Hier kommt Max!
- 14. April, Tokyo –
Aufmerksam studierte Kenny die Anzeige auf Dizzis Bildschirm und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte.
Nachdem das mysteriöse Störsignal noch immer nicht verschwunden war (selbst nachdem er sich einen sündhaft teuren, neuen Laptop angeschafft hatte), hatte er nochmals bei Null angefangen und mit Hilfe der Laborausstattung, auf die er in der Entwicklungsabteilung der BBA Zugriff hatte, systematisch nach dem Signal und seinem Ursprung gesucht. Und diesmal hatte er Erfolg gehabt (sei es nun wegen des neuen Laptops oder wegen der besseren Soft- und Hardware, die ihm im Labor zur Verfügung standen) – nach vier scheinbar endlosen Tagen des Suchens und Filter-Programmierens war er endlich fündig geworden.
Das Signal hatte sich sehr unauffällig in einer anderen Trägerwelle versteckt, die global ausgesendet wurde und über mehrere Satelliten geleitet wurde. Oder, um es konkreter auszudrücken, es hatte eine andere Trägerwelle imitiert und war mit über die gleichen Satelliten geschleust worden; und Kenny war sich relativ sicher, dass die Verantwortlichen des eigentlichen Senders keine Kenntnis über das Störsignal hatten (zumindest war das seine Theorie). Es war einfach zu gut zwischen den Original-Datenströmen versteckt.
Zunächst hatte er es selbst nicht glauben wollen, doch seine Ergebnisse waren eindeutig: Die Trägerwelle für das Störsignal war der Satellitenfunk der PPB aus den USA, und abgesehen von marginalen Abweichungen – die aber (laut Dizzi) umso mächtigere Auswirkungen hatten – war das eingeschleuste Signal nicht von den normalen Sendungen zu unterscheiden.
Das war auch der Grund gewesen, warum er sich mit dem Aufspüren des Signals so schwer getan hatte; er war ständig mit dem Netz der PPB verbunden, und unter all den Sendungen und Dateiströmen war das Störsignal perfekt untergetaucht. Zu ähnlich war die Struktur der Sendung, und bei all dem Unsinn, der tagtäglich mit den Signalen hin und her geschickt wurde, fiel eine Sendung mehr oder weniger kaum auf. Wenn nicht Dizzi persönlich festgestellt hätte, dass ihr das Signal Kopfschmerzen (wie?!) bereitete, dann hätte er an der Funktionsweise seines Laptops nicht erkannt, dass es überhaupt existierte; das System war nicht verlangsamt, es schien sich nicht um einen Trojaner zu handeln, kein Virenscanner erkannte ein Risiko, alle Programme liefen weiterhin fehlerfrei, schnell und effizient. Ohne seine langwierige, gezielte Suche mit allen technischen Mitteln, die ein modernes Computerlabor zu bieten hatte, hätte er es nicht einmal gefunden.
Was auch der Grund dafür war, dass sich Kenny trotz seiner angeblichen Leidenschaft für Verschwörungstheorien, die im beständig von Dizzi unterstellt wurde, unsicher war; nur, weil Dizzi sich von dem Signal gestört fühlte, bedeutete das nicht, dass es ein gezielt gesendetes Störsignal war – vielleicht war bei einem der Updates der PPB-Server auch einfach ein Bug mit in die Programmierung geraten, der nur von in Laptops eingeschlossenen Bitbeasts erkannt werden konnte. Vielleicht war seine Theorie, dass das Signal nur eingeschleust und von einem anderen Sender in den USA kam, fehlerhaft.
In jedem Fall war das Signal da, und es gab einen einfachen Weg herauszufinden, ob es von der PPB kam oder nicht.
Schnell öffnete er sein Mailprogramm und suchte Emilys Adresse aus den Empfängern heraus.
- 17. April, Tokyo –
Kenny schluckte schwer und blickte sich in dem Büro um, in das er zitiert worden war. Er hatte sich bisher noch nicht oft mit dem Leiter der BBA-Stelle getroffen, in der er arbeitete, doch bisher hatte er Herrn Murakami als sehr strengen, aufbrausenden Menschen kennengelernt, dem es vor allem um Effizienz und Rentabilität ging. In sein Büro gerufen zu werden galt in der ganzen Abteilung als schlechtes Zeichen – die meisten, die diesen Raum betraten, wurden danach nicht mehr im BBA-Sitz gesehen (weil sie gefeuert wurden, versteht sich; Herr Murakami brachte seine ungeliebten Mitarbeiter nicht einfach um… hoffte er zumindest).
