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Breathtaking

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Too late~ too late~ not too late~ xD I'm sorry, aber happy Birthday, Schneechen <3 Ich hoffe es ist ein schöner, wenn auch tragischer kleiner Einblick. ;_; <3 Komplett anzeigen

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Mourning

„Koya!“
 

Sein Fokus lag auf dem Quaffel – ungeachtet der Blicke, die ihn verfolgten und den Flocken, die um ihn peitschten, als versuchten sie dem grellen Scheinwerferlicht in der Dunkelheit der Nacht zu entkommen. Es gelang ihnen nicht, genauso wenig wie dem verfluchten Ball.
 

Koya!
 

Es war ein Trainingsquaffel – speziell konzipiert fürs Ein-Mann-Training, die Bewegungen unvorhersehbar und willkürlich. Genau wie im Spiel gegen einen unbekannten Gegner oder inmitten einer neuen Mannschaft. Nicht, dass Koya sich noch als neu im Team bezeichnen würde. Es waren einige Wochen vergangen seit dem offiziellen ersten Match und auch wenn es noch einige Ecken und Kanten gab, die es zu beheben galt, wagte er zu behaupten, die wesentlichen Spielweisen seiner Teamkollegen begriffen zu haben. Zumindest waren sie voraussehbarer als das Eigenleben dieses Quaffels.
 

Jetzt reichts—
 

Bruchstücke der Konversation – mal hastiges Wispern, mal lautstarkes Wortgefecht – trug der Wind zu ihm hinauf. Er schenkte ihnen keine Beachtung, sondern widmete sich dem Rausch des Fliegens, des Adrenalins, das durch seine Adern pumpte. Hier oben war seine Welt. Alles, was da unten war, konnte ihm gestohlen bleiben.
 

„Hey— warte..! Warte, ich mach das, okay? Geh nach Hause, ich kümmer‘ mich darum.“
 

„…“
 

Die aufgeladene Diskussion auf dem sandigen, schneeverwehten Boden schien kurz zur nonverbalen Ebene abzurutschen. Koya bemühte sich, den tobenden Böen standzuhalten. Er war zu unstetig auf dem Besen – selbst mit dem Extragrip seiner Handschuhe musste er unzählige Male nachbessern. Es war zu nass, zu stürmisch, die Sicht eine Katastrophe. Und nicht das erste Mal an diesem Tag sprengte sein Puls jegliche Messwerte, als er aus einem Sturzflug heraus den Besenstiel nur knapp über dem Boden herumreißen musste. Aber er war immer da – direkt am Ball; immer gegen das haltend, was ihn aufzuhalten versuchte. Und das seit Stunden. Koya hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als A-ri vor geraumer Zeit eine Auszeit gefordert hatte – lange nachdem die anderen schon ihre Sachen gepackt und den Feierabend in Augenschein genommen hatten. Koya war auf dem Besen geblieben. Solange er noch Luft in den Lungen, noch Wind um die Nase hatte, und die Borsten unter seinem Hintern noch nicht protestierten, sah der Jäger keinen Grund dafür aufzuhören. Selbst A-ris drohender Griff zum Zauberstab – wenn er ihn denn am Spielfeldrand bemerkt hätte – war für den Japaner kein Zeichen, um langsamer zu machen. Er war drin – im Spiel, im Training, in seinem Element. Es war alles, was er brauchte.
 

„Wenn du ihn nicht in den nächsten zehn Minuten vom Besen holst, Kapitän…“
 

„Okay, okay— Vertrau mir, ja? Geh nach Hause, A-ri. Ich mach das.“
 

Die Skepsis war greifbar, selbst wenn sie nur für die beiden Spieler am Boden zu fassen schien. Fußstapfen knirschten im fast unberührten Weiß aus Sand und Schnee, nur hie und da aufgewühlt durch die riskanten Manöver aus der Luft. Ein vielsagender Blick über die Schulter zu Mannschaftskollege und schließlich in den Himmel. Vergebene Mühe, wenn der Jäger es seiner Beute gleichtat und immer wieder vom Licht ins Dunkel tauchte; vom wirbelnden Schneesturm in einen trügerischen Moment der Schwerelosigkeit.
 

