Garys Galzzly
- 7. Mai, Insel Olchon –
Das Pfeifen in Kennys Ohren wurde nur noch von den Alarmsirenen übertönt, deren Kreischen durch den Korridor hallte, und Kenny (der von der Explosion noch etwas benommen war) kam die Szene bedrückend bekannt vor, als er unsanft von Ian am Handgelenk gepackt wurde. Eher stolpernd als gehend folgte er ihm durch die qualmende Öffnung, die nun zwischen Stahltür und Steinwand klaffte.
Dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Lagerraum, dessen Deckenleuchten endlose Regale aus Metall in kaltes Licht tauchten. Jede Regalreihe war klar beschriftet – Schilder in englischer Sprache gaben Auskunft darüber, wo Waffen und Munition gelagert waren, wo sich Ersatzteile für die Laborausrüstung befanden, sogar Druckerpatronen waren in relativer Nähe ausgezeichnet, und Kenny fühlte sich für einen Moment, als wäre er in einem bizarren Supermarkt für Bösewichte gelandet, bevor Kai ihn unwirsch von der Seite her anfuhr.
„Hör auf zu gaffen und nimm deine Ausrüstung! Wenn sie uns hier drin einkesseln, sind wir geliefert“, rief er aufgebracht, während er in einen der weißen Schneeanzüge stieg, die sie zu Beginn der Mission getragen hatten. Erst jetzt fiel Kenny der Schreibtisch auf, der neben der Tür stand (und sein Kopf pochte schmerzhaft, während das Pfeifen in seinen Ohren etwas leiser wurde) - um den Schreibtisch herum befanden sich mehrere Stapel mit Kartons mit kyrillischer Aufschrift sowie einige Regale, auf die man unachtsam ihre Ausrüstung gelegt hatte, unter anderem seinen Laptop.
„Dizzi!“ Sein Herz machte einen Sprung, und er stürzte auf den Tisch zu, als Ian ihm einen Schneeanzug gegen die Brust drückte und ihn somit aufhielt.
„Zieh dich an!“, befahl er mit kaltem Blick, und mit einem Mal wurde Kenny wieder voll bewusst, dass er nur in Unterhose bekleidet inmitten einer feindlichen Basis stand, während der Alarm verriet, dass sie entkommen waren, und ihm wurde schlecht vor Angst. Zitternd kämpfte er sich in den Schneeanzug und die Stiefel, die Ian ihm hinstellte, dann griff er haltsuchend nach Dizzi, während er beobachtete, wie Ian und Kai sich mit Gewehren und Munition eindeckten. Einer plötzlichen Eingebung folgend sah er sich nochmals auf dem Schreibtisch und den Regalen in der Nähe um, bevor ihm etwas klar wurde: Weder Wyborg noch Dranzer noch Wolborg befanden sich hier, obwohl er genau wusste, dass Ian, Kai und Tala ihre Beyblades mitgenommen hatten.
Auf dem Gang vor der Tür mischten sich mit einem Mal laute Rufe in das Sirenengeheul, und Kai fluchte laut, bevor er zu einem weiteren Regal lief und eine Granate hervor holte. Kenny stockte der Atem, als Kai zur Tür ging, den Sicherungsbolzen zog und den Sprengkörper dann ohne zu zögern durch die Öffnung warf.
Ein ohrenbetäubender Knall wurde dicht gefolgt von Schmerzensschreien, Kai stürmte aus der Tür und gab etliche Schüsse ab. Als Kenny keine Anstalten machte, sich zu bewegen, packte Ian ihn abermals an der Hand und zog ihn mit sich; unter seinen freien Arm hatte er zusätzlich ein Gewehr geklemmt und schoss auf einige der Wachen, die noch standen, während sie an ihnen vorbei aus dem Lager stürmten und ihr Heil in der Flucht suchten.