Bisher hatte Kenny gute Arbeit geleistet; die Candle, die ihm verliehen worden war, sprach für sich. Doch dafür hatte Herr Murakami ihm schon schriftlich seine Anerkennung zukommen lassen – welchen Grund sollte er also sonst haben, ihn hierher zu bestellen?
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken, und nervös zuckte Kenny zusammen.
Herr Murakami – ein Schrank von einem Mann mit strengem, stahlgrauen Haar und einem teuren, dunklen Anzug – betrat den Raum in Begleitung seiner Sekretärin und des Personalleiters und musterte Kenny abschätzig, der unter den durchdringenden Blicken seines Vorgesetzten noch weiter in sich zusammensank, ein flaues Gefühl in seinem Magen.
Warum auch immer er hier war, es konnte nichts Gutes sein.
- 20. April, New York –
Schwer beladen kämpfte sich Kenny durch die Menschenmengen am JFK-Airport in New York und hielt nach einem Schild mit seinem Namen Ausschau.
Das Gespräch vor wenigen Tagen in Herrn Murakamis Büro war für ihn erstaunlich positiv verlaufen – er war nicht etwa gefeuert worden, nein; stattdessen hatte Herr Murakami ihn informiert, dass ein großer US-amerikanischer Konzern mit dem Namen BeyWheelz sich für seinen neuen Beyblade-Typus interessierte und ihn daher für drei Wochen in die USA eingeladen hatte, damit er seinen Prototypen sowie seine bisher erhobenen Daten vorstellen konnte. Der Vertrag sei so gut wie sicher (wenn auch geringere Änderungen am Prototypen vorbehalten waren), und nun sollte Kenny selbst die Präsentation halten – das würde einen guten Eindruck machen, hatte man ihm gesagt.
Also war er kurzerhand in die Staaten geschickt worden, und nun stand er hier und hoffte darauf, die BBA-Mitarbeiter, die ihn abholen und zum Hotel bringen sollten, in den Massen von Menschen zu finden, die durch die Halle strömten.
Schließlich entdeckte er eine junge Frau, die etwa sein eigenes Alter hatte, mit kurzen blonden Haaren und einem großen Schild, auf dem sein Name in bunten Buchstaben geschrieben stand. Mühevoll kämpfte er sich mit seinem Gepäck in ihre Richtung, und als sie ihn sah, kam sie ihm entgegen und nahm ihm seine Reisetasche ab.
„Willkommen in New York, Herr Saien“, begrüßte sie ihn in akzentreichem Japanisch (eine Geste, die er dankbar zur Kenntnis nahm), „mein Name ist Patricia Warren, aber Trish reicht vollkommen – alle nennen mich so.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und Kenny entdeckte einige Sommersprossen auf ihrer blassen Haut. Etwas nervös nahm er die ihm angebotene Hand.
„Danke für die Begrüßung, Patricia, aber Kenny ist vollkommen in Ordnung – ich bin noch nicht so alt“, setzte er verlegen hinzu.
Patricia – Trish – lachte kurz und schüttelte Kennys Hand.
„Nun, dann eben willkommen in New York, Kenny“, sie setzte sich in Bewegung, und Kenny folgte ihr in Richtung Ausgang, „ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug. Während deines Aufenthalts in New York bin ich deine Ansprechpartnerin für alles, was du brauchst. Ich fahre dich durch die Gegend, ich habe von der PPB und BeyWheelz alle Unterlagen für dich erhalten, und wenn etwas ist, dann gib mir einfach Bescheid, und ich kläre alle Probleme für dich.“
Sie erreichten einen Van mit dem Logo der BBA, der vor dem Flughafen in einem Sonderbereich geparkt war, und Trish verstaute Kennys Gepäck im Kofferraum.