Kein sag mir bitte Bescheid, kein ich verlass mich auf dich verließ die Lippen des Jüngeren als er nach langem Zögern die Kabinen ansteuerte. Zurück blieben nur berechtigte Zweifel, wenn man A-ri denn nach seiner Meinung gefragt hätte. Und trotzdem setzte er seinen Weg fort, die Brauen tief ins Gesicht gezogen. Es stand außer Frage, dass er sich Beweise für das Versprechen seines Kapitäns einfordern würde, sollten sie nicht von allein zu ihm finden. Wie viel Zeit er ihm dafür jedoch ließ, wusste wohl nur der Hüter selbst.
 

Notiz vom Schauspiel unter sich nahm Koya nicht. Weder vom Rückzug seines besten Freundes, noch von den Adleraugen, die ihn selbst unter diesen Bedingungen nicht zu verlieren schienen. Doch auch die Blicke, für die er vor kurzem noch alles getan hätte, schafften es nicht bis zu ihm hinauf.

Vielleicht war es besser so. Es gab so viel ungesagtes, so viele offene Fragen zwischen ihnen, von denen Koya in diesem Augenblick nichts wissen wollte. Zwischenfälle, die er nicht erklären konnte und die keinerlei Sinn ergaben an der Art gemessen, wie Noori ihn in den letzten Monaten behandelt hatte. Wenn er ihn ignoriert und sein Ding durchgezogen hätte, wäre Koya besser damit klargekommen als… als das hier. A-ris spöttisches Schnauben rang ungefragt durch seinen Kopf. Wenn er den Kapitän raushängen lassen wollte, dann bitte, aber stur konnten sie beide sein.
 

Er rechnete mit allem. Damit, dass Noori die Scheinwerfer ausschaltete, dass er seinen Besen mit einem Zauber zum Anhalten zwang und vor allem rechnete er mit einer dein Captain hat gesagt, jetzt ist Feierabend-Predigt.

Damit, dass er allerdings wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, rechnete der Jäger nicht.
 

Es war purer Reflex, der Koya dazu brachte im letzten Augenblick herumzureißen, um nicht frontal in den anderen Spieler hinein zu preschen, obwohl ihn der Ruck dennoch fast vom Besen holte. Mit nassen Ärmeln rieb der Japaner über die tropfenbesetzte Flugbrille – der Zauber zur freien Sicht musste vor einiger Zeit bereits an Wirkung verloren haben – helfen tat es allerdings kaum. Noori schwebte vor ihm wie ein Geist, verschleiert durch den heißen Dampf des eigenen Atems, der laut in den Lungen und der Luft zwischen ihnen brannte.
 

„Zeit zum Aufhören, Koya.“
 

Das grelle Scheinwerferlicht tauchte ihn in ein Spiel aus Licht und Schatten, gab den soften Konturen einen harten Edge. Wenn Koya seiner selbst gewesen wäre, hätten ihn die tänzelnden Flocken um die dunkle Silhouette ganz sicher in ihren Bann gezogen. Es war ein seltener Anblick und noch seltener hatten sie diese Momente der Stille auf dem Feld. Aber sie gingen unter – im Nachhall der Worte und dem auf Autopilot geschalteten Filter im eigenen Kopf.
 

Er blinzelte, rieb sich ein weiteres Mal über die schwere Brille, auch wenn es seine Sicht nur geringfügig besser machte. „Noch nicht.“
 

Dunkle Brauen zuckten verstimmt. „Das war keine Bitte— hey, Koya!!
 

Er ließ sich fallen; tauchte mit einem drei Meter Drop unter Noori hinweg, noch bevor dieser seinen Satz beenden konnte. War auch nicht wichtig – es spielte keine Rolle, ob Noori wollte, dass er aufhörte oder nicht, wenn Koya einfach noch nicht soweit war. Der Quaffel war da, am anderen Ende des Feldes, triezend und lauernd und rufend. Eiseskälte peitschte um seine Ohren, als sich der Jäger durch Wind und Wetter kämpfte, nur ein Ziel vor Augen, nur einen Sinn des Seins. Und so taub sein Körper sich auch anfühlte, so sehr ging er in dem Bewusstsein auf.
 

Koya!
 

Scheinbar hielt der Koreaner nicht viel davon sich von ihm abspeisen zu lassen. Ein Witz ganz anderer Art, wenn Koya dem Gedankengang freien Lauf gelassen hätte, aber das waren weder Gefilde, in die er gerne abrutschte, noch welche, für die Noori ihm die Zeit ließ sie zu erkunden. Das zweite Mal an diesem Abend tauchte der Jäger einem Phantom gleich vor ihm auf, dieses Mal jedoch, sah er es kommen.
 