Rücksichtslos stiegen sie über einige Männer, die getroffen zu Boden gegangen waren, und Kenny wurde schwindelig vor Adrenalin und Übelkeit, als er mit flüchtigen Blicken das Massaker wahrnahm, das Ian und Kai angerichtet hatten. Glücklicherweise musste er sich darauf konzentrieren, seine Atmung unter Kontrolle zu behalten und mit Ian und Kai Schritt zu halten, sodass ihm keine weitere Gelegenheit blieb, sich darüber Gedanken zu machen.
Mit jedem weiteren Gang, den sie hinter sich brachten, stießen sie auf weitere Wachen – und obwohl Ian und Kai mit jeder Kugel einen der Männer trafen hatten sie von Anfang an keine Chance gegen die Übermacht der Biovolt-Soldaten.
Ihre Lage war aussichtslos: Bereits im zweiten Gefecht wurde Ian schwer an der linken Schulter getroffen, Kai ging die Munition aus und Kenny stand kurz davor, zu hyperventilieren, und konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen.
Sie waren noch immer viel zu weit von ihrem Ziel entfernt, als sie auf einen weiteren bewaffneten Trupp stießen, den Ian und Kai in ein Handgemenge verwickelten, während Kenny ihnen hilflos zusah und panisch nach Luft schnappte.
Sie waren verloren, das wurde ihm mit einem Schlag klar. Vielleicht hätte die Biovolt sie nach ihrer ersten Gefangennahme leben lassen, doch nun würden sie sie alle töten!
Die Welt begann, sich um ihn zu drehen, und am Rande seines Bewusstseins hörte Kenny Kais Schmerzensschrei, als eine der Wachen ihm den Arm brach. Weiße Punkte blitzen vor seinen Augen, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Brüllen den Korridor erfüllte, das sogar die Alarmsirenen übertönte.
Ein grelles, rotes Licht erfüllte den Gang, und Kenny konnte einige Männer schreien hören, während das gewaltige Gebrüll die Wände zum Erzittern brachte.
Sein Herz raste, und noch immer kämpfte er mit der Ohnmacht, als er eine warme Hand an seiner eigenen spürte, und eine freundliche, ruhige Stimme ihm Worte ins Ohr sprach, deren Sinn ihm entglitt. Dennoch ebbte das Schwindelgefühl langsam ab, und auch seine Atmung beruhigte sich.
Wieder ertönte das markerschütternde Brüllen und brachte Kenny endgültig in die Realität zurück; erschrocken schrie er auf, als er vor sich im Gang einen gewaltigen, rot leuchtenden Bären sah, der über den Körpern einiger Männer thronte, die regungslos auf dem Boden lagen. Einige weitere Männer hatten schon ein gutes Stück Weg zwischen sich und das Wesen gebracht, indem sie den Gang hinunter geflohen waren, und keiner von ihnen schien noch gewillt zu sein, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Ian und Kai standen schwer atmend und blutend da, neben ihnen zwei Unbekannte in Schneeanzügen, die sie stützten.
Langsam wandte Kenny sich um, in die Richtung, aus der die freundliche Stimme ihm ins Ohr sprach, und sein Blick fiel auf ein Gesicht mit gebräunter Haut und katzengleichen Augen, das von einer Kapuze eingerahmt war. Eine Haarsträhne in ungewöhnlich kräftigem Magenta lugte unter dem Stoff hervor, und die Frau lächelte ihn an, während sie ein letztes Mal seine Hand drückte und ihn dann losließ.
Kennys Blick wanderte noch etwas weiter, und er bemerkte die letzte Person, die außer ihnen im Gang stand: Ein Hüne, ebenfalls im Schneeanzug, der soeben die Hand ausstreckte und einen kleinen, roten Gegenstand auffing, der ihm entgegengeflogen kam.
Für einen Moment starrte er ihn an, bevor er begriff, wen er da vor sich hatte.
„…die White Tigers?“, frage er ungläubig, und Mariah nickte einmal langsam.
Der rote Bär – das musste Garys Bitbeast gewesen sein, Galzzly. Er hatte sie gerettet; doch was die White Tigers mitten in Russland am Baikalsee suchten, das entglitt ihm vollkommen.