„Für heute ist noch kein Programm angesetzt – damit du in Ruhe Zeit hast, dich hier einzuleben, den Jetlag hinter dich zu bringen und nochmal deine Notizen durch zu gehen. Die erste Präsentation ist für übermorgen festgelegt, aber das weißt du ja schon“, sprudelte Trish munter drauf los, während beide in das Auto stiegen und los fuhren. Ihre Stimme war melodisch und beruhigend, und Kenny musste sich bemühen, um ihr zuzuhören, anstatt sich einfach von Schlaf übermannen zu lassen. „Demnach bringe ich dich jetzt erst einmal ins Hotel, das Zimmer ist schon für dich hergerichtet. Alle wichtigen Unterlagen, dein Stundenplan und ein paar Willkommens-Geschenke liegen an der Rezeption bereit, und solltest du sonst noch etwas brauchen, zögere nicht, danach zu fragen; BeyWheelz zahlt deinen kompletten Aufenthalt hier und hat bestätigt, dass sie möchten, dass er für dich so angenehm wie möglich sein soll. Sie scheinen sich von dir eine Menge zu versprechen!“
Langsam fielen Kennys Augen zu, und während Trish weiter vor sich hin redete, versank er sanft im Reich der Träume.
- 22. April, New York –
Mit zittrigen Knien steuerte Kenny auf den Sessel in seinem Hotelzimmer zu, in den er sich fallen ließ.
„Hey, pass auf, Chef! Ich bin zerbrechlich!“, beschwerte sich Dizzi, die er in den Händen hielt, mit einem verspielten Unterton.
„Entschuldige, Dizzi; ich glaube nur, das waren eben die anstrengendsten acht Stunden meines Lebens“, murmelte Kenny erschöpft und nahm seine Krawatte ab, bevor er sie achtlos auf den Boden neben sich fallen ließ.
Acht Stunden.
Und er hatte an diesem Tag gerade einmal die erste Präsentation hinter sich gebracht, mit anschließender Diskussions- und Fragenrunde. Sicher, sein Gefühl sagte ihm, dass er sich gut geschlagen hatte, und der Vorstand von BeyWheelz schien sehr angetan von seiner Arbeit – dennoch hatte er nicht damit gerechnet, dass der Termin sich so in die Länge ziehen würde.
Bei dem Gedanken, dass das erst der Auftakt für die Verhandlungen der nächsten Wochen war, verkrampfte sich sein Magen.
Natürlich war er nicht ganz alleine – die BBA hatte ihm einige Vertreter der Wirtschaftsabteilung mitgeschickt, und auch Herr Murakami war für die Verhandlungen angereist; dennoch fühlte er sich allgemein überfordert.
„Zieh nicht so ein Gesicht, Chef. Du hast dich heute gut geschlagen – auch wenn du es ohne meine Hilfe bei der Präsentation natürlich nie so weit geschafft hättest“, stichelte Dizzi, und Kenny lachte leise.
„Natürlich nicht, wie könnte ich mir je anmaßen, so zu denken“, konterte er schwach und öffnete dann die oberen Knöpfe seines Hemdes; das Jackett hatte er bereits im Fahrstuhl ausgezogen und auf den Boden des Hotelzimmers fallen lassen, sobald er es betreten hatte (wo es einen guten Platz hatte, wie er fand).
„Nicht aufhören – ich will mehr sehen, du starker, junger Mann“, schnurrte Dizzi, als Kenny seine Hand wieder sinken ließ. Augenblicklich schoss ihm die Röte ins Gesicht.
„Dizzi!“
„Was denn – darf ein Mädchen nicht seine Fantasien haben?“ Empört schnappte Kenny nach Luft, doch Dizzi fuhr unverwandt fort. „Außerdem bin ich kaum allein mit meinen Gedanken; diese Trish scheint ja auch ein Auge auf dich geworfen zu haben, nicht war, Kenz?“
Kenny hatte das Gefühl, sein Gesicht würde verglühen, als Dizzi ihn aufzog, doch er musste gestehen, dass sie Recht hatte.
Trish hing an ihm wie eine Klette, sobald er das Hotelzimmer verließ, und himmelte ihn unverhohlen an (wobei sie zumeist ununterbrochen redete und ihm davon erzählte, wie faszinierend seine Arbeit doch war und wie sehr sie ihn bewunderte); bereits am zweiten Abend hatte sie damit begonnen, ihm den Spitznamen Kenz zu geben. Es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, diesen Namen zu hören – so hatte ihn bisher nur Hilary genannt, und der Gedanke an sie schmerzte ihn, vor allem, wenn er bedachte, welchen Weg sie in ihrem Leben gewählt hatte.
