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Under your wings

von

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„Woher?“, fragte er deswegen und Levi wandte den Kopf leicht zur Seite, sah ihn an.

„Deine Familie zog hier ein, als du vier warst. Ich wohnte nebenan.“

„Du hast… Bei Mrs. Rivaille…“ Der Groschen fiel und kam klirrend auf dem Boden auf. „Aber Hanji meinte … Detroit?“ Jetzt war er völlig verwirrt.

„Schon mal was von Adoptionen über das große Wasser gehört? Mit afrikanischen Blagen passiert das ewig“, kam die neutrale Erklärung und Levi wandte den Blick wieder von ihm ab.

„Aber sie ist doch so früh gestorben… Ich kann mich nicht an dich erinnern.“

„Wie auch? Ich bin im selben Jahr von hier abgehauen.“

Levis Stimme wurde ruhiger und Eren meinte, einen Hauch von Wärme in ihr zu hören. „Als Charlotte krank wurde, meinte sie ich solle gehen. Sie wollte nicht, dass ich bleibe. Ich

hatte zwei Möglichkeiten: Zurück in ein Jugendheim oder die vorzeitige Volljährigkeit.“

„Du hast Letztes gewählt?“

„Und ging zur Armee.“

„Warum das?“

„Ich sah mich nie als Student oder Lehrer, als Bürofutzi erst recht nicht“, meinte Levi und ließ seinen Blick kurz zu den beiden Frauen wandern, die sich jedoch für sie nicht zu interessieren schienen.

„Hat Mrs. Rivaille dich hierher geholt?“

„Eine andere Familie.“

„Wann kamst du her?“ Er musste es ausnutzen, dass Levi von sich erzählte. Er wollte das Wissen besitzen dürfen, welches der Ältere im Moment bereit war zugeben.

„Mit … elf. Ich war elf, als mein Arsch von einer Jugendamtsfotz- Mitarbeiterin in einen Flieger der ‚Bitish Airways’ gesetzt wurde.“

„Wie war die Familie?“

„Anfangs durchschnittlich. Aber nur fürs Jugendamt und die Adoption. Das typische Blabla für die Ordnungshüter. Er schlug seine Frau, er schlug mich. Ich mochte meine Ersatzmutter jedoch, wehrte mich deswegen nicht gegen ihn, weil ich lernte, dass er sonst auf sie losging. Aber ich lernte durch ihn auch das Kämpfen.“

Eren wagte es nicht, irgendwas zu fragen. Es schien, als wäre Levi nicht fertig mit dem, was er sagen wollte.

„Ich war mit vierzehn durch. Zur Schule ging ich nicht – konnte ich nicht. Er sperrte uns ein, meinte, es sei das Beste. Nach einem Monat kam die Jugendamtsmitarbeiter, die mich in Empfang genommen hatte und steckte mich zurück ins Heim – hier in England. Später kam ich zur Pflege zu Charlotte.“

„Aber sie war alt…“

„Sie war keine fünfzig“, berichtigte Levi ihn. „Krebs macht alt.“

„Ich war damals vier … du …“

„Sechzehn, beinahe siebzehn.“

„Aber das Militär…“

„Ich war vor dem Gesetz volljährig und laut Ergebnissen geeignet.“

„Dann warst du aber keine dreizehn Jahre da.“

„Nein. Vierzehn.“

„Wow.“ Eren wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Das hatte ihn ein wenig aus der Bahn geworfen. Noch vor wenigen Stunden hatte er geglaubt, niemals etwas über den neuen Nachbarn zu erfahren und nun begann dieser von allein damit?

„Deine Mutter war eine sehr freundliche, sehr hübsche Frau. Ist sie mit deinem Vater weg?“

Eren sah auf den Boden. Die Frage bohrte sich ungewollt wie ein Messer unter seine Haut. „Nein.“

„Wo ist sie?“

„Unter der Erde. Ein Stein mit einem Namen“, meinte er und biss sich auf die Unterlippe. Er sprach nicht über seine Mutter. Nie. Er sprach einfach nicht über sie, weil er damals den ersten Knacks bekommen hatte. Jean war dann nur noch der letzte Tropfen im randvollen Fass gewesen. Es war nicht fair abzublocken, also hatte er Levi die Antwort gegeben, auch wenn sie wehtat. Nach all den Jahren…

„Es tut mir leid.“

Da klang wirklich Reue in Levis Stimme mit, doch winkte er ab. „Du konntest es nicht wissen. Wie auch?“ Eren lehnte sich zurück, setzte sein falsches Lachen auf und tat so, als wäre die Welt in Ordnung. Nicht einmal Mikasa schaffte es, hinter diese Fassade zu sehen und kaufte ihm die gute Laune ab, die er ihr vorspielte. „Sie ist hatte einen Schlaganfall im Garten. Sie starb an den Folgen. Hirnbluten – all das. Ich war dreizehn damals.“

