es, dass sie sich, als sie gemeinsam zum Foyer des Hotels hinuntergingen, in einen kleinen, verbalen Schlagabtausch verwickelten. Als Yuriy den Kopf hob, um Kai eine letzte Bemerkung mit auf den Weg zu geben, trafen sich ihre Blicke erneut. Und Kai lächelte ihn an. Es war eher ein spöttisches Grinsen und viel zu kurz, aber dahinter lag echte Freude. Yuriy war, als würde ihm der Boden weggezogen. Das einzige, was er tun konnte, war, zurückzulächeln, sich von seinen plötzlich viel zu großen Füßen weitertragen zu lassen und zu beten, dass er nicht stolperte. „Mach mir keine Schande vor der Bourgeoisie”, sagte er noch, dann machte er, dass er wegkam.
Er hatte sich gerade den Schweiß der Reise vom Leib geschrubbt und bequemere Klamotten angezogen, als es an der Tür klopfte. Draußen stand Sergeij, in der Hand ein Buch. „Ich bin auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum”, sagte er. „Boris schläft schon, deswegen dachte ich, ich frage euch.”
„Kai ist nicht da”, erklärte Yuriy schlicht. Was für einen Gemeinschaftsraum meinte Sergeij? Neugierig geworden griff er nach einem Pullover und fuhr sich noch ein paarmal durch die Haare, damit sie zumindest etwas besser lagen, dann folgte er seinem Teamkollegen. Der schien ganz genau zu wissen, wo er hinwollte, und das, obwohl sie erst vor ein paar Stunden angekommen waren. Er führte ihn zwei Stockwerke tiefer und ans Ende eines langen Ganges, dann stieß er eine Tür auf.
Rick Andersons Ghettoblaster stand auf einem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, doch statt Rock drang eine Mischung aus Pop und Hip-Hop aus dem Gerät. Auf den Sofas darum hatten sich die PPB Blader gesammelt, wenn auch Rick selbst etwas abseits saß. In einer Ecke waren Barthez Soldiers über ein Brettspiel gebeugt, gegenüber saß Manabu Sajen mit seinem Laptop, daneben das Mädchen von der BBA Revolution. Und schließlich Giulia Fernandez, die sehr gelangweilt irgendwas auf einem Gameboy zockte. Als sie eintraten, verstummten die Gespräche, doch dann sagten ein paar von ihnen „Hi, Sergeij”. Der Angesprochene nickte in die Runde und ging dann in Richtung Giulia, wo noch ein Sofa frei war. Ihr Blick traf den Yuriys, dann tauschten auch sie ein stummes Nicken aus.
„Hast du das in New York schon gemacht?”, fragte er Sergeij leise, als sie sich setzten.
Sein Teamkollege nickte. „Ja, die meisten Hotels haben so einen Raum oder eine Ecke in der Lobby. Ich habe mich mit ein paar Leuten unterhalten, aber es ist wirklich schwierig auf Englisch.” Er hob sein Buch und Yuriy erkannte, dass es sich um einen Roman in vereinfachter Übersetzung handelte, speziell für Englischlernende. „Aber ich übe.”
Zugegeben, Yuriy war beeindruckt. Anscheinend hatte Sergeij sich für ihre Reise ganz eigene Ziele gesteckt, während er selbst nur an die Turnierkämpfe dachte. Die Chancen, einen Kampf austragen zu können, standen für Sergeij recht schlecht, denn sollten Yuriy oder Kai einmal ausfallen, würde zunächst Boris einspringen. Der Blonde hielt sich also meistens im Hintergrund, doch seine Präsenz fehlte, wenn er nicht da war. Deswegen war Yuriy sehr dankbar dafür, dass er überhaupt mitgekommen war.
„Und?”, fragte er schließlich, „Schon neue Freundschaften geschlossen?”
Sergeij hob die Schultern. „Baihuzu sind nett”, meinte er, „Max ist in Ordnung, die Zwillinge auch. Es ist anders als damals in Moskau. Lockerer.”
