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Virtuelle Postsendung

Mini-Adventskalender in 6 Akten
von

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Lehrstunden

„Ich bin nicht zu spät!“, fast schlitternd kam Mila zum Stehen. Deutlich außer Atem, die Wangen vom Lauf gerötet, aber gerade noch pünktlich. Arien, die bereits am Kopf des langen Tisches saß, hob stumm eine Braue, doch in den braungoldenen Augen lag ein amüsiertes Funkeln. Layos und Yennefer betrachteten sie schon mit deutlich tadelnderem Blick, doch immerhin kamen sie nicht dazu etwas zu sagen. Ihre große Schwester, die immer alles besser wusste, und ihr immer ernster, tadelloser kleiner Bruder. Spielverderber und Langweiler, alle beide! Und, was noch viel schlimmer war: Frühaufsteher!

Wie sollte man, bei so einer Familie, bei Verstand bleiben? Andererseits… Bedachte man, wo sie waren und was sie hier taten… Schwieg man sich, was geistige Gesundheit betraf, vielleicht lieber aus. „Setzt dich. Dann können wir anfangen“, drängte sich die ruhige, noch immer unterschwellig amüsierte, Stimme ihrer Mentorin in Milas Gedankenchaos und die Halbelbe spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Natürlich. Sie stand ja immer noch neben dem Tisch! Hastig griff sie nach einem der Stühle und hätte ihn fast umgeworfen, dann gelang es ihr jedoch ohne weitere Katastrophen Platz zu nehmen und sogar dem Drang zu widerstehen, ihrer Schwester die Zunge herauszustrecken, die sie aus dem Augenwinkel den Kopf schütteln sah.

„Gut. Erinnert ihr euch, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben?“, erkundigte sich Arien, das unterschwellige Gekabbel unter den Geschwistern weiterhin ignorierend. Und noch ehe Mila auch nur eine Chance gehabt hatte, ihre morgenträgen Gedanken dazu zu bewegen, sich überhaupt an den gestrigen Tag zu erinnern, hatte Layos schon geantwortet: „Moral, Perspektive und Motivation. Über den Antrieb und die Bewertung eigenen und fremden Handels und die daraus resultierenden Konsequenzen.“ Elender kleiner Streber… Wie machte er das nur? Sie wusste ganz genau, dass er bis tief in die Nacht wach gewesen war und gelesen hatte! Andererseits war das genau die Art langatmiger, langweiliger rhetorischer Themen, die Layos liebte. Er konnte stundenlang über irgendwelche Eventualitäten diskutieren. Über Was-Wäre-Wenns, Optionen, Pläne und Strategien. Als liefe es am Ende nicht sowieso immer darauf hinaus, dass alles völlig anders kam, als geplant und man eben sehen musste, wo man blieb…

Arien nickte. „Und damit werden wir heute auch fort fahren. Allerdings, weil ich denke, das ich die Bedeutung und Komplexität dieses Themas an einem praktischen Beispiel besser verdeutlichen kann, mit einer Demonstration.“ Das wiederum ließ Mila, die sich schon darauf vorbereitet hatte noch ein wenig vor sich hinzudösen, aufhorchen. „Was für eine Demonstration?“

„Wir werden heute und auch in den nächsten Tagen verschiedene Beispiele verfolgen. Einige der großen Helden und Übeltäter unserer Geschichte näher betrachten und sehen, was uns das über die Beschaffenheit von Moral und das moralische Netzwerk dieser Welt aussagt. Und warum es neben allem, was ich euch beibringen kann und will, einige sehr wesentliche Eigenschaften gibt, die ihr für eure Aufgabe selbst aufbringen müsst. Und eine davon ist Mitgefühl.“

Layos runzelte die Stirn, setzte wahrscheinlich auch an eine seiner berüchtigten, unnötig komplizierten Detailfragen zu stellen und alles zu verzögern, doch Mila kam ihm rasch zuvor: „Das heißt wir reisen durch die Zeit?“ Und sie sah, dass selbst Yennefers Augen erwartungsvoll leuchteten.

