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Wolfsherzen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung für eskalierende Zwangshandlung (Händewaschen) in Teil 2. Komplett anzeigen

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Abrutsch

1.

Eines der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie besagte, dass für jedes Ereignis A∈Σ die Wahrscheinlichkeit von A eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 war. In dem Fall 'Yuriy trifft seine Mutter' tendierte diese Zahl so stark gegen Null, dass es nicht hätte möglich sein sollen, dass sie ihm am Markt unter der Woche über den Weg lief, was wieder einmal zeigte, dass nichts im Leben sicher war, nicht einmal die Wissenschaft.

Er war gerade dabei, grübelnd eine Kiste Kraut anzustarren und sich zu fragen, ob es für Borsch geeignet war. Die Sonne schien, aber der Tag war noch recht frisch. Moskau erinnerte sich noch an den Winter, der trotz kontinuierlich steigender Temperaturen unwillig war zu gehen, und Yuriy trug daher nicht nur seinen dicken schwarzen Wollwintermantel, sondern hatte sich auch Kais Schal gestohlen. Nachdem er keine Kopfbedeckungen mochte und sie nicht verwendete, außer wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ, hatte er auf eine Mütze verzichtet und war angesichts des teilweise doch recht scharfen Windes noch nicht sicher, ob er diese Entscheidung bereute oder nicht. Immerhin half die Frische ihm dabei, seine Krautgeschäfte etwas schneller in trockene Tücher zu bringen als gewöhnlich, und er drehte sich zufrieden wieder um in dem Bestreben, das passende Fleisch als letzten Punkt auf seiner Liste zu erledigen, bevor er wieder heim konnte.

Dann stieß er auf das Fuchsmädchen.

Um ehrlich zu sein war das keine adäquate Beschreibung von dem, was passierte, weil es eine gewisse Zufälligkeit auf beiden Seiten implizierte. Was wirklich passierte, war, dass plötzlich ein roter Schatten auf ihn zuraste, „Mama!“ schrie und dann ungehemmt in seine Beine einschlug wie ein Meteorit auf die Erde. Es war nur jahrelangem Umgang mit Ivans Überraschungsangriffen aus dunklen Ecken heraus zu verdanken, dass er sich auf den Füßen hielt.

Mit einem leisen, nur halb unterdrückten Fluch packte er den roten Schatten und pflückte ihn von seinem Mantel.

Der rote Schatten starrte ihn an. Es war ein kleines Mädchen, sicher nicht älter als vielleicht acht und mit einem Gesicht, das ein deutliches Grübchen im Kinn aufwies, womit sie etwas Freches bekam. Ihr Haar war in zwei dünne Zöpfe geflochten, die auf ihre Schultern herabhingen und an den Enden mit bunten Haargummis gesichert waren. Auf ihrem dunkelblauen Mantel, dick gefüttert und von guter Qualität, ging am Saum eine aufgesteckte Fuchsfamilie in Reih und Glied spazieren. Sie hatte große, braune Augen, die Yuriy nun geradezu anklagend ansahen, als sie feststellte: „Du bist nicht meine Mama.“

Sie hatte das gleiche, genau das gleiche rote Haar wie er.

„Nein“, sagte Yuriy trocken. Er stellte sie behutsam auf die gestiefelten Füße und versuchte das aufkommende Gefühl von Gefahr zu ignorieren, das absolut keine Berechtigung hatte. Dann wiederum betrog sein Instinkt ihn normalerweise nie. Er strich sich über die Haare, die er wieder hatte wachsen lassen, sodass sie ihre Spitzen nun in einem mittellangen Pferdeschwanz seinen Mantelkragen berührten. Dann schalt er sich albern und blickte mit gerunzelter Stirn auf seine neue Bekanntschaft herab. „Hast du sie verloren?“

„Ich finde sie wieder“, sagte das Fuchsmädchen mit einer faszinierend unerschütterlichen Sicherheit für jemanden, der so klein war. Yuriy war hin- und hergerissen zwischen moralischem Anstand und der Tatsache, dass er sich mit Kindern unter mindestens zwölf Jahren immer schon sehr schwer getan hatte. Dann wiederum fürchteten sich die meisten kleinen Kinder tendenziell von ihm, was bei dem Fuchsmädchen nicht der Fall zu sein schien, denn diese musterte ihn weiterhin sehr interessiert. Sie schien sich wenig zu fürchten. Yuriy vergaß manchmal, dass die meisten Kinder das unerschütterliche Vertrauen hatten, dass die Welt es nur gut mit ihnen meinte.

„Wusstest du, dass nur zwei Prozent von den Menschen auf der Welt rote Haare haben?“, fragte sie.

„Ein bis zwei Prozent“, korrigierte Yuriy automatisch, woraufhin sie mit den Augen rollte, als ob er pedantisch und nicht wissenschaftlich korrekt war. Yuriy passte seine Beurteilung an. Wie hatte noch einmal dieser freche rothaarige Kobold aus dieser deutschen Serie geheißen, die Ivan eine Weile lang gesüchtelt hatte? Er beschloss, sich auf das wesentliche zu konzentrieren. „Wir sollten deine Eltern suchen.“

„Wie heißt du?“, fragte das Fuchsmädchen stattdessen und blinzelte ihn an.

Yuriy starrte auf sie herab. „Wie heißt du?“

„Sinaida!“

Fast synchron hoben Yuriy und das Fuchsmädchen die Köpfe, als der Ruf über den Markt erklang. Doch während die Augen der Kleinen sich weiteten und sie enthusiastisch winkte, hatte Yuriy das Gefühl, dass seine Magengegend sich in eine Grube aus Eiswasser verwandelte. Er wusste, dass er gehen sollte und zwar so schnell wie möglich, aber seine Beine bewegten sich nicht. Wie gelähmt starrte er die Frau an, die sich den Weg durch die Menge bahnte und erleichtert lächelte, als ihr Blick auf das Fuchsmädchen fiel. Das Gesicht war nicht seines, aber es war so vertraut wie das Gefühl einer Panikattacke, genauso wie ihr Lächeln der Geist einer lang begrabenen Erinnerung war. Sie lächelte, und Yuriy konnte die Augen nicht von ihr nehmen, als sie das Mädchen in die Arme schloss und an sich drückte.