„Und dein Vater?“

„Ist seitdem kaum mehr zu Hause. Er kümmert sich seitdem nicht mehr wirklich um uns.“

Levis Antwort darauf war ein simples Augenverdrehen und es war Antwort genug. Es drückte Levis Meinung über ein solches Verhalten aus, ohne große Worte zu benötigen. Eren hatte wenigstens soviel über den Älteren gelernt. Auch wenn sie sich nicht sehr viel unterhalten hatten. Er glaubte, allein der Körpersprache des anderen genug Antworten zu finden, ihn langsam lesen und daraufhin reagieren zu können.

„Aber was anderes.“ Er wollte nicht weiter über Tod reden, wenn es zuvor eine so angenehme Atmosphäre gewesen war. „Welchen Rang hattest du in der Armee?“

„Einen Rang.“

Er stieß den anderen todesmutig mit dem Ellenbogen gegen den Oberarm. „Komm schon.“

„Captain.“

„Uh. Captain Rivaille. Klangvoll.“

„Du solltest die Finger vom Wein lassen, Kind.“

„Levi“, seufzte er nur fast schon genervt. Mit einem Mal ließ der Ältere jegliche Schotten schließen und machte dicht? Ernsthaft?

 

Levi

 

„Nimmst du mich mit?“ Hanji sah ihn fragend an, als sich zum gehen fertig machten. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, überhaupt so lange zu bleiben. Aber er hatte es zugelassen, dass die fast familiäre Atmosphäre ihn eingelullt hatte. „Ja“, gab er kurz von sich. Hanji umarmte die Geschwister zum Abschied und ging schon einmal zum Auto. Er hingegen gab Mikasa die Hand, ehe diese auch gleich der abendlichen Kälte wegen zurück ins Haus verschwand.

„Hat mich gefreut“, meinte Eren und reichte ihm die Hand. Ein kurzer, stärkerer Händedruck folgte. Levi war überrascht – er erinnerte sich noch an die lasche Begrüßung Erens bei ihrer ersten Begegnung.

„Hm.“

„Und Levi.“

„Was?“ Er schob gerade die Hände wieder in die Hosentaschen.

„Alles Gute zum Geburtstag.“

Ein schmales Lächeln erschien auf Eren Lippen, während Levi selbst nicht wusste, was er sagen sollte. Sicherlich war die Information von Hanji aus zu dem Jungen gesickert. Woher sollte Eren es sonst wissen? Aber scheinbar wurde keine Antwort von ihm erwartet, da Eren sich nun auch abwandte. „Gute Nacht“, murmelte der Jüngere noch schloss die Tür. Levi drehte sich daraufhin auch weg und zog die Autoschlüssel aus der Hosentasche, ehe er auf Hanji zuging. Er öffnete ihr die Beifahrertür, ließ sie einsteigen, doch spürte er die ganze Zeit diesen einen Blick auf sich.

„Er mag dich“, meinte sie als auch Levi sich ins Auto setzte.

„Tz.“

„Nein, nichts tz“, sagte sie und legte den Sicherheitsgurt an. „Ich meine das ernst. Er mag dich. Er respektiert dich, sieht zu dir auf.“

„Das sollte er schleunigst sein lassen“, gab er daraufhin nur von sich und startete den Wagen. Dass das Auto lief, hatte er keiner Werkstatt zu verdanken. Es war nur der einfache Handgriff dieses jungen Mannes, aus dessen Haus er gerade erst gekommen war.

„Warum hast du ihm nicht alles gesagt?“

„Was meinst du?“ Sie verließen gerade die Gasse, in welcher sich die Häuser befanden und er wandte den Blick kurz zu ihr um.

„Dass du zurück nach Amerika bist?“

„Weil es ihn nicht interessiert?“

„Es gibt vieles, was du ihm verschweigest.“

„Weil es ihn nichts angeht, Hanji. Er ist ein einfacher, durchschnittlicher Junge.“

„Der aber irgendwas an sich hat, das dich dazu bewegt, auf ihn aufzupassen.“

Aufpassen. Er hatte nicht einmal ein Auge auf Eren. Er ließ den Jungen machen, was auch immer diesem gerade in den Kopf kam. Nicht einmal die von Mikasa angesprochene Aufmerksamkeit bekam Eren im Übermaß von ihm. Und doch klammerte sich der Junge an ihn, als sei er der allerletzte Rettungsring auf weiter See.

