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Leave Time For Love

Joker-FF fürs Winterwichteln
von

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Leave Time For Love

I.

 

Sindria zu verlassen ging mit einem großen Stück Wehmut einher. Schon als das Schiff, das sie zurück nach Hause bringen sollte, ablegte, begann sie, schmerzhafte Sehnsucht nach dem kleinen Inselstaat zu verspüren, den sie gerade hinter sich ließ. Unter dem Kreischen von Möwen und dem sanften Rauschen der Wellen wurde Sindria immer kleiner, ihr Herz immer schwerer. Sie vermisste König Sinbad jetzt schon. Und Alibaba. Und Sindrias Palastgärten, wo sie Blumenflechten gelernt hätte. Auch wenn sie wusste, dass es ihre Pflicht war, zurückzukehren, und dass es wichtig war – sie war nicht ganz glücklich damit. So kurz, nachdem sie einen ersten, wahren Freund gefunden hatte, musste sie ihn zurücklassen.

Aber… gut. Alibaba hatte schließlich auch genug zu tun. Und auch König Sinbad wäre sicher nicht der Typ, einfach so den Kopf in den Sand zu stecken. Sie sollte es also auch nicht tun. Entschlossen wischte sie sich über die feuchten Augen, wandte sich schwungvoll von dem Anblick der immer kleiner werdenden Insel ab, die bald nur noch ein Schemen am Horizont sein würde.

 

Zu wissen, dass sie einen Ort zurückließ, an dem sie Freunde hatte, Menschen, bei denen sie dazugehörte, machte es leichter, in ein Heim zurückzukehren, in dem sie sich nie so ganz zugehörig gefühlt hatte.

 

 

Vom Hafen aus, an dem sie angelegt hatten, ging es per Kutsche weiter bis in die Hauptstadt. Es irritierte sie nicht, dass man keinen Boten mit einem fliegenden Teppich ausgesandt hatte, sie in Empfang zu nehmen. Magie war im Kou-Empire zwar nicht völlig rar, doch es war zumeist so, dass die bequemen Transportmittel den wirklich wichtigen Mitgliedern der Kaiserfamilie vorbehalten waren – und Kougyoku wusste, dazu gehörte sie trotz ihres Djinns nicht. Natürlich hätte sie mit Vinea die Strecke in kürzester Zeit zurücklegen können, doch sie wollte es gar nicht. Es war anstrengend, und nichts lag ihr ferner, als müde und verschwitzt – im schlimmsten Fall riechend! – im Palast einzukehren.

Also begnügte sie sich mit der Kutsche, die den ganzen Nachmittag brauchte, um die Hauptstadt zu erreichen. Die Dächer von Rakushou waren in Gold getaucht von der untergehenden Abendsonne, als sie elegant vor dem Palast ausstieg.

 

Sie hatte keinen großen Empfang erwartet, sicher nicht. Als junge, nicht wichtige Prinzessin des Reiches war ihr ganzer Wert der, einen einflussreichen Mann zu heiraten. Ein Ziel, das sie bisher gnadenlos verfehlt hatte. (Auch wenn sie froh darum war. Sie hätte dieses Schwein von einem Mann wirklich nicht gewollt!) Da wurde ihr natürlich nicht der Respekt zuteil, den ihre Schwestern erhielten. Sie war auch keine begnadete Kriegerin wie die ehrenwerte Prinzessin Hakuei. Auch von da aus kam kein großer Respekt.

Aber dass sie nicht einmal von einem Diener gegrüßt wurde, der kam, um ihr Reisegepäck in Empfang zu nehmen und sie in eine vorbereitete Badekammer zu führen, versetzte ihr einen ehrlichen Stich.

 

Sie bemerkte gar nicht, dass selbst einige der üblichen Wachposten fehlten und das wenige Personal, das sich vor dem Haupteingang des Palastes befand, hektisch umherrannte.

 

Ihr Zimmer war verlassen und dunkel, als sie hereinkam. Niemand hatte die schweren Vorhänge wieder geöffnet, die sie zugezogen hatte, als sie den Raum das letzte Mal verlassen hatte. Niemand hatte ihr frische Gewänder herausgelegt. Mit einem unglücklichen Seufzen ließ sie die Schultern hängen. Hatte man sie vergessen? War sie nun so sehr unwichtig geworden, dass man sich nicht einmal mehr so weit um sie kümmerte, wie es einer Prinzessin gebührte? Selbst einer Prinzessin von ihrem Stand?

Sie hätte einfach in Sindria bleiben sollen. König Sinbad hatte sie wunderbar behandelt. Er behandelte jede Frau wie eine Königin. Selbst… selbst ein Mädchen von solch ungebührlicher Herkunft wie Kougyoku es war. Und Alibaba war dort, verstand sie, teilte viele ihrer Ängste und Gedanken.

Doch stattdessen saß sie hier in ihrem einsamen Zimmer, sah der untergehenden Sonne draußen zu – inzwischen hatte sie die Vorhänge geöffnet –, wie sie hinter den Silhouetten der Kaiserstadt verschwand. Fühlte sich zu schwermütig und unglücklich, um eine Lampe zu entzünden. Die Dunkelheit, die sich langsam um sie legte, das goldene Licht der Abendsonne verschluckte, passte viel besser zu ihrem Gemüt als das lustige Flackern der Öllampen.

Hätte sie nicht solche Angst davor, würde sie einfach wieder gehen. Ein Schiff besteigen. In die Fremde segeln. Man vermisste sie bestimmt nicht, oder?

 

Just in diesem Moment klopfte es.

Irritiert fuhr Kougyoku von ihrem Bett auf, wirbelte herum. Hektisch strich sie ihre Kleidung glatt, straffte die Schultern und versuchte, nicht allzu ertappt auszusehen ob ihrer Fluchtgedanken.

„Tretet ein!“, rief sie schließlich mit herrischer Stimme und kühlem Blick. Ein trat ein eindeutiger Bote, der aussah, als wäre er schon eine ganze Weile unterwegs gewesen, rotgesichtig und verschwitzt. Kougyoku rümpfte unwillkürlich die Nase. Er roch auch, als wäre er schon eine ganze Weile unterwegs gewesen.

„Prinzessin, wie gut, dass Ihr zurück seid! Ich muss Euch bitten, mich umgehend zu begleiten. Prinz Koumei verlangt nach Euch.“

Prinz Koumei? Kougyoku verkniff sich gerade so ein irritiertes Blinzeln, nickte. Wieso Koumei? Es war selten, dass der zweite Prinz sie zu sich rufen ließ – wenn nicht sogar eine absolute Neuheit! Gelegentlich sprach sie mit Kouen, ja, aber das war etwas anderes. Kouen nahm sie ernst, Kouen respektierte sie, erkannte sie als Königsgefäß an, wo manch anderes Mitglied der Königsfamilie sie immer noch nur als heiratspolitische Spielfigur sah.