Dann hob sie den Blick, sah ihn an und erstarrte zur Salzsäule.

Sie hatte das gleiche, genau das gleiche rote Haar wie er.

Aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an die Spieluhr denken, die immer auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Es war ein altes, sorgfältig gepflegtes Ding gewesen, das die Melodie eines alten russischen Volksliedes spielte, wenn man sie aufzog. Yuriy hatte Stunden damit verbracht, dem Porzellanpaar, ein strammer Soldat und ein verschämt lachendes Mädchen im weiten Kleid, beim Tanzen zuzusehen. Er hatte darauf vergessen. Er hatte auf viele Dinge vergessen, die einmal wichtig gewesen waren.

Er wusste auch nicht mehr, wann genau sein Vater die Uhr gepackt und quer durch die Wohnung nach seiner Mutter geschleudert hatte, wann genau die Uhr gegen die fleckige Wand geflogen und in tausend Scherben zerbrochen war. Es fühlte sich an, als ob er sich daran erinnern können sollte.

„Yura“, sagte die Frau, die seine Mutter gewesen war. Sie hatte die Hand vor den Mund gelegt und starrte ihn mit weiten, dunklen Augen an. Mit dem anderen Arm hielt sie das Fuchsmädchen so fest, als ob sie entkommen und für immer entwischen konnte, wenn sie es nicht tat.

Yuriy sah auf diesen Arm.

Dann sah er zurück in ihr Gesicht und sagte sehr ruhig: „Sie sollten besser auf Ihr Kind aufpassen.“

Sie fuhr zurück. Das Fuchsmädchen wehrte sich gegen ihren Griff und schlüpfte schließlich unter ihrem Arm hindurch, um empört zu ihr aufzusehen, aber die Frau, die einmal seine Mutter gewesen war, beachtete sie nicht. Stattdessen waren ihre Augen geradezu angstvoll auf ihn gerichtet. Als ob er die Antworten auf die Fragen besaß, die sie ihm nie gestellt hatte. Seine Eingeweide fühlten sich nach wie vor an wie Eis. Aber seine Beine gehorchten ihm wieder und er drehte sich um, um mit raschen Schritten zu gehen, solange er noch konnte. Damit hatte sie ja selbst genügend Erfahrung.

„Wer ist das? Kennst du ihn?“, hörte er das Fuchsmädchen noch fragen.

Die Antwort, wenn es überhaupt eine gab, verlor sich im Gewirr des Marktes. Yuriy sagte sich, dass er froh darum war, dass er nicht alles wissen musste und niemandem etwas schuldete.

Er ging nach Hause.

Er kochte Borsch, zwei Liter davon, ohne Fleisch. Und dann dachte er daran, dass es zwei Kinder gab, ein Fuchsmädchen und ein Wolfskind, und nur eines davon hatte einen mütterlichen Arm, der es vor Verletzungen durch die Welt schützte.

Danach ging es ziemlich rasch ziemlich bergab.
 

2.

Das Schicksal von Sternen hing von ihrer Anfangsmasse ab. Alles, was mehr als fünf Sonnenmassen besaß, explodierte am Ende seiner Existenz in einer Supernova, bei welcher der Stern die äußeren Schichten abstieß wie Kleidung, die er nicht mehr tragen wollte. Er entblätterte sich, Schicht für Schicht, Fleisch und Knochen und Sehnen und Blut, und schleuderte es alles ins All. Der Rest des Sterns kollabierte zu einem Schwarzen Loch oder einem Neutronenstern.

Das war alles, was von seinem Licht blieb, wenn er am Ende war.

„Yura“, sagte Sergeij. Er gab einen Laut von sich zum Zeichen, dass er zuhörte, dann griff er nach dem bereits vollkommen durchweichten Handtuch, trocknete sich die Hände ab, hatte einen Moment lang die wilde Hoffnung, dass es jetzt gut war und fühlte wieder das Kribbeln in sich emporkriechen, eine wilde Angst, die sich nicht legen konnte. Fremdes Blut war an seinen Händen und in seine Haut gesunken. Fremder Schmerz fraß sich durch seine Knochen bis in seine Eingeweide. Mein Gott, dachte er mit seinem Dämonenhirn und drehte erneut das Wasser auf, niemand will mich so. Niemand wird mich jemals so wollen.

„Okay, ich kann nicht - ich kann das nicht mehr mit ansehen“, sagte Sergeij gepresst. Yuriy begann sich zu wehren, als Sergeij ihn packte und vom Waschbecken fortzog. Aber Sergeij war groß und breit und Sergeij hatte keine Angst, ihn festzuhalten, während Yuriy sich in seinen Armen wand. Er drückte ihn fester, eine Hand an seinem Hinterkopf, als ob er ihn davor bewahren wollte, sich irgendwo anzuschlagen, dann schleppte er ihn aus dem Badezimmer hinaus. Yuriy war sich sehr sicher, dass er Sergeij ein blaues Auge verpasste, aber der fluchte nur herzhaft und schleppte ihn weiter, bis er ihn in der Küche hatte, und als Yuriy auf einen der Küchenstühle gedrückt wurde verließ ihn plötzlich die Kraft.

Er blickte auf und Sergeij bedachte ihn mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Ohne darüber nachzudenken sagte er: „Ich bin okay.“

Der undeutbare Gesichtsausdruck wurde zu finsterer Sorge. „Yura, es ist drei Uhr morgens. Weißt du, wie lange du da drin warst?“

Yuriy schwieg und rieb sich über die Braue, was kleine Funken Schmerz durch seine Finger trieb. Er wusste es. Ihm war immerhin klar, was er machte, auch wenn er nichts dagegen tun konnte.

Kein Wunder, dass alle gehen, steuerte sein Dämonenhirn hilfreich bei.

Fick dich, dachte Yuriy zurück, wie er es bereits tausendmal erfolgreich getan hatte. Diesmal beäugte er dennoch weiter das Abwaschbecken.

