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Briefe an dich

von

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... zurück ...

Donnerstag. Heute war Donnerstag und am Montag sollte er in die Reha fahren, sich seine Selbstständigkeit langsam wieder zurückholen und sich ausruhen.

Aber seit Natalias Abgang am Montag hatte er nicht mehr richtig mit ihr geredet. Stattdessen war er wütend gewesen, dass sie ihn angefahren hatte, als wäre er ein kleines Kind. Dann hatte er geklingelt in der Hoffnung, sie würde wieder rein kommen, doch sie war gar nicht für ihn zuständig. Also hatte er den Pfleger angemault, dass er Laufen wollte und dieser hatte zugestimmt. Natürlich, was sollte er sonst tun, als ihm zustimmen?

Dennoch, ein Gespräch mit Natalia hätte ihm besser getan, obwohl er sich so langsam wieder wohler fühlte.

Spencer wusste, dass sie da war. Er hörte sie manchmal im Schwesternzimmer lachen oder sah sie, wenn sie aus einem der Patientenzimmer rauskam, aber sie kam nicht zu ihm rein. Stattdessen lächelte sie, wann immer sie ihn auf dem Gang erblickte und lief manchmal zwei, drei Schritte mit ihm.

War das der Grund, wieso er sich jetzt so oft im Gang rum trieb?

Weil er ihr Lächeln sehen wollte, das ihm zeigte, sie wäre nicht mehr wütend auf ihn?

Er verdrehte die Augen über sich selbst, drehte den Rollator und machte sich den Weg zurück von der Eingangstür der Station zu seinem Zimmer.

Gemächlich, Schritt für Schritt, während seine Gedanken gänzlich wo anders waren.

Seit wann war er eigentlich so ein Sensibelchen geworden? Es hatte ihn doch sonst nie interessiert, ob ihm eine Frau wohlwollend gegenüber stand oder nicht. Wobei, bei ihr war es schon immer anders gewesen…

Ach, scheiß drauf! Ich habe gerade wichtigeres zu überdenken, als das Verhalten dieser kleinen Hexe, ermahnte er sich selbst und lagerte seine Aufmerksamkeit auf das nächste Problem um.

Ian.

Der kleine Zwerg war nicht aufzufinden, auch seine Freunde und Kollegen bei der Polizei hatten keine Hinweise auf seinen Aufenthaltsort. Was ungewöhnlich war.

Ian wurde mindestens einmal in drei Monaten verhaftet, weil er sich daneben benahm, aber bei den kleineren Vergehen sorgte Spencer dafür, dass er raus kam. Dank Yuriy hatte dieser kleine Dickschädel auch einen verdammt guten Anwalt, der das Schlimmste verhinderte und den Kopf des Grünhaarigen aus der sich enger ziehenden Schlinge manövrierte, wenn er etwas zu Großes angestellt hatte.

Der Koks zerstörte ihn… Aber seit wann hatte er wieder damit begonnen? Sie hatten ihn doch in eine Entzugsklinik einliefern lassen und bis zu Bryans Geburtstag letztes Jahr war alles in Ordnung gewesen. Und auch als er auf ihn zugekommen war, mit den Bildern und der Wahrheit über Natalia hatte er klar gewirkt, keine Anzeichen von Drogen.

Das Verhalten des Jüngsten unter ihnen war gelinde gesagt seltsam.

Spencer lenkte den Rollator etwas nach links Richtung Wand und lehnte sich gegen diese, während zwei Schwestern mit einem Patientenbett, in dem ein Mann lag, an ihm vorbei schoben. Er setzte sich erst wieder in Bewegung, als der Mann in eines der Zimmer geschoben und die Tür geschlossen wurde.

Hier war immer Betrieb.

Okay, es konnte also keiner Ian ausfindig machen, dann konnte er sich auch anderen Dingen zuwenden, bis er von alleine wieder auf der Bildfläche erschien. Manchmal taten sie das alle, verschwanden, um ihre Ruhe zu haben, aber nie so lange.

„Du siehst aus wie ein alter Opa!“

Überrascht drehte sich Spencer um und erblickte einen breit grinsenden Bryan, der schwer mit sich zu kämpfen hatte, um keinen Lachanfall zu bekommen.

„Bitte?“, fragte er den Lilahaarigen entrüstet.