„Du warst bei den Marines – das wird er auch wissen. Wir in England – wir haben das hier nicht.“

„Ich weiß.“

„Und dass Erwin ebenfalls Amerikaner ist, hättest du ihm auch sagen können.“

„Warum? Es ändert nichts an irgendetwas. Es ist nicht so, als müsste ich Eren meine ganze Lebensgeschichte, meine Beziehungen und Nicht-Beziehungen aufdröseln. Meine Entscheidungen sind eben das – meine. Und es geht ihn nichts an.“

„Magst du ihn nicht einmal ein kleines Bisschen?“ Hanji wirkte fast enttäuscht. Scheinbar hatte sie gehofft, dass Eren oder Mikasa oder sogar beide, irgendeinen Stein bei ihm ins Rollen bringen würden. Doch wusste Levi selbst am besten, was gut für ihn war. Und zu viel Zeit mit diesen Kindern war sicherlich nicht gut für ihn.

„Nur ein kleines, ganz klitzekleines Bisschen?“, hakte Hanji noch einmal nach und er seufzte genervt.

„Warum?“

„Weil Eren alles verlieren wird.“

„Wie meinst du das nun schon wieder?“

Er bog auf die Rose Street ab und hielt am Seitenrand. Hanji wohnte in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock eines mittelständischen Wohnblocks. Wohnungen waren dort erschwinglich und doch nicht einfach eingerichtet. Eben genau das, was Hanji zum Leben brauchte. Er kannte sie inzwischen gut genug. Und er wusste auch, dass ihre Fragen und der ganze Wink mit der Holzhandlung irgendwas zu bedeuten hatten.

Hanji löste den Gurt, blieb jedoch noch sitzen. Sie seufzte tief, ehe sie sagte: „Mikasa muss für die Meisterschule weg von hier. Wir wohnen hier in London – zwar eher am Rand, aber wir wohnen in London. Sie müsste nach Liverpool.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Du scheinst die einzige, männliche Person, der er vertraut.“

„Vertrauen. Tz.“

Und doch musste er zugeben, dass das recht hart erschien. Mutter tot, Vater ewig unterwegs, Schwester weg … Das war sicherlich nicht einfach. Levi kannte diese engen, familiären Bindungen nicht. Als er damals die Entscheidung hat treffen müssen, zu gehen, war es ihm nicht leicht gefallen. Er hatte Charlotte gern gehabt, aber es war noch einmal etwas anderes, wenn die Familie so auseinander gerissen wurde als wenn man wie er nicht wusste, wie sich richtige Familie anfühlte.

Er strich über das Lederlenkrad und sah zur ihr. „Hat Mikasa es ihm schon gesagt?“

„Nein… Sie wollte es ihm nächstes Jahr sagen, wenn der Vater wieder da wäre.“

„Grischa Jäger. Ein unsagbar abstoßender Kerl mit einem miserablem Charakter…“

„Gerade deswegen. Levi – bist du da wenn er fällt?“

„Kann ich dir nicht versprechen“, kam es kühl zurück und er zuckte andeutet die Schultern. „Mich interessiert so etwas nicht.“

„Du kannst nicht behaupten, dass er dir ganz egal ist.“

„Das sage ich auch nicht.“

„Also? Magst du ihn wenigstens ein bisschen?“

„Reicht dir Sympathie? Dann kann ich nämlich jetzt endlich nach Hause.“

„Ja.“ Ein glückliches Lächeln legte sich auf Hanjis Lippen, als sie ausstieg.

 

„Hier.“

Ihm wurde eine Mappe auf den Schreibtisch geknallt und er sah fragend, aber auch gleichzeitig genervt zu Erwin hoch. „Was ist das?“, wollte er nur wissen und blickte dem schwarzen Plastikordner entgegen. Bewerbungsunterlagen? Ein Vertrag, den er kurz überfliegen sollte? Hatte Erwin seinen Willen bekommen? Es war der dreißigste Dezember, das Jahr neigte sich mehr als nur dem Ende zu. Und sein Vorgesetzter war dafür bekannt, auf den letzten Drücker noch irgendwelche Dinge erledigen zu können, selbst wenn es bis ‚nächstes Jahr’ Zeit hätte.

„Zwangsurlaub.“

„Warum das denn?“ Er erhob sich von seinem Stuhl, nahm die Mappe und drückte sie Erwin gegen die Brust. „Ich bin knapp sieben Monate hier. Da brauche ich keinen Urlaub.“

„Deine Überstunden.“

„Ach? Du kümmerst dich auf einmal um Überstunden? Ich wusste nicht einmal, dass dieses Wort in deinem beschissenen Wortschatz enthalten ist“, knurrte er ihm entgegen.