Kopfüber streiften Haarspitzen den Schopf des großgewachsenen Koreaners, als Koya kurz vor ihm den Besen nach oben riss. Gut fünfzig Meter von ihm entfernt visierte der Quaffel die gegnerischen Torringe an. Er musste einen Zahn zulegen, wenn er ihn abfangen wollte—
 

Accio
 

Der Quaffel änderte abrupt die Richtung; Koya war darauf vorbereitet. Er beugte sich nach vorn, flog dem magischen Ball mit ausgestrecktem Arm entgegen, bereit das beinahe Tor des Gegners in Punkte fürs eigene Team umzuwandeln. Aber wie das Glück es so wollte, umschlossen die gegnerischen Arme den Quaffel zuerst. Wann genau Noori an ihm vorbeigerauscht war, konnte der Japaner nicht sagen, obwohl er von sich behauptete die Spielweise des Jägers wie kein anderer zu kennen. Trotzdem bäumte er sich hier vor ihm auf – umrandet von Licht und Schatten und Schnee – als ob er nicht nur Kapitän, sondern auch Jury und Richter war. Koya bremste ab, mit rasendem Puls und den Blick fixiert auf den Ball in Nooris Armen.
 

„Koya…“
 

Er musste ihn für ein scheues Reh halten, so langsam, wie er auf ihn zu schwebte. Obwohl der Jäger sich weigerte, diese Rolle einzunehmen, blieb er starr und still in der Luft.
 

„Es ist kurz vor Mitternacht... Du bist klatschnass, deine Lippen sind mehr blau als rot und ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber“ Noori, kaum mehr einen Fuß von ihm entfernt, zögerte kurz bevor er eine Hand vom Quaffel löste. Nur wenige Augenblicke später spürte Koya einen sanften Druck um die eigenen Finger, die sich unnachgiebig ins glattpolierte Holz des Besenstiels bohrten, „deine Hände zittern.“
 

Ruckartig zog der Japaner die Hand zurück.
 

„Es schneit.“
 

Die Erklärung war so simpel wie monoton – natürlich war er nass und natürlich war es kalt, als ob sie noch nie zuvor im Schnee gespielt hätten. Doch Nooris Blick verriet ihm, dass das nicht die erhoffte Reaktion gewesen war. Diese really-Augen, die sonst nur Nam-kyu von der Seite aus zugeworfen bekam.

Koya schnaubte, rieb sich ein paar verirrte Tropfen von der feuchten Nasenspitze und wandte den Blick ins dunkle Nichts.
 

„… Mir geht’s gut, Kapitän.“
 

Es war nicht das, was Noori hören wollte.
 

Geh nach Hause, Koya.“
 

Der Nachdruck hinter den Worten verriet so ziemlich alles. Genauso wie die rigorose Antwort darauf.
 

Nein.
 

Er wollte nicht nach Hause. Konnte nicht. Er brauchte die Ablenkung auf dem Feld, den Wind um seine Nase. Zu Hause, wo es warm und trocken und ruhig war, hatte er zu viel Freiraum, zu viel Zeit, um nachzudenken. Dabei gab es nur eine Sache, über die er nachdenken wollte.
 

Sein Training.
 

Alles andere war nebensächlich. Und sein Hirn brauchte keinen Anreiz dazu, auf andere Ideen zu kommen. Er brauchte das Adrenalin, den Puls kurz vorm Ende der Skala und das süchtig machende Brennen in den Lungen. Es musste wehtun, damit es sich lohnte, nur dann war es ein erfolgreicher Tag auf dem Feld. Und… er wollte einfach nicht. Der Koreaner schien ihm genau dieses Wissen anzusehen.
 

„Dann komm mit zu mir!“
 

Koya lachte – bitter und humorlos – ein vehementes „Keine Chance!“ von den eigenen Lippen stoßend, als ob die Vorstellung allein nicht vollkommen lächerlich war. Dass er Noori damit einen Stich versetzte, realisierte er im selben Atemzug, zu offensichtlich stand es in den dunklen Augen geschrieben. Aber er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen; konnte sich nicht auf ein Gefühl der Reue und Schuld einlassen, wenn es einfach nur der bitteren Wahrheit entsprach. Er würde nirgendwo hingehen, wo er nicht willkommen war. Scheinbar hatte der Kapitän den Kampf jedoch noch nicht aufgegeben.
 