„Ach komm, ich mein deinen Ferrari hier, an dem du so gemächlich durch die Gegend kurvst.“, gluckste Bryan und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Schön zu sehen, dass du wieder auf den Beinen bist, Kumpel! Komm ins Zimmer zurück, ich hab dir etwas mitgebracht.“

Spencer grinste und lief voraus, Bryan im Schneckentempo hinter ihm her, der sich königlich amüsierte. Es war aber auch ein zu skurriles Bild, welches Spencer ihm da bot. Allein die Tatsache, dass dieser durchtrainierte, große und kräftig gebaute Kerl an einem Rollator ging, war schon ein seltsames Bild. Getoppt wurde es nur durch die fast gänzlich nach oben gezogenen Griffe, sodass das Hilfsmittel für jeden „Normalo“ einfach zu groß eingestellt war.

„Oh man, wenigstens hast du aufgehört dich so hängen zu lassen.“, seufzte Bryan auf und ließ sich auf den Stuhl am Tisch fallen, nachdem Spencer selbst Platz auf dem zweiten Stuhl genommen hatte.

„Ich habe mich auch davor nicht hängen lassen. Ich brauchte anscheinend nur eins richtig auf den Deckel, damit ich mich wieder etwas mehr in den Griff bekomme. Das ist alles.“

Bryan zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. Nein, er würde ihn jetzt nicht korrigieren, wenn es Spencer damit besser ging, dann sollte er sich weiter einreden, dass bei ihm alles in Ordnung gewesen war.

„Also, ich hab hier ein paar Aladiki für dich. Ich dachte mir, du erträgst den Krankenhausfraß nicht mehr, obwohl dieser Fraß hier eigentlich recht gut zu essen ist.“

Bryan grinste und schob Spencer die Dose hin, in der sich nicht nur Aladiki befanden, sondern auch Erdbeeren.

„Danke!“, grinste der Blonde und beschloss, dass er es sich später richtig schmecken lassen würde.

„Und dann habe ich noch ein paar Informationen für dein Seelenheil: Das Pärchen, das sich im Auto befunden hat, wird keine Anzeige erstatten und hat gemeint, dass die Versicherung ja schon alles bezahlt hat.“

„Wie hat die davon Wind bekommen?“, fragte er verwirrt, da er sich nicht daran erinnern konnte, dass es jemand in die Wege geleitet hatte.

„Yuriy hat sich um den ganzen rechtlichen Kram gekümmert und ich hab das Paar gestern besucht. Es geht ihnen gut, sie arbeiten und die Frau ist schwanger geworden. Happy End für das süße Paar.“

Spencer schmunzelte leicht, als er Bryans sarkastischen Kommentar am Ende hörte.

„Schön. Richte Yuriy später meinen Dank aus, er kommt ja die nächsten Tage nicht vorbei. Dann kann ich meinen Kopf zumindest aus der Schlinge ziehen.“

„Jap. Sie meinten, du hast deine Strafe schon bekommen, indem du im Koma lagst und sie nur ein paar Prellungen und Quetschungen hatten. Die sind schräg drauf, aber mir soll’s egal sein, schließlich hast du dann weniger Probleme am Hals.“

Bryan zuckte mit den Schultern und fischte nach einer der Erdbeeren in der Dose. Spencer lachte und beschloss, dass er sich auch jetzt schon einen der kleinen Teigfladen genehmigen könnte, also biss er vom ersten ab.

„Göttlich! Wie ich das vermisst habe.“, brummte er zufrieden und schob sich eine Erdbeere hinterher, während Bryan sich grinsend in seinem Stuhl zurücklehnte.

„Bleibst du länger?“, wollte Spencer wissen und bekam ein Nicken als Antwort.

„Jau! Yuriy ist die nächsten Tage auf Reise, fährt heute Abend und hat gerade eh keine Zeit. Also leiste ich dir Gesellschaft.“

Und versuche mein schlechtes Gewissen zu reinigen, dass ich dich nicht vom Autofahren abgehalten habe, fügte er in Gedanken hin zu und grinste Spencer an.

„Ich verstehe. Also bin ich dein Notfall – Date.“

Bryan wackelte vielsagend mit den Augenbrauen und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf, während er die langen Beine ausstreckte.

„Natürlich. Du wusstest doch schon immer, dass du nur die zweite Geige bei mir spielst!“

Spencer lachte auf und begann den Tag mit seinem besten Freund zu genießen.

Heute etwas leichter, als die letzten Tage, weil er sich um keine Anzeige Sorgen machen musste.
 

Spencer war mürrisch.

Es lag nicht nur am düsteren Wetter draußen, sondern auch an seiner eigenen Stimmung, wobei der peitschende Regen und der heulende Wind durchaus ihr übriges taten.