„Jeden Monat hast du etwa dreißig Überstunden gesammelt, Levi. Ich achte auf meine Mitarbeiter.“

„Tz. Was du nicht sagst.“ Bisher war ihm das eher ein Rätsel gewesen. Seit wann interessierte Erwin sich für so etwas? „Oder hast du irgendwelche Beschwerden am Hals?“, hakte er skeptisch nach und suchte in den blauen Augen des anderen nach Antworten.

„Ich halte mich nur an die Regeln. Und da du ohne mich keinen Urlaub einreichen würdest, bekommst du ihn von mir per Zwang aufgedrückt“

„Ach? Dir sollte bewusst sein, dass ich mich zu nichts zwingen lasse.“

Doch mit einem Mal wurde der Blick des anderen hart und die Haltung stabiler, eleganter und … dominanter. „Das ist ein Befehl“, kam es dunkel von Erwin zurück und Levi verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Erwin wusste, wie empfindlich er auf do etwas reagierte. Es war antrainiert. Und die langen Jahre bei der Armee, als Rekrut, Grünschnabel oder später in seiner Position als Captain, hatten ihm den Gehorsam für Befehle gelehrt. Es gefiel ihm nicht, dass Erwin diese Karte immer wieder spielte.

„Wie lange?“, fragte er deswegen und nahm die Mappe, als sie ihm gereicht wurde, entgegen.

„Zwei Wochen.“

„Bist du wahnsinnig?“

„Warum arbeitest du überhaupt so viel?“

„Ich habe keine großartigen Hobbys, Commander“, gab er bissig zurück und blätterte durch die Unterlagen. Es war einmal der Urlaubsbescheid und dazu noch ein paar Unterlagen über die Location, um die er sich hat kümmern sollen. Es war ein politischer Empfang zum Neujahr geplant und da Wing-Sec als eines der zuverlässigsten Unternehmen im Bereich Sicherheit galt, hatte man sie damit betraut. Und da Erwin wiederum ihm am meiste zutraute, hatte er das Gelände begutachten sollen. Es waren seine Grundrisse und die Sicherheitsposten, die er empfehlen würde. Erwin hatte – etwas kracklig und kindlich – einige Notizen mit roter Tinte beigefügt.

„Was hältst du davon?“

„Mehr Personal?“

„Ich beauftrage eine Leihfirma, wenn mein Personal nicht ausreicht.“

„Ich werde die Einweisung übernehmen.“

„Du bist dann schon im Urlaub.“

„Vergiss es, Erwin. Das ist meine Sache. Und ich bringe zu Ende, was ich begonnen habe“, meinte Levi und nahm den Zettel für seinen Urlaub heraus, ehe er die Mappe zuklappte. „Ich gehe nach dem Event gern in deinen beschissenen Zwangsurlaub und sitze mir den Arsch zu Hause wund.“

„Du hast genug in deinem Eigenheim zutun. Nutz die Zeit.“

„Pisser.“

„Ich bin auch ganz entzückt.“

Levi schüttelte nur den Kopf, als Erwin sich von ihm abwandte. „Gut. Aber nur noch den einen Auftrag, danach ist für zwei Wochen Schluss für dich. Schlaf dich aus.“

„Ja, ja. Leck mich.“

Es gab immerhin einen ganz entscheidenden Grund, warum er kaum zu Hause war. Ihm fiel daheim zu schnell die Decke auf den Kopf. Herumsitzen und Nichtstun war wie eine Strafe für ihn. Es hatte schon immer seine Gründe gehabt, warum er sich statt drei oder sechs Monate, ein ganzes beschissenes Jahr in die Krisengebiete hat versetzen lassen. Er brauchte etwas zutun. Ein Langschläfer war er noch nie gewesen. Er verschwand um zehn im Bett und war um vier wieder auf den Beinen. Was war daran so schwer zu verstehen? Erwin müsste es sogar noch als einziger verstehen können? Sein Chef war selbst dafür bekannt, kaum Auszeiten zu nehmen.

 

Zwei Jahre zuvor:

Delta-Einheit. 270 Tage bis zur Ablöse. Standort: Afghanistan.

„Wir rücken aus!“ Drei Worte, die eine ganze Einheit ins Laufen verfallen ließ. Uniformen wurden angelegt, Holster befestigt, Granaten und Munition wanderten in die dafür vorgesehenen Gürtel. Levi zog die Schnüre seiner Stiefel noch einmal nach, nahm den Helm und seine MP-5. Es kribbelte in seinen Fingern.