War Kouen gerade überhaupt in der Stadt? Sie wusste es nicht. Es war gerade auch nicht wichtig. Man verlangte nach ihr. Mit einem entschlossenen, tiefen Atemzug folgte sie dem Boten – nicht in die Gemächer des zweiten Prinzen, sondern… hinaus aus dem Palast?

 

Es dauerte nicht lange, bis ihr bewusst wurde, wohin man sie führte.

In der Ferne ragte ein riesiges Bauwerk auf. Ein Turm von einer solch seltsamen Form, das kein Mensch und kein Magier ihn hätte erbaut haben können. Die Abenddämmerung ließ ihn farblos und blass wirken, doch im Näherkommen erkannte sie farbenprächtige, kunstvolle Ornamente, die die glattpolierte Außenwand zierten. Schriftzeichen? Es war weder Torran, noch ihre eigene Sprache. Fremde Symbole, die elegant ineinander verschlungen waren und womöglich Geschichten erzählten, die niemals jemand hören sollte. Der Turm war hoch. Nicht hoch wie der Himmel selbst, aber doch aufragend genug, dass Kougyoku sich einen Moment lang fragte, wie sie ihn bisher hatte übersehen können – dann fiel ihr auf, dass die Farben des oberen Teils nahezu konturlos mit dem Himmel verschmolzen. Aus der Ferne war es leicht, die Erscheinung nicht zu bemerken.

Rings um den Turm waren Wachen aufgestellt worden. Schwere Fackeln waren in den Boden gerammt, spendeten flackerndes Licht, das unheimliche Schatten an die glatten Wände warf. Sie wusste nicht, was für ein Material es sein sollte. Es war kein rauer Stein. Marmor vielleicht. Eine Traube von Menschen stand vor dem Eingang, einem Torbogen, der einen schwarzen, unheilverkündenden Schlund umrahmte. Sie erkannte das unordentliche, im Fackelschein feuerrote Haar von Prinz Koumei. Judar schwebte über der kleinen Versammlung. Da waren Generäle und Befehlshaber, Taktiker, wichtige Persönlichkeiten, die sie sonst selten zu sehen bekam. Von Prinz Kouen oder den anderen Hoheiten war keine Spur zu entdecken. Langsam, mit zaghaften Schritten, näherte sie sich über den staubigen Boden dem seltsamen Gebäude. Ihr Herz klopfte hart gegen ihren Brustkorb, sie drückte die Hände darauf, als könne sie es so daran hindern, so laut zu hämmern.

 

 

Vor ihr ragte ein Dungeon auf.

 

 
 

II.

 

„Prinzessin Kougyoku.“

 

Eine Wache nickte ihr respektvoll zu. Sie kannte den Mann vom Sehen, er patrouillierte oft in der Nähe des Palastgartens, wenn sie sich dort aufhielt. Sie erwiderte die Geste, reckte das Kinn stolz vor, um sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt und nervös sie sich fühlte. War das der Grund, weshalb niemand im Palast gewesen war? Dieser Dungeon? Ihr Blick glitt zu Judar hinüber, der völlig ungeniert in der Luft schwebte, sich offensichtlich mal wieder keiner Schuld bewusst. Natürlich war er dafür verantwortlich – wer auch sonst? Doch sie verstand nicht, warum. Eigentlich durfte Judar nur dann Dungeons beschwören, wenn es von ihm explizit verlangt wurde. Uneigentlich, das wusste sie, hielt er sich selten an das, was  man ihm sagte, und auch an die Dungeon-Regeln hatte er sich nie so ganz gehalten. Nach dem letzten Dämpfer allerdings hatte sie erwartet, dass er sich so eine Dreistigkeit nicht mehr leisten würde.

Offenbar lag sie falsch.

 

„Was geht hier vor?“, verlangte sie herrisch zu wissen, als sie zu Prinz Koumei und den Anderen aufschloss. Der Prinz sah sie an, seine Augen müde, von dunklen Ringen unterzogen. Er sah aus, als wäre er aus dem Bett gerissen worden und sofort hierhergeschleppt, seine Kleidung war nachlässig und unordentlich angelegt, sie entdeckte einen Teeflecken auf dem hervorblitzenden Unterkleid.

Er roch ein bisschen streng, stellte sie mit einem leichten Naserümpfen fest. Es war nichts neues, aber es irritierte sie immer wieder. Wie konnte ein Prinz sich so gehen lassen?! Kougyoku für ihren Teil liebte Bäder und duftende Badeöle und Tinkturen und Cremes… Sie konnte den ganzen Tag im heißen Wasser verbringen, wenn sie denn die Gelegenheit dazu hatte. Bei Prinz Koumei erschien es im Gegensatz oft eher so, als sei Baden ihm ein Graus. Das Erschreckendste daran war wohl, dass General Kouen ihm das nie abgewöhnt hatte. Er war sonst so streng.

Aus dem Gedanken gerissen wurde sie, als erneut Bewegung in Prinz Koumei kam. Er kratzte sich am Hinterkopf, seufzte dann. Er klang genauso müde, wie er aussah.

„Der Hohepriester hat diesen Dungeon heraufbeschworen. Ohne jede Befugnis, das zu tun.“

Noch ein Seufzen, dieses Mal klang es genervt. Koumei warf einen unter aller Müdigkeit verärgert aussehenden Blick zu Judar. Besagter Judar blinzelte nur, die Unschuld in Person, jedenfalls wollte er das wohl transportieren, ließ sich leichtfüßig neben Koumei wieder zu Boden sinken und kam dort grinsend auf.

„Ich wollte nur helfen~“

 

Kougyoku bezweifelte es.

 

Koumei auch, so, wie der dreinsah. Nach dem kurzen, mörderischen Blick wandte er sich wieder Kougyoku zu, und nun nahm die Müdigkeit wieder überhand.

„Prinz Kouen ist derzeit nicht im Lande. Prinz Hakuryuu ist ebenfalls noch nicht zurückgekehrt und Prinz Kouha auf Reisen. Dieser Dungeon muss allerdings trotzdem so bald wie möglich verschwinden. Er ist zu nah an der Kaiserstadt und sorgt für zu viel Aufregung.“

Kougyoku verstand das sogar; vor einigen Jahren war einmal ein Dungeon in der Nähe von Rakushou emporgekommen. Obwohl das Volk von Kou in den meisten Fällen durch Fleiß und Gehorsam glänzte, hatten die Versprechen von Macht und Reichtum nicht wenige geködert. Es waren tausende Menschen umgekommen, bis man den Dungeon erobert hatte. Und das, obwohl beinahe augenblicklich jemand den Dungeon betreten hatte. (Es war Kouen gewesen. Natürlich war es Kouen gewesen.)

Wenn sie sich vorstellte, was jetzt passieren mochte… Wo all die Prinzen außer Lande waren, außer Koumei. Und niemand käme wohl auf die Idee, Koumei noch einmal in einen Dungeon zu schicken. Zwar hatte sie nicht viel davon mitbekommen, wie er Dantalion erobert hatte, doch nicht selten munkelte man, dass es mehr Glück als Verstand gewesen war, dass es ihm wirklich gelungen war – was gemessen an seinem überragenden Verstand schon eine Leistung war. Aber es war ein offenes Geheimnis, dass Prinz Koumei so viel Kampfgeschick wie ein Reissack besaß; sie konnte sich also lebhaft ausmalen, was in dem Dungeon wohl geschehen war. Vorausgesetzt, Dantalion war ähnlich gefährlich wie seinerzeit es Vinea gewesen war.