Yuriy nickte. Manchmal wünschte er sich, Sergeijs ruhige Freundlichkeit würde auf ihn abstrahlen. Er konnte seine Vergangenheit nicht so einfach hinter sich lassen. Er hatte einen gewissen Ruf, gerade unter den Teams, die damals schon dabei gewesen waren, und der ließ sich nur schwer abschütteln. Auf viele Menschen wirkte er beunruhigend, selbst wenn er es gar nicht wollte. Die meisten machten einen Bogen um ihn; anfangs hatten sie auch noch sehr gestarrt, doch das taten sie zum Glück nicht mehr ganz so oft. Dennoch bemerkte er natürlich, wie einige Köpfe schnell wieder in eine andere Richtung zuckten, als er seinen Blick jetzt durch den Raum schweifen ließ. Natürlich konnten sie ihn nicht leiden. Seine bloße Anwesenheit hier drückte die Stimmung. Jetzt wusste er wieder, warum er jede Art von Aufenthaltsbereich im letzten Hotel gemieden hatte.
Um sich von der klammen Atmosphäre zu lösen, stand er auf und suchte nach Beschäftigung. Hinter dem Sofa war ein Bücherregal, wo wohl die Hotelgäste ihre Schmöker lassen und gegen andere eintauschen konnten. Es war eine skurrile Mischung von Titeln und Sprachen, aber dann fand er tatsächlich eine zerfledderte Ausgabe von Nochnoi Dozor und zog sie heraus.
„Hey, Commie Boy.”
Er hielt inne und drehte sich langsam um. Das war Rick, der sich in eine Pose warf, mit der er möglichst viel Raum einnahm, und gekonnt die entsetzten Gesichter seiner Teammitglieder ignorierte. „Hab gehört, du warst mal ’ne richtig große Nummer. Aber ganz ehrlich, dein Kampf gegen die Kleine da war ja wohl eher so mittelmäßig.”
Aus den Augenwinkeln sah Yuriy, wie Giulia, die natürlich mitbekommen hatte, dass es um sie ging, seufzend den Gameboy sinken ließ.
„Bist wohl etwas eingerostet, was?”, fuhr Rick unbeirrt fort. „Wenn das alles war, was du kannst, kick ich deinen Blade nullkommanichts zurück nach Sibirien, ha!”
Yuriy blinzelte, dann wandte er sich an Giulia. „Hast du was gehört?”, fragte er.
Sie spielte sofort mit: „Jaah. Ich glaube, hier pfeift irgendwo ein Rohr in der Wand. Jemand sollte mal dem Hausmeister Bescheid sagen.”
„Gute Idee.” Mit diesen Worten ließ er sich wieder neben Sergeij fallen, der, wie alle anderen auch, den Schlagabtausch stumm verfolgt hatte und nun erneut sein Buch aufschlug. Die Stimmung im Raum, die für ein paar Sekunden ziemlich angespannt gewesen war, schwang wieder um. Als klar wurde, dass es wohl nicht zu einer Prügelei kommen würde, nahmen die anderen langsam ihre Gespräche wieder auf.
„Alles klar, Chef?”, fragte Sergeij leise auf Russisch, aber Yuriy winkte ab. Rick Anderson war nicht der Rede wert. Stattdessen bemerkte er, wie Giulia ihn noch einmal ansah und erwiderte ihren Blick. Sie schien ertappt, dann lächelte sie ihm kurz zu.
Er hasste es, wenn die Treffen der Teammanager länger dauerten als geplant. Und das war fast immer der Fall. Meist lag es daran, dass entweder Judy Mizuhara oder Hitoshi Kinomiya sich langatmig über irgendetwas ausließen, das sie sowieso nicht ändern konnten. In Rom war es die Anzahl der zur Verfügung stehenden Trainingsmöglichkeiten. Während Miss Judy sich einem nicht enden wollenden Monolog hingab und Daitenji wie immer brav zu allem nickte und lächelte, verdrehte Yuriy die Augen. Dann traf sein Blick den Meister Taos, der ihm direkt gegenüber saß und grinsend zuzwinkerte. Er mochte Tao; mit alten, schrulligen Menschen kam er gut klar. Romero, der Manager von F Sangre, war auch okay, wenn auch ein bisschen verstrahlt. Miss Judy, Kinomiya und vor allem Barthez aber konnte er aufs Blut nicht ausstehen. Manchmal gelang es ihm, ein bisschen Unruhe zu stiften und unangenehme Fragen zu stellen, die sich weniger gegen die BBA (Daitenji war in Ordnung, dem würde er keine Schwierigkeiten bereiten) als gegen seine nervigen Mitmenschen gerichtet waren. Nicht selten sprangen Romero und Tao ihm sogar bei. Heute aber war er dafür zu müde.