Er war gern hier. Hier wusste er, warum er was tat. Ihre Mission war Frieden und Unterstützung für das Land, das ihrer Hilfe bedurfte. Hier bildete er einheimische Soldaten aus, konnte sich auf seine eigene Einheit blind verlassen und vertraute auf die Befehle seines Vorgesetzten. Das einzige, was er nicht gern tat, waren Kugeln auf lebende Menschen abgeben. Terroristen waren auch Menschen. Und selbst wenn er an Rache für gefallene Kameraden und Freunde dachte, machte es sein Gewissen nicht leichter.

„Captain.“

„Sir.“ Er sah zu Erwin auf. Sie spielten das perfekte Spiel. Man hielt sie für das unfehlbarste Gespann in der Führungsetage. Man verließ sich auf sie. Und trotz der engen Zusammenarbeit, vermuteten alle, dass sie nichts weiter als Kameraden waren. Freundschaft zog niemand in Erwägung.

„Sie kommen mit mir.“

„Ja, Sir.“

An dem Tag gerieten sie in ein schweres Feuergefecht. Zwei ihrer Humvees wurden durch Straßenmienen auseinander gerissen. Und die Verluste stiegen mit den vergehenden Stunden ins Unermessliche. Befehle wurden geschrien, Schüsse fielen und Granatenexpolsionen rissen die Stille, die sich zwischenzeitlich immer mal wieder legte, auseinander. Es schien wie die Hölle.

Levis Uniform war über und über mit bereits dunklem, getrocknetem Blut und es war noch immer kein Ende in Sicht. Jedoch neigten sich ihre Munitionsvorräte zu Neige, sie hatten zu viele Verletzte und Luftunterstützung wurde jedes Mal wieder abgelehnt. Sein Blick glitt zur Seite, als er sein letztes Magazin in die Waffe schob. Seine Einheit war nahezu restlos ausgelöscht worden. Seine Offiziere, eine junge Frau und drei junge Männer, versuchten sich krampfhaft auf den Beinen zu Halten. Olou Bozardo, sein ganz persönlicher Fanboy,  hatte eine Platzwunde am Kopf, die mehr schlecht als recht versorgt worden war. Blut sickerte bereits durch den inzwischen grauen Verband, den man ihm angelegt hatte. Zwei Finger der linken Hand fehlten ihm und er hatte eine Brandverletzung davongetragen. Eld Jinn schlug sich tapfer. Zwar war seine weitere Teilnahme an der Situation außen vor. Ihm fehlten beide Beine. Eine Tretmine hatte ihn halb erwischt und es war ein Wunder, dass der Kerl noch bei Bewusstsein war. Gunter Schultz, einer der wenigen Sanitäter die überlebt hatten, versuchte sich der eigenen Verletzungen zum Trotz um die anderen zu kümmern. Und Petra Ral, eine seiner loyalsten Soldaten und die einzig überlebende Scharfschützin des Teams, hatte die Barrett m82 aufgestellt, suchte ihre Ziele und feuerte. Ihre Trefferquote lag stets bei über achtzig Prozent und selbst jetzt, mit nur einem gesunden Auge und einer schmerzenden Schulter, war sie der einzige Lichtblick. Sie konnte die versteckten Schützen ausschalten und ihnen die Möglichkeit geben, hier rauszukommen.

„Major.“

Er wandte sich zur Seite. Erwin war schwer verletzt worden. Levi hatte nicht gesehen, wie es passiert war, aber irgendwas hatte den rechten Arm des Kommandeurs beinahe vollständig abgerissen. Drei oder vier Sehnen hielten die Gliedmaße zusammen mit einem Hautfetzen davon ab, komplett abzufallen. Gunter hatte einen Verband umgelegt und sein möglichstes getan, die Blutung vorerst zu stoppen. Und doch driftete Erwin immer wieder in die Bewusstlosigkeit ab.

„Erwin!“

Müde hoben sich die Lider des anderen und ein verklärter Blick traf ihn. Seine ganze Einheit war Jenseits von Gut und Böse. Wenn sie nicht demnächst Unterstützung – von Land oder aus der Luft – bekommen würden, würden sie hier alle jämmerlich verrecken.

„Bleib wach“, befahl er ihm und lehnte sich hinter den Steinen vor, hinter welchen sie alle Schutz gesucht und gefunden hatten.