Sergeij seufzte tief und holte den Erste-Hilfe-Kasten vom Regal, um sich damit neben ihn zu setzen. „Gib mir deine Hände.“

Wasser, sagte das Dämonenhirn, alles, was du tun kannst, ist alle Schichten säubern, damit niemand den schwarzen Kern berührt.

Yuriy gab Sergeij seine Hände und zuckte bei dem Hautkontakt.

Sergeij schnalzte mit der Zunge und murmelte ein paar tiefsibirische Flüche, die er von seinen Kollegen aufgeschnappt haben musste. Yuriy spürte seinen Körper gerade ungefähr so sehr wie er einen Wandteppich am anderen Ende eines Raums gespürt hätte, also sah er recht teilnahmslos auf die gerötete, aufgeplatzte Haut, die sich an den vollkommen verschrumpelten Fingerkuppen weiß wellte wie ein aufgeschnittener Wal. „So schlimm war‘s seit mindestens einem Jahr nicht mehr. Was ist los?“

Yuriy schwieg und konzentrierte sich darauf, nicht die Hände wegzuziehen und auch nicht die Türen und Fenster überprüfen zu gehen. Das war ein Zwang, der seit dem ersten Jahr nach dem Zusammenbruch der Abtei nicht mehr vorgekommen war, wenn man davon absah, dass er immer sehr sorgfältig abschloss - was, wie er fand, einfach gesunder Menschenverstand war. Sergeij war geduldig. Er machte keinen Druck wegen einer Antwort, während er Yuriys Hände eincremte und dann kurzentschlossen zu bandagieren begann. Mittlerweile war er richtig gut in Kreuzverbänden geworden.

„Du weißt, dass reden hilft“, erinnerte Sergeij ihn.

Yuriy dachte an die Frau, die seine Mutter gewesen war und das Fuchsmädchen und gab einen erstickten Laut von sich.

„Okay, okay“, murmelte Sergeij und packte rasch seine Handgelenke, um ihn eisern festzuhalten, als er aufstehen wollte. „Auf dem Stand sind wir. Yura - gottverdammt nochmal, es ist zu beschissen früh - schau mich an, okay?“

Yuriy schaute ihn an. Sergeij ließ ihm auch wenig Wahl in der Sache, weil er die Hände um sein Gesicht gelegt hatte, um ihn festzunageln. Er hasste es, seinem Team - so viel mehr als ein Team, immer schon gewesen, aber das Wort „Familie“ trieb ihm momentan die Magensäure hoch - Sorgen zu bereiten.

„Wir machen jetzt eine Liste“, sagte Sergeij.

Eine Liste. Natürlich. Es war so einfach. Allein das Wort durchbrach den Kreislauf ein wenig, in den ihn der kaputte Teil seines Verstandes gerade permanent hineindrängen wollte. Listen waren seine Freunde, wenn er das Gefühl hatte, dass ihm die Kontrolle entglitt. Yuriy sackte ein wenig zusammen und schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Er spürte, dass Sergeij ihn losließ und kurz seine Schulter klopfte, dann aufstand und in einer der Küchenschubladen wühlte. Yuriy erhob sich und war gleichermaßen verärgert wie dankbar, als er Sergeijs aufmerksamen Blick auf sich ruhen spürte, der sich erst wieder abwandte, als er sah, dass Yuriy die Kaffeemaschine ansteuerte.

Während er eine Kanne machte - mehr für Sergeij als für sich, nachdem er gerade wirklich kein Koffein zu sich nehmen sollte -, starrte er seine verwässerte Reflexion im Fenster an. Dahinter lag Moskau, das erschöpft von einer langen Nacht Atem für einen neuen Tag holte. Yuriy holte ebenfalls Luft, goss Kaffee in Sergeijs Lieblingstasse und stellte sie vor ihm ab. Der dankbare Blick wärmte ein wenig die Eingeweide, die immer noch mit Frost überzogen zu sein schienen und er ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder.

Sergeij hatte Papier und einen angekauten Bleistift aus der Lade gefischt. Beides wurde ihm nun zugeschoben, bevor Sergeij mit einem zufriedenen Seufzer die Tasse umklammerte und den Kaffee inhalierte.

Yuriy starrte auf das Blatt. Dann sah er auf. „Wusstest du, dass etwa 75% aller Sterne in einem Doppelstern- oder Mehrfachsystem existieren? In Gebieten mit stark erhöhter Sterndichte kann es zu Sternhaufen kommen.“

„Sternhaufen“, wiederholte Sergeij schläfrig und stützte den Kopf auf eine große Hand auf, während er die Tasse weiterhin in der anderen hielt. „Das klingt schön.“

„Ist es auch“, sagte Yuriy leise, griff nach dem Stift und schrieb: 1. Therapietermin vorziehen.

„Wie sieht so ein Sternhaufen aus?“, überlegte Sergeij und gähnte kaum verhalten.

„Die Plejaden sind beispielsweise einer“, sagte Yuriy geistesabwesend und schrieb: 2. Laufzeiten verlängern. „Man hat vor einer Weile Supersternhaufen gefunden, also in den Sechzigern.“

Sergeij machte ein interessiertes Geräusch und trank noch einen Schluck. „Was macht die so super?“

„Sie bestehen aus vielen Hauptreihensternen der Spektralklasse O, das sind die heißesten und massenreichsten Sterne“, erwiderte Yuriy und schrieb: 3. Sozialarbeiterin nach der Nummer fragen. Der Stift verharrte über diesem Punkt. Er holte tief Luft, dann sagte er: „Es kommt zu recht vielen Supernovae, deswegen sind sie mit ionisierten H-II-Regionen umgeben, womit sie die gleichen Ultra-Dense-H-Regionen darstellen wie Milchstraßen.“

„Okay“, sagte Sergeij friedfertig, der vermutlich bei ‚Supernovae‘ abgeschalten hatte. Dann aber überraschte er ihn, indem er seinen Kaffee austrank und sagte: „Ist cool, oder? Dass die sowas Cooles machen, indem sie permanent explodieren?“

„Oh“, sagte Yuriy überrascht, überlegte einen Moment und schrieb dann: 4. Überstunden machen zum Gehirnbeschäftigen auf die Liste. Dann legte er den Stift beiseite.