„Und es kann doch nicht sein, dass wir keine Räumlichkeiten haben, um unser Equipment aufzubauen! So sind wir doch klar im Nachteil, Daitenji-san!“
Yuriy unterdrückte gerade so ein Gähnen, vielleicht sollte Miss Judy sich ihr Labor lieber selbst bauen anstatt hier endlose Forderungen zu stellen, das führte sicher schneller zu Ergebnissen. Soweit er das beurteilen konnte, waren Max und Rick außerdem die letzten, die sich beim Bladen auf reine Statistiken verließen. Die würden ihre Matches auch so austragen können. Er hob den Kopf, hinter Tao befand sich die Fensterfront und er hatte einen großartigen Blick auf den Außenbereich des Stadions. Der Sommer war hier schon in vollen Zügen und die Temperaturen so hoch, dass man nur in einem Shirt draußen herumlaufen konnte. Sie befanden sich im Erdgeschoss und theoretisch hätte man eine Tür nach draußen öffnen können, doch natürlich hatte niemand daran gedacht. Vorhin waren Baihuzu direkt am Fenster vorbeigejoggt und eine weile später hatte er für ein paar Minuten beobachten können, wie Giulia und Raoul etwas weiter weg mit Kegeln jonglierten. Er spürte das unbändige Verlangen, diesen muffigen Raum hinter sich zu lassen und ein wenig frische Luft zu schnappen.
„Ich plädiere dafür, in Zukunft schon im Vorfeld mit der PPB anzusprechen, welche Venues für Turniere anzumieten sind, sodass wir frühzeitig unsere Präferenzen...“
In diesem Moment tauchte Kai auf. Er kam den Kiesweg entlang, der vom Eingang des Geländes zu ihrem Gebäude führte. Zuerst dachte Yuriy, dass sein Teamkollege zur Arena wollte, doch anstatt dorthin abzubiegen, kam er schnurstracks in ihre Richtung und baute sich vor der Glasfront auf. Beinahe hätte er ihn angelächelt; er hielt sich gerade so davon ab.
„Was soll das denn?“, erklang Judys Stimme erneut, und das riss nun auch die anderen aus ihrer Lethargie. Kai nahm davon keine Notiz, sondern starrte Yuriy durch die Scheibe hindurch an, dann deutete er auf sein Handgelenk und breitete die Arme aus. Wo bleibst du, du hast für genau jetzt ein Training angesetzt.
Yuriy reagierte automatisch, er hob die Hände in einer abwehrenden Geste und zog die Augenbrauen nach oben. „Was soll ich machen, ich stecke fest“, sagte er dabei leise auf Russisch. Kai verdrehte dramatisch die Augen und bewegte die Hand als wäre sie ein Beil. Dann ein lockendes Winken. Yuriy sah, wie sich sein Mund bewegte und meinte, ein paar Kraftausdrücke von seinen Lippen ablesen zu können. Fick doch dein Meeting, komm her jetzt. Er verzog das Gesicht. „Frag doch Boris!“ Dabei formte er den Namen übertrieben deutlich. Kai starrte ihn an, als hätte er vorgeschlagen, die BBA Revolution um ein gemeinsames Training zu bitten. Dann zeigte er ihm den Finger. Yuriy lachte auf.