Arien lächelte. „Ja. Wir werden verschiedene Abschnitte verschiedener Leben besuchen und verfolgen welche Auswirkungen sie haben. Ihr werdet nicht in der Lage sein auf  die Zeitlinie Einfluss zu nehmen oder auch nur wahrgenommen zu werden, aber ihr sollt beobachten und eigene Schlüsse ziehen. Ich werde euch auch nicht verraten, um wen es geht. Ihr werdet es früher oder später schon feststellen und es ist eine gute Übung zur zeitlichen und räumlichen Orientierung.“

Mila sprang auf und diesmal fiel der Stuhl polternd zu Boden. Aber wen kümmerte das schon? Vasila war zu dieser Zeit wahrscheinlich in der Küche und sie hatten die Bibliothek für sich. Zu dritt versammelten sich die Geschwister rund um den Halbdrachen und einen Augenblick später verschwammen die Farben und Formen der Welt, bis sich ein neues Bild zusammenfügte.

Alles wirkte sehr viel rustikaler, altertümlicher geradezu. Nicht einmal schlicht, aber der Prunk, der hier versammelt war, das durchaus geräumige Zimmer mit dem großen, schweren Himmelbett geradezu überlud, konnte mit dem handwerklichen Niveau dessen, was man in der Nadel fand, nicht mithalten. Natürlich nicht.

Und es sah auch generell nicht nach Arvum aus. Auch wenn ihre Aufmerksamkeit rasch von Dekor und Mobiliar abgelenkt wurde. Es waren mehrere Personen im Raum. Eine junge, rothaarige Frau lag auf dem Bett und schrie sich die Seele aus dem Leib. Eine ältere Frau, den Kleidern nach vielleicht eine Zofe oder dergleichen, denn es schien ein Burgzimmer zu sein, zerrte an ihr herum und gab reichlich harsche Anweisungen. Mehrere, teils ziemlich blasse, Diener und ein schmächtiges Mädchen standen bereit, hielten Tücher, silberne Schalen mit Wasser und allerlei Zeug, das Mila zunächst so wenig zuordnen konnte, wie die Gesamtsituation.

Nach und nach allerdings begriff sie, dass sie die Geburt eines Kindes verfolgten und so wie ihre Geschwister dreinschauten, war sie nicht die einzige, die es nicht nur unheimlich und abschreckend, sondern schlicht und ergreifend widerlich fand. Nur Arien wirkte zwar ruhig, aber fast versonnen, während sie aus dem Hintergrund beobachtete, in Gedanken vielleicht bei den Zwillingen, die in diesem Moment vermutlich ihren Vater in den Wahnsinn trieben. Oder irgendwen anders.

Gefühlte Stunden später war es der Zofe endlich gelungen das Kind aus dem Leib seiner Mutter zu zerren und genau so hatte es auch ausgesehen. Das Mädchen, das ihr wie gewiesen die Schüssel reichte, schrie auf, als es den Säugling sah. Klirrend ging das Silber zu Boden und verspritzte Wasser, als sie mit entsetzt aufgerissenen Augen die Hände vor dem Mund zusammenschlug. Es brachte ihr eine schallende Ohrfeige ein, die sie der Schüssel fast hinterher schickte, aber auch einige der anderen wirkten beim Anblick des Säuglings reichlich entsetzt.

Es verwirrte Mila und zögernd, hin- und hergerissen zwischen Ekel und Neugier, trat sie näher, um einen besseren Blick auf das rote, kreischende Bündel zu erhaschen. Hübsch war es wirklich nicht. Es sah ziemlich deformiert und zerknautscht aus, aber das taten die meisten Kinder am Anfang ihres Lebens. Zumindest die Wenigen, die sie bislang gesehen hatte. Ein Flaum rötlicher Haare bedeckte den im Verhältnis zum Körper großen Kopf und hinter heulend zusammengekniffenen Lidern schimmerten helle Augen. Sie verstand jetzt das leise Gemurmel über schlechte Omen. Aber den Grund dafür verstand sie nicht.