„Übrigens hast du mal wieder eine neue E-Mail von Emily“, unterbrach Dizzi seine Gedanken, und sie klang dabei fast ein wenig eifersüchtig, „Du hast aktuell ziemlich viel Kontakt mit ihr. Da ist doch nicht etwas im Busch, und du verschweigst es mir?“
Genervt seufzte Kenny auf und öffnete sein Postfach.
„Dizzi, du kannst dir sicher sein, wenn ich ein Mädchen im Auge hätte, dann wärest du die erste, die davon erfährt. Meine Unterhaltung mit Emily ist rein geschäftlicher Natur, wegen des Störsignals – und eigentlich solltest du das wissen“, setzte er murmelnd hinzu und las dann die Mail.
Emily hatte sich relativ schnell bei ihm gemeldet, nachdem er ihr über das unbekannt Signal im PPB-Netzwerk berichtet hatte, hatte bisher aber noch nichts Konkretes herausfinden können. Dennoch glaubte sie, auf einer Spur zu sein, und versprach, sich in den nächsten Tagen mit ihm zu treffen.
Zügig tippte er eine Antwort ein, um den Termin zu bestätigen, dann loggte er sich wieder aus seinem Mailaccount aus.
Mit einem langgezogenen Seufzen ließ er sich tiefer in den Sessel sinken und schloss die Augen. Er war so müde…
„Wage es ja nicht, hier einzuschlafen – sonst lässt du mich noch fallen!“, riss ihn Dizzis Stimme aus seinem Halbschlaf, und murrend setzte er sich wieder auf. „Außerdem wolltest du dich doch noch um dieses Geheimprojekt kümmern, von dem ich nichts wissen durfte, bis wir hier sind – davon hast du auch noch nichts weiter erzählt. Aber ich gehe fast davon aus, dass es mit deinem mysteriösen Treffen mit Präsidentin Tate zusammenhängt – schon wieder eine gutaussehende Frau in deiner Nähe. Ich spüre so viel Konkurrenz.“ Theatralisch seufzte Dizzi und Kenny schüttelte (mal wieder mit geröteten Wangen) den Kopf.
„Das Treffen hat nichts damit zu tun, Dizzi, und es war auch nicht mysteriös; ich habe Judy lediglich darum gebeten, die Ausstattung der PPB nutzen zu dürfen, während ich hier bin, für den Fall, dass ich an meinem Prototypen arbeiten muss oder falls sich etwas Neues bezüglich des Störsignals ergibt. Außerdem hat sie mir noch ein paar Tipps für die Präsentation gegeben.“
„Und was hat es dann mit dieser Geheimmission auf sich?“, fragte Dizzi ungeduldig. Nervös kaute Kenny auf seiner Unterlippe, dann seufzte er.
„Das ist… wegen Tyson.“
Seit Kenny mit Tysons Familie telefoniert und dessen Haus aufgeräumt hatte, hatte er mit Dizzi kaum über dieses Thema gesprochen. Sie wollte ihm nicht glauben, dass an Tysons Verschwinden etwas faul war, was jede Unterhaltung darüber für ihn sehr schmerzhaft machte. Dennoch hatte er seine Hoffnung nicht aufgegeben, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, und er hoffte, hier in New York fündig zu werden.
„Hängst du diesem Typen etwa immer noch nach?“, fragte sie seufzend, „Akzeptier doch einfach die Wahrheit, Chef: Tyson hat Zeit für sich gebraucht, um sein Leben in den Griff zu kriegen; und dabei wollte er alleine sein. Auch wenn es dir weh tut, aber so ist er nun mal – so war er schon immer. Unzuverlässig und egoistisch.“
„Und genau das glaube ich nicht!“ Aufgebracht fuhr sich Kenny durch die Haare (und stellte dabei fest, dass sie noch immer nass und verschwitzt waren). „Irgendetwas stimmt an der Sache nicht, und ich werde herausfinden, was. Tyson wollte hierher fliegen – wahrscheinlich um Max zu sehen. Wer weiß, mit ein bisschen Glück kann er mir ein paar Antworten auf meine Fragen geben.“
„Ich hatte das Gefühl, dass Max schon am Telefon recht deutlich gemacht hat, was er von dem alten Team hält, Chef.“
„Das war am Telefon, Dizzi – wenn wir uns persönlich treffen, dann wird alles anders, davon bin ich überzeugt. Er weiß irgendetwas, da bin ich mir sicher, auch wenn es ihm selbst vielleicht gar nicht auffällt.“
Oder er verschweigt es absichtlich, kommentierte eine Stimme in seinem Kopf, doch Kenny versuchte, den Gedanken abzuschütteln.