„Also wirklich!“, echauffierte Judy sich laut, „Das geht nicht, Ivanov, bitte!“
Yuriy seufzte und wandte sich vom Fenster ab. „Präsident Daitenji, können wir in Zukunft bitte besser darauf achten, den Zeitplan einzuhalten? Als Teamcaptain habe ich Sorge zu tragen, dass meine Blader ihr Training bekommen, und Sie sehen ja“ Er deutete auf Kai, der den Wink verstand und entsprechend sauer dreinschaute, „Mein Team braucht mich. Also wenn wir hier fertig sind, würde ich gerne gehen.“
Judy holte laut Luft, doch ehe sie etwas sagen konnte sprach Daitenji: „Tja, ich denke, für heute haben wir wirklich alles geklärt. Vielen Dank, dass Sie alle hier waren, wir sehen uns übermorgen zum nächsten Termin.“ Yuriy beschlich die Ahnung, dass Daitenji selbst überhaupt nichts dagegen hatte, dem ganzen Schauspiel hier ein Ende zu setzen, er schien ziemlich erleichtert zu sein. Bevor noch jemand Einspruch erheben konnte, sprang er auf und stopfte den kleinen Notizblock, auf dem er außer ein paar Kritzeleien nichts festgehalten hatte, in die Gesäßtasche seine Hose. Dann durchquerte mit großen Schritten den Raum und öffnete kurzerhand die gläserne Tür nach draußen. Warme Sommerluft schlug ihm entgegen. „Na endlich!“, rief Kai. „Erst willst du, dass ich zu jedem dämlichen Training erscheine, und dann tauchst du nicht mal selbst auf?!” Ohne einen Blick zurück machten sie sich auf den Weg zu ihrem Trainingsplatz. Yuriy nahm Kais Worte gelassen hin, er wusste genau, dass es für den anderen viel schlimmer war, allein Zeit mit Boris und Sergeij zu verbringen als tatsächlich wertvolle Trainingsminuten zu verschwenden. Ob sie sich jemals zusammenraufen würden?
„Ich bin geehrt; der große Kai Hiwatari verlangt explizit nach meiner Anwesenheit”, neckte er und Kai verzog den Mund. Yuriy hatte das schon beobachtet: Es war ein winziges Mienenspiel, das sein Partner einfach nicht unterdrücken konnte und das eindeutig darauf verwies, dass man den richtigen Punkt getroffen hatte.
„Bild dir bloß nix ein”, murmelte Kai, „Ich trainiere definitiv nicht mit Boris.“
„Na das werden wir ja sehen”, entgegnete Yuriy gut gelaunt, schmiedete dabei schon pläne, wie er die beiden Streithähne gemeinsam ein paar Übungen ausführen lassen konnte.
Boris wartete an der Bar auf ihn. „Wo ist denn unser Held der Arbeit?”, fragte er, als Yuriy sich neben ihn auf einen Hocker gesetzt hatte, „Schmollt er?”
„Keine Ahnung”, murmelte er und zog die Getränkekarte zu sich. „Was ist mit Sergeij?”
„Der wollte nicht mehr von der Couch runter - Ich hoffe, du hast Kai ordentlich die Leviten gelesen. Ich nehme einen Wodka”, fügte Boris hinzu, als der Barkeeper zu ihnen kam.
„Schwarztee, bitte.” Seine Finger waren schon wieder kalt. „Ja, ich hab die Sache mit ihm geklärt.”
Sein bester Freund zog die Augenbrauen hoch, doch Yuriy erwiderte den Blick gelassen. Vor knapp zwei Stunden hatte er sich noch in einer recht heftigen Auseinandersetzung mit Kai befunden, die ihr verpatztes Match gegen die BBA Revolution betraf; dann hatte er einen Kampf gegen ihn verloren. Sie waren quitt, hatten sogar eine Friedenszigarette zusammen geraucht. Seitdem betrachtete er das Thema als erledigt.
Boris schien da jedoch anderer Meinung zu sein. „Du bist zu weich mit ihm”, tadelte er, „Warum? Sag mir bitte nicht, es ist der alten Freundschaft wegen.” Die Getränke kamen, Boris hob das Shotglas und nickte ihm zu. „Auf deinen nie enden wollenden Geduldsfaden, prost.” Er nippte, Yuriy drückte Zitronensaft in seinen Tee.
„Du warst früher schon so”, fing der andere dann wieder an, „Kai hing an dir wie eine Klette und hat dich die ganze Zeit in irgendwelchen Mist gezogen. Und du hast nie was gesagt.”