„Du solltest gar nicht hier sein!“
 

Der Ton wurde rauer, langsam aber sicher, und der Jäger war sich nicht zu schade, die eigene Bitterkeit in seinen Worten mitschwingen zu lassen. Und wohl auch eine Brise Starrsinn.
 

„Wir haben Training. Natürlich bin ich hier.“
 

Ein endloser Moment der Stille, zäh und schwer in der trügerischen Leichtigkeit des Fliegens. Trotz der miserablen Lichtverhältnisse war der Koreaner sichtlich mit sich am Ringen. Koya erwartete die ich bin dein Kapitän, also tust du gefälligst, was ich sage-Karte, so wie schon seit zehn Minuten. Vielleicht auch die Yeon-bae-ssi wird uns beiden den Hals umdrehen, wenn du die nächsten Wochen ausfällst-Tour. Keine von beiden wäre auf Anklang gestoßen, was Noori zu hundert Prozent bewusst sein musste. Er hätte ihn ignoriert oder – wenn er ihm keine Wahl gelassen hätte – ihm zu verstehen gegeben, dass er sich seine Kapitänsbinde sonst wohin stecken konnte. Das hier geht dich nichts an. Geh du doch nach Hause. Er würde die volle Verantwortung gegenüber ihrem Trainer übernehmen. Alles möglich, alles auf der Zunge liegend.
 

„… Morgen ist die Beerdigung.“
 

Seine Hände krampften um den Besenstiel. Ah, die großen Geschütze also. Koya wandte sich ab. Scheinbar genug Grund für Noori, um sich mit Nachdruck zu wiederholen.
 

„Morgen ist die Beerdigung, Koya. Ich weiß, dass du nichts davon hören willst— Hör mir zu! Ich weiß, dass du denkst, dass du damit nichts am Hut hast, aber es geht dich was an. Es geht um deine Mutter, Koya— ich will einfach nicht, dass du es später bereust, nicht dagewesen zu sein!“
 

„Werde ich nicht.“
 

„Koya—“
 

„Nein – Kapitän, werde ich nicht! Ich bin done – Ich hab‘ alles erledigt, was ich erledigen musste!“
 

Der Wind heulte zwischen ihnen hinweg, ließ die Besen unstetig in der Luft taumeln und Koya musste dagegen steuern, um nicht den Halt zu verlieren. Vielleicht konnte er sich den Quaffel aus Nooris Armen klauen. Ob er sich auf ein Gerangel einlassen oder ihm den Ball einfach kampflos überlassen würde…?
 

„Du musst dich verabschieden! Richtig verabschieden…“
 

„Es gibt nichts zu verabschied—“
 

„Das ist deine letzte Chance deine Mutter noch einmal zu sehen!“
 

„Ich habe Nein gesagt!“
 

Er wechselte ins Japanische ohne, dass es ihm selbst bewusst gewesen wäre. Auch nach all den Jahren war es einfach eine Art Reflex – je stärker die Emotionen in ihm, umso leichter war es; umso einfacher konnte er reden ohne zu denken. Seine Hände zitterten nun nicht mehr vor Kälte, als viel mehr vor Wut.
 

„Ich war im Krankenhaus – ich habe mich verabschiedet. Ich habe sie identifiziert! Ich bin fertig damit! Es geht mich nichts mehr an! Ich bin im Training! Soll er doch zur Beerdigung gehen— sie ist seine Mutter, nicht meine!“
 

Koya schüttelte den Kopf, rasend vor Emotionen, vor dem was in den letzten Tagen passiert war. Er hatte eine Pause verdient! Er hatte es verdient auf dem Feld zu sein, seinem Training, seinem Traum nachzugehen, weil wann hatte sie sich je dafür interessiert?! Jahrelang hatte er nur das obligatorische Minimum an Kontakt zu ihr gehabt und jetzt – jetzt wo ihr Sohn vor seiner Tür aufkreuzte, hielt sie es für notwendig einen Trip nach Korea zu planen. Natürlich, was auch sonst. Sie war nicht wegen ihm hier. Es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass er überhaupt hier lebte—
 

„… war…“
 

Sein Herz setzte aus. Den ganzen Abend hatte er den tosenden Schneesturm ignoriert und jetzt – jetzt wo Noori ihn korrigierte, wo er ihn ansah als hätte er auf jedes seiner Worte gewartet – kroch die Kälte wie Maden unter seine Haut.
 

