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Das Licht in Deinen Augen

Sieger Sommer FF Wettbewerb 2003
von

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Als gegeben

"In your eyes

I see the light and the heat

In your eyes

Oh, I want to be that complete

I want to touch the light,

The heat I see in your eyes"
 

Peter Gabriel, In Your Eyes
 

Diese Geschichte ist für Kari-chan, die meine Vorstellungen teilt und mich mit den schönsten Musikvideos versorgt ^-^.
 

Das Licht in Deinen Augen

(April Eagle)
 

Prolog: Als gegeben
 

"Shindou-kun!"

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen. All die Jahre. All diese vergeudeten Jahre...

Shindou Hikaru saß in der Bibliothek seiner Schule und lauschte lauter Musik, die aus den kleinen Kopfhörern seines CD-Players dröhnte. Vielleicht störten sich die anderen Schüler daran, aber es war ihm egal. Wie ihm so vieles egal geworden war. Die Schule, für die er zwar noch nie besonders viel übrig gehabt hatte, ödete ihn mit einem mal noch mehr an als sonst. Seine Freunde, mit denen er früher gerne etwas unternommen hatte, wollte er gar nicht mehr sehen und ging ihnen bewusst aus dem Weg. Ja, sogar das Go-Spiel, das er so sehr zu lieben gelernt hatte, konnte ihm keine Freude mehr bereiten. Im Gegenteil, es machte ihn unsagbar wütend. Wütend auf sich selbst. Und es machte ihm Angst. Angst vor dem Alleinsein... schon wieder... wie damals vor fünf Jahren...

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen! Es hat ihm immer so viel Spaß gemacht, aber ich habe nur egoistisch an mich selbst gedacht!

Hikaru stöhnte unterdrückt und schloss seine Augen. Seinen Kopf hatte er bereits in seine Arme gebettet und hoffte einfach, dass dieser Nachmittag bald vorüber ging. Denn je später er nach Hause kam, desto größer war die Chance, dass seine Mutter zu ihrem Nebenjob aufgebrochen war und ihn in Ruhe ließ. Im Grunde genommen hatte er nichts gegen seine Mutter, sie hatte ihn in seinen Leidenschaften immer unterstützt, aber er wollte sie nicht sehen. Gerade jetzt nicht.

"Shindou-kun!"

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen! Schließlich war es sein Traum gewesen. Sein Traum, nicht meiner.

Der Junge kniff seine Augen fest zusammen, konnte jedoch nicht die Zahlen vergessen, die er letzte Nacht gelesen hatte. Immer und immer wieder. Alte Berichte über wahrlich sehr alte Spiele, die mit einer Präzision gespielt worden waren, dass es Hikaru schwindelig wurde. So hatte er Go spielen wollen, genau so. Und er hatte seine Chance vermasselt, hatte ihn nicht solch großartige Partien spielen lassen, hatte solchen Meisterleistungen nicht beiwohnen können, weil er zu egoistisch gewesen war!

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

Verdammt, warum hatte er auch so selbstsüchtig, so vollkommen idiotisch sein müssen? Warum musste er selbst nach den Steinen greifen und seinen Lehrmeister in die Rolle eines passiven Betrachters drängen? In eine Rolle, in die der beste Go Spieler der Welt nicht gehört hatte? Warum???

Hikaru seufzte laut. Eigentlich sollte er ja für eine Geschichtsklausur lernen, er hatte sich sogar die Bücher ausgeborgt. Für ein gutes Ablenkungsmanöver hatte er diese Idee gehalten, denn schließlich wollte er die nächsten Prüfungen bestehen, was durch sein ständiges Fehlen innerhalb der letzten Wochen gefährdet war. Natürlich hatte er schon öfter gefehlt, besonders während der Go-Turniere. Dieses Mal war es jedoch anders gewesen. Er hatte einfach geschwänzt, war quer durch das Land gefahren und hatte ihn gesucht. Überall. Selbst auf dem kleinsten Friedhof, der sein Zeichen trug. Gefunden hatte er ihn jedoch nicht...