Sergeij, der das als Zeichen des Aufbruchs deutete, blickte auf seine Armbanduhr. Der Kaffee hatte scheinbar wenig Wirkung gezeigt, denn er sah immer noch aus, als ob er jeden Moment einschlafen konnte.

„Yura“, sagte er, „nachdem Borja nicht da ist, schläfst du bei mir.“ Als Yuriy den Mund öffnete, hob er den Zeigefinger. „Nicht verhandelbar. Du musst schlafen und ich lass dich jetzt nicht allein. Bitte nimm deine Tabletten und komm.“

Du brauchst keine Hilfe, sagte das Dämonenhirn, wenn du jetzt beginnst, dich wie ein Kind behandeln zu lassen, hast du jeden Wert verloren.

Sergeij schien etwas davon auf seinem Gesicht zu lesen, denn er legte eine Hand auf Yuriys Arm und sagte: „Tu‘s für mich. Ich kann auch nicht schlafen, wenn ich weiß, dass du durch die Gegend geisterst.“

„Okay“, sagte Yuriy, faltete die Liste sorgfältig einmal längs und einmal quer in der Mitte, sodass alle Kanten genau übereinanderlagen und behielt sie selbst dann in der Hand, als der Morgen über Moskau graute und er endlich Schlaf fand.
 

3.

„Was erzählst du den Leuten in der Arbeit eigentlich?“, fragte Ivan mit einem Nicken auf seine verbundenen Arme und Hände. Er hatte nicht kommentiert, dass Yuriy in sein Zimmer gekommen war und sich auf den Boden gesetzt hatte, wo er mit dem Rücken gegen seinen Bettpfosten lehnen konnte. Ivans Kater Rodja hatte sich nach langem Überlegen dazu entschlossen, vom Bücherregal zu klettern und sich neben ihn zu legen, ohne dass sie einander berührten.

„Vanja“, sagte Yuriy mit hochgezogenen Brauen, „ich arbeite Teilzeit in der Buchhaltung eines Dreipersonenbetriebs und die wissen alle, dass ich nicht gern über mich rede. Die Fragen halten sich in Grenzen, wenn du sie nicht gerade stellst.“

„Muss ich nicht, bekomm sowieso keine Antwort drauf“, stellte Ivan fest. Als Yuriy begann, mit dem Saum seines Ärmels zu spielen, griff Ivan nach einem Glas mit Knöpfen und hielt es ihm hin. „Hier. Zähl die mal durch.“

Yuriy zog die Augenbrauen zusammen, nachdem er Beschäftigungstherapie erkannte, wenn er sie vor sich hatte, aber momentan war er dankbar für jede Hilfe gegen den Zwang, also nahm er das Glas entgegen und leerte es auf dem Boden aus. Während Ivan sich wieder dem Putzen einer alten Messinguhr zuwandte, begann er sehr zu Rodjas Interesse die Knöpfe erst einmal nach Größe zu sortieren. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Ivans Zimmer begonnen, einer Wunderkammer zu gleichen. An allen Wänden zogen sich Regale entlang, auf denen sich immer mehr Zeug häufte, das Ivan in Trödelläden, irgendwo am Weg in der Stadt oder in der Natur fand, mitnahm, auf Hochglanz brachte und dann behielt. Die Dinge waren wie in einem Museum nach Kategorien geordnet und mit Ivans krakeliger Schrift auf Etiketten sorgfältig beschriftet worden. Sergeij behauptete, dass Ivan sogar einen Katalog über seine Besitztümer führte, aber Yuriy war nicht ganz überzeugt von dieser Idee. Sein Blick fiel auf einen glitzernden Meteoriten, der in Russland gefunden worden war und den er Ivan einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Er war mit Kai und Boris zum Ort des Einschlags gefahren, als die Sache mit ihnen Drei erst recht frisch verhandelt worden war, und sie hatten nach tagelanger Fahrt durch Russland in diesen Krater gestarrt. Das war ein guter Sommer gewesen.

„Wusstest du, dass man den Fallort von Meteoriten mit einem geometrischen Schnittverfahren berechnen kann?“, fragte er und überlegte, ob er innerhalb der unterschiedlichen Knopfgrößen nach Farbe sortieren sollte, entschied sich aufgrund der Vielfarbigkeit einiger Objekte aber dagegen. Die Kopfschmerzen wollte er sich ersparen.

„Du willst die Formel dazu loswerden“, sagte Ivan, ohne den Kopf zu heben. Er hatte im letzten Jahr einen Wachstumsschub hingelegt und war dennoch nicht über die 1,60m hinausgekommen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Vielmehr war er damit beschäftigt, sich einen Bart wachsen zu lassen, was mehr schlecht als recht vonstatten ging und ihn sich ständig am stoppeligen Kinn kratzen ließ. „Ich spüre es. Lass es raus.“

„Du hast kein Recht auf dieses Wissen, du Banause“, sagte Yuriy trocken, woraufhin Ivan ein kurzes Lachen ausstieß. Yuriy lächelte, senkte den Kopf zurück auf die Knöpfe und hielt Rodja davon ab, einen zu stehlen.

Als es ruhig blieb, drehte Ivan sich zu ihm um, das Putztuch immer noch in der Hand. „Serjoscha sagt, du schläfst nicht“, sagte er dann geradeheraus.

„Klatschbase“, murmelte Yuriy und begann endlich zu zählen.

„Ist es, weil Boris auf dem Boxturnier in Omsk ist? In drei Tagen kommt er eh wieder, kein Grund für einen Nervenzusammenbruch.“

„Was bin ich, die verzweifelte Ehefrau?“, fragte Yuriy entgeistert und blickte nun doch auf, nur um festzustellen, dass Ivan ihn wieder einmal bewusst getriezt hatte.

