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La Vie de Fayette

Beloved Enemies
von

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My Crazy Family

Manche Familien sind nicht gerade das, was man direkt als Standard bezeichnen würde. Es gibt Patchworkfamilien, Adoptivfamilien, Pflegefamilien, Familien mit zwei Vätern oder zwei Müttern oder Familie ohne Vater und Mutter und dafür mit anderen Familienteilen. Dann aber gibt es auch die Alternative, dass es nur einen Elternteil gibt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man ein „Reagenzglaskind“ ist, oder wenn es zum unangenehmen Fall einer Trennung kommt. Entweder weil eine Scheidung im Raum steht, weil ein Elternteil nicht mehr lebt oder weil es im Knast sitzt.

Meine Familie setzte aus meiner Mutter Rebecca, meiner Schwester Emily und meiner Wenigkeit zusammen. Unsere Familie war seit dem Auszug unseres Vaters etwas zu klein für dieses große Haus, in welchem wir schon seit meiner Geburt wohnten und meist füllten wir diese Leere mit Besuchen, die meist durch meinen Sandkastenfreund Seth erfolgten, den meine Mutter quasi „adoptiert“ hatte. Darum war das Erste, was ich sah, als ich in die Küche kam, das übliche Trio, welches mich unisono begrüßte. Und ehrlich gesagt war ich selten froher als heute über dieses Bild. Vor allem nachdem in der Uni wieder diese unangenehme Geschichte wieder hochgekommen war und ich mich deshalb eh schon ziemlich bescheiden fühlte. Vor allem, nachdem ich mir heute zig Standpauken vom Feldwebel abholen durfte. Nachdem ich meine Tasche achtlos in die Ecke meines Zimmers geworfen hatte, steuerte ich direkt die Küche an und setzte mich an den Tisch, wo es gerade Mums berühmten Apfelkuchen gab.

„Du siehst ziemlich fertig aus, Fay“, bemerkte Seth besorgt, als er mich sah. „Geht es dir nicht gut?“

Seth war wirklich der beste Freund, den man sich nur wünschen konnte. Er war fast schon wie ein großer Bruder für mich und wir kannten uns schon seit wir klein waren. Deshalb gehörte er schon fast zur Familie und jetzt, nachdem er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hatte, umso mehr. Der Grund für sein schwieriges Verhältnis zu seine Familie war einfach der, weil sie als konservative Menschen nicht akzeptieren konnten, dass Seth schwul war. Dabei war er nicht mal tuntig, so wie man sich einen Schwulen zunächst vorstellen würde. Er war ein aufmerksamer Zuhörer, ruhig, sehr gefestigt und er war sehr hilfsbereit und freundlich. Zwar sah er nicht extrem männlich wie ein Holzfäller aus, aber er hatte dennoch eine gewisse Anziehungskraft auf die Frauenwelt. Meist war er ein ruhiger und entspannter Zeitgenosse mit einer stets objektiven Sichtweise, aber er neigte auch dazu, auch mal ganz klar zu sagen, was Sache war und das zeichnete ihn auch ein Stück weit aus. Aber sonst würde man nicht direkt auf dem ersten Blick erkennen, dass er schwul war. Er achtete nicht übertrieben auf sein Äußeres und redete auch nicht so tuntig oder fing an, zur Maniküre zu gehen oder sich die Augenbrauen zu zupfen. Er trainierte ab und zu mal im Fitnessstudio, um sich fit zu halten und er schaute auch gerne Football. Dennoch hatte es schon recht früh gewisse Anzeichen für seine Homosexualität gegeben, die mir als sein bester Freund nicht verborgen geblieben waren. Und das war einfach die Tatsache gewesen, dass Seth überhaupt kein Interesse an der Frauenwelt zeigte und statt in einem Playboyheft in einem Männerwäschekatalog geblättert hatte. Und anstatt unserer Französischlehrerin aufs Dekolleté zu starren, hatte er dafür den Junge auf den Hintern gestarrt. Darum war es für mich nicht ganz so überraschend gewesen, als er mit 16 Jahren sein Coming-Out hatte und endlich den Mut fand, mit offenen Karten zu spielen. Er war sowieso nicht der Typ, der anderen irgendetwas vormachte, dazu war er einfach zu ehrlich. Ich wusste von meiner Mutter schon, wie schwer es für Homosexuelle war, diesen Schritt zu wagen und ihrer Familie und ihren Freunden die Wahrheit zu sagen. Die Angst vor der Ablehnung war eben auch sehr groß. Und deshalb hatte ich Seth wirklich bewundert, dass er trotzdem den Mut gefunden und auch zu seiner Sexualität gestanden hatte. Aber leider hatte kaum jemand mit Begeisterung reagiert. Seine Eltern hatten es nicht wirklich akzeptieren können und konnten auch nicht damit leben, woraufhin Seth mehr und mehr in der Familie ausgegrenzt wurde. Natürlich auf rein unterschwelliger Ebene. Auch viele seiner Freunde waren ihm daraufhin aus dem Weg gegangen, was für mich genauso unverständlich war. Es mochte an der sehr aufgeschlossenen und toleranten Erziehung meiner Mutter liegen, aber ich sah keinen Grund, mich von Seth zu distanzieren. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und auch wenn Seth jetzt ganz offiziell schwul war, so war er immer noch mein bester Freund. Es war ja nicht so, dass er mit einem Male ein völlig anderer Mensch war. Nein, er war immer noch derselbe Seth, den ich seit Jahren kannte. Und ich war auch der Meinung, dass insbesondere Eltern ihr Kind dann auch weiterhin lieben sollten, selbst wenn es sich in eine Richtung entwickelte, mit der man vielleicht nicht ganz einverstanden war. Denn das machte doch erst die Liebe einer Familie aus. Aber leider sah die Realität nun mal aus, dass das Leben nicht so perfekt verlief, wie man es vielleicht gerne hätte. Ansonsten wären meine Eltern immer noch verheiratet und mein Vater wäre nicht mit seiner Affäre durchgebrannt und würde wenigstens mal zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten anrufen.