„… war seine Mutter, Koya. Und deine auch.“
 

Keine Ahnung, was ihn verriet – die Starre in seiner Haltung, das verräterische Blähen der Nasenflügel oder die Tatsache, dass er einfach aufhörte. Aufhörte zu argumentieren, aufhörte sich zu rechtfertigen, aufhörte zu atmen. Es war der letzte Tropfen – die Schnur, die sich langsam aber sicher zu zog. Der Laut, der seiner Kehle entwich, klang fremd. Wie ein Tier, das es nicht rechtzeitig von der Straße geschafft hatte. Aber er war kein Tier, er war ein Flieger, ein Spieler, der Sturm konnte ihm nichts anhaben, er war abgehärtet.
 

Wie in Zeitlupe sah er den Quaffel aus Nooris Händen fallen und in der Dunkelheit verschwinden. Plötzlich fühlte es sich so an, als würde er ihm folgen. Taub und hohl und— seine Augen fanden die des Kapitäns. Weit und groß und panisch. Doch bevor Koya den letzten Halt verlor, schlossen sich starke Arme um seinen Körper und ließen die Welt um ihn herum verschwinden.
 


 

*
 


 

Sie krachten wie aus dem Nichts ins Wohnzimmer. Ein nasser, dreckiger Haufen aus Armen, Beinen, Besen und Schnee. Der Teppich federte den kaum erwähnenswerten Aufprall ab und der Tisch rutschte knarzend zur Seite, als der Haufen aus Mensch und Holz zwischen ihm und Couch manifestierte. Irgendetwas fiel dem Schwung seiner Borsten zum Opfer und landete dumpf auf dem Boden, doch Koya hatte so schon Mühe hinterher zu kommen, da war das eine belanglose Nebensächlichkeit.
 

„D-der Quaffel!“
 

„Der wird Morgen auch noch da sein.“
 

Er zitterte, von oben bis unten, vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Die Eiseskälte, die von ihm Besitz ergriffen hatte, schien im plötzlichen Schwall der häuslichen Wärme nur noch extremer unter seine Haut zu kriechen. Automatisch schlang er die Arme um den eigenen Körper, als ob es ihn davor bewahrte, weniger kalt zu sein.
 

„Seo-Seong-su…?“
 

Noori schüttelte den Kopf. „Kyu spielt Babysitter.“
 

Ein Grunzen – irgendwo zwischen Glucksen und verwundetem Drachen – war alles, was Noori als Reaktion darauf bekam. Die nächsten paar Minuten liefen in einer Art Trance an ihm vorbei. Behutsam, wie nur Koya ihn kannte, schälte der Koreaner ihn aus den nassen Klamotten, nahm ihm Brille, Handschuhe und Schuhe ab, bis er ihn mit gedämpften Worten und sachter Gewalt auf die Beine hievte. Hose und Langarmtrikot klebten an ihm wie eine zweite Haut und auch als sie nass und schwer den Wohnzimmerboden säumten, fühlte er sich noch immer klamm und taub an. Dass seine Zähne klapperten bemerkte er erst, als sich Nooris Hände sachte um sein Gesicht legten. Daumen befreiten seine Stirn fürsorglich von verirrten Strähnen, fuhren über die unschönen Abdrücke, die vom langen Tragen der Fliegerbrille zurückgeblieben waren. Jedem geflüsterten „kalt“ begegnete der Koreaner mit murmelnder Bestätigung und dem Versprechen von „Gleich. Ich weiß. Nur noch ein paar Minuten.“ Obwohl die Reihenfolge variierte, blieb der Inhalt immer gleich – warm und beständig und sicher. So wie Nooris Finger an seiner eisigen Haut.
 