Auch, wenn sich Max von ihnen entfernt hatte – sie waren früher einmal beste Freunde gewesen. Irgendetwas davon musste doch noch da sein.
Irgendetwas.
- 23. April, New York –
Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Max zu dem Treffen zu überreden. Als er gestern eine Stunde damit verbracht hatte, seinen ehemaligen Freund zu überzeugen, war er sich sicher gewesen, das Richtige getan zu haben.
Doch nun war er sich da nicht mehr so sicher.
Sie hatten sich in Max‘ Appartement getroffen, und immerhin hatte dieser den Anstand besessen, Kenny ein Getränk und Knabbereien anzubieten; Alles in Allem war Kenny jedoch entsetzt.
Max hatte sich nicht die Mühe gemacht, groß aufzuräumen: Benutzte Kleidung, leere Pizzakartons und Plastikflaschen lagen im Wohnzimmer verteilt, das fast vollkommen von einer Couchgarnitur mit Tisch eingenommen wurde, die in einem fleckigen Rostton bezogen war; Kenny wollte sich lieber keine Gedanken darüber machen, ob alle Verfärbungen im Stoff wirklich aus der Feder des Designers stammten.
Komplettiert wurde das Ensemble durch einen großen Flachbildfernseher an der Wand, unter dem eine Konsole stand, neben die jemand achtlos ein paar Spiele geworfen hatte.
Was ihn jedoch vor allem beunruhigte war die Schachtel Kondome, die neben dem Sofa auf dem Boden lag, und eine selbstgedrehte Zigarette, die unter ein paar anrüchigen Zeitschriften begraben war und verdächtig wie ein Joint aussah (oder zumindest so, wie sich Kenny immer einen Joint vorstellte).
Ihr Gespräch dauerte nun schon fast eineinhalb Stunden, doch die meiste Zeit saßen sie sich nur schweigend gegenüber – Kenny, wie immer mit Hemd und Krawatte, peinlich berührt und zu betreten, um etwas zu sagen; Max, in einem bedruckten T-Shirt mit karierten Shorts, offensichtlich genervt von dem unfreiwilligen Treffen.
„Weißt du, wenn du mir nichts zu sagen hast, dann kannst du auch wieder gehen. Ich habe heute noch ein Date mit einem Typen, der wesentlich heißer ist als du.“ Feindseligkeit klang in jedem von Max‘ Worten mit, und Kenny zuckte zusammen.
„Tut mir Leid, ich- ich will deine Zeit nicht verschwenden. Um ehrlich zu sein – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du bist so… anders.“ Unsicher blickte Kenny seinen alten Freund an, der bitter lachte.
„Ach, ich bin also anders, ja? Und was hat dich zu dieser glorreichen Erkenntnis gebracht?“, fauchte er ungehalten, und Kenny hob abwehrend die Hände.
„Das meinte ich nicht so, Max. Ich wollte dich nicht kränken; es tut mir Leid.“ Ein Schnauben war die einzige Antwort, doch Kenny spürte, dass Max immer ungeduldiger wurde, also entschloss er sich, endlich zum Punkt zu kommen. Smalltalk hatte hier ohnehin keinen Zweck mehr. „Ich wollte dich nach Tyson fragen. Wie ich dir schon vor ein paar Wochen am Telefon gesagt habe, ist er verschwunden.“
„Und was geht mich das an?“, blaffte Max. „Tyson ist mir scheißegal.“
Kennys Schultern sackten enttäuscht zusammen bei diesen Worten, doch so schnell wollte er nicht aufgeben.
„Trotzdem warst du Tyson nicht egal – er hatte sich vor seinem Verschwinden ein Flugzeugticket gekauft, um dich zu besuchen. Und immerhin wart ihr früher mal beste Freunde“, merkte er vorsichtig an, und Max verschränkte die Arme vor der Brust.
„Vielleicht waren wir das mal. Jetzt aber nicht mehr. Ist mir aber auch egal. Dann ist er eben verschwunden – mir soll’s Recht sein“, presste er gezwungen hervor, und nun war es an Kenny, wütend zu werden.