Jetzt legte er das Putztuch beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn’s das nicht ist, was dann?“

Yuriy sah auf die Knöpfe, dann wieder zu Ivan. „Es ist mir bewusst geworden, dass man vielleicht berechnen kann, wo der Meteorit einschlagen kann, aber das schützt einen auch nicht vor dem Aufprall.“

Ivan musterte ihn mit scharfen Augen und kratzte sich am Kinn. „Fahre fort.“

„Wir sind nur aus Zufall bis jetzt vor größeren Meteoriteneinschlägen verschont worden“, sagte Yuriy, „und es ist auch nur Zufall, dass zwei Drittel der Einschläge bis jetzt auf unbewohnten Stellen der Erde waren. Aber Zufall ist eigentlich auch etwas, das es nicht gibt, weil er genauso berechnet werden kann wie alles andere. Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten, von denen manche eher eintreffen werden als andere. Man könnte meinen, das würde es sicher machen.“

„Was?“

„Das Leben“, sagte Yuriy. Als Ivan nichts sagte, sondern ihn nur weiter ansah, fügte er schließlich hinzu: „Aber Wahrscheinlichkeiten sind auch nur Wahrscheinlichkeiten. Meistens gibt es keine absoluten Sicherheiten.“

Ivan nickte gedankenvoll, dann schüttelte er den Kopf. „Sorry, Yura, du musst mir diesmal schon das Chriffe zum Code geben.“

Yuriy atmete langsam aus. „Als du rausgefunden hast, dass du eine Tante und Cousins hast“, sagte er, „wie konntest du ihnen in die Augen sehen?“

Ivan runzelte die Stirn und setzte sich ein wenig mehr auf. „Sie wussten ja nicht, wo ich war. Was ist passiert?“

Er war unfähig, das Dämonenhirn zu umgehen, das ihm beständig zuwisperte: Sei still, halt still, sonst wirst du verletzt. Sonst wird es schlimmer, es wird immer schlimmer, wenn du nicht still bist. Also zuckte er mit den Achseln und konzentrierte sich wieder auf die Knöpfe, um nicht ins Badezimmer zu gehen und den Wasserhahn aufzudrehen.

Nach einem Moment der Stille sagte Ivan: „Es ist manchmal immer noch komisch, sie zu besuchen und drüber nachzudenken, dass meine Cousins nie in sowas wie der Abtei gesteckt sind. Dass sie sowas gar nicht kennen. Aber ich bin froh, dass es den Kontakt gibt.“

„Vanja“, sagte Yuriy nach einer langen Stille.

Ivan neigte den Kopf und zog die Brauen hoch. „Ja?“

„Wenn du die Wahl hättest zwischen einem Fuchs und einem Wolf“, sagte Yuriy, „wen würdest du wählen?“

„Den Wolf“, sagte Ivan ohne zu zögern.

„Warum?“

Da blickte Ivan ihm fest in die Augen und sagte: „Weil der Wolf mich immer heim bringt.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  WeißeWölfinLarka
2020-07-06T09:02:23+00:00 06.07.2020 11:02
1.
Der Impakt des Fuchsmädchens, des roten Schattens, das kommt mir eher wie ein Aufprall vor! Oh ich liebe ihre Inszenierung, wie sie Yuriy für ihre Mutter verwechselt!
Oh und woher hat Yruy denn Kais schal? Oxidiert der Hiwatari auch dort irgendwo herum? :D
Und die Pumuckl-Referenz! Goldig.
Ich mag sehr, dass dieses vorlaute, unerschütterliche junge Ding, das genauso rote Haare hatte wie Yuriy, genauso vorgestellt wird, wie sie vorgestellt wird. Ich mein, voraussichtlich wird es seine Schwester sein, weil das Foreshadowing es einfach mit sich bringt, aber dass es so leicht ist, diese Verknüpfung herzustellen, macht mich glücklich.
(Eine Frage am Rand: Yuriys Schwester ist Canon, aus dem Manga, richtig? Wird da auch der Altersunterschied erzählt oder hast du ihn dir selbst zurecht gebogen? Und ich frage mich grade, wie alt Yuriy hier ist)

Im moment frag ich mich auch, warum die Mutter von Yuriy nicht schon eher aufgetaucht ist, um ihren Sohn zu finden? Die Gerichtsverhandlungen waren doch sicher publik?
Hmmm… Hmmm! Ich bin gespannt, ob und wie du das aufklärst.

>>„Yura“, sagte die Frau, die seine Mutter gewesen war.<<
Fuck.

>>und nur eines davon hatte einen mütterlichen Arm, der es vor Verletzungen durch die Welt schützte.
Danach ging es ziemlich rasch ziemlich bergab.<<
FUCK.
Oh, die Begegnung hat mir sehr viel Gänsehaut verschafft. Ich finde es bemerkenswert, wie sich durch deine Beschreibungen über das innere von Yuriy sich auch mein Inneres verkrampft hat und … ich fühle einfach mit Yuriy. Fuck. Vor allem weil Yuriy sich so distanziert von der Frau, die ihn geboren hat, die „einmal seine Mutter WAR“… Das trifft wirklich hart!


2.
Fuck, diese Händewaschen-OCD (Verzeih meinen laienhaften Ausdruck) ist wirklich schlimm. Sergei kümmert sich sehr sorgenvoll und mitfühlend um Yura. „Sanfter Riese“ passt einmal mehr zu ihm.
Gott, dieses animalische Wehren Yuriys gegen Sergeis Bemühungen und dann dieses… „Flopp“, Zusammensinken, sich ergeben, weil er gegen Sergei und dessen Kümmern nicht ankommt, keine Chance hat… Stark. Intensiv und stark.
Und dann ist es so verfickt früh, und die Geschicklichkeit von Sergei, super gut in Kreuzverbänden zu sein… Das ist traurig, weil das bedeutet, dass er es schon zu oft hat machen müssen. : (
Aber ich mag sehr die Stimmung, die du kreierst, auch, wenn sie sehr belaste(nd)t ist. Der angeknabberte Bleistift unterstützt das Atmosphärebilden und die Vorstellung dieses Stiftes ist trotz der Gesamtsituation sehr warm und behaglich.