Sie hörten die Mutter nach dem Kind verlangen, so wie der Säugling vermutlich nach ihrer Milch kreischte, doch beides wurde ignoriert. Das blutige Ding gewaschen und in trockene Tücher gewickelt, während die Frau auf dem Bett zu schwach war, um sich zu erheben und nicht weniger durchdringend jammerte und schrie.

Da die Zofe das Kind schließlich aus dem Zimmer trug, sank die Mutter weinend in sich zusammen. „Es tut mir so Leid“, wisperte sie, kaum hörbar und auch wenn die verbleibenden Diener, die jetzt den Raum zu richten begannen, unbehaglich wirkten, schenkte ihr niemand einen zweiten Blick. „Es tut mir so Leid, mein Liebling.“

Auf Ariens Wink hin folgten sie der Frau, die den Säugling forttrug durch ein Netz kalter, steinerner Gänge. Verunsichert und aufgewühlt und mit dem sicheren Gefühl, dass irgendetwas hier ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Mila drückte im Vorbeigehen Layos Hand. Er sah so verunsichert aus. Blass und ein bisschen grünlich und die Jahre, die zwischen ihnen lagen, traten sehr viel deutlicher hervor als sonst. Er erwiderte die Geste.

Sie betraten andere, noch deutlich prunkvoller eingerichtete Räume. Vollgestopft mit Wandteppichen, Vasen und anderen Ausstellungsstücken, die offensichtlich nicht mehr waren, als Insignien des Reichtums derer, die hier lebten. Wuchtige, reichlich verzierte Möbel, die die Räume noch düsterer wirken ließen, als sie es so schon waren, den schmalen Fenstern zum Trotz, die rechts und links von schwerer Brokatvorhängen umrahmt, einen erschreckend normalen, blauen Himmel präsentierten. Es war, als blicke man in eine völlig andere Welt.

In einem der Räume, einem Arbeitszimmer offenbar, das von einem schweren Schreibtisch beherrscht wurde, saß ein Mann. Eine Feder in der Hand, die eher dazu zu taugen schien, jemanden zu prügeln, als zu schreiben, den Blick eisblauer Augen auf irgendwelche Dokumente geheftet, die vor ihm lagen. Er blickte nicht auf, als die Frau mit dem Säugling eintrat. Ließ sie warten, eine Ewigkeit lang, während das Quengeln des Kindes leiser und kraftloser wurde.

„Ein Sohn?“, fragte er schließlich, die Stimme war tief und so kalt wie sein Blick. Er hatte die Niederschrift beendet. Das Papier beiseite gelegt und die Feder abgestellt. Alles wohlgeordnet. Der gesamte Raum wirkte derart durchorganisiert, wie sie es nur von Rik kannte, wenn der mal wieder einem schweren Anfall von Ordnungszwang unterlag.

Die Zofe verneigte sich tief. „Jawohl Majestät. Aber… Er trägt ein böses Omen“, erwiderte sie, zum Ende hin deutlich leiser und dunkle Brauen zogen sich etwas tiefer, gaben dem Gesicht einen reichlich grimmigen Ausdruck. Dabei war es eigentlich kein besonders auffälliges Gesicht. In anderen Kleidern hätte das einer der Holzfäller draußen im Immergrünwald sein können. Und wenn man die Krone wegließ, von der man, so wie sie aussah, wahrscheinlich Nackenschmerzen bekam. Vielleicht wirkte der Kerl ja deshalb so unglaublich schlecht gelaunt.

„Unsinn. Du weißt, was du zu tun hast!“

„Jawohl Majestät.“

Und sie zog sich zurück, ohne, dass er auch nur einen Blick auf den Sohn geworfen hatte, der ihm geboren worden war. Milas Blick wanderte zu Arien, doch die machte keine Anstalten zu folgen und sie blieben vorerst, um zu sehen, wie er mit einer kleinen Glocke einen Diener rief, die Hinrichtung der jungen Mutter anordnete und allerlei Arrangements für die strenge Erziehung eines Kindes traf, das kaum seit einer Stunde auf der Welt war.