Jedenfalls war für mich klar gewesen, dass ich nach Seths Coming-Out erst recht für ihn da sein musste. Insbesondere weil der Kontakt zu seiner Familie fast vollständig abgebrochen war und er fast alle seine Freunde von damals verloren hatte. Und meine Mutter sah das genauso. Darum sagte sie ihm immer wieder, dass er hier bei uns jederzeit Willkommen wäre und wir für ihn da wären. Wahrscheinlich war es auch das, was ihm wirklich Kraft gab. Selbst meine Schwester Emily hing sehr an ihn und bezeichnete ihn oft gerne als großen Bruder. Sehr zu meinem Leidwesen, da sie es liebte, mich damit zu ärgern, indem sie mich als große Schwester bezeichnete. Kleine Schwestern konnten es aber auch wirklich faustdick hinter den Ohren haben. Vor allem aber wenn es um das Thema Homosexualität ging. Es war ja nicht nur so, dass meine Mutter fast schon übertrieben tolerant war und meinte, sie müsste alle Homosexuellen retten, nein meine Schwester hatte sie damit auch schon angesteckt. Vor kurzem hatte Emily nämlich durch eine Freundin in der Schule ihre Liebe zu Shonen-Ai Mangas entdeckt. Am Anfang waren es ganz einfache Romanzen, die meist von Schülern handelten, die erst befreundet und dann ineinander verliebt waren. Ich hatte sie mir nur mal kurz angesehen und nichts Bedenkliches feststellen können, außer dass diese japanischen Comics seltsamerweise von hinten nach vorne gelesen wurden und alle Seiten schwarzweiß waren. Aber inzwischen las sie Sachen, wo ich mich wirklich fragte, ob sich Mum nicht langsam mal Sorgen machen und ein ernstes Wörtchen mit ihr reden sollte. Allein schon weil ich letztens in ihr Zimmer reinkam und das laute Lustgestöhne zweier Männer hörte, die irgendetwas Japanisches sagten. Wie sich herausstellte, hörte sich meine Schwester schon so genannte Shonen-Ai Drama CDs an, die allesamt Sexszenen beinhalteten. Und sie hatte letztens einen Manga gelesen, indem es sogar zu Bondage kam und alles komplett unzensiert war. Und sie war erst 16 Jahre alt. Die Mangas, die übrigens erst ab 18 Jahren freigegeben waren, bekam sie alle von einer Freundin, die schon volljährig war. Ich hatte schon mal mit Mum gesprochen, aber die nahm es ganz gelassen hin. Stattdessen meinte sie sogar „Ach ich hab nichts dagegen, wenn du auch so etwas lesen würdest.“ Womöglich war ich paranoid, aber das war doch eindeutig eine unterschwellige Aufforderung ihrerseits gewesen, mich näher mit diesem Thema zu beschäftigen.