Ich find es übrigens sehr klasse, dss Yuriy seine Liste schreibt, die ihn runterbringen soll, und nebenbei die ganzen Fakten über Sterne runterbetet – ich hätte entweder bei der Liste oder den Fakten über Sternhaufen schon irgendwas durcheinander gebracht. Dass er den Therapietermin vorzieht sagt auch so viel aus! Und dass es das Erste auf der Liste ist…
Sergei ist wirklich so lieb. Ein guter Zuhörer!
Ich bin dennoch sehr neugierig, was Yuriy arbeitet, dass er Überstunden macht. Und welche Laufzeiten er verlängern will. Einzig bei der „Nummer von der Sozialarbeiterin erfragen“ hab ich die Ahnung, dass er vllt die Nummer seiner Mutter möchte.
Außerdem ist es sehr, sehr krass, dass du die innere Stimme, die ihm böse Dinge einflüstern will, als Dämonenstimme bezeichnest. Und dass sie immer dann auftaucht, wenn ihm was Gutes widerfährt. Das zu lesen ist schmerzhaft. Aber dass er sich wehrt, tut wiederum gut.
Und wo ist Boris ? was macht der? Ich mag dieses Rudelverhalten der Borg-Jungs sehr.

3.
Ah ! Yuriy arbeitet in einer Buchhandlung! Ja, das passt zu ihm! Was genau macht er da?
Es ist wirklich toll, dass sie alle einander den Rücken freihalten. Und dass alle für Yuriy da sind, immer. Auch wenn es, wie im Katzenjammer, manchmal passiert, dass sie einander an die Gurgel gehen, sie haben sich, sie lieben sich und sind füreinander da.
Die Beschäftigungstherapie von Ivan war schon etwas lustig. Und ich liebe die Vorstellung von Vanja als Sammler :)

Okay…ggf. musst du mir helfen. Ich blicke grad bei der Reihenfolge nicht ganz durch^^° Ich hab jetzt erst Katzenjammer gelesen. Dann kommt ja hier Wolfsherzen und dann Ein Held unserer Zeit, ja? (Meteoritenfänger folgt ja jetzt erst). Das heißt, die Erwähnung der Polybeziehung von Boris und Kai und Yuriy… ist hier in Wolfsherzen schon fest und dahingestellt, ja? Nicht, dass ich irgendwie die falsche Reihenfolge lese?

Ich freu mich allerdings auch schon sehr auf die Dynamik von Sinaida und Yuriy? Weil… Sina eine ganz andere Persönlichkeit ist, was ja einfach an ihrer Art des Großwerdens liegt und Yuriy eine völlig andere Kindheit hat, aber ich hoffe sehr darauf, dass, wenn er seine Schwester kennenlernt, er sie annehmen kann und … von ihrer Art „profitiert“. Ja, da freue ich mich schon sehr drauf: Herauszufinden, wie die beiden miteinander sozialisieren.

Hmm, ja, oh ja, Boris als Boxer… das teile ich mit dir. Das gefällt mir gut. Aber auch dieses Neckische zwischen Ivan und Yuriy, das mag ich. Die ruhige Unterhaltung, die Stimmung und Atmosphäre, zwischendrin der schrill schreiende Kater, der jetzt aber ganz lieb ist und Knöpfe klaut (btw., kann es sein, dass Rodja ein bisschen nach deinen beiden Bois kommt?) – Zauberhaft.
Ich finde es auch herzallerliebst, dass Yuriy einfach immer in Metaphern spricht. Und die sind dann auch noch so… na ja, „hochgestochen“ für normale Unterhaltungen und alle seine Freunde gehen einfach mit, nehmen das so hin, und entschlüsseln den Code bzw. hier in Vanjas Fall, fragen nach dem Schlüssel. (Erinnert mich an die Rodja-Szene! Schön, dass das so eine Kontinuität hat!)
Und dann zum Schluss diese Wolf-metapher… (Miese Gänsehaut, ich rufe Verrat!) Allerdings… ist Ivans Antwort ganz passgenau auf Yuriy=Wolf zugeschnitten, oder? Es gibt keine allgemein gültige Aussage, dass Wölfe Leute / Rudel nach Hause führen, oder? So, wie man sagt, das Füchse schlau sind? So Fabel-hafte, moralisierende Aussagen?

Von:  LittleLionHead
2020-03-22T08:09:11+00:00 22.03.2020 09:09
Uuuuuh.... Das ist ein Brett. Ein dickes. Du zeichnest hier ein sehr filigranes Bild von Yuriys Persönlichkeit. Wie ihn die Begegnung mit dem Fuchsmädchen (so ein schöner "Name") aus der Bahn wirft. Wie du seine negativen Gedanken als Dämonenhirn bezeichnest. Wie sich alle Sorgen um ihn machen. Wunderschön!
Von:  FreeWolf
2020-03-10T21:17:34+00:00 10.03.2020 22:17
Ich liebe sehr viel an diesem ersten Teil, was du in meinem begeisterten und wenig eloquenten Livecomment mitbekommen hast. :D Ich versuche nun etwas mehr eloquent und etwas geordneter meine Eindrücke hier zu hinterlassen. Insgesamt hast du einen guten Punkt für den Cut gefunden, weil viel passiert und mich die Geschichte mitgerissen und getragen hat. Es ist viel zu verdauen, auf die gute Art. Ich habe auch sehr viel gefühlt beim Lesen (und Wiederlesen).