Yuriy schwieg. Was sein Freund hier behauptete, stimmte so nicht ganz. Er hatte selbst genug Streiche gespielt und Kai damit ebenfalls in die Bredouille gebracht - sie waren allesamt ohne einen Zaren im Kopf, wie man sagt. Die Wärme des Tees drang durch das Porzellan in seine Hände, das tat gut.
„Warum wunderst du dich überhaupt noch über Kai?”, entgegnete er schließlich, „Du wusstest doch, wie er ist. Und du kennst meine Meinung: Wir brauchen ihn.”
„Wirklich?” Sie hatten diese Konversation mehr als einmal geführt, doch noch immer schien Boris nicht überzeugt zu sein. „Ganz ehrlich, ich habe bisher nicht gesehen, dass er so viel besser ist als ich. Das meiste, was er tut, ist nur Gepose - Yura! Das mit Hiwatari war eine beschissene Idee, ich bleibe dabei.”
„Gut. Und mir ist nach wie vor egal, was du denkst.”
Der andere verdrehte die Augen und stürzte nun doch den Rest des Shots mit einem Mal herunter. Er murmelte etwas Unverständliches, das Yuriy überging. Ihre Niederlage ärgerte ihn doch auch. Und ja, Kai hatte seinen zweifelhaften Beitrag geleistet, aber es war eben nicht allein seine Schuld. Yuriy hatte die BBA Revolution ohne Takao genauso unterschätzt.
Boris seufzte. „Irgendwann, mein Lieber, wird er einen richtig fetten Fehler machen und dir wird gar nichts anderes übrig bleiben, als ihn rauszuwerfen. Ich ahne es. Verdammt! Jetzt ist er nicht mal hier und wir reden trotzdem über ihn. Hey, Themenwechsel - das Mädel von diesem spanischen Team ist heiß, oder?”
„Hmm.” Yuriy verdrehte die Augen und trank einen Schluck. Die Wahrheit war: er hatte nichts dagegen, über Kai zu sprechen. Seine Gedanken kreisten sowieso viel zu oft um ihn. Wenn er an Kai dachte, wurde es unter seinen Rippen angenehm warm. Wenn sie miteinander sprachen, wollte er ihn ansehen und konnte es nicht, und wenn sie sich berührten, nahm er nur das wahr, alles andere war aus seinem Gedächtnis verschwunden. Er war nicht auf den Kopf gefallen, wie Boris es gerne beschrieb, sondern wusste sehr genau, was mit ihm los war. Es hatte ihn ziemlich kalt erwischt, beinahe vom ersten Augenblick an. Aber natürlich hatte er eine ganze Weile gebraucht, um es zu begreifen.
Er wusste nicht, ob er mit Boris darüber sprechen konnte. Oder wollte. Und sollte er nicht, wenn, dann lieber mit Kai selbst reden? Es war ja nicht so, dass er dessen Blicke nicht bemerkte.
„Hey, was ist los mit dir?” Er fühlte Boris’ Hand an seinem Oberarm. „Du bist ja noch schweigsamer als sonst.” Als er sich ihm zuwandte, war die Mine seines Gegenübers besorgt. Die Hand wanderte zu seiner Stirn. „Ich bin nicht krank, Borya”, sagte er unwirsch.
„Aber du schläfst du wenig und denkst zu viel”, entgegnete der andere prompt, „Ich bin nicht blöd, Mann, ich sehe so was.”
Yuriy umschloss Boris’ Handgelenk mit seinen kalten Fingern und entzog sein Gesicht der Berührung. Doch dann fanden ihre Hände sich und sie hielten sich stumm für eine Weile. Er berührte Boris gern. Seine Umarmungen waren fest und sicher, manchmal etwas überraschend, aber Yuriy hatte gelernt, damit umzugehen. Er strich über ein paar Schwielen auf der Handfläche des anderen; Boris hatte immer trockene Hände, die zwar groß waren, aber auch präzise arbeiten konnten.
„Willst du darüber reden?”, fragte Boris.
Yuriy überlegte ernsthaft. Es gab vieles, über das er schon viel früher mit ihm hätte reden sollen, und vielleicht wurde es ja einfacher, wenn er endlich den Mund aufmachte. Aber nein, das würde zu nichts führen. Und die Sache mit Kai? Das war schwierig. Zu schwierig.