Bryan war am Vortag noch so lange geblieben, bis ihn die Nachtschwester rausgeworfen hatte. Was schade war, denn es hatte ihm gut getan, sich wieder etwas lockerer zu fühlen und Bryan etwas aufzuziehen, der genauso schlagfertig und bissig wie immer konterte.

Seine jetzige miese Laune führte er jedoch darauf zurück, dass Natalia heute keinen Dienst zu haben schien. Es war bereits 17 Uhr und Madam hatte sich noch nicht auf der Intensivstation blicken lassen.

Dabei hatte er mit ihr reden wollen.

Miesepetrig blickte er zur Tür, als es an dieser klopfte und der Pfleger reinkam.

„Richard, wieso bin ich eigentlich noch immer hier und wurde nicht verlegt?“, wollte er von dem anderen Mann wissen, der sich seit Montag unter anderem um ihn kümmerte. Sie waren während der Woche ins Gespräch gekommen und beschlossen, das lästige „Sie“ sein zu lassen.

„Natalia hat den Stationsarzt gebeten, dass du bis zu deiner Entlassung und Überweisung in die Reha auf der Intensiv bleibst.“, erwiderte der Angesprochene und hängte Spencer an seinen zentralvenösen Zugang, der sich am Hals befand und dessen Katheter in die obere Hohlvene mündete, die 500 ml Flasche Kochsalzlösung an.

„Wieso?“ Spencer war verwirrt. Wieso sollet sie ihn hier lassen wollen, anstatt ihn auf die Normalstation zu verlegen?

„Das musst du sie schon selbst fragen. Die Kochsalzlösung ist dafür, dass dein Elektrolythaushalt weiter stabil bleibt und du etwas mehr Flüssigkeit bekommst.“

„Wie lang bin ich jetzt wieder ans Bett gefesselt?“

„Du bist doch nicht gefesselt. Wenn du raus willst, kannst du klingeln und ich mach sie wieder ab.“, grinste Richard und überließ Spencer mit diesen Worten wieder seinen grüblerischen Gedanken.
 

Als es dieses Mal an der Tür klopfte, erwartete Spencer wieder seinen Pfleger zu sehen, doch stattdessen stand Natalia im Rahmen und lächelte ihn schüchtern an.

„Lust auf etwas Gesellschaft?“, fragte sie fast schon verschüchtert und seine Mundwinkel zuckten. Das war eine der Seiten an ihr, die er immer niedlich gefunden hatte.

„Sicher, warum auch nicht?“ Er lächelte sie leicht an und Natalia trat ins Zimmer, einen großen Korb mit beiden Händen haltend. Sie hievte es auf den Tisch und seufzte erleichtert auf, als die Last von ihr genommen worden war.

„Bist du so durch das Unwetter gelaufen?“ Fast ungläubig musterte er sie, denn sie trug nichts weiter als eine Jeans und einen hellroten Pullover.

„Nein. Ich habe die Jacke nur draußen hängen lassen, weil sie tropft bis zum geht nicht mehr! Ich glaube, ich brauch langsam doch ein Auto, sonst werde ich irgendwann entweder vom Regen weggespült oder von einem Schneegestöber unter der weißen Masse vergraben werden.“ Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich kurz, als könnte sie dadurch die Vorstellung wieder los werden.

„Ich habe dir was mitgebracht!“, strahlte sie ihn an und schlug die Schutzplane, die sie anscheinend provisorisch an den Korbrändern festgemacht hatte, weg.

Neugierig beobachtete er, wie sie Dosen und kleine Schälchen rausholte und sie auf den Tisch stellte, zum Schluss förderte sie noch eine Flasche seines Lieblingsbiers zu Tage.

„Hast du einen Laden ausgeraubt? Muss ich dich jetzt festnehmen?“ Amüsiert zog er die Augenbrauen nach oben und Natalia streckte ihm die Zunge raus.

„Nein, hab ich nicht! Ich habe gebacken und etwas gekocht, weil ich dachte, dass du es dir verdient hast.“, meinte sie und fuhr sich einmal kurz durch das Haar, bevor ihr auffiel, wo sie sich befand, ein Haargummi aus ihrer hinteren Hosentasche fischte und sich ihre blauschwarze Mähne zu einem Pferdeschwanz hochband. Wenn sie sich einen Dutt machte und ihre Lesebrille aufsetzte, sah sie einfach nur heiß aus. (Er stand auf diese Art von Bibliothekarinnen.)