Ich kannte den ersten Satz ja schon, dieses kleine Monsterchen, das so viel über Yuriy verrät: Er ist schlau, er weiß sehr viel und dieses Wissen gibt ihm manchmal Halt, nur eben nicht immer, etwa wenn ein Fuchsmädchen wie ein Komet in ihm einschlägt und buchstäblich lebensverändernde Ereignisse in Gang setzt. Ich liebe die Szene, in der sie furchtlos "Du bist nicht meine Mama" zu ihm sagt und dein kleines Nicken auf Gippius, das mich gleich dazu veranlasst hat, mir wieder einmal ihre Gedichte zu Gemüte zu führen.
Yuriys Umgang mit dem Fuchsmädchen ist übrigens sehr in character, finde ich - so wie er auf ihre Frage, wie er heiße, mit der Gegenfrage nach ihrem Namen reagiert, war nicht nur aus seinem Innenleben, auch aus seiner Art, mit ihr umzugehen klar, dass er irgendwo zwischen minding his own busindess und Verantwortungsgefühl hin und hergerissen ist. Ich hatte das Gefühl, alles in Yuriy steht still, ähnlich wie die Spieluhr an die er denkt, als er seine Mutter vor sich sieht. Auch die Formulierung, die zeigt, dass er sie nicht mehr als seine Mutter ansieht, hat mir mein Herz ein kleines Bisschen mehr gebrochen - genauso wie ihr "Yura", auf das hin er sie verbal von sich stößt.
Generell mag ich das pacing dieser Geschichte sehr gerne, es bewegt sich in angenehmem Tempo zwischen Innensicht und dem Kontakt zur Außenwelt - wobei sich das von Teil zu Teil verändert, nachdem Yuriy sich immer mehr in sich selbst zurückzieht im Laufe dieser ersten drei Teile.

Im zweiten Teil bricht mir das schwarze Loch in Yuriy, das ihn dazu zwingt, sich seine Hände wund zu waschen - und Sergejs Können im Verbändeanlegen nach zu schließen nicht zum ersten Mal - noch ein bisschen mehr mein armes geschundenes Herz. Ich fühle mich ein wenig wie Sergej, der Yuriy bestimmt, aber doch schützend (die schützende Hand an Yuriys Hinterkopf hat mich an ein Baby denken lassen) nimmt und ihm unbeholfen zu helfen versucht. Er mag nicht Boris sein - übrigens gefällt mir sehr, wie du sehr langsam, aber gut platziert verdeutlichst, dass Kai und Boris und Yuriy zusammen sind - aber er bemüht sich auf seine Weise, indem er um drei Uhr früh totmüde in der Küche sitzt, mit Yuriy Listen macht und ihn dazu zwingt, zu schlafen. Mein Herz war ein wenig besänftigt als Yuriy Sergej Kaffee in seiner Lieblingstasse hingestellt hat und erleichtert, als er doch ein wenig Schlaf gefunden hat.
Sein Dämonenhirn ist garstig und unendlich nachvollziehbar und ich habe das "Fick dich", das Yuriy zurückdenkt richtiggehend gefühlt.

Ich mag deinen Ivan (und Rodja) unglaublich gern. Ich liebe es wie er nicht nur ein Talent dafür hat, Uhren zu reparieren, sondern auch Yuriy irgendwo wieder ein wenig heile machen kann. Er bringt Yuriy dazu, ein wenig aus seiner Schale herauszukriechen und die kleinen Maßnahmen der Verhaltenstherapie scheinen ihm auch gutzutun.

Ja, langer Rede kurzer Sinn: Ich bin restlos begeistert und freue mich jetzt sehr auf den nächsten Teil. <3
Antwort von:  Mitternachtsblick
21.03.2020 13:03
Hier nochmals danke für den Livecomment, der mir viel Freude gemacht hat, genauso wie dieser ausführliche schriftliche Kommentar. <3

Ich hab viel drüber nachgedacht, wie ich Sinaida gestalte, bis ich dann beschlossen habe, dass ich ein Kind will, das nie Angst kennengelernt hat und diesen fiercen Kern hat, den Yuriy an sich ja auch sehr hat. Erfahrungsgemäß weiß ich auch, dass solche Situationen, in denen man vom Leben einfach komplett überrumpelt wird, genau diesen Stillstand hervorrufen, den du da beschrieben hast - man reagiert zwar auf äußere Reize, kommt aber gar nicht wirklich zur Verarbeitung, weil man sich da in einer gewissen Extremsituation befindet. Deswegen klappt Yuriy auch erst danach wirklich zusammen, wie jemand, der sich halt durch die Schlacht an der Front kämpft, bis er wieder den Bunker erreicht hat. Danke auch, dass das verbale Wegstoßen bemerkt wurde - das war für mich einer der wichtigsten Sätze, den er in dem ganzen ersten Kapitel sagt und ich wollte, dass es wehtut. Nicht nur nur seiner Mutter, sondern auch der Leserschaft. :D
Ich wollte auch unbedingt Sergeij als denjenigen, der dieses komplette, stillschweigende Einbrechen als erstes registriert und recht radikal, wenn auch vielleicht nicht ganz durchdacht mit dem Wegziehen vom Waschbecken darauf reagiert. Ich glaube, das ist einer der Teile, wo man das permanente Ringen gegen die Mental Illness am Deutlichsten spürt,aber es war mir auch wichtig zu zeigen, dass die mittlerweile alle an einem Punkt angekommen sind, wo sie coping mechanisms entwickelt haben und Situationen nehmen, wie sie kommen, um dann für eine Besserung zu arbeiten.
Bei Ivan habe ich versucht, diese beginnende Unabhängigkeit, die sich ja auch schon in "Katzenjammer" und "Scherbenlied" abgezeichnet hat, so gut wie möglich beizubehalten. Er macht sein eigenes Ding, aber er ruht mittlerweile in sich selbst und gibt deswegen nicht gleich die Beziehungen auf, die wichtig für ihn sind. Dass er Menschen repariert, wie er Dinge repariert ist mir beim Schreiben gar nicht aufgefallen, bis du es gesagt hast, aber das finde ich wirklich schön. <3
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-03-10T09:32:00+00:00 10.03.2020 10:32
Uiui...allein die ersten Zeilen verursachten mir ein Gefühl...gleich vor die Klasse treten zu müssen und über ein Thema sprechen zu müssen, welches ich Null beherrsche. Doch zum Glück hielt dieses Gefühl nicht lange an. Denn bereits in den ersten paar Zeilen durchlief ich ein Wechselbad an Emotionen. Von dem angesprochenen Bammel vor einer Klasse stehen zu müssen, über leichtes frösteln, da du den Tag in Russland so bildhaft beschrieben hast bis hin zu aww er hat jetzt sogar Kais Schal geklaut (Verdammt das muss einer mal zeichnen), war alles dabei. :)

Bei dem aufeinander Prallen von Yuriy und dem Fuchsmädchen musste ich erst schmunzeln. Sie muss wirklich eine unglaubliche Wucht / Geschwindigkeit gehabt haben und der verlockende Gedanke eines Ivans...welcher dies früher auf andere und doch ähnliche Art getan hat, war einfach goldig.
Auch das Verhalten der beiden bzw. die kleine Neckerei bezüglich der roten Haare, hatte etwas geschwisterliches.
Ich fühlte mich an mich und meinen Bruder erinnert. Zwar ist dieser jünger als ich...aber er hätte durchaus die Rolle des Fuchsmädchen eingenommen.