„Es ist dir Recht? Es ist dir Recht?! Denkst du eigentlich noch über das nach, was du da von dir gibst?“, fuhr er Max an, und es war, als hätte sich in ihm ein Schalter umgelegt. All die Wut, die Verzweiflung, der Frust der letzten Wochen strömten ineinander und vermischten sich zu blindem Zorn, wie ihn Kenny noch nie gefühlt hatte. „Was ist dein Problem? Was hat dir Tyson je getan, was haben wir dir jemals getan, dass du uns behandelst wie Dreck, seit du wieder hier bist?! Wir waren mal Freunde, haben uns den Arsch für dich aufgerissen, wenn du uns gebraucht hast, und du haust einfach ab und meldest dich nie wieder – und jetzt, wo Tyson dich bräuchte, lässt du ihn einfach hängen!“
Die Worte brachen aus Kenny heraus, und mit jedem Satz wurde er lauter und lauter; doch es war ihm egal. Max hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, und nun gab es nichts, das ihn noch halten konnte.
„Und nicht nur Tyson – auch die All Starz, und dich selbst! Denkst du wirklich, man könnte nicht sehen, wie kaputt du bist? Deine ganze Wohnung stinkt nach Alkohol und Rauch und was-weiß-ich-alles, und die Klatschpresse zerreißt sich schon seit Jahren das Maul über dich und deine Sexgeschichten. Was denkst du dir dabei? Dass das die Art zu leben ist? Dass du glücklich wirst, wenn du dich so kaputt machst und alle anderen hängen lässt, denen du etwas bedeutest? Die dir etwas bedeuten sollten?!“
Max‘ Miene wurde hart, doch er unterbrach Kenny nicht, der ihn inzwischen geradezu anbrüllte.
„Und überhaupt, hast du ein einziges Mal an deine Mutter gedacht? Was du ihr mit deinem Verhalten antust? Was du ihrer Position damit antust? Sie hat sich kaputt gearbeitet, um dir ein gutes Leben zu ermöglichen, sie finanziert alles, was du hast, und die Leute lachen darüber, dass der Sohn der Präsidentin der BBA ein schwuler Junkie ist – und du dankst es ihr, indem du alles, was sie erreicht hat, für dich erreicht hat, mit Füßen trittst!“
Schwer atmend stand Kenny vor Max, der ihn aus hasserfüllten Augen anstarrte. Fast fürchtete er, sein Gegenüber könnte aufspringen, um ihn zu schlagen – da fing Max an zu lachen; es war das furchtbarste Geräusch, das Kenny je gehört hatte.
Max‘ Lachen war vollkommen freudlos: Bitterkeit, Verzweiflung, Verachtung, Hass und noch viel mehr schwang in dem Laut mit, der genauso verzerrt und bizarr war wie das Leben, das sich Max geschaffen hatte.
Lange Minuten stand Kenny da, und eisige Schauer liefen ihm über den Rücken, als er seinen ehemaligen Freund sah, der wie von einem Anfall geschüttelt wurde, während er weiter lachte.
Schließlich hatte sich Max beruhigt, und berechnend blickte er Kenny an, während sich seine Atmung normalisierte.
„Ich will dir etwas über die Präsidentin der BBA erzählen, mein lieber, alter Kenny. Meine Mutter“, er spuckte das Wort aus, als wäre es ein vergiftetes Stück Fleisch, „hat sich nie für mich interessiert. Alles, was sie getan hat, hat sie für sich getan – nicht für mich. Natürlich habe ich das auch nicht sofort gemerkt; lange Zeit habe ich sie für die beste Mom gehalten, die ich mir hätte wünschen können. Aber wenn es dann hart auf hart kommt, trennt sich eben die Spreu vom Weizen; und wenn es mal nicht darum geht, ihre Karriere voranzutreiben, dann kannst du dir sicher sein, dass Judy Tate dich einfach im Stich lässt.“
Max‘ Augen glänzten in einem ungekannten Licht, und es machte Kenny nervös; doch er wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.
„Du willst wissen, was mit mir passiert ist, Kenny? Ich verrate es dir! Nachdem ich hier war habe ich endlich zu mir gefunden – ich war gut in der Schule, hatte Freunde, unterstütze meine Mom auf ihrem Weg an die Spitze und habe endlich Liebe gefunden“, er kicherte schrill, und Kenny zuckte zusammen. „Schon als ich noch in Japan war wusste ich, dass ich auf Männer stehe; eine Zeit lang stand ich sogar auf Tyson – doch er hat meine Gefühle nie erwidert.“ Max verzog das Gesicht, und Kenny wunderte sich unwillkürlich, ob das der Grund gewesen war, warum Max so plötzlich zurück in die USA gezogen war.