„Ich habe es mir verdient?“

„Ja. Du warst schließlich fleißig die Woche über und hast dich super gemacht. Ich meine, du läufst wieder richtig gut und das freut mich einfach.“

„Und das sagst du, nachdem du mir erst einmal den Marsch geblasen hast.“

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu und war gespannt auf die Antwort, die sie ihm jetzt präsentieren würde.

Ein Seufzen entkam ihr, bevor sie sich etwas peinlich berührt die Nasenspitze kratzte.

„Ja… Aber ich hab das doch nur gesagt, weil ich wusste, du würdest mir dann beweisen wollen, dass ich mich irre und du eben doch kein Schlappschwanz bist. Und es hat doch geklappt, du hast dich aufgerafft. Es ist einfach so, dass du bei Druck mehr aus dir herausholst. Deswegen bist du auch so ein guter Polizist, weil du in akuten Stresssituationen nicht unter diesem Druck zusammenbrichst, stattdessen erst zur Höchstform aufläufst.“

Spencer nickte langsam, während er sie noch immer etwas misstrauisch ansah.

„Na, ich lass das mal durchgehen. Was hast du gekocht?“

Nun war Natalia wieder sie selbst und strahlte ihn an.

„Strudel, die sind noch warm. Hier, die sind in der grünen Dose.“ Sie öffnete sie ihm, schob ihm die Dose hin und legte auch eine Gabel neben diese. „Dann habe ich hier noch Windbeutel, wobei die gekauft sind. Du weißt, welche Bombe die letzten drei Mal in der Küche eingeschlagen hat, als ich versucht hab, die Teile selbst zu machen.“ Natalia verdrehte die Augen über sich selbst und schüttelte den Kopf.

„Und hier habe ich noch geschnittene Äpfel, Pfannkuchen, Himbeeren. Und das Bier eben. Aber es ist alkoholfrei, da du ja noch Medikamente nimmst und ich möchte ungern, dass da irgendwelche Nebenwirkungen zustande kommen. Und ich habe dir noch M&Ms mitgebracht, weil du die doch so gerne isst.“

Sie machte ihm jede Tupper – Dose auf, während sie sprach und er konnte nicht glauben, dass sie ihm ein Abendessen mitgebracht hatte.

„Wow, das nenn ich dann wirklich eine Belohnung.“, schmunzelte er und sie wuschelte ihm tatsächlich durchs Haar, was ihn erstarren ließ. Wieso suchte sie seine Nähe, wenn sie doch das Interesse verloren hatte? Wurde sie von Schuldgefühlen getrieben? Oder wollte sie ihn einfach nur für sein Verhalten bestrafen?

„Was willst du wirklich hier, Lia? Was hast du tatsächlich geplant?“
 

Natalia zog ihre Hand ob seiner rau hervorgebrachten Frage sofort zurück und sah ihn mit großen Augen an.

„Nichts. Ich sagte doch, ich wollte dir nur etwas Gutes tun, nachdem du dich so angestrengt hast. Und… naja, es ist auch ein kleines Bisschen eine Entschuldigung, weil ich dich so angefahren habe. Ich dachte, es würde dir gut tun, du liebst schließlich das alles hier.“

Sie machte eine all umfassende Handbewegung in Richtung des Essens.

„Natürlich. Warum bin ich noch immer auf der Intensivstation? Ihr hättet mich schon längst verlegen können.“

Nervös leckte sich Natalia über die Lippen und ließ sich langsam auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder, während sie begann mit ihrem Haar zu spielen.

„Ich habe Dr. Grobowski gefragt, ob es möglich wäre, dass du hier bleibst. Er hat zugestimmt, deswegen.“

„Sicher. Es ist ja nicht so, als bräuchtet ihr dieses Zimmer für andere Menschen.“

Verdammt, wie sie seinen Sarkasmus in solchen Situationen hasste!

„Und es ist nicht so, dass ich ihm etwas als Gegenleistung dafür angeboten hätte. Ich habe gefragt, er hat es bejaht!“

Ihre Blicke trafen sich und ihre Augen schienen Funken zu sprühen.

„Warum bin ich hier? Sag es mir einfach, verdammt noch mal!“

Langsam hatte er die Nase voll von ihren Halbwahrheiten. Er sah ihr doch an, dass sie nervös war und keine Worte fand.