In dem Moment strich Mariah vorsichtig über seine Stirn, und ein schmerzhaftes Stechen durchzog seinen Kopf.
„Scheint so, als hättest du auch einiges abbekommen“, murmelte sie, und Ian, Kevin, Kai und Lee schlossen zu ihnen auf. Verwirrt runzelte Kenny die Stirn; er konnte sich nicht erinnern, in einem der Kämpfe verletzt worden zu sein, doch sein Kopf schmerzte inzwischen höllisch.
„Das ist jetzt vollkommen nebensächlich; wir müssen hier raus“, blaffte Kai sie an, und Mariah nickte, bevor sie Kenny stützte und ihm half, weiter zu gehen. Mit jedem Schritt drehte sich die Welt ein wenig, doch insgesamt kam er gut voran.
Gary führte die Gruppe durch die Gänge, sein Beyblade bereit zum Abschuss – und nach dem zu urteilen, was das Bitbeast bisher mit den Wachen angestellt hatte, schien ihm das sogar eine effektivere Waffe als ein Gewehr zu sein. Doch entweder hatten sie die übrigen Biovolt-Soldaten endgültig abgewehrt oder sie alle niedergestreckt, denn auf ihrem Weg aus dem Stützpunkt hinaus trafen sie niemanden mehr an. Dennoch beeilten sie sich, das Gebäude zu verlassen – keiner konnte sagen, ob und wann Verstärkung eintreffen würde, und sie alle mussten dringend medizinisch versorgt werden.
Schließlich kamen sie wieder an der Tür an, durch die Kenny, Ian und Kai zu Beginn die Basis betreten hatten. Weder Kenny noch Kai noch Ian waren allerdings noch in der Lage, selbstständig zu klettern oder sich durch die unwegsamen Felsen zu kämpfen, daher nahmen Gary, Kevin und Lee sie den ersten Teil des Weges huckepack, während Mariah, die Dizzi an sich genommen hatte, voraus ging.
Erschöpft durch die Aufregung und die Verletzung, die er sich offensichtlich zugezogen hatte ohne es zu merken, rutschte Kenny einige Male fast von Kevins Rücken ab; er dankte Ian im Nachhinein, dass er ihn auf dem Hinweg so gut gesichert hatte und ihm somit immerhin diese nervenaufreibenden Momente erspart geblieben waren.
Wie durch ein Wunder jedoch (zumindest in Kennys Augen) gelang es den White Tigers schlussendlich, sie unversehrt durch die Felsenkluft zu bringen, und sie kamen wieder an dem Punkt an, an dem sie zuletzt vor ihrem Einstieg in den Stützpunkt Rast gemacht hatten. Außer Atem setzen die White Tigers sie ab, und Lee warf einen kurzen Blick in die Runde; Kenny tat es ihm gleich.
Ians linker Arm war blutüberströmt, und an seiner Schulter klaffte eine hässliche Wunde, die man durch ein Loch im Schneeanzug sehen konnte. Sein Gesicht war blass, und im Licht der Abenddämmerung (waren sie wirklich so lange in der Basis gewesen?) konnte Kenny sehen, dass er fürchterlich schwitzte; dennoch war sein Blick entschlossen und klar. Kai atmete schwer, und er hatte seinen rechten Arm an den Körper gepresst – ansonsten schien er unverletzt.
Lee nickte kurz und deutete dann am Ufer entlang.
„Auch wenn wir erst einmal Zeit geschunden haben werden uns die Wachen mit Sicherheit verfolgen; wir müssen noch ein gutes Stück Weg hinter uns bringen, bevor wir euch versorgen können. Schafft ihr das?“ Sein kritischer Blick ruhte auf Ian, der mit eiserner Miene nickte.
„Als hätten wir eine Wahl“, knurrte da Kai, und Lee hob eine Augenbraue, überging die Bemerkung jedoch. Mit einer letzten aufmunternden Geste zu Kenny wandte er sich um und wies ihnen an, ihm zu folgen. „Dann kommt – je früher wir hier weg sind, desto besser.“