„Doch das alles war mir egal, denn ich hatte ihn dann endlich gefunden, meinen Traumprinzen, der auf einem weißen Pferd daher geritten kam, und er brachte mein Herz zum Schmelzen.“ Die Selbstverachtung, die in den Worten lag, schnürte Kenny die Kehle zu, und er hatte das Gefühl, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen würde; doch gebannt von der Absurdität der Situation konnte er nicht anders, als weiter zuzuhören.
„Ja, er war wirklich alles was ich wollte – und er machte mich so glücklich. Wirklich, ich war im Himmel, als er mich nach drei Wochen in der gemeinsamen Wohnung das erste Mal in diese Ecke zwang und mich verprügelt hat. Und es war pure Glückseligkeit, als er mich danach auf die Knie zwang und sein Ding in meinen Arsch gesteckt hat.“ Inzwischen rannen Tränen Max‘ Wangen hinunter, und sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, die so furchtbar war, dass Kenny am liebsten seinen Blick abgewandt hatte. Er wollte schreien, um Max zum Schweigen zu bringen, doch kein Laut drang über seine Lippen.
„Vier Monate lang waren wir zusammen in diesem Loch, und jeden Abend bedrängte er mich wieder, jeden Abend war ich ihm hilflos ausgeliefert. Und weißt du, was mir meine wundervolle Mom vier Monate lang gesagt hat?“ Max zitterte. „Sie hat mir gesagt, ich soll sie in Ruhe lassen, weil sie keine Zeit hat, während sie gleichzeitig irgendeinem Kerl ihre Zunge in den Hals gesteckt hat.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Die Polizei hat mich ausgelacht, weil es ja so lustig ist, wenn ein Mann vergewaltigt wird.“ Er streckte Kenny seine Arme hin, und neben einigen Einstichen in der Armbeuge konnte Kenny feine Narben erkennen, die sich über die blasse Haut seines Unterarms zogen.
„Ich musste erst versuchen, mich umzubringen, bevor mir irgendjemand zugehört hat. Und weißt du, was meine liebevolle Mutter mir gesagt hat, nachdem sie den Typen endlich verhaftet hatten und ich wieder bei ihr zu Hause war? Ich solle mich endlich zusammenreißen und mir eine eigene Wohnung suchen, damit ich sie nicht mehr so behindere. Das hat mir meine wundervolle Mom gesagt, die sich ja so für mich eingesetzt hat und sich so um mich bemüht hat. Genau wie meine Freunde, die in dem Moment verschwunden waren, in dem ich sie wirklich gebraucht hätte.“ Inzwischen wurde Max von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt, und Kenny spürte, wie Tränen in seinen eigenen Augen brannten. Er machte einen Schritt auf Max zu, der vor ihm zurückwich.
„Max, ich- ich hatte keine Ahnung…“
„Geh einfach, Kenny. Geh.“
Mit hängenden Schultern wandte Max sich ab, und Kenny kam noch einen Schritt näher.
„Max, bitte-“
„Verschwinde!“, brach es da aus Max hervor, und mit einem Mal drehte er sich wieder um, griff wahllos nach einer der herumliegenden Flaschen und warf sie nach Kenny. „Verpiss dich endlich!“
In letzter Sekunde duckte sich Kenny unter dem Wurfgeschoss hindurch und rannte aus dem Zimmer, als Max nach der Glasschüssel mit den Snacks griff. So schnell er konnte verließ er das Appartement, und er konnte hören, wie das Gefäß an der Wohnungstür zersplitterte, kurz nachdem er sie hinter sich zugezogen hatte.
Eilig stürmte er die Treppen hinunter, falls Max ihm folgte, um noch gefährlichere Dinge nach ihm zu werfen, bis er schließlich auf der Straße stehen blieb. Er atmete schwer, und er spürte, dass er weinte.
Ein paar Passanten drehten sich verwundert zu ihm um, die meisten liefen jedoch an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Schniefend wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, dann mischte er sich unter die Menge. Er hätte Trish anrufen können, um ihn abzuholen, doch er wollte lieber alleine sein.