„Weil ich mir Sorgen um dich mache! Wenn wir dich verlegt hätten, dann hätte keiner mehr so richtig ein Auge auf dich gehabt. Auf der Normalstation kommen sie gerade einmal, vielleicht zwei Mal pro Schicht bei dem Patienten vorbei und dann war es das, falls er nicht klingelt. Was wäre gewesen, wenn dein Herz doch noch mal stehen geblieben wäre? Schließlich ist das schon einmal passiert! Was hätte ich da tun sollen? Mir anhören, dass sie nichts machen konnten, weil sie es erst Stunden später gemerkt haben? Dich beerdigen? Denn darauf würde es hinaus laufen, da die Normalstation kaum Herznotfälle hat! Ich wollte nicht ans Telefon gehen und gesagt bekommen, dass du tot bist! Hier bist du in den besten Händen und am Montag gehst du sowieso in die Reha, da ist es doch egal, wo du die letzten Tage schläfst.“

Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus und sie konnte sich nicht mehr daran hindern. Es musste einfach raus, alles, was in den letzten Wochen sich in ihr aufgestaut hatte, wollte raus.

„Es hat mir gereicht, dass ich erst von deinem Unfall erfahren habe, als du schon eine Woche im Koma lagst. Ich wäre lieber von Anfang an hier gewesen. Was hat dich bitte dazu getrieben, betrunken ins Auto zu steigen? Was war der Grund für deine so unüberlegte Handlung?“

Spencer lehnte sich in seinem Stuhl mehr zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und verengte die Augen.

„Ich wollte zu dir.“, sagte er schlicht und machte sie damit sprachlos.

„Zu mir? Du wolltest zu mir?“, versicherte sie sich noch einmal, gänzlich ungläubig.

„Ja. Ich wollte zu dir. Dich, wenn es nötig ist, von dem Kerl mit dem du seit neustem ins Bett steigst, los reißen und mit mir nehmen. Du bist meine Frau, Natalia!“

Nun waren seine blauen Augen nicht mehr kühl, stattdessen lag eine Leidenschaft in ihnen, die sie gedacht hatte, nie wieder sehen zu dürfen. Sie schluckte schwer, ihr Hals war auf einmal ganz trocken und sie biss sich auf die Unterlippe, kaute darauf herum.

„Ich habe keinen neuen Mann. Ich hatte während unserer Beziehung auch nie einen anderen als dich.“, murmelte sie und versuchte sich zu entspannen.

„Ian hat mir etwas anderes erzählt.“

Jetzt kamen sie der Sache näher. Jetzt musste sie sich dem Gespräch stellen, das sie sich so sehr herbeigesehnt und gleichzeitig vor dem sie sich so unendlich gefürchtet hatte.

„Ian hat dir nur das erzählt, was er gesehen hat und das war nur ein ehemaliger Arbeitskollege, der mich abholte und zu meinem Zweitjob ins Hotel brachte. In sein Hotel, wohlbemerkt. Andreas war selbst Krankenpfleger, hat sich dann aber den Wunsch eines eigenen Hotels erfüllt und ich wollte dir ein Geschenk machen, also habe ich ihn gefragt, ob ich bei ihm arbeiten dürfte. Ich bin mit niemandem ins Bett gestiegen, Spencer, ich habe die Bettwäsche gewechselt und den Dreck hinter anderen weggeräumt.“

Sie sah ihm nicht in die Augen, als könnte sie es nicht, wobei er nicht ganz verstand, wieso.

„Mhm… Und was sollte das für ein Geschenk sein, dass du mich belügen musst deswegen?“

„Ich habe dich nicht belogen! Es hat nur immer gepasst, weil du dich in das Morddezernat hast versetzten lassen und manchmal einige Tage am Stück nicht vorbei kamst, weil du einem Mord nachgingst. Und Andreas hatte gesagt, dass er sich nach meinem Dienstplan hier richten würde, also konnte ich nach der Frühschicht abends noch putzen gehen. Und das Geschenk… Naja…“ Sie druckste herum und begann sich eine Haarsträhne um den Finger zu wickeln.

Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich unsicher fühlte. Jetzt war er umso mehr auf ihre Antwort gespannt.

„Ich… ich wollte dir ein Motorrad schenken!“, platzte es aus ihr heraus und nun erwiderte sie endlich wieder seinen Blick, fixierte ihn, als wollte sie, dass er ihr dieses lächerliche Wahrheit glaubte.