Inzwischen war ich mir sicher, dass sie mir allein deshalb einen Mädchennamen gegeben hatte: entweder weil ich schwul werden sollte, oder weil sie damit bewirken wollte, dass ich mich auch irgendwann wie ein Mädchen fühle und mich dann einer Geschlechtsumwandlung unterziehe. Meine Mum war zwar eine wunderbare Mutter, aber was dieses Thema betraf, so war ihr verdammt viel zuzutrauen.
 

Nachdem ich mir ein Glas Orangensaft eingeschüttet hatte, seufzte ich leise und fuhr mir müde durchs Haar.

„Ich hab verschlafen, der Feldwebel hat mich zusammengestaucht und die halbe Uni weiß von dem Vorfall mit Katherine Bescheid. Und nicht wenige ziehen mich jetzt damit auf oder lachen mich aus.“ Seths mitleidiger Blick hinterließ sofort den bitteren Beigeschmack einer Tatsache, dass ich auch bemitleidenswert war. Das mochte vielleicht so sein, aber ich hasste es, bemitleidet zu werden. Ich wollte auch nicht länger darauf herumreiten und das Thema noch breiter treten. Nein, ich hatte jetzt endlich Feierabend und da wollte ich auch mal über etwas anderes reden. Und das merkte auch Seth, weshalb er auch nicht näher darauf einging. Stattdessen räusperte ich mich und fragte ihn „Wie ist eigentlich dein Date mit Raphael verlaufen? Meinst du, da wird mehr draus?“

Es war für mich am Anfang etwas schwierig gewesen, mit Seth über seine Beziehungen zu sprechen. Ich konnte mir so etwas eben einfach kaum vorstellen, aber mit der Zeit hatte ich gelernt, besser damit umzugehen und wenn man oft darüber sprach und locker damit umging, dann schwand auch diese Hemmschwelle, die einen daran hinderte. Außerdem war Seth mein bester Freund und es lag mir auch sehr am Herzen, dass er glücklich war und er hatte es verdient, genauso glücklich zu werden wie alle anderen. Zwar hatte Seth oft genug betont, dass ich nicht extra für ihn über solche Themen sprechen musste, aber es war auch ein Stück weit mein Wunsch gewesen. Denn es gehörte auch zu einer guten Freundschaft dazu, über Beziehungen zu reden, selbst unter Männern. Und wenn dann der beste Freund eben schwul war, dann musste man sich an so etwas gewöhnen. Inzwischen hatte ich eigentlich überhaupt keine Probleme mehr damit, wenn Seth mir über seine Dates und Beziehungen berichtete. Solange er keine Details nannte, was den Sex anbelangte, konnten wir über alles reden.

„Es ist ganz gut gelaufen“, antwortete er schließlich und sein Lächeln zeigte ganz eindeutig, dass er ziemlich verliebt war und sich große Hoffnungen machte. „Am Sonntag treffen wir uns und gehen dann im Anschluss zu ihm.“

„Wollt ihr etwa…“ Als Emily registrierte, was mein bester Freund damit andeuten wollte, wurden ihre Augen groß und als sie ein bestätigendes Nicken bekam, da konnte sie ihre Freude kaum zurückhalten. Sie jubelte regelrecht, stand auf und umarmte ihn stürmisch. „Oh das ist ja toll, Seth. Ich freu mich ja so für dich. Erzähl mal, wie ist er denn so?“

„Er ist groß, er trainiert viel… er hat ein paar Tattoos auf den Armen und ist gebräunt.“

„Und hat er ein Sixpack?“ hakte meine Schwester neugierig nach und als ein Nicken meines besten Freundes zur Antwort kam, konnte ich mir vorstellen, wie dieser Raphael aussah. Genau wie die Art von Typ, von der ich nur träumen kann, selbst einer von ihnen zu sein… Ich stellte mir bildhaft so einen Mann vor, der vielleicht noch etwas Südamerikanisches hatte und musste selbst als Hetero zugeben, dass mein bester Freund echt Geschmack hatte, was die Männer betraf. Und bei dem Gedanken, wie verliebt Seth gerade war, konnte ich mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen und hob daraufhin mein Glas wie zum Anstoß. „Na da drücken wir dir mal die Daumen, dass es auch funktioniert.“

„Wo hast du deinen Freund denn eigentlich kennen gelernt?“ fragte meine Mutter sofort nach und ich ahnte schon, was sie mit dieser Frage bezweckte. Seth hingegen würde meiner Mutter nie irgendwelche Hintergedanken zutrauen, da sie in seinen Augen die absolute Traummutter war und gab natürlich sofort Auskunft.