Sie sahen ihn aufwachsen. In einer Umgebung, die kälter und härter kaum hätte sein können. Umgeben von Menschen, die ihn ebenso verachteten, wie fürchteten und bemüht auf zu kurzen Beinen einem Vater zu folgen, der nicht mehr Zuneigung für ihn übrig hatte, als für einen der Einrichtungsgegenstände.

Offenbar gab es in dieser Gegend ein Problem mit rotem Haar, auch wenn es sicher nicht das einzige war. Es war bizarr zu sehen, wie einem Kind, dass sich nach den ersten Schellen nicht mehr zu rühren wagte, nicht mehr zu weinen wagte, eine dicke Schicht Puder ins Gesicht geschmiert und eine wallende, falsche Mähne aufgesetzt wurde. Wie es gelehrt wurde kein Kind mehr zu sein, nicht einmal ein Mensch. Wie es gelehrt wurde, das Angst und Einsamkeit unumgänglich waren und das es allem, was geschah und der Macht anderer hilflos ausgeliefert war, dem Vater vor allem.

Wie es die Hinrichtung seiner Mutter sah, lange bevor es begreifen konnte, was es sah und später in vielen weiteren lernte, was denen blühte, die nicht genug waren. Und das es selbst kaum eine Chance hatte jemals genug zu sein.

Da war so viel Angst und Verzweiflung, dass es schwer zu ertragen, schwer mit anzusehen war. Angst, die bald in Wut umschlug. In zerbrochene, umhergeworfene Dinge. Nicht, dass es Spielsachen gegeben hätte. Irgendwann in Grausamkeit gegen jene, die noch kleiner, noch schwächer waren, noch elender als der Junge selbst.

Aber es war, trotz aller Entsetzlichkeit, sehr viel schwerer nur den Jungen zu sehen, der grausam kleine Tiere quälte, wenn der gleiche Junge später den schlaffen Körper schluchzend um Verzeihung bat und sich des Nachts, mühsam den Kummer erstickend, zitternd unter einer Decke verkroch, die keinen Schutz bot. Wenn er mit leeren Augen Folter und Tod ebenso verfolgte, wie Lehrstunden über Benimm, Staatskunde und Diplomatie.

Wenn sie sahen, wie er lernte alles, was er war und vielleicht hätte sein können, zu verachten, zu hassen und abzuschütteln, abzutrennen, bis er so verstümmelt war, das kaum mehr blieb als das Gefäß, das sein Vater zu formen und zu füllen versuchte. Sie sahen ihn aufbegehren, kämpfen, um Hilfe flehen und scheitern, bis der Widerstand brach. Sahen ihn innerlich sterben, während er die Folter, die er erfuhr an andere weitertrug. Während er die rasende Angst zu bezähmen versuchte, indem er sich über andere erhob, andere in Schwierigkeiten brachte, um sich nicht länger so zu fühlen, als wäre er weniger als der Staub unter ihren Sohlen.

Wenn sie sahen, dass es nicht half. Und das er den eigenen Schmerz trotzdem nach außen tragen und weitergeben musste, selbst wenn er ihn dennoch nicht ertrug.

Sie sahen ihn im Alter von 12 Jahren einen geheimen Gang entdecken und wenig später zum ersten Mal einen Menschen treffen, der ihn selbst als genau das zu behandeln schien. Menschlich. Wertvoll. Der ihm zum ersten Mal in seinem jungen Leben eine Entscheidung treffen ließ. Und so, wie er zuvor vergeblich bemüht gewesen war dem Vater zu gefallen, zu gefallen, wem auch immer, der ihn erhören wollte, ließ er sich nun, ob er es wusste oder nicht, wissen wollte oder nicht, von anderen Mächten formen. Blind vom verzehrenden Hunger nach Anerkennung. Nach nicht mehr als Liebe und der Zusicherung, wert zu sein, für sich selbst. Doch auch wenn er zum ersten Mal Worte des Lobes hörte, Ansporn erfuhr, zumindest den Anschein aufrichtigen Interesses... Das was erwirklich suchte bekam er nicht. War sein vater ein grobschlächtiger Dorfschmied gewesen, der blindwütig auf das zu formende Metallstück eingeschlagen hatte, so vermochten Celsors spinnengliedrige Hände ein sehr viel subtileres, feineres Werk. Doch das änderte nichts am Ergebnis. nichts daran, dass es niemals um einen Menschen ging, sondern nur um eine Waffe. Ein Werkzeug.