„Was ist mit Prinzessin Hakuei?“

So sehr, wie Kougyoku gerade immer wieder in Gedanken abschweifte, war sie wirklich stolz auf sich, den Gesprächsfaden wiedergefunden und erneut aufgenommen zu haben. Es war aber auch wichtig! Jemand musste möglichst schnell diesen Dungeon bezwingen, damit er keine unnötigen Opfer forderte. Kou mochte ein großes Land mit einem zahlreichen Volk sein, doch das hieß nicht, dass man schweigend zusehen konnte, wie Landsmänner in den Tod liefen.

„Bei den Kouga. Sie wird nicht rechtzeitig herkommen können.“

Prinz Koumei machte eine Pause. Eine Kunstpause, das merkte Kougyoku. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind neben ihm. Er schien zu erwarten, dass sie irgendeine große Erkenntnis daraus zog, doch – sie wusste es doch auch nicht! Konnte er ihr nicht einfach erklären, was er damit sagen wollte? Ihr Blick verfinsterte sich, während er sie weiterhin mit der gleichen, gelangweilten Ungeduld musterte, mit der er sie immer angesehen hatte in den seltenen Fällen, die er ihre Studien überwachen sollte und er die für ihn scheinbar offensichtliche Antwort auf ein für sie unlösbares Problem erwartete.

 

Judar lachte neben Koumei. Kougyoku fuhr herum, um ihn anzufunkeln, verärgert und verschämt. Sie spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen und wusste, dass sie rot wurde – etwas, das sie noch mehr beschämte und ihre Gesichtsfarbe noch verdunkelte.

„Was gibt es da zu lachen?!“

Sie hasste es, wenn Judar sie auslachte. Die meiste Zeit über mochte sie den Hohepriester, konnte gut mit ihm reden und ihn auch um Rat fragen; er hörte ihr zu, nahm sie weitgehend ernst und setzte sich mit ihren Gedanken auseinander, was bei Weitem nicht jeder tat. (Dass er sich meist auf eine sehr neckische bis gemeine Art damit auseinander setzte, war fast ein ignorierbares Detail.)

Manchmal aber mochte sie ihn so gar nicht leiden. Und das waren die Momente, in denen er sie behandelte, als wäre sie noch ein kleines, ungelenkes Kind, das hinter ihm herwackelte, weinend und triefend, während er ihr wieder und wieder davonschwebte, mit ihrem Lieblingsschmuckstück, oder ihrer Lieblingspuppe, oder irgendetwas anderem, das Kougyoku niemals freiwillig aus den Händen gegeben hätte.

 

„Du dumme alte Hexe, du wirst natürlich gehen.“

 

Kougyoku hielt mitten beim Atmen inne.

 

„…bitte?“

 

„Der Hohepriester hat Recht“, erwiderte Koumei trocken und ohne jede Gefühlsregung. Kougyoku glaubte immer noch, sie verhöre sich gerade. Es war niemand sonst da, Prinz Koumei ausgeschlossen, und dass der lieber keinen weiteren Dungeon aufsuchen sollte, war ihr gerade schon gekommen, aber das hieß nicht, dass sie eher noch einmal einen Dungeon betreten wollte!

Sie öffnete den Mund, wusste selbst nicht, ob sie wirklich protestieren wollte oder etwas ganz anderes sagen, doch bevor sie auch nur einen Ton über die Lippen brachte, fuhr Koumei fort, als erzähle er gerade vom Wetter:

„Er wird dich übrigens begleiten. Das sollte ihm eine Lehre sein.“

Ihr Blick ruckte sofort zu Judar. Er sah aus, als hätte er das Atmen vergessen, starrte aus weit aufgerissenen Augen den zweiten Prinzen des Kou-Empire an.

 

„…bitte?“

 

 

 

III.

 

Eine große Tafel aus Obsidian war das einzige, das in dem Raum zu finden war. Die Wände waren raues, schroffes Gestein, das nicht aussah, als wäre es von Menschenhand geformt worden, und trotzdem waren sie kreisrund. Der Boden war ebenfalls steinern, uneben, hier und da waren spitze Steine. Einer drückte gegen Kougyokus Schuhsohle. Sie trat einen leisen, zögernden Schritt zur Seite. Ihr gegenüber, hinter der Tafel, konnte sie den schwarzen Schlund eines Durchgangs ausmachen, schroff und zackig, ein simpler Riss in der Felswand. Die Luft war kühl, es roch trocken und ein bisschen erdig.

Judar stand neben ihr, die Arme vor der Brust verschränkt, die Unterlippe trotzig vorgeschoben – ein perfektes Bild von Unwillen und Unlust. Sie versuchte, seine schlechte Laune zu ignorieren; sie war selbst schon mies genug drauf, ohne sich davon noch anstecken lassen zu müssen. Und zumindest hatte Koumei Recht; es würde Judar wohl eine Lehre sein! Eine Lehre, die wirklich bitter nötig war.

 

Nur war Kougyoku sich nicht sicher, ob sie wirklich seine Lehrerin sein wollte.

 

Eigentlich nicht.

 

Sie straffte die Schultern, reckte das Kinn vor und strich ihre Kleider glatt, ehe sie einen beherzten Schritt auf die Obsidiantafel zuging.

„Komm“, befahl sie Judar in einem Tonfall, der klar keine Widerworte zuließ. Trotzdem erstaunte es sie, dass Judar folgte. Normalerweise hätte er wohl eher genau das Gegenteil getan, aber… Vielleicht mochte er in einem Dungeon genauso wenig allein sein wie sie selbst.

Wer wusste schon, was passieren würde. Vielleicht würde ein Monster hervorgesprungen kommen, hinter der Tafel, sobald sie nur nahe genug herankamen. Vielleicht würde irgendetwas von der Decke fallen. Riesenspinnen. Oder giftige Skorpione mit Löwenköpfen und messerscharfen Reißzähnen… Sie erschauderte, zog ihre Haarnadel hervor und umklammerte sie wie die Waffe, die sie strenggenommen für Kougyoku eben auch war. Sie war nicht allein. Sie hatte Judar, und er mochte noch so nervig sein, er war ein fähiger Magi, auf dessen Kräfte sie sich jederzeit verlassen konnte. Und sie hatte Vinea, die sie schon so manches Mal vor jedem Unheil bewahrt hatte.

 

Es waren keine Monster. Keine Riesenskorpione oder Löwenmutanten. Keine Chimären. Nichts sprang hinter der Tafel hervor. Das Einzige, das Kougyoku fand, als sie nähertrat, waren Worte, die in die glatte, polierte Oberfläche geritzt waren. Groß und gut lesbar.