„Wir haben uns im Chat kennen gelernt.“

„Und wie heißt die Seite?“ hakte sie weiter nach und ihr Blick verriet ganz deutlich, dass sie nicht grundlos nachfragte. Aber auch das irritierte ihn nicht und er antwortete auf seine typische ehrliche Art „Die Seite hieß Romeo Loves Jules.“

Und wie nicht anders zu erwarten war, wandte sich meine Mutter mir zu und hatte diesen erwartungsvollen Blick, als hoffte sie nur darauf, dass ich mich gleich an den Computer setzen und nach dieser Seite suchen würde.

„Hast du gehört, Schatz? Die Seite heißt Romeo Loves Jules. Wenn du mal Zeit hast, kannst du dir das ja gerne mal ansehen. Wäre doch interessant, oder?“

Ich gab nur ein Seufzen von mir und erwiderte darauf „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich hetero bin und nicht auf Kerle stehe?“ Doch in diesem Moment hob Emily den Blick von ihrem Manga und kommentierte ganz unverfroren „Also ich finde, du und Seth würdet ein süßes Paar abgeben.“

Damit platzte mir der Kragen und ich versuchte ihr klarzumachen, dass Seth und ich bloß Freunde seien und zwischen uns nie etwas laufen würde. Und was tat mein bester Freund? Der kriegte sich vor Lachen kaum ein. Dabei lachte er nicht mal wegen der Vorstellung, wir zwei würden etwas miteinander haben, sondern weil Emily so direkt über solche Themen sprach und das mit solch einer Unverfrorenheit, die schon kriminell war. Wütend funkelte ich zu meiner Mutter herüber, die fröhlich lächelte und wahrscheinlich denselben Gedankengang hatte wie meine Schwester.

„Mum, du hast sie echt verdorben“, knurrte ich missmutig und aß mein Stück Apfelkuchen. „Und hört gefälligst auf, mich mit Seth verkuppeln zu wollen.“

„Aber Schatz, wir wollen doch nur, dass du weißt, dass es für uns kein Problem wäre, wenn du schwul wärst.“

Das sagte sie immer wieder. Fast jeden Tag, so als warteten sie nur auf mein Coming-Out, was aber niemals erfolgen würde. Aber meine Mutter wusste alles besser und meine 16-jährige Schwester ließ sich da auch nichts sagen. Wirklich schlimm war es eigentlich geworden, nachdem sich unsere Eltern getrennt hatten. Dad war ein notorischer Fremdgeher gewesen und hatte Mum schließlich für eine blonde Masseuse verlassen. Wahrscheinlich war es auch eine Kellnerin… so wirklich kann ich mich nicht mehr daran erinnern, weil er sie kurz darauf wieder verlassen und mit Mums ehemals bester Freundin durchgebrannt war. Für unsere Mutter war dies einer der schwersten Momente in ihrem Leben. Nicht nur, dass sie nach so vielen Jahren Ehe knapp zwei Jahre lang mit irgendeiner dahergelaufenen Masseuse oder Kellnerin betrogen wurde. Nein, er behandelte sie dann auch noch wie ein Fußabtreter und wir waren einfach abgeschrieben. Vor allem, als auch noch Mums beste Freundin Debbie von ihm schwanger wurde. Schlimmer hätte es sie echt nicht treffen können und sowohl Emily, ich als auch Seth waren für sie da gewesen und inzwischen ging es ihr wieder richtig gut. Ja sie überlegte sogar, ob sie sich nicht vielleicht wieder mit Männern treffen sollte. Mir konnte es nur recht sein. Vielleicht hörte sie ja dann auch endlich mal auf, mich verschwulen zu wollen.
 

