Die Macht des Dragoon
- 18. März, Tokyo –
Zufrieden betrat Tyson den Wohnbereich des Dojos, die Post unter den Arm geklemmt. Es war ein angenehmer Tag gewesen – das Frühlingswetter war mild, und er hatte mit den Jugendlichen, die er aktuell im Zuge eines speziellen Rehabilitationsprogrammes im Beybladen unterrichtete, im Gelände trainieren können. Einige von ihnen hatten bereits große Fortschritte gemacht, sowohl in ihrer Technik, als auch in ihrem Sozialverhalten, und es erfüllte ihn mit Stolz, seine Schützlinge auf diesem Weg zu begleiten.
Er summte gut gelaunt vor sich hin, als er seine Schuhe auszog und zur Küche ging; der Weg führte ihn an einem kleinen Schrein vorbei, auf dem ein Bild seines Großvaters stand. Im Vorbeigehen verneigte sich Tyson leicht zum Gruß.
„Hallo, Opa. Schade, dass du nicht mehr da bist – du hättest die Jungs und mich heute sehen sollen! Aber ich bin mir sicher, du hast trotzdem deine Freude daran, mir zuzusehen und mich weiter anzufeuern, wo auch immer du gerade bist!“
Mit einem Lächeln im Gesicht betrat Tyson die Küche und legte die Post auf den Tisch, während er sich daran machte, etwas zu Kochen. Inzwischen waren fast elf Jahre vergangen, seit die BEGA zerschlagen worden war, und es hatte sich vieles geändert. Sie, die Blader, die damals noch halbe Kinder gewesen waren, hatten sich geändert; sie waren erwachsen geworden, hatten ihr eigenes Leben begonnen und sich auseinandergelebt.
Was Tyson nicht daran hinderte, zu versuchen, den Kontakt aufrecht zu erhalten – zumindest teilweise auch mit Erfolg.
Während der Reis garte und er das Gemüse für die Beilage in Würfel schnitt warf er einen Blick auf die Briefe, die ihn heute erwartet hatten. Neben zwei Rechnungen und einem Werbeflyer für ein großes Beyblade-Straßenfest, das demnächst von der BBA in Moskau ausgerichtet wurde und für das es Tickets zu gewinnen gab, waren auch eine Postkarte von Michael (mal wieder ein Foto von ihm auf einer exotischen Insel, auf dessen Rückseite ausgiebig beschrieben stand, wie großartig das Leben als Profi-Blader und Top-Model doch war), ein Brief von Johnny (auf den er nun schon seit zwei Monaten wartete – aber immerhin besser spät als nie) und ein Brief von Kenny (was ihn etwas verunsicherte, da Kenny ihm sonst nur E-Mails schrieb) dabei.
Es versetzte ihm einen Stich, dass er keine Antwort von Max erhalten hatte, dem er bereits seit Jahren jeden Monat einen Brief schickte; früher waren sie beste Freunde gewesen, doch Max hatte jeden Kontakt abgebrochen, kurz nachdem er endgültig wieder nach Amerika gezogen war, und es machte Tyson traurig, dass er so wenig Interesse zeigte.
Während er sich vornahm, später einen neuen Brief an Max zu schicken (und wenn er bis Ende April keine Antwort erhalten würde, hatte er immerhin schon einen Flug in die USA gebucht, um Max einmal persönlich zu besuchen), warf er das Gemüse in einen Topf mit Brühe, dann wischte er sich die Hände ab und öffnete neugierig Kennys Brief.
In dem schlichten, weißen Umschlag befand sich eine ebenso schlichte, weiße Karte, auf die lediglich ein sauberes Einladung in Goldlettern gedruckt war. Als er die Karte öffnete, begann er, zu strahlen.
Lieber Tyson,
Es ist kaum zu glauben, aber es ist endlich passiert: Ich wurde für eine Candle nominiert!
Die Preisverleihung findet in zwei Wochen statt, am 1. April (es ist aber kein Scherz!) um 18h im Seaside Dome. Ich bin so aufgeregt!
Es würde mich freuen, wenn du auch kommen könntest (in Abendgarderobe!), denn ohne dich wäre ich niemals so weit gekommen.