„Lies vor“, forderte Judar. Kougyoku schnaubte, sah ihn tadelnd an, „Du kannst das selbst lesen, Judar-Chan.“

Er verzog das Gesicht, rümpfte die Nase, streckte dann die Zunge raus.

„Keine Lust.“

Sie hatte auch keine Lust! Aber sie kannte Judar: Er war störrisch wie ein Esel, und wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, diese Tafel nicht zu lesen, würde er es auch nicht tun, egal, was passieren würde. Also blieb ihr im Grunde keine andere Wahl, als seiner Forderung nachzukommen, wenn sie nicht ewig hier verrotten wollte. Und das wollte sie nicht. Sie war viel zu jung zum Sterben! Sie war nicht einmal verheiratet! Sie hatte noch nicht einmal ihren ersten Kuss gehabt, oder einen romantischen Abend unter dem Sternenhimmel. Nein, sie konnte wirklich noch nicht sterben. Also seufzte sie nur, warf Judar einen ärgerlichen Blick zu und wandte sich dann der Steintafel zu, um vorzulesen:

 
 

„Nur wer aus eigener Kraft
 

mit Hand und Herz den Turm erklimmt,
 

allein es bis nach oben schafft,
 

den Schatz hoch droben an sich nimmt.
 

 
 

Magie darf keine Hilfe sein,
 

Verstand und Körperkraft allein
 

Sollen führen euch ans Ziel,
 

so wahr es denn das Schicksal will.“
 

 

Kougyoku runzelte die Stirn, ein wenig überfordert.

„Keine… Magie?“, wiederholte sie, suchte irritiert Judars Blick. Der sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen – oder schlimmeres.

„Keine Magie“, bestätigte er säuerlich, zähneknirschend, „Ich kann nicht mal schweben.“

Sie blinzelte. Es stimmte. Er stand auf den Füßen. Für einen Moment verspürte sie Mitleid. Es musste unangenehm sein mit den nackten Sohlen auf dem harten, rauen Stein. Sie fand es mit Schuhen ja schon schrecklich! Sicher schmerzten seine Füße bald, wenn sie allzu weit laufen würden.

Aber so, wie das klang, würden sie laufen müssen, und das nicht zu knapp. Kougyoku verzog leidend die Mundwinkel, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Sie fühlte sich unglücklich und allein gelassen, und für einen kurzen Moment zog sie es in Erwägung, einfach loszuheulen.

 

Sie war nicht geschaffen für so etwas. Sie hatte Zeit gehabt, sich auf Vinea vorzubereiten; es war alles geplant gewesen. Das hier? Das überstieg ihre Kompetenzen. Sie hatte Angst. Sie hatte auch vor Vinea Angst gehabt, aber sie war wenigstens vorbereitet gewesen! Sie hatte Ausrüstung gehabt. Proviant. Hier hatte sie nichts außer einem Magi ohne magische Kräfte, einem nutzlosen Metallgefäß und den Kleidern, die sie am Leibe trug. Sie schniefte. Judar warf ihr einen ungläubigen Blick zu, der ungefähr sagte „Beim Schicksal, heulst du etwa?“

Sie schniefte trotzig, wischte sich energisch mit dem Ärmel ihres Gewands über die Augen, bis die Feuchtigkeit darin nicht mehr so sehr brannte. Sie warf Judar einen vernichtenden Blick zu, dann wandte sie demonstrativ den Blick von ihm ab und stapfte los. Bisher zumindest war immerhin der Weg eindeutig – es ging nur vorwärts, nicht wahr?  

 

Sie fragte sich, wie Alibaba seinen Dungeon überstanden hatte. Sie mochte Aladdin nicht, aber vermutlich war die kleine Beulenpest daran nicht ganz unschuldig, dass der verrückte blonde Junge noch so gesund und munter war.

 

Sie fragte sich, wie König Sinbad seine Dungeons erobert hatte. Natürlich hatte sie all seine Schriften gelesen, aber… es war doch etwas anderes, die Berichte zu lesen, als zu wissen, was tatsächlich, exakt passiert war. Selbst Geschichtsschreibung war nicht immer akkurat, entsprechend erwartete Kougyoku nicht, dass jedes einzelne Wort so passiert war, wie es beschrieben stand. Zu gerne wäre sie dabei gewesen, wie er einen Dungeon eroberte. Zu gerne hätte sie gerade König Sinbad an ihrer Seite gehabt. Oder auch Alibaba. Irgendjemanden, der ihr Mut machen würde, statt, wie Judar es tat, missgelaunt neben ihr her zu trotten.

 

Der Weg, den sie gingen, war ansteigend. Zuerst war es nicht viel, und Kougyoku merkte es kaum, doch bald wurde es anstrengend und ihre Beine begannen zu schmerzen. Sie war nicht unsportlich, aber sie war verwöhnt; sie reiste so komfortabel es möglich war, und da waren ihr ausgedehnte Fußmärsche absolut nicht geläufig. Spaziergänge, ja. Auf extra dafür ausgelegten, schönen, ebenen Wegen, die durch hübsche Gärten führten, oder auf ebenen Märkten, wo sie bunte Waren aus aller Herren Länder begutachten konnte.

Aber kein Gewaltmarsch über felsig-unebenen Boden, der ihr alle paar Schritte durch die diesige Dunkelheit spitze Steinchen in die Schuhsohle drückte!

Judar mit seinen nackten Füßen tat ihr so langsam wirklich leid. Sie wagte gar nicht, in seine Richtung zu gucken. Zwar war es dunkel, so sehr, dass sie kaum genug sah, um nicht gegen eine Felswand zu laufen, aber sie fürchtete, dass sie trotzdem dunkle Spuren am Boden sehen würde, wo seine bestimmt schon blutigen Füße aufgetreten waren. Und bei all dem lief er einfach stoisch und schweigend neben ihr her.

Sie wusste nicht, warum er so still war. Vielleicht war es die schlechte Laune. Der Ärger über die Machtlosigkeit, ein ganz neues Gefühl für Judar. Kougyoku hatte sich ihr halbes Leben lang machtlos gefühlt, für sie war das nichts Neues. Unangenehm war es dennoch; wie ein altes Kleid, das man anzog, obwohl es zu eng geworden war. Es drückte, zwickte und kniff überall, aber es war vertraut. Im Gedanken daran, wie sehr das Judar gerade alles zusetzen musste, war Kougyoku fast froh, dass sie ihr altes, kneifendes Gewand der Machtlosigkeit hatte.

So fühlte sie sich immerhin nicht ganz nackt.

 

Und sich vor Judar nackt zu fühlen, egal in welcher Form, darauf konnte sie nun ehrlich doch verzichten!

 

 

 

IV.