„Sag mal Fay, hast du eigentlich noch mit Katherine gesprochen?“ fragte Seth nach einigem Zögern und wahrscheinlich war er sich auch nicht sicher gewesen, ob er mir die Frage stellen sollte oder nicht. Wohl aus Rücksicht auf meine Gefühle. Zugegeben, ich wollte auch nicht mehr darauf angesprochen werden, aber Seth konnte ich sowieso nie nein sagen. Nicht mal, als er mich gebeten hatte, ihn mal in eine Schwulenbar zu begleiten, weil er nicht ohne Begleitung hingehen wollte. Was machte man nicht alles für seine Freunde…

„Nein, ich bin ihr aus dem Weg gegangen“, antwortete ich und fühlte wieder diesen schmerzenden Stich in der Brust und hätte am liebsten geheult. Es tat mir so weh, dass das zwischen uns nicht geklappt hatte, aber solange ich dieses verdammte Ohnmachtsproblem nicht im Griff hatte, würde es immer darauf hinauslaufen, dass meine Beziehungen scheiterten.

„Was hätte ich ihr denn auch sagen sollen? Wir hatten schon lang und intensiv miteinander gesprochen und ich wollte nicht, dass sich die anderen noch über sie lustig machen. Sie kann ja wohl am allerwenigsten dafür. Und ich glaube, es war ihr ebenso unangenehm wie mir.“

Allein wenn ich daran zurückdachte, wie besorgt sie mich angesehen hatte, schnürte es mir die Brust zu. Ich war wirklich verliebt in sie, aber konnte einfach nicht vernünftig mit ihr zusammen sein. Nicht wenn ich immer wieder Ohnmachtsanfälle bekam, wenn es zum Kuss kam. Und insbesondere nicht, wenn ich gerade mal die absoluten Mindestanforderung für einen richtigen Mann erfüllte. Liebeskummer war echt beschissen. Vor allem wenn man selber dafür verantwortlich war.

„Schon schade, dass es nicht geklappt hat“, meinte Emily schließlich. „Ich fand sie ganz nett. Natürlich ist es scheiße, dass du sofort beim Küssen umkippst, aber deswegen gleich mit ihr Schluss zu machen, ist doch etwas übertrieben, findest du nicht?“

„Vielleicht war sie ja auch nicht die Richtige“, kam es von meiner Mutter, die nun damit beschäftigt war, schon mal den Salat fürs Abendessen vorzubereiten. Da Seth wohl bei uns bleiben würde, bereitete sie noch eine vierte Portion vor. Er kam immer zum Essen und meiner Mutter war das nur recht. Nachdem er zu seiner Familie keinen Kontakt mehr hatte, war er froh, dass meine ihn mit offenen Armen aufnahm und das trotz der Tatsache, dass er schwul war. „Es kann ja sein, dass es einfach nicht die große Liebe war. Wer weiß…“

Ich wusste ja, dass Mum es nur gut meinte, aber bei ihr hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie damit nur wieder etwas anspielen wollte.

„Ich hab sie geliebt“, rief ich und kam mir irgendwie so vor, als müsste ich mich vor den anderen rechtfertigen. „Aber nach meinem Zusammenbruch in der Mensa will ich nicht, dass sie Probleme kriegt und wie soll eine vernünftige Beziehung klappen, wenn ich bei so etwas direkt aus den Latschen kippe?“

„Vielleicht solltest du mal zum Arzt oder zum Psychologen“, schlug Seth nun vor. „Ich meine… das ist doch nicht normal.“
 

Als ob bei mir auch nur irgendetwas normal wäre, dachte ich mir. Im Grunde hatte er ja Recht und ich sollte vielleicht mal darüber nachdenken, ob das nicht eventuell ein psychisches Problem bei mir war. Ich war schon deswegen beim Arzt gewesen, nachdem ich vor knapp elf Jahren das erste Mal zusammengebrochen war. Man vermutete niedrigen Blutdruck als Ursache und auch im Laufe der Jahre wurde ich immer wieder darauf untersucht, aber gesundheitlich war mit mir alles in Ordnung. Naja fast, wenn man winzige Kleinigkeiten ignorierte, die aber nicht weiter erwähnenswert waren, dann war ich kerngesund. Trotzdem wurde mir jedes Mal sofort schwarz vor Augen, wenn ich jemanden küsste oder umgekehrt. Allerdings hing es auch stark von der Art des Kusses ab. Im Grunde waren es immer Küsse auf den Mund, bei denen mein Körper komplett versagte. Wann genau es angefangen hatte, konnte ich nur spekulieren. Das erste Mal war mit 12 oder 13 Jahren gewesen, als ich Cindy Albert aus der Parallelklasse geküsst habe, nachdem ich ihr meine Liebe gestanden hatte.