Das Aufeinandertreffen der kleinen "Familie"
Ich habe die Luft vor Spannung angehalten. Es war so, so gut beschrieben, dass ich schier aufgehört habe zu atmen.
Die verschiedenen Emotionen und die kleinen Einblicke in Yuriys Erinnerungen aus einer vergessenen zeit - einfach Wahnsinn.
Erst als sie Yuriy mit "Yura" angesprochen hat, habe ich glaub ich wieder Puls gehabt.
Es hat mich zurück in die Realität geholt. Ich liebe diesen Kosenamen für Yuriy, doch hier hatte es einen verdammt bitteren Nachgeschmack und ich hätte Yuriy zu gern in den Arm genommen.

Der Beginn von Akt 2 hat etwas sehr poetisches in meinen Augen und passte sehr gut zur Situation.
Ich frage mich wie du nur darauf gekommen bist. Das ist absolut genial.
Weniger genail fand ich Sergejs Wahl der Küche. ^^"
Mein erster Gedanke war: //Aber da ist doch auch ein Waschbecken.//
Dennoch sehr gut von ihm, dass er Yuriys Spirale etwas durchbrochen hat indem er ihn aus dem Bad gewuchtet hat.
Interessant fand ich auch den Zwiespalt mit Yuriys "Dämonenhirn". Zeigt es doch, gegen welche Art von inneren Dämonen der Rotschopf so zu kämpfen hat.
Auch die Beschreibung seiner Hände - Hut ab. Ich bin ja beruflich einiges gewohnt...aber die Erläuterung der Fingerkuppen im Vergleich zu einem aufgeschnittenen Wal - ekelhaft. *würg*
Jeder Dermatologe hätte da zu tun.

Das Gespräch zwischen Yuriy und Sergej hat mich an die Konversation zwischen Yuriy und Ivan erinnert, als Yuriy einen teil von sich auf Rodja projeziert hat.
Und ich muss sagen...wenn das alles stimmt....Yuriy ist verdammt intelligent. Also an und für sich war mir schon klar, dass er jetzt nicht blöde ist...aber er ist halt verdammt schlau auf fachlicher Ebene.

Bei Ivans Zimmer musste ich schmunzeln. Irgendwie kam ich auf den Gedanken, dass er etwas Steampunkmäßig angehaut sein könnte und dann kam mir der Gedanke....bei Disney wäre er wohl wie Tinkerbell....eine Tinker Fee.
Dabei musste ich dann widerrum lachen.
Aber bei all den Regalen und Knöpfen und Trödel...sieh es mir bitte nach ;)

Bei dem Gespräch zwischen Yuriy und Ivan bin ich wieder sehr abgedriftet in meine Eigenart zwischen den Zeilen lesen zu wollen und das was ich da reininterpretiert habe / du eventuell auch beabsichtigt hast war...so...
*schnief* ...traurig.
Dennoch war es interessant zu erfahren, dass Ivan eine Tante hat und wie dieses verhältnis ist.
Von Ivan war es an dem Punkt dann auch, sehr schlau von seinem Verhältnis zu berichten um Yuriy nicht ganz zu verlieren bezüglich des Gespräches.

Ich bin sehr gespannt wie es weiter geht.
Antwort von:  Mitternachtsblick
10.03.2020 12:43
Du bist so lieb, vielen Dank, dass du immer so ausführlich kommentierst und zwischen den Zeilen liest ;_; <3

Ich wollte, dass seine Schwester ein Frechdachs ist, ein Kind, das nie gelernt hat, Angst zu haben. Hab mich da vielleicht auch ein bisschen von der Dynamik zwischen mir und meinem Bruder inspirieren lassen - Yuriy und seine Halbschwester sind hier zirka 10-12 Jahre auseinander und zwischen mir und meinem Bruder liegen auch 10 Jahre, das gibt Geschwistern mitunter durchaus eine interessante Dynamik. XD

Ich bin recht lang an dem Aufeinandertreffen gesessen, weil das für mich so eine schwierige Szene war. Freut mich sehr, wenn sie den Impact hatte, den ich mir gewünscht hab. <3

Der Beginn von Teil 2 ist meinem Headcanon geschuldet, dass Yuriy durchaus viel mit Astrophysik anfangen kann und Sterne sterben tatsächlich auf diese Art und Weise. Wie du richtig gemeint und herausgelesen hast kommuniziert Yuriy in meinen Augen selten direkt, sondern meistens per Proxy. Die ganzen Ausführungen zu Sternen etc fließen da rein. :3 Und ja, du hast Recht, da hat Sergeij mit der Küche nicht ganz gescheit gedacht - aber zu seiner Verteidigung, es ist drei Uhr morgens und er hat glaube ich erstmal aus dem Instinkt gehandelt, dass er Yuriy aus dem Bad bekommt. XD Ich find's auch gut, dass das Bild mit den Walhänden grauslisch wahrgenommen wurde, denn das war durchaus der Sinn der Sache. Ich wollte bewusst ein sprachliches Bild, das die shitty Realität von dieser Zwangshandlung greifbar macht.

Bezüglich Ivan liebe ich die Idee von ihm als Tinker Fee XD Wolfi meinte gestern, dass Ivan Leute repariert, wie er Dinge repariert und das fand ich echt schön. Und bei dem Gespräch - bei ALLEN Gesprächen, die Yuriy führt - darfst du bitte unbedingt zwischen den Zeilen lesen, das ist durchaus beabsichtigt und ich freu mich wie ein Schneekönig, wenn das gemacht wird. <3


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