Nae sarang.“
 


 

*
 


 

Heißer Dampf hüllte das kleine Bad in einen Schleier aus Trost und Geborgenheit. Es war eine gänzlich andere Art von Blase als noch zuvor auf dem Feld in der sich Koya plötzlich wiederfand. Wasser reichte ihm bis zur Brust, schwappte ab und zu aus der viel zu vollen, kleinen Wanne auf die unschuldig dreinblickende Fußmatte. Nooris Hände tauchten ab, nur um seine Schultern mit dem heißen Wasser zu bedecken. Noori, der hinter ihm saß; Noori, der sanft seinen Kopf massierte, ob mit Fingern oder Küssen. Koya ließ die Augen zufallen.
 

„Ich werd‘ nicht hingehen…“
 

Ob fünf Minuten oder eine halbe Stunde – er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie bereits in der Wanne saßen. Aber der Koreaner sagte nichts, nur das Gewicht von Nooris Kinn auf seinem Kopf zeugte von dessen Geduld und Aufmerksamkeit.
 

„Ich kann nicht gehen… Ich kann nicht…“
 

Zwing mich nicht dazu, stand ungesagt im Raum, obwohl Koya wusste, dass Noori ihn nie bedrängen würde, ungeachtet der eigenen Auffassung und wohl auch Erfahrung. Denn das war die bittere Realität oder nicht? Das, was er gerade durchlebte, hatte Noori bereits vor so langer Zeit selbst durchgemacht. Es war nicht die gesellschaftliche Norm, keine Erwartungshaltung an ihn als Sohn, dass er hinzugehen hatte. Es war das eigens Erlebte – der Schock, der Schmerz und all die Zweifel, der Wunsch nach hätte ich doch mal. Fehler, vor die Noori ihn bewahren wollte. Und wäre Koya dazu in der Lage gewesen, hätte er mehr Empathie an den Tag gelegt, hätte vielleicht darüber nachgedacht, ob er den Größeren mit seinem Verhalten verletzte, ob er Recht hatte... Aber er konnte nicht— er konnte einfach nicht.
 

„Shh, du hast alle Zeit der Welt. Wir gehen zusammen, wenn du soweit bist, okay?“
 

Zusammen.
 

Ohne einen Laut, ohne großes Aufsehen riss der seidene Faden entzwei. Das Bad füllte sich mit flüsternder Bestätigung, mit tröstenden Lauten und stummen Küssen. Koyas Schultern bebten unter dem Ansturm, den er nicht gewohnt war, der so untypisch für ihn selbst und seine Art war. Sein Atem verfing sich in seiner Kehle, versuchte sich ohne Erfolg an dem Knoten im Hals vorbei zu quetschen, aber er ließ es nicht zu. Kein Mucks begleitete die Tränen, nur Nooris Hände, warm und weich und da, fingen jede einzelne auf.
 


 

*
 


 

Das Bett war sein Zufluchtsort.
 

Er fühlte sich wohl unter der Decke, die Luft warm und stickig, genau, wie er sie brauchte. Das heiße Bad hatte die hartnäckige Kälte endgültig aus seinen Knochen vertrieben. Noori schien trotzdem auf Nummer sicher gehen zu wollen, denn er ließ keinen Millimeter Luft zwischen sie kommen – nur Haut an Haut an Haut. Der vertraute Geruch war genug, um Koya einzulullen, und der Schutzwall, den der Koreaner um ihn aufbaute, hätte ihn mit Sicherheit geradewegs auf Wolke 7 katapultiert. Er war kaputt. Mental, emotional, physisch. Trotzdem blieb Schlaf für ihn in dieser Nacht ein vages Erscheinungsbild. Wann immer er die Augen schloss, schlichen sich Gedanken ein, formten Erinnerungen, die unerwünscht und lange vergraben waren. So sehr der Jäger auch darauf beharrte nie etwas von seiner Mutter gehabt zu haben, so schwer klaffte das Nichts nun in seinem Kopf. Er hatte es nie bereut bei seinem Vater geblieben zu sein. Er liebte ihn abgrundtief. Und trotzdem entschied sich sein Gehirn dafür, sich auf die andere Seite zu fokussieren – auf die Basteleien zum Muttertag, mit denen Koya nichts hatte anfangen können. Auf die Telefonate zum Geburtstag, in denen betretenes Schweigen unangenehmen Smalltalk abgelöst hatte. Auf Bilder seiner Abschlussfeier, auf denen der linke Platz neben ihm frei geblieben war. Er vermisste sie nicht. Hatte sie nie vermisst. Er war glücklich gewesen, so wie es war. Vielleicht waren die Tränen einfach nur Pflichtgefühl.
 