„Der Arzt hat gemeint, es wäre alles in Ordnung mit mir und ich sehe auch keinen Sinn darin, mich von einem Seelenklempner untersuchen zu lassen. Ich bin doch nicht verrückt.“

„Das hat ja auch niemand gesagt“, erwiderte Seth beschwichtigend. „Aber es kann doch sein, dass dich irgendetwas belastet. Von alleine wird dein Problem ja wohl nicht gekommen sein und womöglich kann ein Psychologe dir auch helfen, was deine Komplexe betrifft.“

„Ich hab keine Komplexe“, grummelte ich und legte den Kopf auf die Tischplatte, wusste aber, dass ich niemandem etwas vormachen konnte. Ja verdammt, ich hatte ziemliche Komplexe aufgrund meines Aussehens. Ich hatte einfach Angst davor, niemals als Mann wahrgenommen zu werden und immer nur ein Mischwesen aus Mann und Frau zu sein. Und ich wusste auch, dass es ungesund war, nicht mit sich selbst zufrieden zu sein.

„Mich nervt nur die Tatsache, dass ich offenbar zu viel Östrogen im Körper habe. Vielleicht sollte ich mal etwas mehr Sport machen. Womöglich kann ich so genug Muskeln aufbauen, dass ich auch endlich mal vernünftige Klamotten tragen kann.“

„Ach ich finde, du siehst auch so ganz toll aus“, kam es von Emily und auch wenn ich wusste, dass es wirklich sehr lieb gemeint war von ihr, so konnte ich es ihr in diesem Moment einfach nicht glauben. „Es gibt viele androgyne Männer, die absolut toll aussehen und die auch stolz darauf sind. Viele von ihnen sind zum Beispiel Models.“

„Was dir einfach fehlt, ist ein bisschen mehr Selbstwertgefühl“, mischte sich nun meine Mutter ein, die nun damit begann, Pinienkerne in einer Pfanne anzurösten. „Es verlangt doch niemand von dir, wie ein Bodybuilder auszusehen. Und wenn du etwas für deinen Körper tun willst, kannst du ja ins Fitnessstudio gehen. Ich glaube der Grund, warum du keine Beziehung dauerhaft halten kannst, liegt einfach darin, weil du dich nicht selbst liebst und dir selbst im Weg stehst.“ Ich seufzte genervt, weil ich im Moment wirklich keine Lust hatte, darüber zu sprechen.
 

Nachdem ich meinen Apfelkuchen aufgegessen hatte, stand ich auf und ging in mein Zimmer. Wenigstens war dieses nicht mädchenhaft, so wie der Rest an mir. Ich hatte ein Doppelbett, was aber auch daran lag, weil ich es liebte, mich möglichst auszustrecken. In meinem Regal fanden sich diverse CD-Alben, angefangen von Green Day, Linkin Park und Simple Plan bis hin zu Get Scared und Mindless Self Indulgence. Meine Raufasertapete war in einem warmen und hellen Türkis gestrichen und es fanden sich einige Poster von meinen Lieblingsspielen wieder. Auch wenn ich nicht danach aussah, ich zockte auch ganz gerne. Entweder saß ich dafür an der Playstation, oder aber am Computer. Meist waren es ganz einfache Ego-Shooter oder Beat ’em Up Games, wie zum Beispiel Call of Duty oder Tekken. Vorletztes Jahr hatte ich noch leidenschaftlich das Newcomer-Onlinespiel Extend Gear gespielt und auch an der Weltmeisterschaft teilgenommen. Aber gegen den Grim Reaper von Eren Gale Verice war ich nicht angekommen und hatte es letzten Endes nur auf Platz 37 geschafft. Ab und zu spielte ich mit Eren, der ein wahres Genie in Online-Games war, irgendwelche Ego-Shooter, aber ansonsten hatte ich meine Spielzeiten aufgrund des Studiums immer weiter reduziert. Es lag aber auch ein Stück weit daran, weil ich zwischendurch im Blumenladen aushalf, der Seths Tante gehörte und bei dem mein bester Freund auch fest arbeitete. Dabei verdiente ich eigentlich kaum etwas, aber es war für mich eine freiwillige Hilfe, weil ich Rachel sehr mochte und wusste, dass sie nicht mehr so gut arbeiten konnte, seitdem sie einen Bandscheibenvorfall erlitten hatte. Und ihre andere Angestellte war derzeit im Mutterschaftsurlaub und Seth konnte die ganze Arbeit kaum alleine bewältigen. Also kam ich immer wieder vorbei, wenn es stressig wurde und erledigte kleine Arbeiten.