 

Bis die Dunkelheit um sie herum sich endlich lichtete, schmerzten Kougyokus Füße so sehr, dass jeder einzelne Schritt eine unglaubliche Qual war. Schon seit einer ganzen Weile schniefte sie heimlich in sich hinein, sog bei jedem Schritt scharf die Luft ein. Doch sie weigerte sich, allzu deutlich zu zeigen, wie unwohl sie sich fühlte. Nicht nur, dass sie eine Prinzessin einer großen Krieger-Nation war, vor Judar wollte sie nicht wie ein jammerndes Kleinkind dastehen. Nicht, wenn der mit seinen nackten Füßen völlig nonchalant neben ihr her spazierte, als mache es ihm gar nichts aus.

 

Schließlich flachte der Weg ab und der schmale Tunnel rings von ihnen endete in einem weiteren Felsspalt. Einmal hindurchgezwängt standen sie in einem gut beleuchteten (die Lichtquelle allerdings war unsichtbar), marmornen Raum, der Kougyoku an ferne Gebetshallen erinnerte. Es gab drei Wege, die weiterführten, und einen Altar, der in der Mitte aus dem Boden ragte, reich verziert mit Gold und Edelsteinen. Es war kühl und die Luft roch hier drin viel frischer als eben noch. Die Wände waren von schlichter Schönheit; hell, glatt poliert, mit einer dunkleren Bordüre, die ein edles, dezentes Muster zierte.

Eigentlich war es sogar richtig hübsch.

 

Uneigentlich aber fühlte Kougyoku sich überhaupt nicht wohl; sie war schließlich immer noch in einem Dungeon! Zaghaft nur – und das lag nicht nur an ihren schmerzenden Füßen – näherte sie sich dem Altar. Was das wohl nun werden würde? Eine Opfergabe? Was sollte sie opfern? Sie hatte schließlich nichts! Normalerweise wäre sie gut ausgerüstet, auch für solche Situationen. Hätte man mehr Zeit gehabt, sie vorzubereiten. Hätte Judar nicht aus Langeweile diesen Dungeon hochgeholt.

Hätte, hätte, hätte.

Aber nun war es ohnehin viel zu spät für solche Gedanken. Jetzt stand sie schon mitten im Unheil und konnte nichts weiter tun, als mit stolz erhobenem Blick voran zu schreiten, ganz, wie man es von ihr erwartete. Sie wollte ihre Familie nicht enttäuschen. General Kouen hatte sie schon lange anerkannt. Sie wollte ihm keinen Grund geben, seine Entscheidung jemals zu bereuen. Sie wollte, dass er stolz auf sie war, wenn er zurück nach Rakushou kam und von ihrem erfolgreichen Bezwingen dieses Dungeons hörte.

 

Und sie wollte Alibaba unter die Nase reiben, dass sie so etwas Großes geschafft hatte. Er würde so wunderbar dumm gucken! Und schrecklich empört sein, ganz bestimmt. Alibaba hielt doch nie hinter dem Berg mit seinen Gefühlen. Das mochte sie an ihm. Er wirkte so ehrlich.

 

Und König Sinbad wäre gewiss beeindruckt. Zwei Djinns zu tragen war keine Alltäglichkeit. Vielleicht würde er sie dann eher so bemerken.

 

Judar neben ihr räusperte sich genervt, sah sie mit hochgehobenen Augenbrauen an. Sie blinzelte. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sie geträumt hatte, und schlagartig wurde sie rot, stieß einen leisen, gar nicht so würdevollen Laut aus und verdeckte das rote Gesicht mit den Händen. Ausgerechnet vor Judar! Er würde sie ewig damit aufziehen, dass sie selbst in einem Dungeon noch herumträumern konnte!

„Setz dich in Bewegung, Weibsbild“, knurrte der Magi ungeduldig, „Ich hab keine Lust, den Rest deines Lebens hier zu verbringen. Danach spuckt mich der Dungeon zwar sicher wieder aus, aber ich kann drauf verzichten, mir anzuhören, wie du irgendwann dein graues Haar und die ganzen Falten beweinst, alte Hexe.“ – „Du bist älter als ich“, schoss Kougyoku zurück, zeigte empört mit einem Finger auf ihn, „Du stirbst also viel früher als ich!“

Sie stampfte mit dem Fuß auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stapfte dann an Judar vorbei zu dem Altar hin. Über die Schulter warf sie ihm einen bösen Blick zu.

„Außerdem könntest du auch einfach selbst mal etwas tun! Du bewegst dich ja selbst nicht!“

 

Er streckte ihr nur sehr vulgär die Zunge raus – so ganz mit offenem Mund! – und schloss wieder zu ihr auf. Desinteressiert lehnte er sich über ihre Schulter zu dem Altar hin, rümpfte die Nase.

„Wieder nur Text?“

Sie folgte seinem Blick.

Es war nur ein Satz, der dort auf dem glatten, dunklen Marmor geschrieben stand.

 

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Wähle, was am Wichtigsten ist.“

 

Sie hob den Blick. Über den drei Ausgängen, die sie vorhin schon erblickt hatte, waren Symbole in die Wand geritzt – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Stirnrunzelnd trat sie näher, betrachtete das Bild vor sich eingehend. Alle drei Ausgänge sahen exakt gleich aus – Rahmen aus dunklem Marmor, darunter Durchgänge, die erst einmal völlig identisch aussahen, und sich nach wenigen Schritten ohnehin wieder in Dunkelheit verloren. Kein Hinweis darauf, was die richtige Antwort sein mochte. Keine Spuren. Nichts. Nachdenklich wiegte sie den Kopf. Sie sollte wählen, was am Wichtigsten war? Wie sollte sie das denn wissen? War das überhaupt eine Frage, die man beantworten konnte? Und wieso fand sie solche Rätsel in einem Dungeon?

Vinea war um einiges brutaler gewesen als ewige Spaziergänge und Rätselraten. Sie würde all die scheußlichen Monster niemals vergessen. Und den seltsamen Höhlensee mit den unheimlichen, singenden Wesen, deren klagende Stimmen von Leid und Verderben gesungen hatten, und das doch so süß, dass man sich in Acht nehmen musste, nicht ihrem lockenden Ruf in den nassen Tod zu folgen. Sie erschauderte bei der Erinnerung, zog die Schultern hoch.

Eigentlich war sie froh, dass sie es hier nur mit Rätselraten und Märschen zu tun hatte.

 

„Also?“

Judars Stimme riss sie aus der nasskalten Erinnerung. Sie schüttelte den Kopf und sah ihn an. Also?

„Wieso versuchst du es nicht?“, entgegnete sie schnippisch. Judar sah sie einmal mehr an, als wäre sie ein kleines Kind.

„Es ist dein Dungeon“, erklärte er, als wäre damit alles gesagt. Mit einem Schulterzucken verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und verlagerte das Gewicht ein Stück nach hinten.

„Also bring uns hier raus.“

Sie blies die Wangen auf, sichtlich verärgert, wandte sich dann aber wieder von ihm ab. Schön, wenn er meinte! Würde sie eben entscheiden. Es war nicht, als wären Judars Ideen besser als ihre. Wahrscheinlich würde er am Ende einfach auf die Idee kommen, zu verkünden, dass es doch eh einerlei war, und schlicht irgendeinen Weg entlangmarschieren. Oder es auszählen. Oder sie vorschubsen mit der Erklärung, dass sie jetzt ihr Kundschafter sei.