„Captain. Lassen Sie mich Ihr Bein sehen.“

„Geht schon.“ Er hatte keine Zeit. „Keine Zeit zum bluten.“

„Sie sind verletzt, Captain.“

„Ich weiß. Aber es wird mich nicht umbringen.“

„Drei Personen auf drei Uhr am Hang.“

„Freie Schussbahn?“

„Positiv“, meinte Petra und nur wenig später hallte der laute Schuss der Waffe durch das Tal, in welchem sie sich befanden. Noch einer und ein Dritter folgten.

Es wurde ruhig daraufhin. Die Sonne brannte weiterhin erbarmungslos auf sie nieder. „Captain.“

„Hm?“ Er wandte sich um und sah Gunter bei Eld sitzen.

„Tot.“

Levi fluchte. Man riss ihnen hier den Arsch auf. Und wofür? „Oulo?“

„Ohnmächtig.“

 

Wie viele Stunden letztlich vergingen, wusste er nicht. Es war bereits die Nacht hereingebrochen, als die täuschende Stille zerrissen wurde. Granaten flogen in ihre Richtung.

„Bewegung. Lauft“, gab er den Befehl, hievte den schweren Körper seines Kommandeurs hoch. Petra nahm ihr Gewehr und das Elds, ehe sie sich in Bewegung setzte. Gunter war ihm bei dem Transport Erwins behilflich. „Was machen wir mit den Leichen, Captain?“

Er warf einen kurzen Blick zu Oulo und Eld. „Wir lassen sie abholen.“ Sie hatten keine Zeit, ihre Toten mitzuführen. Sie mussten weg von hier und einen Ort suchen, von dem sie aus evakuiert werden könnten. Sie schafften es, eine in den Hang führende Höhle zu ihrem Zufluchtsort machen zu können.

„Captain…“

Er sah zu Petra, die sich an die Seite fasste. Blut rann über ihre schmalen Finger und sie verdrehte die Augen im Kopf, ehe sie in sich zusammensackte. „Petra.“

Er fiel neben ihr auf die Knie, fühlte ihren Puls, doch war da nichts. „Scheiße.“ Ihre Uniform öffnend versuchte er, sie zurück ins Leben zu holen, während Gunter seine Hände auf die Wunde legte. „Captain.“

„Scheiße!“

„Captain!“ Er sah auf. Seine eigenen Hände waren inzwischen auch rot. „Es ist vorbei.“

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Wut und Verzweiflung machten sich in ihm breit, während er auf den leblosen Körper der jungen Frau nieder blickte.

„Ich werde rausgehen und versuchen, erneut Hilfe anzufordern. Wir sind hoffentlich aus der heißen Zone raus.“

Er wollte ihn noch zurückrufen, als Gunter mit dem Funkgerät aus der Höhle ging, doch bohrte sich ein trotz der Dunkelheit perfekt platzierter Schuss durch seine Brust und auch Gunter fiel zu Boden. Es passierte für Levi wie in Zeitlupe. Er sah den massiven Körper des Soldaten in die Knie sinken und nach vorn fallen. Selbst da Geräusch des aufschlagenden Leichnams war unendlich laut in seinen Ohren. Und das war der Moment, in dem sich alles für ihn änderte. Da war mit einem Mal kein Mitleid mehr für die Leute, die hier leben mussten. Die von den Terroristen bedroht wurden. Die meisten waren ohnehin auch von den Terroristen angeworben worden.

Der Schockzustand wich und er nahm das Gewehr Petras, suchte sich am Eingang der Höhle – er war der steinigen Umgebung dankbar -  eine Position, die ihn nicht gleich verriet. Er klappte die Schutzvorrichtungen des Zielfernrohrs hoch, setzte die Thermalvorrichtung auf und ließ seinen Blick  über die nun gräulich eingefärbte Umgebung gleiten. Er erkannte den Todesschützen auf der anderen Seite des Tals.

Ein starker Rückstoß ließ ihn die Luft einziehen. Sein Körper war mehr angeschlagen, als er gedacht hatte. Doch ignorierte er dies und suchte nach weiteren, potentiellen Problemen. Er schaltete alle Bewegungen aus, die er erkannte. Wie viele Menschen er auf diesem Wege, in dieser Nacht tötete – das war ihm nicht bewusst und es störte ihn auch nicht. Sein Herz hatte sich in dieser Nacht in den dunkelsten aller Schwarztöne gefärbt. Seine gesamte Einheit für nichts sterben zu sehen!

 

„Captain Rivaille.“ Er sah einen uniformierten Mann mit einer Einheit auf ihn zukommen. Sie liefen den Hügel hinauf, auf welchem er sich platziert hatte. Man nahm ihm die Waffe ab, half ihm auf die Beine. Zwei Mann mussten ihn stützen. Sein verletztes Bein gab nach. Jetzt, nachdem das Adrenalin aus seinem Körper gewichen war, spürte er den Schmerz, den die Schussverletzung in seinem rechten Bein hinterlassen hatte. Und er nahm die Müdigkeit langsam wahr, die sich in seinen Knochen festsetzte.

