Prolog
Durchhängen. Fix und fertig sein. Depressionen haben. nicht mehr weiter wissen. Alle sein. Geistige, seelische und physische Erschöpfung.
Irgendwann erwischte eine solche Phase jeden. Selbst mich. Dann hatte ich nicht nur schlechte Haut und ungekämmtes Haar, nein – ich schaffte es sogar mit gesenktem Blick in den kleinen Supermarkt auf der anderen Straßenseite zu schlurfen. Und mein Anblick am Morgen, der gegen 14:00 Uhr stattfand, war wahrlich kein Vergnügen. Jedenfalls für meine Mitmenschen. Mehr als eine Jogginghose, ein ausgeleiertes und viel zu großes Shirt war einfach nicht drin. Sie konnten sich eigentlich glücklich schätzen, wenn ich zwei zusammenpassende Socken trug. Ein Hoch darauf, dass ich in einer großen Stadt wohnte. Ich war ein winziges Etwas, in einer viel zu großen Welt. Aber sowas kam nun mal vor, wenn man sein behütetes Dorfleben zurückließ, um erfolgreiche Medizinstudentin zu werden. Dumm nur, dass ich überhaupt nicht an der Universität aufgenommen wurde. Meine Anmeldung ging irgendwann verloren und ich musste mich nun mit Kellnerjobs über Wasser halten. Leider war ich nicht zur Kellnerin geboren. Ich stolperte ständig, zerbrach Tassen und Gläser oder im besten Falle warf ich dem Gast seine Nudeln über den Schoß. Und dank meiner temperamentvollen Ader, die ich eindeutig von meiner Mutter erbte, blieb nach einem emotionalen Wutausbruch des Kunden meiner selbstverständlich nicht aus. Das war wie Therapie. Aggressionsbewältigung. Statt auf einen Boxsack einzuschlagen, schrie ich die zahlende Kundschaft an. Selbstverständlich war mir im Nachhinein immer klar, dass das, was ich tat, definitiv nicht gerechtfertigt war. Aber wenn es einem Menschen schlecht ging, dann ging es einem schlecht. Und ich hatte keinerlei Probleme dazu zustehen. Nachdem ich also meinen vierten Kellnerjob und drei im Supermarkt an den Nagel hängen dufte (die Schuld wies ich den Genen zu), war ich seit zwei Monaten arbeitslos. Meine Ersparnisse sanken gegen Null, meine Eltern waren noch immer der Meinung ich würde gerade fleißig die Medizinbücher wälzen und mein Freund verließ mich vor drei Wochen für eine andere. Blond, groß und lange Beine. Die Wimpern waren ganz sicher nicht echt. Und ihr Busen ebenfalls nicht. Aber ihm gefiel das.
Mit missmutigem Gesicht stapfte ich über die Straße und ich stand noch nicht ganz auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, als ich fast von einem Radfahrer platt gewälzt wurde. Ich stieß ein hysterisches „Himmel“ hervor und ruderte wild mit meinen Armen um mein Gleichgewicht zu halten. Vom Auto überrollt zu werden war sicher nicht mein gewünschtes Ableben. Ich wollte zu gewisser Zeit einfach einschlafen und niemals wieder aufwachen. Ohne Schmerzen oder Qualen. Das Szenario, das sich in meinen Kopf schlich als ich um mein Leben kämpfte, hatte nichts mit ruhig in den Tod gleiten zutun. Ich sah vor meinem inneren Auge bereits das viele Blut auf dem Asphalt, panische Schreie der Zeugen und irgendwo schrillte die Fahrradklingel des Idioten, der sicher die Fahrerflucht vorzog, als sich mit einem Mord auseinanderzusetzen.
„Mach die Augen auf, du blinde Nuss!“, schrie ich erbost hinterher. Doch dieser einfältige Kerl parkte in aller Seelenruhe seinen bescheuerten Drahtesel am Radständer. Für einen kurzen Moment wuchs der Wunsch das dumme Ding zu klauen oder umzuschmeißen. Oder ich riss den Sattel raus und warf ihn auf die Straße. Ich würde den ganzen Tag hier stehen, bis ein LKW sich tatsächlich in diese Seitenstraße verfuhr und dieses Teil überrollte. Lieber den Sattel als mich.
Vielleicht hätte er mich gesehen, wenn ich mir das hautenge Dress angezogen hätte, das ich zum Abschlussball trug. Die Haare gekämmt und hochgesteckt und Rouge auf den Wangen. Möglicherweise wäre dann er der Schwerkraft zum Opfer gefallen, wenn ich den sündig-roten Lippenstift auf meine Lippen aufgetragen hätte. Ich grummelte über meinen eigenen Gedanken und zupfte an meinem Shirt. War da ein Loch im Stoff?