Müde ließ ich mich aufs Bett fallen und hatte das Gefühl, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Außerdem fühlte ich mich völlig antrieblos und hätte mich am liebsten sofort schlafen gelegt, da öffnete sich die Tür und Seth kam herein. Seine sanften und dennoch so tiefgründigen dunkelbraunen Augen hatten etwas sehr Warmherziges und Beruhigendes an sich.

„Die Trennung geht dir ziemlich nah, oder? Hör mal, ich kann verstehen, wenn ihr noch nachtrauerst. Aber du darfst dich nicht davon runterziehen lassen, okay?“ Damit setzte er sich zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wenn es mit euch beiden nichts mehr wird und du es dir nicht noch mal überlegen willst, solltest du auf andere Gedanken kommen, bevor du noch in ein emotionales Tief fällst.“

Das wusste ich ja auch, aber ich hatte einfach keine Lust. Meine gute Laune war meine Motivation suchen gegangen und jetzt waren beide weg. Ich wollte einfach nur im Bett bleiben und morgen genauso. Hauptsache, ich musste Katherine nicht mehr sehen, geschweige denn, den blöden Feldwebel nicht mehr ertragen.

„Wie wäre es denn, wenn wir morgen Abend mal wieder richtig rausgehen? Das hatten wir schon lange nicht mehr und dann kommst du auch auf andere Gedanken.“ Rausgehen? In Seths Fall hieß es, dass er vorhatte, einen Club besuchen zu gehen.

„Das ist jetzt aber nicht schon wieder eine Schwulenbar, oder?“ fragte ich misstrauisch, woraufhin Seth wieder lachen musste. Normalerweise würde ich auch so einen Schuppen nie im Leben aufsuchen und ich hatte es auch nur Seth zuliebe gemacht, weil er nicht alleine hingehen wollte und sonst niemanden gehabt hätte, der freiwillig mitgegangen wäre. Und als Heterosexueller von mehreren warmen Brüdern angebaggert zu werden, war weiß Gott kein Vergnügen für mich.

„Nein, es ist ein ganz normaler Club“, versicherte er mir und da ich ihn schon seit dem Kindergarten kannte, glaubte ich ihm auch. Normalerweise hätte ich mich zu einem Clubbesuch auch sofort einverstanden erklärt, aber meine Stimmung war wegen Katherine sowieso momentan auf dem absoluten Tiefpunkt. Nicht zuletzt wegen dem Spott meiner Kommilitonen.

„Und wie heißt der Club?“

„Das ist das Black Amethyst“, antwortete Seth mit einem leicht amüsierten Lächeln, denn es war allzu offensichtlich, dass er sich einen Spaß mit mir erlaubte.

„Haha, sehr witzig“, grummelte ich und verpasste ihm einen leichten Schlag gegen den Oberarm. „Das ist doch auch so eine Schwulenbar. Jetzt mal im Ernst…“

„Schon gut… ich hab ja nur Spaß gemacht. Erinnerst du dich noch an den Club Moonflower?“

Moonflower? Da dämmerte doch etwas, aber gerade kam ich einfach nicht drauf, weshalb Seth mich mal näher aufklären musste.

„Wir waren doch zur großen Eröffnung dort gewesen. Weißt du, Raphael arbeitet dort als Barkeeper und dort habe ich ihn kennen gelernt.“

Aha, so war das also. Ich funkelte meinen besten Freund misstrauisch an und setzte mich auf.

„Du willst doch sicherlich nur hin, um wieder mit ihm herumzuturteln, nicht wahr? Und jetzt wag es bloß nicht, das abzustreiten! Ich sehe doch ganz deutlich, dass du genau das vorhast, du Arsch!“

Hieraufhin wusste mein bester Freund nicht mehr, was er dazu noch sagen sollte. Aber er musste mir dann doch Recht geben, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, um seinen Schwarm wiederzusehen. Nicht, dass ich ihm das nicht gönnte, aber wenn man sich selber gerade von seiner Freundin getrennt hatte und darunter noch litt, dann war man natürlich erst mal sauer. In diesem Moment hatte Seth wirklich nicht sonderlich viel Feingefühl.