„Du hast immer so geschwärmt, wenn du eine Maschine gesehen hast, die dir gefallen hat! Aber statt dir eine zu kaufen, hast du Geld für mich ausgegeben. Ich mein, du hast mir Regale für meine dämlichen Bücher gekauft, nachdem es dich anfing aufzuregen, dass sie sich auf dem Boden stapeln, weil ich zu blöd zum Regalaufbauen bin. Dann hast du mich zu unserem ersten gemeinsamen Urlaub nach Paris eingeladen. Paris! Und du wolltest kein Geld von mir, hast stattdessen selbst alles bezahlt und die ganzen kleinen Aufmerksamkeiten sonst von dir. Dabei… dabei hast du dir doch so sehr ein Motorrad gewünscht! Glaubst du, ich habe es nicht gemerkt, wie sehnsüchtig du die Teile angesehen hast, wenn wir an einem Laden vorbei gingen?“

Spencers Wundwinkel hoben sich in einem spöttischen Lächeln.

„Und wie hast du dir das vorgestellt? Hättest du mich zu einem dieser Autohändler geschleift und gesagt: „Da, such dir ein Motorrad aus, ich bezahl es dir“? Findest du das nicht ein bisschen zu arg an den Haaren herbeigezogen?“

„Es ist aber die Wahrheit! Und nein, das hätte ich nicht. Ich hätte dich dazu überredet, mit mir eine Runde shoppen zu gehen oder durch die Stadt zu schlendern und dann wären wir bei einem Autohändler vorbei gekommen oder bei dem Motorradladen. Ich hätte dir von einem Bekannten erzählt, der sich eine Maschine zulegen will, dir eine Summe genannt und dich gebeten, ein Bike auszusuchen, das du selbst fahren würdest. Ich hätte es später gekauft, ohne dich und dir die Schlüssel dann einfach gebracht. Da hättest du keine Wahl mehr gehabt, als es anzunehmen.“

Nun ließ sie die Hände sinken, verschränkte sie in ihrem Schoß, sah ihn aber immer noch angriffslustig an. Ihr Blick passte kein bisschen zu ihrer eher defensiven Körperhaltung, aber so war sie. Sie machte dicht mit ihrer Körpersprache, während ihre Augen alles sagten, jede Emotion wiederspiegelten.

„Ich wollte dir eine Freude machen, das ist alles.“

Spencer schwieg. Er hatte sie zu Unrecht beschuldigt, untreu gewesen zu sein. Denn er glaubte ihr, dass sie ihm die Wahrheit sagte. Yuriy hatte ihm schließlich schon angedeutet, dass Ian ein falsches Spiel spielte und in ihren Briefen hatte es auch gestanden.

Er zweifelte nicht daran, dass er die Briefe eigentlich niemals hätte zu Gesicht bekommen sollen. Sie waren zu ehrlich geschrieben, enthielten zu viel von ihren Gefühlen und Gedanken.

„Also wären diese Monate völlig umsonst gewesen, wenn ich dich damals einfach hätte aussprechen lassen?“, fragte er auf einmal vollkommen müde geworden und fuhr sich fahrig mit der Hand durch das blonde Haar.

„Wahrscheinlich schon.“

„Es ist mein Fehler, dass wir so gelitten haben. Ich hätte dich nicht vor die Wohnung setzten dürfen.“

„Sei nicht albern! Du bist an gar nichts schuld! Du warst verletzt in deinem Stolz und deiner Ehre, ich war einfach nur zu feige, dir noch einmal gegenüber zu treten. Du trägst genauso viel Schuld an der Sache wie ich, wenn es überhaupt einen Schuldigen gibt. Den gibt es aber nicht. Vielleicht hat es so sein müssen. Vielleicht war es Schicksal, dass wir uns trennen mussten. Sieh uns doch an, wir wissen doch selbst jetzt nicht, was wir tun sollen und haben ewig gebraucht, um uns auszusprechen. Hätten wir uns von Anfang an vertraut, so richtig vertraut, wäre es nicht so weit gekommen. Vielleicht soll es uns nicht gegönnt sein.“

Natalia löste den Pferdeschwanz und machte ihn neu, sie musste ihre Hände in Bewegung halten, während die Stille zwischen ihnen sich immer mehr ausdehnte.

Es war diese spezielle, bleierne Stille, die einem schwer auf den Brustkorb drückte und einen nicht mehr einfach wieder davon gehen ließ. Sie verabscheute dieses Gefühl der Machtlosigkeit in sich.

„Kommst du in die Reha?“

Überrascht hörte sie auf an ihrer Kleidung herum zu zupfen und sah ihn aus großen Augen an.

„Willst du das denn?“

„Es würde den Aufenthalt erträglicher machen.“ Spencer zuckte mit den Schultern und lächelte schwach.

„M&Ms mitbringen?“, ging sie darauf ein und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln.