„Hmpf.“

 

Sie seufzte, straffte dann die Schultern.
 

„Die Vergangenheit. Sie macht uns schließlich zu dem, was wir heute sind. Ohne unsere Vergangenheit wären wir Niemande, und wäre unsere Vergangenheit anders, wären auch wir heute nicht die, die wir sind. Also ist unsere Vergangenheit das Wichtigste.“

Ihre Vergangenheit, und damit auch ihre Herkunft, ihr Stand. Dinge, die teilweise bis zu ihrer Geburt zurückreichten, und dennoch ihr ganzes Leben auch heute noch beeinflussten und lenkten. Die sie als Person geformt und definiert hatten.

 

Hinter ihr fing Judar an zu lachen. Es war ein böses, gehässiges, gackerndes Lachen.

 

„Klar doch. Die Vergangenheit ist vor allem eines – vergangen. Hat dir noch niemand gesagt, dass es ungesund ist, in der Vergangenheit zu leben? Wenn du dich nie von dem lossagen kannst, was gestern war, kommst du keinen Schritt voran. Glaubst du also wirklich, das ist so wichtig? Macht das denn etwas aus, ob man als Prinzessin oder Hurenkind geboren ist?“

Sie sah Judar wütend an, verletzt. Doch im nächsten Moment musste sie an Alibaba denken. Alibaba, den Prinz und den Gossenjungen, den reisenden Händler und den Dungeon-Eroberer. Dann dachte sie an König Sinbad, den armen Fischerssohn, und zog die Schultern hoch, ihr Blick wurde ein wenig milder, kleinlaut.

„Vielleicht hast du recht“, lenkte sie ein. Mehr nicht. Es reichte auch so schon! Judar grinste selbstzufrieden, nickte.

„Also, was dann?“

Wieso sagte er es ihr nicht einfach? Vermutlich wusste er es einfach selbst nicht.

 

Kougyoku allerdings wusste es auch nicht.

Was war wichtiger? Die Zukunft? Die Gegenwart? Die Gegenwart, das Hier und Jetzt, das Leben, das sie wirklich lebte. Die Zukunft lag im Ungewissen, schicksalsbestimmt, aber sie konnte nicht wissen, was morgen kommen würde. Oder ob sie morgen noch lebte.

„Die Gegenwart“, schlussfolgerte sie so schlussendlich, sah Judar entschlossen an.

„Die Gegenwart ist das Wichtigste, weil wir sie wirklich leben. Weil sie Resultat dessen ist, was in der Vergangenheit passiert ist, und Grundstein für die Zukunft, die uns erwartet.“

Judar sah sie an. Er sagte nichts. Kougyoku spürte Nervosität in sich aufkeimen. Sie mochte es nicht, dass er sie nicht auslachte. Dass er gar nichts sagte. Es verwirrte sie.

 

„Warum nicht die Zukunft?“, fragte er schließlich, nahm die Arme hinter dem Kopf runter und verschränkte sie vor dem spärlich bekleideten Oberkörper. Verdutzt von der Frage sah Kougyoku ihn einen Moment nur irritiert an, kratzte sich dann hilflos an der Halsseite.

„Weil… wir nicht einmal wissen, ob wir eine Zukunft haben“, begann sie zögernd, „Wir wissen ja nicht, wann wir sterben. Deshalb kann es nicht das Wichtigste sein.“

 

„Hm.“

 

Judar schien nicht zufrieden mit ihrer Antwort zu sein. Er schüttelte den Kopf.

 

„Aber die Zukunft ist das Einzige, das wir selbst beeinflussen können. Was vergangen ist, liegt außerhalb unseres Einflusses. Die Zukunft aber formen wir erst durch das, was wir in der Gegenwart tun. Ist damit die Zukunft nicht das Wichtigste, weil sie Resultat unseren Lebens ist?“

Kougyoku schüttelte den Kopf.

„Die Zukunft ist von unserem Schicksal bestimmt, Judar.“

 

Es waren eindeutig die falschen Worte. Plötzlich wurde Judars Blick sehr kalt.

 

„Bullshit“, spuckte er mit so viel hasserfüllter Abscheu, dass Kougyoku einen Moment instinktiv vor ihm zurückwich. Sie hatte keine Angst, aber der Tonfall, den sie noch nie ihr gegenüber vernommen hatte, erschreckte sie. Normalerweise sprach Judar nicht so mit ihr!

„Bullshit“, wiederholte er noch einmal, seine Augen waren zu zwei funkelnden, rubinroten Schlitzen verengt. Er sah gefährlich aus so. „Wir bestimmen selbst, was aus uns wird. Es gibt kein Schicksal, dem wir folgen müssen!“

Kougyoku lächelte traurig.

„Nenn es, wie du willst“, erwiderte sie seufzend, strich sich unglücklich die Haare in der Stirn zurecht, „Am Ende werde ich trotzdem irgendeinen schrecklichen Mann heiraten, den ich nicht heiraten will, weil das meine Bestimmung ist.“

 

Judar schnaubte nur wieder.

„Wirst du nicht.“

Dann wandte er sich von ihr ab, das Gespräch offensichtlich beendet, und schritt viel zu selbstbeherrscht und elegant, als dass seine Füße schmerzen könnten, auf den mittleren Gang zu.

„Die Gegenwart. Weil ich dir heute beweise, dass deine ausgemalte Zukunft reiner Schwachsinn ist.“

 

Ehe Kougyoku hätte protestieren können – oder verstehen können, wieso ihr Herz auf einmal so wild schlug – war, Judars dunkle Silhouette schon von der Finsternis des Gangs verschluckt worden. Eilig raffte sie ihre Kleider und folgte ihm in die Dunkelheit.

 

 

 

V.

 

Der Name des Djinns war Foras.

 

Sie – denn es war ganz eindeutig eine Sie – hatte Ähnlichkeit mit einem Mensch, doch ihre Gliedmaßen waren länger, waren schmaler, und ihre Ohren waren seltsam lang. Sie hatte lange, lange Finger, die unglaublich elegant aussahen mit langen, spitzen Nägeln. Das lange Haar umspielte ein Gesicht, das oval war, länglicher als das eines Menschen, aber ungleich schöner, mit mandelförmigen, dunklen Augen, in denen man gar kein Weiß fand, einer spitzen, schmalen Nase und vollen Lippen, die sich in einer entzückenden Schnute des Mitleids vorwölbten, als sie ihre beiden Gäste erblickte.

Judar und Kougyoku gaben auch kein hübsches Bild ab.