„Ich werde ja nicht die ganze Zeit mit ihm verbringen. Aber da wir zusammen sind, komme ich ohne Probleme in den Club rein. Und ein bisschen feiern lenkt dich auch von deinem Liebeskummer ab. Na was ist? Dann machen wir zwei einen drauf, so wie in der Schule. Was hältst du davon?“

Feiern wie zu Schulzeiten und einfach mal den ganzen Ärger und Frust vergessen? Ja, der Gedanke war gar nicht mal so schlecht und sofort war mein anfänglicher Ärger wieder verflogen. Auch wenn ich immer noch vollkommen demotiviert und niedergeschlagen war, so stimmte mich die Aussicht auf eine ausgelassene Partynacht doch deutlich besser.

„Ja, die Idee ist nicht schlecht. Dann lass uns wieder einen draufmachen, so wie in der High School. Aber spar dir das Geturtel mit deinem Freund für später auf, ja?“

Seth versprach es mir hoch und heilig und damit war ich zufrieden. Nachdem das geklärt war und wir noch etwas Zeit hatten, schaltete ich die Playstation ein und zusammen spielten wir ein paar Runden Dead or Alive, wobei mich mein bester Freund aber gnadenlos abzockte, weil er schon damals immer der bessere Spieler von uns war. Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß und erzählten uns, während wir unsere Finger über die Controllertasten springen ließen, irgendwelche Sachen, die noch nicht mal eine tiefere Bedeutung hatten. Welche Spiele wir gezockt oder welche Filme wir uns angesehen hatten, was wir Neues in unseren Lieblingsforen erfahren hatten. Ein einfacher Austausch unter Freunden und ich war froh über diese Abwechslung. Bei Seth hatte ich das Gefühl, dass ich mich immer bei ihm ausheulen konnte und er würde doch immer da sein. Dafür schätzte ich ihn wirklich und es bewies auch, wie sehr wir eigentlich einander als Freunde brauchten. Er schaffte es immer, mich von meinen Selbstzweifeln runterzubringen und er fand bei mir und meiner Familie immer Zuflucht, wenn er sich nach der Aufmerksamkeit einer Familie sehnte und fand hier vor allem Akzeptanz und Verständnis.

Nachdem seine Eltern den Kontakt zu ihm mieden, seit er sein Coming-Out hatte, fehlte ihm seit knapp neun Jahren diese familiäre Zuwendung. Ich war zwar nicht direkt dabei, aber es hing der Verdacht im Raum, dass Seths Vater ihn im Streit sogar geschlagen hatte. Wahrscheinlich wäre Seth an diesem Bruch mit seiner Familie noch zerbrochen, wenn Mum, Emily und ich nicht da gewesen wären, um ihn aufzufangen. Eine Zeit lang hatte er sogar bei uns gewohnt, bis er alt genug war und sich ein Zimmer gemietet hatte. Inzwischen hatte er eine kleine Zweizimmerwohnung über dem Blumenladen seiner Tante. Meine Mutter mochte zwar etwas durchgeknallt sein, weil sie ständig versuchte, mir einzureden, ich sei vielleicht doch schwul. Und meine Schwester war da auch nicht besser. Aber letzten Endes war es ihrer Einstellung zu verdanken, dass mein bester Freund sich nicht ganz allein und verlassen fühlen musste.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich liebe ja Anspielungen auf andere Fanfictions von mir und gebe meinen Charakteren auch gerne mal einen kurzen Auftritt. Und auch hier verbirgt sich einer: Eren Gale Verice. Dieser ist nämlich niemand anderes, als die weibliche Hauptfigur Alice Evergreen aus meiner gleichnamigen Fanfiction, die ich leider nie ganz beenden konnte. Eren Gale Verice ist ein Anagramm und ihr Deckname in der Online-Welt, da sie leidenschaftlich Ego-Shooter spielt, von den Jungs aber nie ernst genommen wird, weil sie ein 15-jähriges Mädchen ist. Also gibt sie sich als Junge aus und spielt ihre Rolle perfekt. Alice ist ein sehr freches Mädchen, ist aber durch eine schwere Stimmbandverletzung stumm und linksseitig blind und taub. Dennoch ist sie nicht auf dem Mund gefallen. Ihr Lieblingsspruch: Rache ist Blutwurst. Komplett anzeigen

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