„Meine Männer sind alle tot“, teilte er dem Major mit, der vor ihm stand und bemühte sich trotz allem um einen einigermaßen gelungenen Salut. „Major Smith ist schwer verletzt. Und meine Leute…“

„Wir kümmern und um alles, Captain.“

„Danke, Sir!“

 

Er saß am Krankenbett seines Kommandeurs. Erwin wirkte schwach, war blass und zerbrechlich. „Levi?“

„Man hat dir deinen beschissenen Arm wieder drangeflickt“, teilte er ihm mit, ohne ein Hallo oder dergleichen über die Lippen zu bringen. Erwins Blick glitt über seine Gestalt. „Und was ist mit dir?“

„Nichts Großartiges.“

„Levi“, kam es schwach und doch nicht ganz sorglos von dem Älteren. „Ich sehe dich vor mir…“

„Nur eine Stauchung in der rechten Schulter. Und ein glatter Durchschuss am Oberschenkel. Nichts Großartiges.“ Er sammelte ohnehin Narben wie andere Briefmarken. Viele stammten aus seiner Kindheit, aber die meisten stammten aus den unzähligen Einsätzen. Er gehörte immerhin zu einer der Einheiten, die man immer in den tiefsten Scheiß schickte.

„Es tut mir leid, Levi.“

„Ich weiß.“

„Man wird dich für den Silverstar vorschlagen.“

„Habe ich das verdient?“

„Das wird sich zeigen.“

 

Levi saß auf der schwarzen Couch seines Wohnzimmers. Vor ihm auf dem kleinen Glastisch stand eine rote Schachtel, in der sich alles befand, was er von der Zeit damals nicht entsorgt hatte. Er hatte die Auszeichnungen, um die er sich im Laufe seiner Karriere bei der Armee verdient gemacht hatte, hinausgenommen und auf dem Tisch verteilt. Die kleinen Bänder befanden sich dazu in der Schachtel. Den Silverstar hatte er tatsächlich erhalten, als er nach Hause kam. Zwei Jahre zuvor hatte er sich um das Distingished Service Cross verdient gemacht.

Damals hatte er seinen eigenen Arsch riskiert, nur um Erwins zu retten. Jede Kugel, die neben ihm in der Nacht eingeschlagen war, hätte ihn auch direkt treffen können. Es hätte das letzte Metall sein können, dass er jemals gespürt hätte.

Levi fuhr sich mit der Hand über das rechte Bein. Es war eine beachtliche Narbe geworden und gerade wenn das Wetter umschlug, machte es ihm zu schaffen. So auch jetzt im Moment. Es wurde wärmer draußen, der Schnee schmolz. Eigentlich kannte er englische Winter lang und nervig. Dieses Jahr schien es sehr wechselhaft zu sein und gerade das störte ihn. Es war auch der Grund, warum er im Moment launischer war. Es war Erens Glück, dass dieser nicht so häufig in seiner Nähe war. Levi verlor über penetrante Schmerzen hinweg oft die Nerven. Weil sie sich wie Zahnschmerzen verhielten. Man konnte nichts gegen sie machen und nicht einmal Tabletten halfen. Und unter solchen Umständen konnte er Erens ständiges Geplapper nicht ertragen.

Er griff in die Kiste, nahm einen losen Haufen Bilder heraus. Es waren in der Regel alles aufnahmen während der Militärzeit. Das Oberste zeigte ihn und seine erste Einheit. Er sah Erwin darauf. Damals noch nicht in der Rolle als Kommandeur. Wenn Levi sich recht erinnerte, war Erwin damals Captain gewesen und Levi selbst WO – Warrant Officer. Sie waren beide im Rekordtempo die Sprossen der Erfolgsleiter hochgeklettert.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Isabelle, eine rothaarige junge Frau in seinem Alter, hatte ihr Haar auf dem Foto zu zwei kleinen Zöpfen gebunden und die sandfarbene Mütze auf dem Kopf, die sie alle standardmäßig zur Uniform dazubekamen. Sie hatte eine bissige Persönlichkeit, war aber gleichzeitig herzlich und liebevoll gewesen. Auf der linken Seite des Bildes stand Farlan, ein blonder, groß gewachsener Kerl, der kein besserer Freund hätte sein können. Sie waren seine ersten, richtigen Freunde gewesen, die er jemals besessen hatte. Die einzigen, die jede Faser seines Körpers und seines Denkens kannten. Er hatte sie auch auf dem Schlachtfeld verloren. Damals, als er unten im Irak stationiert war. Sie waren mit einem Räumkommando rausgefahren. Ein Standardeinsatz, bei dem nichts hätte schief gehen können. Nur ein paar Bomben entschärfen – der Typ der sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, hatte mehr als achthundert dieser Dinger entschärft und nie war etwas schief gegangen. Er war stets die Ruhe selbst gewesen. Erwin war damals nicht mit rausgefahren, hatte andere Verpflichtungen gehabt.