„Ich bitte drum!“

„Dann komm ich.“

Natalia erhob sich, überbrückte die wenigen Meter und schlang vorsichtig die Arme um seinen Hals, drückte ihn leicht an sich, während er die Wange gegen ihr Dekolleté schmiegte, ihren Geruch genoss.

Sie wollte ihm nicht den zentralvenösen Katheter mit einer unbedachten Bewegung rausreißen, also versuchte sie sich zu beherrschen. Statt ihn also viel zu fest an sich zu ziehen, rieb sie ihre Wange an seinem Haar und verweilte einen viel zu kurzen, viel zu schönen Moment in dieser Haltung.

„Bis dann.“, flüsterte sie, hauchte ihm einen Kuss auf das Haar und verließ das Krankenzimmer.

Ließ ihn alleine mit der Hoffnung, dass sie ihre Worte bezüglich ihrer Beziehung, nicht so gemeint hatte, wie er es glaubte. Vielleicht würden sie doch noch auf einen Nenner kommen.

Vielleicht würde sie doch wieder seine Frau werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2015-08-19T10:59:33+00:00 19.08.2015 12:59
War das der Grund, wieso er sich jetzt so oft im Gang rum trieb?
NATÜRLICH, DU IDIOT!!! >:0

Awwwww~ wieso hab ich das Kapitel noch nicht gelesen? Das gibt es doch schon voll lange >___<"

Die beiden sind wirklich süß und jeder der mal länger im Krankenhaus war... naja, für den ist es unbezahlbar, wenn man mal was anderes zu essen bekommt xD" Ich hab mich damals auch mega drüber gefreut, als mir jemand was gebracht hat :D Kann ich Spencer also verstehen. Und Natalia hat alles gemacht, was er so liebt - das ist so aufmerksam. Sogar an M&Ms hat sie gedacht (den GEdanken an sich finde ich schon sehr witzig xD Spencer liebt M&Ms... ich seh ihn schon das große rote aus der Werbung anknabbern - und Lia steht eifersüchtig daneben xD)

Dass du es bei der Reha auch noch mal aufgegriffen hast :D haha, kleiner Running-Gag? ;))
Wirklich sehr schön geworden. Auch, dass sie sich endlich mal ausgesprochen haben und jetzt ein wenig Klarheit zwischen den beiden herrscht. Der erste Schritt in die richtige Richtung! ;)

(kleiner Exkurs ins deutsche Recht: Trunkenheit im Verkehr ist kein Delikt, für das man einen Antrag stellen würde, das wird von Amts Wegen verfolgt und (gerade) Polizisten würden sich strafbar machen, wenn sie es nicht verfolgen -> Strafvereitelung... aber sie sind ja in Russland :D) :)

Jedenfalls ein tolles Kapitel Snowi ♥
Von:  KradNibeid
2015-08-18T14:19:33+00:00 18.08.2015 16:19
Was für ein schönes Kapitel - und endlich, endlich haben sie sich ausgesprochen. Gott, hat das ewig gedauert. D:

Aber immerhin, jetzt ist die Katze aus dem Sack, und die beiden können neu anfangen. Und abgesehen davon, dass Spencer ein zickiger Dickkopf ist (Lia aber auch) zeigen sie ja auch beide, dass sie noch viel füreinander empfinden. Aber aus der aktuellen Situation heraus ist es auch schwierig, wieder neues Vertrauen zueinander aufzubauen... Gnah.

Ich würd ihnen wünschen, glücklichmiteinander zu werden, aber dann ist es auch schwierig, weil dieses Ereignis sie wahrscheinlich auf ewig belasten würde. D:

Und dann ist da noch die Sache mit Ian. Wo ist er? Was hat er vor? Bringt er Lia um? D:
Antwort von:  Phoenix_
18.08.2015 16:28
Hey Kradi :)

Dankeschön für deinen Kommentar!