Und was immer der Junge, von der eigenen Dunkelheit geblendet, in den Jahren in die Welt hinaustrug, wie er mit jedem Schnitt in fremden Fleisch das eigene schnitt, schien es unmöglich, dass er nicht verleugnen könnte, was er tat.

Sich hinter dem verstecken, was er verdiente, und alle anderen umso mehr. Hinter der Angst und allem, was sie nur irgendwie fern halten mochte. Und wenn es Wut war, oder Grausamkeit. Was hätte er auch tun können, unfähig sich zu befreien?

Wenn er Versprechen brach, dann nur, um denen zuvor zu kommen, die es sonst taten. Denn in der Welt, in der er lebte, gab es kein Vertrauen. Sie waren alle so und nichts anderes konnte er begreifen.

Als er seinen Vater tötete… Tötete er in Wahrheit sich selbst. Das machte die Grausamkeiten nicht kleiner, das Entsetzen nicht geringer, aber es machte schwer zu entscheiden, was man denken, wen man verantwortlich machen sollte. Manchmal, wer überhaupt zu bedauern war und wer nicht.

Es warf die Frage auf, welche Möglichkeiten es überhaupt gegeben hatte und wie viel eine winzige Abweichung, eine einzige Chance vielleicht hätte bewirken können.

Jahre zogen vorbei. Dinge, die zum Teil unaussprechlich waren, doch alles wurde überlagert vom Bild dieses Kindes, das im Grunde nie erwachsen geworden war. Die Rebellion zog auf und sie sahen, wie er nach und nach an Boden verlor. Verzweifelt kämpfte, getrieben von Angst. Ein kleines, kratzendes, beißendes elendes Tier. Wie er scheiterte und unterlag, vertrieben wurde, mehr als einmal, immer wieder. Und wenn auch aus anderen Gründen, blickte die Welt mit derselben Mischung aus Ekel und Angst auf ihn herab, die alles war, was sie je für ihn übrig gehabt hatte.

Verlassen von dem einen, an den zu glauben er gelernt hatte, blieb weniger, als er je gewesen war  und das wenige sahen sie am Ende auch noch zerbrechen. Sahen ihn sterben in Elend und Armut. Allein, wie er es immer gewesen war. Gebrochen, verzweifelt und am Ende ohne jemals herauszufinden, was Nähe oder Wärme bedeutete. Nicht einmal, wie sich eine Umarmung anfühlte. Und sie schwiegen. Sprachlos und betroffen. Die Gestalt wirkte kaum größer als damals, als sie aus dem Leib ihrer Mutter gezerrt worden war und es schien auch fast als hätte sich seither rein gar nichts getan.

„Und jetzt verratet mir, was denkt ihr? Ihr habt Ausschnitte aus einem Leben gesehen, das nur den wenigsten in diesem Umfang bekannt ist. Doch von König Phillipe dem 3., Lumiéls Marionettenkönig und seinen Untaten, hat die ganze Welt gehört. Denkt ihr, er ist böse? Und denkt ihr, dass er das, was er bekam auch verdiente?“, erkundigte sich Arien ruhige und fasste die Geschwister mit eindringlichem Blick ins Auge. Die Drei verharrten sprachlos, selbst Layos, und Arien nickte langsam. „Und genau deshalb dürft ihr niemals versäumen zu hinterfragen. Es ist schmerzhaft und sicher nicht der leichte Weg. Aber… Wenn ihr aufhört andere, ob Feind oder nicht, als menschliche Wesen zu betrachten, dann verliert ihr selbst ein Stück eurer Menschlichkeit.“

Sie trat an die Geschwister heran, die eng beieinander standen, Trost in der Nähe der anderen suchten. Trost, den der Marionettenkönig niemals kennen gelernt hatte. Aufgewühlte Gefühle flackerten hinter geweiteten Augen und Arien legte die Arme um sie.