Aber für Levi war es der erste Höllentrip gewesen. Es lief alles erst gut. Thomas – der der sich mit der Sprengung beschäftigte – machte alles richtig. Es war kein Fehler passiert und dann eine Explosion. Es riss Thomas in all seine Einzelteile. Zivilisten, die im näheren Umkreis standen, verloren ihr Leben. Farlan hatte damit zutun, die Soldaten dazu anzuweisen, die Ruhe zu behalten und einen größeren Radius abzusperren.

Es war der erste Tag, an dem Levi derart viel Blut gesehen hatte. Blut und Innereien. Er hatte Isabelles Leben in der Hand. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Noch während er nach ihren Beinen gesucht hatte, hatte er mit den Händen versucht, ihre Bauchdecke zusammenzuhalten. Es war das erste Mal, dass er auf dem Feld beinahe angefangen hätte zu weinen. Manchmal spürte er noch immer ihre blutige Hand an seiner Wange und hörte ihre Worte: „Es soll so sein.“

Sie alle hatten sich dafür entschieden, dort zu sein. Sie alle hatten sich für die Armee entschieden. Sie alle hatten sich für das Ausland entschieden – in dem Wissen, was sie erwarten konnte.

Farlan verlor er eine Woche vor der Ablöse während einer Schießerei. Er hatte so viele Menschen sterben sehen, während er dort unten war. Und am schlimmsten war es, als er nach dem Tod seiner Einheit vor zwei Jahren nach Hause kam. Petras Vater kam auf ihn zu. Man hatte ihn benachrichtig, doch scheinbar war diese Information nie bei ihm angekommen. Er hatte mit diesem Mann gesprochen, hatte ihm sagen müssen, was passiert war. Und er hatte den alten Mann noch am Flughafen zusammenbrechen sehen. Wie er es geschafft hatte, danach noch zwei ganze Jahre weiter zu machen und erst vor wenigen Monaten hierher zurückzukommen, wusste er nicht genau.

Levi hatte sich stets eingeredet, mit allem was er tat, irgendwas wieder gut zu machen. Aber irgendwann kam die Erkenntnis wie ein Hammerschlag und man verstand, dass nichts besser werden würde. Deswegen hatte er auch keinen weiteren Antrag auf Verlängerung gestellt. Jetzt war er wieder hier. Und doch war nichts anders. Er trug noch immer eine Uniform, hörte noch immer auf Befehle. Vielleicht brauchte er das inzwischen schon? Oder vielleicht brauchte er es gerade deswegen.

Erwin war nach seiner Verletzung ausgeschieden. Er war als Soldat nicht mehr brauchbar gewesen und hatte es selbst eingesehen. Danach war ihre Beziehung den Bach runtergangen. Erwin hatte ihn des Öfteren gebeten, aufzuhören und mit ihm zurück nach England zu gehen. Doch hatte er immer abgelehnt. Er war nicht für das zivile Leben gemacht. Und Erwin ging. Sie sahen sich kaum, wenn über Skype oder sprachen am Telefon. Aber es war nicht dasselbe. Sie waren zusammen gewesen. Zwar heimlich und nur hinter verschlossenen Türen – aber sie waren zusammen gewesen. Und anstatt mit ihm Schluss zu machen, hielt Erwin sich neben ihrer Beziehung mehrere Personen warm. Affären von denen Levi erst erfahren hatte, als er da letzte halbe Jahr abzureißen hatte. Ein Jahr waren sie nun schon so zueinander. So hart und abweisend. Ein … Jahr.

„Ich hätts nicht machen dürfen“, meinte er leise für sich und räumte alles zurück in die kleine Kiste. „Ich hätte dort bleiben sollen.“ Dann müsste er Erwin nicht ewig sehen und könnte das tun, was er gut konnte. Wahrscheinlich wäre er bereits ein hohes Tier, würde Befehle geben anstatt sie selbst nur zu erhalten und weiterzugeben. „Ich hätte es echt nicht machen sollen.“ Warum hatte er überhaupt Erwins Angebot angenommen? Nach allem, was passiert war? Masochist.

 

 



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