In das Kleid wäre ich sicher nicht mehr rein gekommen und falls doch hätte ich wohl eher einer Presswurst geglichen, als einer sexy und verruchten Frau. Außerdem müsste mein Haar mindestens fünfzehn Minuten den Conditioner begrüßen, ehe ich die ganzen Zotteln tatsächlich mit der Bürste durchbekam. Ich lachte beim Gedanken mir selbst Make Up aufzutragen. Womöglich wäre eher ein Panda als Endprodukt heraus gekommen, statt einer Femme Fatale. Meine Aufmerksamkeit legte sich auf den Idioten und sein bescheuertes schwarzes Haar, das in der fahlen Sonne tatsächlich glänzte. Es war kein schmieriges Schimmern. Vielmehr durch Pflege und der ein oder anderen Bekanntschaft einer Bürste. Ich hörte jede meiner Haarspitze voller Neid aufschreien und schnalzte mit der Zunge. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht als er voller Ignoranz an mir vorbei ging und in den Supermarkt schritt. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht, über die sich glatte, makellose Haut spannte. Sicher hätte dieser Schnösel viel Geld als Model für Pflegecreme-Werbung machen können. Ich folgte ihm naserümpfend und versuchte mir einzureden, dass der Duft von Zitronengras, der von ihm ausging, abscheulich roch. Er hatte ein breites Kreuz und eine schmale Taille, sodass selbst die schwarze Trainingshose und das Muskelshirt wie ein maßgeschneiderter Herrenanzug an ihm saßen. Ich erwischte mich kurz dabei, wie ich ihn mir mit Krawatte und dunkelblauem Hemd vorstellte. Wäre das Attentat nicht gewesen, hätte er durchaus in der Riege der potentiellen Kleiderschrankmänner aufsteigen können. Selbst mit seinen Sportklamotten. Ob ihm bewusst war, dass er mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze durch den Laden ging? Hah. Ich lachte über mich selbst und beschloss mich von ihm abzuwenden. Der Wunsch ihn lauthals vor allen anzubrüllen verpuffte immer mehr. Ich war das hässliche Entlein, dem beim Anblick des Schwans womöglich die Spucke weg blieb.
Meine Laune stieg, als ich den Erdnussbutterschokoriegel von weitem bereits im Regal liegen sah. Ganz unten, aber für mein Frühstück tat ich alles.
„Hallo, mein Hübscher“, begrüßte ich den Riegel. Ich kniete mich hin, griff nach der Packung und stand mit einem Ruck wieder auf. Dass ich dabei mit einer menschlichen Wand hinter mir kollidierte, war sicher nicht geplant. Warmer Atem pustete in meinem Nacken und sorgte dafür, dass sich die feinen Härchen aufstellten. Zitronengras umhüllte mich und ich stoß ein wenig damenhaftes „Umpf“ aus.
„Können Sie nicht aufpassen?“
Ich drehte mich um. Es passierte nicht oft, aber mein Gesicht glich in diesem Moment einer reifen Tomate. Mit einer lässigen Bewegung zog sich der Typ einen Stöpsel seines IPods heraus. Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Attentäterchen sollte möglicherweise doch in den Schrank.
Sein Ausdruck wurde ungeduldig, als wartete er tatsächlich auf eine Entschuldigung.
Ich öffnete den Mund, hielt für eine Sekunde inne und hätte mich für meinen Satz am liebsten selbst geohrfeigt.
„Ich bin knallrot.“ Ja, meine kommunikativen Fähigkeiten schienen unter meinem Durchhänger offensichtlich zu leiden.
Er runzelte die Stirn, ehe er den Kopf schüttelte und tatsächlich an mir vorbei schritt. Den abschätzenden Millisekundenblick, den er über meine Person gleiten ließ, blieb mir ganz und gar nicht verborgen.
Ich brauchte nur kurz, um mich wieder zu fangen und stapfte ihm wutentbrannt hinterher.
„Hey, Sie da“, keifte ich. „Sie hätten mich fast umgebracht!“
Er warf einen Blick über seine Schultern und schmunzelte. „Ich bin untröstlich.“
Die Furie in mir erwachte zu neuem Leben. Die hatte ich das letzte Mal bei meinem Exfreund erlebt, als er mir eröffnete, dass er mit Barbie zusammenzog. In unserer Wohnung. Die ich eingerichtet hatte.
„Sie… Sie… Ar–“
Er stoppte und starrte mich an. Dieser Blick war minimal einschüchternd.
Vielleicht sogar extrem einschüchternd. Vielleicht aber doch nicht. Irgendetwas an ihm ließ mich mutig werden. Ich hatte einen Durchhänger. Ich durfte mich bemitleiden, andere Menschen durften mich angewidert anschauen. Sie durften mich übersehen und ignorieren.
Das wollte ich aber nicht mehr. Ich wollte gesehen werden.
„Helfen Sie mir.“
Seine Augenbraue wanderte in die Höhe, während ich die Arme in die Hüfte stemmte.
"Wie bitte?" Hatte ich erwähnt, wie melodisch seine Stimme klang?