„Es ist gut“, bemerkte sie leise, sanft. Es war eine schwere Lektion. Eine schmerzhafte. Selbst für sie noch heute. Es gab kein Schwarz und Weiß in dieser Welt. Kein Richtig und Falsch. Es gab nur Ereignisse, die einander bedingten, Einfluss nahmen. Gab nur jene, die litten und jene, denen es besser ging und der daraus entstehende, unvermeidliche Konflikt. Reines Böses, das war selten, vielleicht existierte es nicht einmal.

Und was in den Augen des einen, wie eine Heldentat anmutete, gereichte dem anderen zum Untergang und nahm ihm vielleicht alles, woran sein Herz hing.

Sie brachte sie heim, doch obgleich der Unterricht für diesen Tag mehr als beendet war und andere Pflichten warteten, blieb sie. Es war eine Frage der Zeit, bis Fragen kommen würden. Über Phillipe wohl und mehr noch über ihren Vater. Welches besseres Beispiel gab es schließlich dafür, wie sehr die Grenze zwischen Monster, Held und Opfer verschwimmen konnte? Und auch wenn die drei es vielleicht noch nicht wussten, aber was sie zittern ließ, war nicht allein Mitgefühl mit dem Marionettenkönig, sondern genau das.

Und mit dem Leben, das sie für sich gewählt hatten, würden sie oft vor Erkenntnissen wie dieser stehen. Nur niemals, solange Arien nur irgendetwas anderes bewirken konnte, allein.

Bist du stolz auf sie? Fragte sie innerlich jemanden, der nicht antworten konnte und es wohl auch nicht getan hätte. Nicht ehrlich allemal, sondern allenfalls mit einem dummen Scherz. Sie hoffte es trotzdem. Du solltest stolz auf sie sein.

„Nein“, erklärte Mila schließlich mit belegter Stimme, ließ auch ihre Geschwister aufmerken und hob den Blick, um Arien anzusehen, das Kinn trotzig vorgereckt. „Das hat er nicht verdient. Niemand hat das. Auch wenn er nicht weniger ein Monster ist. Wenn es andere sind, die ihn dazu gemacht haben. Er… musste aufgehalten werden und vielleicht… hätte er das auch selbst gewollt. Wenn er… Es gewusst hätte.“

Tapferes Mädchen. Arien lächelte, legte alle Wärme hinein, die sie empfand und nickte ihr zu. Nicht, dass Ithildalin nicht selbst einiges dazu zu sagen gehabt und ihr damit vermutlich vehement widersprochen hätte... Sie konnte es beinahe hören, das leicht verächtliche Lächeln vor sich sehen. Wie sie ihn vermisste. Immer noch. Aber zumindest kannst du mir nicht mehr widersprechen. Und doch schien allein das unweigerliche Schweigen genau das zu tun. Sie zwang ihre Gedanken zur Gegenwart zurück.

„Das denke ich auch. Und genau das, muss euch bewusst sein. Was ihr tut, wird selten einfach oder offensichtlich sein. Das sollte es meistens auch nicht, aber das heißt nicht, dass es nicht trotzdem richtig ist. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlen wird. Darin liegt die wirkliche Schwierigkeiten und das ist, was euch niemand beibringen kann, außer euch selbst.“ Ihr Blick wanderte über die Gesichter, verharrte kurz bei jedem und das Gefühl von Wärme wuchs. Wenn du mich fragst, hast du allen Grund, stolz zu sein. Ich jedenfalls... Bin es.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Voidwalker
2018-12-16T00:39:34+00:00 16.12.2018 01:39
My brain is squishy, please bear with me. See what I did there...? xD
 