Ruf mich doch bitte an!
Liebe Grüße,
Kenny
P.S.: Ein Pyjama qualifiziert nicht als Abendgarderobe
„Gut gemacht, Chef!“ Stolz pinnte Tyson die Karte an ein Korkbrett an der Küchenwand, dann kümmerte er sich wieder um sein Essen. Kenny hatte schon lange darauf gehofft, für eine seiner Arbeiten eine Candle, einer der renommiertesten Nachwuchs-Förderpreise in der Beyblade- und Bitbeastforschung, zu erhalten, und es machte ihn froh, dass es nun endlich soweit war.
Sicher, eine Nominierung bedeutete noch nicht, dass Kenny den Preis auch erhielt, doch immerhin zeigte es, dass er wahrgenommen wurde und seine Arbeiten Eindruck machten; und das war die Hauptsache. Sobald er gegessen hatte würde er Kenny anrufen, ihm gratulieren und ihm zusagen; so ein wichtiges Ereignis würde er sich niemals entgehen lassen!
Schließlich war der Reis fertig, und Tyson zog sich mit einer Schüssel, Essstäbchen und Johnnys Brief an den Esstisch zurück. Er begann zu lesen, während er aß.
Der Kontakt mit Johnny war eher zufällig entstanden; Tyson hatte es sich, nachdem sich die Teams aus den Augen verloren hatten, zur Gewohnheit werden lassen, allen anderen immer zu Weihnachten (auch wenn er kein Christ war schien es ihm ein schöner Anlass, an andere zu denken) und zu ihrem Geburtstag (diese Daten hatte er einmal heimlich aus dem BBA-Computer gezogen, als niemand hingesehen hatte) eine Karte zu schicken mit ein paar netten Worten. Die meisten schickten nie etwas zurück (oder nur eine knappe Mail mit einem „Danke“), und auch Johnny hatte lange Zeit seine Karten schweigend angenommen, bis eines Tages, wenige Wochen nach Johnnys vierundzwanzigstem Geburtstag, ein Brief bei ihm ankam, in dem sich der Schotte darüber echauffierte, was Tyson sich dabei dachte, ihm immer diese Karten zu schicken.
Wiederum selbst empört hatte Tyson eine wütende Antwort geschrieben, in der er sich darüber beklagte, dass es ja sonst niemanden gab, der sich darum bemühte, die alte Crew beisammen zu halten, woraufhin Johnny sich wieder bei ihm beschwerte, und schließlich war aus diesem Streit ein Briefwechsel erwachsen, der zwar nicht sehr regelmäßig, aber doch sehr erbauend war. Er gab Tyson das Gefühl, dass da doch noch etwas war, das sie alle verband, und das trieb ihn jeden Tag aufs Neue wieder an.
Nach kurzer Zeit war der Brief gelesen und die Mahlzeit beendet, und während er das Geschirr spülte, überlegte er, wie er Kenny am besten am Telefon gratulieren könnte. Sollte er ihm einen Streich spielen, um ihn ein bisschen aus der Reserve zu locken, oder wäre ein begeisterter Jubelruf angebrachter?
Er entschied sich, spontan darauf zu reagieren, wie Kenny sich am Telefon melden würde, und räumte das Geschirr weg.
Gerade wollte er sein Handy zur Hand nehmen, als er eine vertraute Stimme hörte.
Tyson, komm zu mir. Ich muss mit dir reden.
Sein Herz schlug schneller, als er diese Stimme hörte – eine mächtige Stimme, die bisher noch selten direkt zu ihm gesprochen hatte, doch jedes Mal, wenn sie es getan hatte, waren es entscheidende Momente in seinem Leben gewesen.
Es war die Stimme des Dragoon.
Tyson, beeile dich. Wir haben nicht viel Zeit!
Ein blaues Leuchten drang aus dem Essbereich, wo sein Blade auf dem Tisch lag, in die Küche, und Tyson spürte, wie ihn die Energie seines Gefährten durchströmte, als er sich vor dem Kreisel auf den Boden kniete.