Noori hielt ihn fest, die gesamte Nacht. Wenn die Blase drückte und Koya zurückkam, wartete er mit offenen Armen. Wenn die Luft zu kühl und die Decke nicht dick genug war, ließ er ihn Hände und Füße und Nase an ihm aufwärmen. Wenn Herz und Gedanken und Kloß zu schwer wurden, flüsterte er leise Bestätigungen in sein Ohr, ein sanftes Wiegen sein ständiger Begleiter. Ohne Frage war es nur dem Größeren geschuldet, dass Koya irgendwann abdriftete. Es war nicht erholsam und weit von dem entfernt, was er normalerweise als Schlaf bezeichnen würde, aber es gab ihm zumindest einen kurzen Moment des Aufschubs.
 


 

*
 


 

Das Rascheln von Stoff und leises Getuschel stahl sich durch den Nebel von Halbschlaf und Erschöpfung. Wahrscheinlich kam ihm auch zu Gute, dass es ihn einfach nicht kümmerte, was um ihn herum passierte. Niemand würde ihn aus seinem Kokon holen – es war seins, sein Refugium, seine Regeln, sein Ja oder Nein und nur er würde bestimmen, wann es Zeit war rauszukommen.
 

„Ich muss mit ein paar Leuten sprechen, aber ich bin so schnell es geht wieder da, sarang.“
 

Nooris Stimme war gedämpft, als sich der Druck auf der Matratze verlagerte und sanfte Finger Strähnen von seiner Stirn sammelten. Ein letzter Kuss, bevor die vertraute Wärme des Koreaners verschwand. Koya bildete sich ein das stumpfe Vibrieren eines Smartphones wahrzunehmen bevor noch mehr Getuschel folgte. Das war okay. Der Jäger war nicht dazu verpflichtet zu bleiben. Er war ja auch schon die ganze Zeit bei ihm geblieben, die ganze Nacht über, obwohl er überhaupt keinen Grund dazu hatte. Koya war gut aufgehoben in seinem Deckenfort; er hätte jederzeit gehen können und es wäre okay gewesen – er kam zurecht. Solange er hierblieb, kam er zurecht. Vielleicht würde er sich später aufraffen können zum Training zu gehen…
 

Die Matratze senkte sich erneut und kurz befürchtete Koya, dass Noori Gedanken lesen und ihm das Versprechen abringen würde, bloß nicht auf dem Feld aufzutauchen. Doch dann bohrte sich eine freche, spitze Nase in seine Wange und ließ den Japaner aufbrummen. „Idiotischer hyung…“ nuschelte die vertraute Stimme ganz dicht an seinem Ohr und der Jäger zögerte nicht lange als er Arme und Bein um die schmale Statur schlang. Zum Glück hatte Noori ihn nach dem Bad noch dazu gebracht wenigstens Shorts und Shirt überzuziehen.
 

A-ri blieb. Wenn ihm Koyas Anhänglichkeit irgendwann zu viel wurde, ließ er sich nichts davon anmerken. Er lüftete das Fort ab und an – sehr zum eigenen Missfallen – doch sämtliches Gemurre wurde entweder geflissentlich ignoriert oder aber mit unwiderlegbaren Argumenten im Keim erstickt. Der Jäger brummte unzufrieden.
 

Es mussten mehrere Stunden vergangen sein, als sich der Jüngere mit wenigen, entschuldigenden Worten, aber so viel Aufrichtigkeit aus seinem Kokon befreite. Er versprach zurückzukommen, rang ihm ein widerwilliges Ja ab auf die Aufforderung ihn anzurufen bevor er sich Hals über Kopf auf den Besen schwang, und Koya verfluchte sie alle dafür, dass sie viel zu viel von ihm wussten.
 

„Ich meins ernst, hyung!“
 

Ein Finger bohrte sich boshaft in seine Wange, bevor sich der Hüter endgültig von der Deckenwelt desintegrierte. Und dann war alles still.
 

Für eine Weile driftete der Japaner zwischen rastlosem Schlaf und gedankenlosem Nichts.
 