Beide waren zerzaust und verschmutzt nach einer Hetzjagd mit haushohen, aber immerhin schwerfälligen Riesenschlangen, denen sie nur hatten entkommen können, weil den baumstammdicken Leibern die typische Wendigkeit ihrer kleinen Artgenossen fehlte. Schlingpflanzen, die es scheinbar nicht mochten, wenn man ihnen zu nahe kam, hatten brennende, juckende Striemen auf ihrer Haut hinterlassen, als sie sie rüde gepackt  und herumgezerrt hatten. Die langen Wege hatten ihre Füße zerschunden. Judars Sohlen hinterließen rosige Schmieren auf dem Boden, auf dem er trat, Kougyokus Schuhsohlen waren durchgelaufen. Als sie das erste Loch bemerkt hatte, hatte sie einen regelrechten Weinkrampf bekommen und beschlossen, keinen einzigen Schritt mehr zu tun.

 

Sehr zu ihrer Überraschung hatte Judar sie einfach wortlos auf die Arme gehoben. Minutenlang hatte sie in ihre Ärmel geschluchzt, bis sie überhaupt wieder aufsehen konnte, danach hatte sie einen leisen Dank in den weichen, üppigen Stoff genuschelt und geschwiegen, fast behaglich. Ihrem erschöpften Körper tat es so gut, sich einmal entspannen zu können und nicht weiter anzustrengen, dass sie darüber sogar vergaß, dass sie sich in Judars Gesellschaft eigentlich nie so wohl fühlte.

 

Foras war eine quirlige, lebhafte Dame, die, so schätzte Kougyoku, nicht sehr alt sein konnte. Ihre Haut – teilweise ging sie in glänzende Schuppen über, es sah faszinierend aus – war noch ganz glatt, aber vor allem war es die Art, wie sie sich bewegte und sprach, die sie zu dieser Annahme brachte. Ihr haftete eine erfrischende, jugendliche Heiterkeit an.

„Ich bin Foras, Djinn von Logik und Langlebigkeit!“, stellte sie sich vor, ihre dunklen Augen blitzten wie Edelsteine. Sie kicherte, „Und ihr seid ganz schön zerschlagen!“

Judar, der Kougyoku noch auf den Armen trug, schnaubte, ließ sie fast behutsam – für seine Verhältnisse! Es war immer noch grob – herunter. Sie strauchelte, ihre Füße wollten sie nicht ganz tragen. Judar schlang abwesend einen Arm um sie und sie lehnte sich an seine Schulter.

„Und wer ist wohl schuld daran?“

 

Die Frage brachte Foras nur wieder zum Lachen.

„Aw. Sei nicht so~ Sieht nicht aus, als würdet ihr so sehr darunter leiden.“

Sie warf den beiden einen sehr eindeutigen Blick zu, der Kougyoku erröten ließ. Allen Schmerzen zum Trotz stob sie sofort von Judar weg, um schließlich mit hochrotem Kopf alleine da zu stehen, mit zitternden Knien, die immerhin unter ihren weiten Roben verborgen waren. Sie schielte nur ganz kurz zu Judar hinüber. Sein Blick schien Foras erdolchen zu wollen, doch der hübsche Djinn ließ sich davon überhaupt nicht stören. Foras, im Gegensatz zu Kougyoku und Judar, amüsierte sich köstlich.

 

 

Ihr glockenhelles Lachen klirrte noch in Kougyokus Ohren nach, als die mystische Umgebung des Dungeons längst wieder dem vertrauten Kou-Empire gewichen war.

 

 

 

VI.

 

„Das ist mein letztes Wort. Sucht euch einen anderen Magi, wenn es euch nicht passt.“

 

Der junge Mann mit dem langen schwarzen Haar schwebte in der Luft, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine überschlagen. Ihm gegenüber saß auf einem üppig gepolsterten Lehnstuhl ein Mann mit tiefrotem Haar, das nicht besonders lang war. Ein kleiner, spitzer Kinnbart zierte sein ernstes, strenges Gesicht. Seine Stirn war verärgert gerunzelt, die Augenbrauen zusammengezogen. Zwischen ihnen waren steile Falten zu sehen.

Neben ihm stand ein zweiter Mann, ebenfalls rothaarig, doch hatte sein Haar eine sichtbar andere Farbnuance. Es war zerzaust und ungepflegt, aber lang. Er sah unter müden Augenringen deutlich verstimmt aus, wenn man näher hinsah.

„Mein König-“, begann der Mann mit dem ungepflegten Haar einen Protest, doch der Andere, sein König, hob die Hand und brachte ihn damit unvermittelt wieder zum Schweigen.

 

„Nun gut.“

 

Während der zweite Rotschopf überhaupt nicht zufrieden aussah, grinste der Schwarzhaarige.

 

Es war ein unheilverkündendes, gefährliches Grinsen, und sofort runzelte der sitzende Mann die Stirn; es wirkte fast, als zweifele er jetzt schon an seiner Entscheidung.

 

 

 

VII.

 

Das erste Mal, dass sie Foras‘ Djinn-Equip schaffte, versteckte Kougyoku sich umgehend hinter dem nächsten Baum. Sie hatte mit Hakuei trainiert. Ihre Schwester Kourin, gerade zu Besuch aus der Heimat ihres Ehemanns, hatte interessiert zugesehen.

Die entgeisterten Blicke ihrer Schwestern hatten ihr schon genug gesagt, ehe sie auch nur an sich hinabblickte.

Nicht nur, dass gerade mal ein paar dünne Stoffstreifen ihre Blöße bedeckten, diese Stoffstreifen waren zu allem Überfluss auch noch durchsichtig. Kougyoku wäre vor Scham am Liebsten im Erdboden versunken!

So konnte sie niemals kämpfen.

Nein.

Sie hatte Vinea schon als unschicklich empfunden. Aber das hier schlug jedem Fass den Boden aus!

 

„Du siehst absolut albern aus.“

 

Nicht einmal hinter dem Baum war sie sicher – erschrocken blickte sie in Judars blitzende Rubinaugen, spürte, wie Hitze ihr ins Gesicht schoss.

„G-guck mich gefälligst nicht an!“, kreischte sie panisch, versuchte mit den Händen ihre Blöße zu bedecken. Judar sah sie nur erheitert und spöttisch an, die Augenbrauen gehoben. Sein Blick verließ nie ihr Gesicht.

Im nächsten Moment schüttelte er den Kopf. Als er wieder aufsah, sah er irgendwie verstimmt aus, unzufrieden. Verärgert? Oder war das Ekel? Kougyoku wusste es nicht, aber sie wusste, dass sie ihn schlagen würde, wenn er sie weiter überhaupt ansah.

 

„Ehrlich, sonst hast du mir besser gefallen, alte Hexe. Da konnte dir wenigstens niemand in den Ausschnitt glotzen.“

 

 

In ihrer schambedingten Panik bildete sie sich ein, er klänge irgendwie eifersüchtig.

 

 

 

VIII.

 

Es waren Tage wie diese, an denen Kougyoku sich einfach nur verstecken und heulen wollte. Am liebsten hätte sie sich unter ihrer Bettdecke verkrochen, erwartet, dass der Rest der Welt draußen blieb, und wäre nie wieder hinausgekommen.