„Dragoon...? Was- Was ist denn los? Außerhalb eines Kampfes hast du bisher noch nie zu mir gesprochen.“ Unsicherheit klang in Tysons Stimme mit, und Neugier.
Bisher gab es keine Notwendigkeit dazu; doch die Dinge ändern sich. Die Welt ist im Wandel, und die Fäden des Schicksals verknüpfen sich zu einem Tuch, das die Zeit unter sich begräbt. Du bist der Schlüssel, Tyson, um dies noch zu verhindern.
Jedes Wort des Bitbeasts klang durch den Raum wie eine Windbö, und erstaunt erkannte Tyson, dass sich die Stimme des Drachen gewandelt hatte. Vorsichtig nahm er den Blade in seine Hände.
„Opa – bist du das?“
Der Bitchip leuchtete einen kurzen Moment heller als zuvor, und Wind umwirbelte Tysons Körper.
Ich bin eins mit deiner Vergangenheit, mit deiner Gegenwart und deiner Zukunft, Tyson. Das Wesen deiner Familie ist eng mit mir verwoben. Ich bin ein Teil von dir, so wie du und alle deine Ahnen ein Teil von mir seid.
Ein Lächeln stahl sich auf Tysons Gesicht.
„Also bist du es, alter Mann. Ich wusste doch, du lässt mich nicht hängen“, bemerkte er freudig, bis der Ernst des Situation ihm bewusst wurde. „Dragoon... du sagst, dass etwas passieren wird? Doch was kann ich tun, um es zu verhindern? Meine Freunde sind überall verstreut, ich habe kein Team mehr – soll ich sie wieder zusammentrommeln?“
Dein Herz ist stark, Tyson, und dein Geist ungebrochen – doch diesen Feind kannst du nicht bezwingen, nicht mit allem Mut und nicht mit allen Freunden der Welt. Daher bleibt mir nur ein Weg – du wirst verstehen, wenn die Gefahr vorüber ist.
Verwirrt setzte Tyson zu einer Entgegnung an, als er komplett von Dragoons Licht umhüllt wurde. Nach einem kurzen Moment gleißender Erleuchtung war alles vorbei – das Zimmer war leer.
Tyson und Dragoon waren verschwunden.
- 18. März, Moskau –
Dranzer glühte förmlich in seiner Hand, als Kai mit ernster Miene den Bitchip betrachtete. Seine Augenbrauen zogen sich für einen kurzen Moment unwillig zusammen, dann steckte er seinen Blade ein, zog seinen Mantel an und trat hinaus in die Kälte.
Es hatte begonnen, und es lag noch ein weiter Weg vor ihm.
- 18. März, New York –
„Na, gefällt dir das?“
Ein Stöhnen war die einzige Antwort, die Max dem Mann gab, der gerade dabei war, sich tief in ihm zu versenken; Tim oder Tom oder Bruce – Namen spielten keine Rolle, solange es sich richtig anfühlte.
Von Drogen und Lust vernebelt stammelte er unzusammenhängende Worte, während er sich den rhythmischen Stößen seines Partners hingab.
Unbemerkt von beiden drang ein schwaches Leuchten aus einer halb geöffneten Schublade, in der Draciel zwischen Kondomen und Kaugummipackungen lag.
Schmerz durchzog Max, als Jim (oder Ken?) grob an seinen Haaren zog und ihn zwang, seinen Kopf in den Nacken zu legen, um ihm in den Hals zu beißen.
Was spielte das Leben für eine Rolle.
- 18. März, Hong Kong –
Mit ernstem Blick überwachte Ray die Männer, die dabei waren, die Fracht zu verladen. Es war eine wichtige Lieferung in die USA, und er hoffte, dass diese Tölpel nicht wieder alles vermasselten.
Nieselregen setzte ein, und stahlgraue Wolken drängten sich unheilschwanger über dem Hafen. In der Ferne konnte er das dumpfe Grollen eines herannahenden Gewitters hören, und der Wind frischte auf. Ein Blitz durchzog den Himmel.
Ein dumpfes Pochen erfüllte seine Brust, und für einen kurzen Moment war es, als hallte in ihm etwas wider, eine Erinnerung, vielleicht ein Traum.
Doch da war nichts.