„Hyung, wir haben dir was zu essen gemacht.“
 

Licht durchflutete seine Höhle, als sich nach einer Ewigkeit die Decke hob und eine Welle von Düften mit sich brachte. Sein erster Instinkt war die Nase zu rümpfen. Er war weder sonderlich hungrig, noch triggerte die Mixtur an Gerüchen die Leere in seinem Magen. Bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, kitzelte etwas über seine Wange, das definitiv nicht zur Stimme passte, die gerade unter den Kokon linste. Koya blinzelte, die Augen schwer und verklebt vom ewigen Balanceakt zwischen Schlafmangel und trögen Schlummern. Seong-su hockte neben dem Bett, die Augen groß und hoffnungsvoll und mit ach so vielen Erwartungen.
 

„Wir…?“
 

Seine Stimme war rau vom zu trockenen Hals. Wahrscheinlich hatten die Brummlaute, die er in den letzten x Stunden ausschließlich zur Kommunikation genutzt hatte, auch ihr wesentliches beigetragen. Verschwommen stoben die Lippen des Jüngeren auseinander, scheinbar happy, dass sein hyung eine Reaktion gezeigt hatte. Bevor er allerdings antwortete, stupste ein feuchter Klecks gegen seine Stirn. Und noch einer. Und ein dritter.
 

Es dauerte viel zu lange, bis sich die Info durch die Zahnräder im Kopf durchgemogelt hatte. Dann jedoch drehte sich der Japaner mit einem erkenntnisreichen Stöhnen auf den Rücken und hob glucksend die Hände zum Gesicht. Kleine Echsenfüße kletterten über seine Finger, während sich Koya den letzten Rest Sand aus den Augenwinkeln rieb. Die feuchte Zunge fischte vergnügt nach Staubfuseln.
 

„Du hast mit Lurchi gekocht?“
 

Hättest du nicht gemusst, wollte er gerade noch anfügen, doch Seong-sus offensichtliche Verwirrung hielt ihn davon ab. Der Jüngere blinzelte, offenbar keinen blassen Schimmer, wie Koya auf die Idee kam, bevor er geradeheraus und hörbar stolz sagte:
 

„Nein, mit Kyu-hyung.“
 

Lethargie war überbewertet. Kein Quaffel der Welt hätte Koya schneller aus dem Fort locken können, wie Seong-su es gerade getan hatte. Den kleinen Salamander noch immer an der Hand klebend, stolperte der Jäger beinahe über die eigenen Füße in seiner Hast die Tür zum Wohnraum aufzureißen. Der extreme Geruch – jetzt ganz eindeutig mit bitterer Note – schlug ihm wie ein Schwall entgegen. Und tatsächlich – voll ausgerüstet mit Schürze und Kochlöffel in der einen und Stäbchen in der anderen Hand, stand Nam-kyu vor der Küchenzeile am anderen Ende des Raumes.
 

„Was— was machst du?!“
 

Der Jung-Nachkomme drehte sich zu ihm um, noch während Koya in großen Schritten die Distanz überwand. Das irritierte Blinzeln gefolgt von einem genauso irritierten Blick in seine Richtung und wieder zurück zum Topf hätten dem Japaner schon Aussage genug sein sollen. Trotzdem hing das what do you think, duh ungesagt in der Luft.
 

„Reis,“ war die simple Antwort des Erben, während er die Stäbchen mit Gewalt in eine undefinierbare, weiße Masse steckte.
 

„In der Pfanne?!“
 

„Wie denn sonst?!“
 

„Wir haben auch noch Ramyeon gemacht!“ Zwitscherte Seong-sus optimistische Stimme hinter ihm und weckte im Jäger die Angst sich weiter in der kleinen Küche umzusehen. Ein heilloses Durcheinander folgte. Kyu beharrte darauf seine Position am Herd zu verteidigen, egal wie sehr Koya darauf beharrte, dass es besser für alle beteiligten war, es nicht zu tun. Lurchi sprang von einem zum anderen, ergatterte braune Reisfetzen mit der Zunge, die in hohem Bogen wieder zurück in die Pfanne flogen. Seong-su schlug wahllos Rezeptideen vor, die entweder er oder Kyu negierten, sprang aber nach einem kurzen Moment der Enttäuschung umso enthusiastischer wieder auf den Zug auf.
 

Irgendwann ertönte ein müdes, aber kaum überhörbares Seufzen hinter den dreien auf, das im gesammelten Chaos beinahe unterging. Dann schlossen sich zwei Arme, vertraut und selbstverständlich, um seine Hüften.
 

„Ich hab‘ schon was bestellt.“



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