Sie konnte nicht. In ihrem Zimmer hatte der ganze Schlamassel angefangen, entsprechend wollte sie dort gerade einfach nicht sein. Die schicksalhaften Worte hallten immer noch in ihren Ohren wieder.

 

„Du wirst heiraten.“

 

Jetzt saß sie hier in einer etwas verborgenen Ecke des Palastgartens, Tränen rannen über ihre Wangen, während sie mit zitternden Fingern Blumen zu einem Kranz flocht, um sich abzulenken. Sie wollte nicht heiraten.

Ja, sie hatte gewusst, dass das kommen würde. Lang genug! Inzwischen war sie zwanzig, es wurde auch höchste Zeit, strenggenommen. Aber sie wollte nicht! Sie hatte Ahbmad nicht gewollt, und sie wollte auch nicht, was auch immer man ihr nun andrehen wollte.

Sie hatte gar nicht lange genug zugehört, um das zu erfahren. War einfach abgehauen, weggerannt, hatte sich die Ohren zugehalten. Sie wusste, dass sie sich kindisch benahm, und dass sie später noch die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen musste, aber gerade war ihr das relativ egal. Sie wollte nichts von Hochzeit hören, von ihrem zukünftigen Ehemann, von dem sie vermutlich noch nie auch nur wirklich gehört hatte. Alle Reiche, an denen Kou gerade Interesse hatte, hatten einen politisch sicheren Stand, sei es durch Heirat oder andere Bündnisse, und keines dieser Länder erforderte eine politische Heirat mit ihr.

Hatte man sie einfach an den nächstbesten verschachert, damit sie überhaupt noch einen Mann von Rang und Namen abbekam? Inzwischen war auch Hakuei verheiratet. Sie war die Letzte, die noch übrig blieb. Gut. Wenn man von den Prinzen absah, aber das war ohnehin eine ganz andere Sache. Frauen mussten verheiratet sein. Männer nicht. Das war eben so, und das würde wohl auch immer so bleiben.

 

Unglücklich zupfte sie an ihrem Blumenkranz herum. Sie wollte mit jemandem reden, aber niemand war da! Ka Koubun war außerhalb, weil er dringende Botengänge für sie erledigen musste, Judar war gottweißwo, und überhaupt würde sie sich sicher nicht bei ihm ausweinen!

 

Wobei sie ja zu ihm hingehen könnte – „Ich hab es dir ja gesagt.“

Sie hatte es ihm schließlich gesagt, nicht wahr? Damals in dem Dungeon. Ihre Bestimmung war eben doch fest geblieben.

 

Aber sie wollte ihn gerade nicht sehen. Sie wollte niemanden sehen!

Alibaba hätte sicher Verständnis, aber der war sonst wo mit diesem schrecklichen Gör Aladdin, das ihr inzwischen über den Kopf gewachsen war. Auf Kouen war sie wütend, hatte er ihr doch die schlechten Nachrichten gebracht. Persönlich. Eigentlich sollte sie sich geehrt fühlen, aber dafür war sie zu betrübt.

Niedergeschlagen ließ sie den Kopf hängen, tropfte Tränen auf ihren Blumenkranz. Ihre Finger zitterten, ihr Blick verschwamm, und als sie die nächste Blume einbinden wollte – riss der Kranz.

 

„Nicht das auch noch!“, schluchzte sie verzweifelt auf, warf den kaputten Kranz schwungvoll von sich und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie wollte wirklich nicht mehr. Es war gerade alles so gut gewesen! Sie hatte zwei Djinns, Prinz Koumei hatte aufgehört, sie wie ein Kind zu behandeln, und wenn Judar sie ansah, wurde ihr immer ganz warm.

Und jetzt sollte sie heiraten.

 

Sie hasste ihr Leben gerade wirklich.

 

 

Das Gras vor ihr raschelte. Sie regte sich nicht. Kurze Zeit später spürte sie, wie ihr etwas auf den Kopf gelegt wurde, sie roch den süßen Duft von Blumen.

„Man sollte meinen, ein gerissenes Blümchen sei kein Grund, einen ganzen Kranz wegzuwerfen“, kommentierte eine spöttelnde, viel zu vertraute Stimme. Kougyoku schniefte nur, wischte sich energisch über die Augen.

Als sie doch aufsah, schwebte Judar im Schneidersitz weit über ihr, sah auf sie hinunter mit dieser Art neugieriger Skepsis, wie er sie auch kleinen Tierchen und Ameisen entgegenbrachte. Sie funkelte ihn an, versuchte dabei noch irgendwie würdevoll auszusehen mit den rot verquollenen Augen und dem feuchten Gesicht.

 

„Lass mich“, schnauzte sie unglücklich, ihre Lippen bebten gefährlich.
 

Aber Judar ließ sie nicht. Er blieb genau da in der Luft schweben, wo er eben gerade schwebte, und sah sie schweigend, abwartend an. Sein Blick war ein bisschen weniger skeptisch geworden, und das Stirnrunzeln hätte sie bei jedem, der nicht Judar war, als besorgt interpretiert. Bei Judar war es vermutlich nur wieder ein Theater, um zu bekommen, was er wollte.

…und er bekam es. Kougyoku hasste sich selbst dafür, aber unter Judars Blick blieb sie nicht lange standhaft und platzte mit ihrem Unglück heraus:

„En sagt, ich muss heiraten.“

 

Judars Augenbrauen wanderten. In der Luft kippte er um, bis er kopfüber hing, immer noch im Schneidersitz, die Hände auf die Unterschenkel gestützt.

 

„Und deshalb heulst du?“
 

Sein langes Haar pendelte unter ihm hin und her. Es lenkte sie so sehr ab, dass sie auf seine Worte nur ein unsicheres Schulterzucken zustande brachte. Judar schüttelte den Kopf. Sein Blick war schwer zu lesen, wo sie ihn falsch herum sah, aber eigentlich sah er gerade fast liebevoll aus.

Kougyoku mochte es, auch wenn der Blick wohl nur am perspektivischen Knick in der Optik lag.

 

Er lachte. Sanft.

 

„Oh Kougyoku, du bist so ein Dummerchen. Und da dachte ich schon, mein zukünftiges Eheweib hätte ernsthafte Probleme!“

 

 

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder heulen sollte. Oder Judar aus der Luft reißen und verprügeln.

Am Ende beschloss sie, dass er vielleicht doch manchmal Recht hatte. Vielleicht war ihre Zukunft ja wirklich nicht in Stein gemeißelt.

Schlagen wollte sie ihn trotzdem noch. Sobald sie fertig damit war, ihn zu umarmen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  MyokoMyoro
2015-10-02T21:28:55+00:00 02.10.2015 23:28
Der Anfang ist klasse und das Ende ist einfach goldig <3!!! Mach bitte weiter so!
MyokoMyoro
Von:  Nando
2015-02-16T21:42:48+00:00 16.02.2015 22:42
ich find das klasse! Angefangen damit wie du Mei beschreibst haha! Da hattest du mich! Judars Art is auch super beschrieben! Gefällt ir echt verdammt gut :D weiter so


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