Es freut mich, dass du so zufrieden damit bist, dass sie sich endlich ausgesprochen haben :D Aber ich stimm dir zu, eine lange und schwere Geburt ;)
Ehrlich gesagt, fand ich den Grund für das Missverständnis lahm, aber auf der anderen Seite halbwegs passend, dass sie ihm ein Geschenk machen wollte xD
Aber ja... Dickköpfe sind sie beide~ Wären sie es beide nicht, würde wohl auch keine Beziehung funktionieren, weil der eine immer nachgeben würde :D

Ich bin auch gespannt, wie sie wieder zueinander finden *_* Und ob xD
Aber noch mehr, auch auf deine Reaktion und auf die von Phase, wenn alles über Ian rauskommt xD
Und wie kommst du darauf, dass er Lia umbringen will? xD
Von:  Phase
2015-08-05T21:21:45+00:00 05.08.2015 23:21
Auch dieses Kapitel ist wieder sehr schön geschrieben. ^^
Man kann sich in die Situation der Figuren gut hineinversetzen und dem Geschehen sehr gut folgen. Gerade was Spencer angeht, ist es interessant seine Gedanken und Gefühle zu erfahren.
Ich muss ja zugeben, dass ich nach wie vor der Meinung bin, dass Natalia keine Schuld trifft und sie Spencer und sein übereiltes Verhalten nicht so in Schutz nehmen sollte. ö.ö Aber gut, ich merke einfach Nathalia ist ein ganz anderer Typ (als ich es bin). Ich hätte Spencer an ihrer Stelle in jedem Fall gehörig die Meinung gegeigt!
...aber gut, so wie es ist, ergänzen sich die beiden gut zu einem stimmigen Pärchen und anders würde es auch gar nicht passen... Es ist schon richtig so, wie es ist. Ich hoffe, dass die beiden sich weiterhin wieder näher kommen. Aktuell gibt es da ja doch noch einige Zweifel und Unsicherheiten, obwohl beide doch wieder zueinander finden wollen... :-)
Was mir gut gefallen hat, was generell die Interaktion und das Gespräch von Natalia und Spencer. Ich mag die Dynamik, die sie entwickeln und wie man zwar die Distanz erkennt, aber auch die (gewünschte) Nähe erfährt. Sehr schön!
Nun stellt sich mir die Frage, ob das alles gut gehen wird. Werden sie wieder zusammenfinden? Wird alles wieder gut werden? Und was ist nun eigentlich mit Ian? Wo steckt er?
Ich bin gespannt aufs nächste Kapitel und freue mich schon darauf, wenn es weiter geht. ^^
Antwort von:  Phoenix_
18.08.2015 16:26
Hallo Phase <3

Liebsten Dank für deinen Kommentar!
Es freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat und du dich mit der Dynamik des Gespräches der beiden anfreunden konntest <3 Es scheint, es ist mir gelungen, Lia zwar von der Körpersprache distanziert darzustellen, aber von den Worten her, dass sie ihn ja doch zurück haben will :)
Und ja... Ich hätte wohl auch anders reagiert als sie und Spencer alle Schuld gegeben xD Aber sie liebt ihn wohl einfach zu sehr und er malträtiert sich ja selbst genug :D

Ich bin schon sooo gespannt, was du zu Ian sagst, wenn alles rauskommt *_*

Liebsten Dank und bis zum nächsten Mal ;)
Von:  Fairytale_x3
2015-08-02T21:04:16+00:00 02.08.2015 23:04
Ersteee :D

Meine Liebe :)
Ich habe schon sehnsüchtig gewartet und mich einen Keks gefreut grade eben, als es online war.

Wirklich ein gelungenes Kapitel, auch wenn es mich mehr wie nur verstimmt, dass dieser miese laufende Meter von Giftzwerg anscheinend nicht auffindbar ist -.- er soll sich lieber gut verstecken *grrr* ><.

Ich find es schön, dass sie sich endlich mal ausgesprochen haben, das wurde langsam auch mal Zeit. Allerdings haben mich Natalias Worte doch etwas irritiert und ich hoffe jetzt einfach mal, dass sie nicht ganz so negativ gemeint waren, wie ich denke oO.

Ich war auch kurzzeitig irritiert über 'der' Koks, aber nachgeguckt im Duden und stimmt tatsächlich :D :D

bin gespannt wie es weiter geht und ob die kleine Ratte endlich gefunden wird und hoffentlich seeeehr leiden muss, wie er es verdient hat.


hab dich liiiieb

Fairy :)

Antwort von:  Phoenix_
18.08.2015 16:24
Hey Fairy <3

Liebsten Dank für deinen Kommentar! <3

Es freut mich, wenn es dir gefallen hat.
Und ob Ian seine Strafe bekommt, das werden dann die nächsten Kapitel zeigen :D Geplant habe ich was, ob das deinem Sinn von "Strafe" entspricht, werden wir dann sehen xD

Mh... ich hoffe auch, dass sie zueinander finden, denn im Moment ist es doch sehr schwer, obwohl sie sich endlich mal ausgesprochen haben xD

ich hab dich auch lieb <3


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