Als Lumiél startete, war Phillipe einfach 'nur' der große (kleine) böse König. Aber das ist fast zehn Jahre her. Viele Spieler kamen und gingen, trugen Ideen mit sich. Das RPG veränderte sich. Ich veränderte mich. Und die mentale Landschaft, in der er existierte, füllte sich von einem nahezu-Vakuum zu einer bunten, schillernden, oftmals unfairen aber auch stets gerade so hoffnungsvollen Welt.
Als Teil dieses Wandels bekam er mehr und mehr Hintergrundgeschichte. Plötzlich war er nicht mehr 'nur' der böse König. Er hatte einen mächtigen Verbündeten. Und später wurde immer schwammiger, wer eigentlich von beiden das Kommando hatte. Bis es - nun zur anderen Seite verschoben - wieder deutlich klarer wurde.
Es gab diese... 'Phase', schätze ich?, in der ich keine Mühen und Kosten scheute, zu demonstrieren und überaus klar und deutlich aufzuzeigen, was für ein Scheusal er ist. Zu was für Grausamkeiten er fähig ist. Willens ist. Dass er Freude daraus zieht, zu erniedrigen, zu quälen und zu foltern. Wie kreativ er dabei werden kann. Aber natürlich wuchs damit nur die Frage: Wie wird jemand... nun, SO?
Was muss passieren, um solch ein... Geschöpf zu formen.
Weitere Details später, ein paar tiefgreifendere Überlegungen, und plötzlich... ist es schwer, Phillipe aus tiefsten Herzen zu verachten. Ihn zu hassen. Zahllose Taten voller Bosheit und Niedertracht, keine Frage. Aber er ist nicht mehr einfach nur der böse König. Schlüsselwort hierbei ist 'einfach'. Es GIBT kein 'einfach' mehr.
Und mit allen Details schließlich an ihrem Platz... ist Phillipe, all die tragischen Geschichten von Charakteren und NPCs eingerechnet, vermutlich dennoch die tragischste Figur im RPG. Weil da niemand ist. Niemand. Nur jene, die ihn noch weiter treiben, benutzen, verformen. Keine Chance auf Erholung, auf Rast, auf Frieden. Keine Heilung. Einfach... keine Chance. Das Kapitel spekuliert in eine überaus wahrscheinliche Richtung - das es für ihn keine Rettung geben wird. Vielleicht auch einfach nicht geben KANN. Wie will man solch ein Leben noch 'retten'? IST da überhaupt noch etwas, das man retten könnte? Und am Ende steht und stirbt er allein, verzweifelt, verängstigt. Wie er sein ganzes Leben lang war.
Das zu wissen, das zu verstehen, es zu berücksichtigen - macht es so viel schwerer, ihn zu hassen. Es fällt nicht leicht, jemanden zu hassen, den man - egal wie sehr - bemitleidet. Er ist das Produkt seiner Zeit, das Produkt von Umständen. Von Entscheidungen anderer Leute. Er hat sich diesen Weg nie ausgesucht - nicht einmal, als er GLAUBTE, eine tatsächliche, gewichtige, ERSTE eigene Entscheidung zu treffen. Selbst dann war er Opfer der Umstände - und des Lebens, in das er zuvor jahrelang hineingepresst worden war.
Trotz allem, was er an Abscheulichkeiten angerichtet hat, ist er am Ende doch nur ein kleines, verängstigtes Kind. Zu unzähligen Gelegenheiten auf Weisen verletzt, die es nicht versteht.
Lektionen wie diese bieten große Weisheit für die, die sie verstehen - und im richtigen Licht verstehen. Zu begreifen, dass 'Wahrheit' oftmals nur eine Frage der Perspektive ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade Arien, arme, kleine, paladinige Arien, an dieser Lektion selbst lange zu knabbern hatte, bevor sie sie zu lehren fähig wurde. Ithildalin lebte ihr das vor, ein Stück weit zumindest, sicherlich. Aber die Fähigkeit, die sie hier demonstrierte... muss nochmal 'ne ganze Nummer heftiger zu erleben gewesen sein.
 
(Un-)Schönes Kapitel. Vielen Dank. :)


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