Warum ihn seine Mutter deckte und der Schule mitteilte, dass er mit einer Erkältung krank im Bett lag, konnte Hikaru nicht so recht verstehen. Er wusste jedoch, dass sie auf sein Bestehen in den Prüfungen hoffte und ihn deshalb deckte. Also wollte er sie nicht enttäuschen - nicht auch noch sie! - und hatte es sich wirklich vorgenommen, hart zu büffeln. Sieben dicke Bücher hatte Hikaru sich ausgeborgt und sie lagen direkt neben ihm auf dem Tisch. Ein Blick hinein sagte ihm jedoch, dass dieses Vorhaben sinnlos war. Wie all die anderen Ideen, die er in den letzten Wochen so gehabt hatte. Er konnte nicht für Geschichte lernen, wenn er sonst jemanden gehabt hatte, der ihn unterstützt, der ihn abgefragt hatte. Der diese Epoche genauestens gekannt und aus dem Nähkästchen geplaudert hatte. Mit aufgeregtem Gesichtsausdruck und diesem Glitzern in blauen Augen. Ja, wenn er aufgeregt gewesen war, war da etwas in seinen Augen, in seinem gesamten Gesicht gewesen, das Hikaru gefesselt hatte. Stundenlang hätte er ihm zuschauen können, ohne dass es ihm je langweilig geworden wäre.

Ja, wenn sein Lehrmeister aufgeregt gewesen war... oder aber, wenn er Go spielte...

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

"Shindou-kun!"

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

Ich hätte ihn mehr...

Jemand packte seine Schulter und zerrte ihn brutal aus seiner Embryonenhaltung, die er auf dem Stuhl über den Tisch gebeugt eingenommen hatte. Erstaunt sah er in zwei blaue Augen, die denen seines Lehrmeisters ähnelten, aber gleichzeitig vollkommen anders waren. Hikaru konnte sich nicht erinnern, wann sein Lehrmeister ihn jemals so wütend angeschaut hatte. Sein Rivale jedoch blitzte ihn fast jedes Mal so an, wenn sie sich trafen.

So wie jetzt.

Akira?

Nein, bitte nicht, ich will nicht mit ihm reden!

Ich will mit niemandem reden!

Mit niemandem außer Sai...

"Shindou-kun! Was machst du hier?" Touya Akira zog heftig an den Kopfhörern, so dass sich diese vom CD-Player lösten und auf den Boden knallten. Dort blieben sie ungeachtet liegen, denn Hikaru wollte sich bereits wieder dem Tisch zuwenden und sich einigeln. Dies schien Akira jedoch nicht zulassen zu wollen. Seine rechte Hand schnellte vor und umschloss Hikarus Schulter.

"Was zum Geier machst du hier?!" verlangte er erneut zu wissen. Sein Ton war ruhig, so wie immer, nur eine Spur zu harsch. Und er fluchte. Für einen Moment starrte Hikaru erstaunt seinen >ewigen Rivalen<, wie sein Lehrmeister den Sohn des besten lebenden Go-Spielers immer genannt hatte, an. Denn egal, wie aufgeregt Akira auch war, er blieb immer kühl und beherrscht. Hikaru konnte sich nicht erinnern, dass dem Jungen jemals ein Schimpfwort entglitten wäre. >Was zum Geier< klang daher in Hikarus Ohren fast wie eine Drohung. Zusammen mit dem Funkeln in hellblauen Augen...

Es ist ein anderes Funkeln. Dieses ist voller Hass, denn Akira konnte mich noch nie leiden. Nicht voller Begeisterung und Hingabe zu Go, wie es das bei ihm immer gewesen war.

Bei ihm.

Bei Sai...

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen.

Hikarus Erstaunen hielt jedoch nur für einige Sekunden an. Unwirsch versuchte er, sich aus Akiras Klammergriff zu lösen und deutete auf die dicken Geschichtsbücher.

"Ich lerne für meine Prüfungen. Was glaubst du, was man sonst in einer Bücherei macht?" fragte er neckisch, aber Akira lächelte nicht einmal. Statt dessen griff er nach dem nächsten Stuhl und setzte sich direkt neben Hikaru. Eine weitere Reaktion, die den blonden Jungen verwirrte. In der letzten Zeit war Akira unglaublich abweisend gewesen, hatte nicht einmal ein Wort mit ihm gewechselt, obwohl sie im Rahmen der Turniere kurz vor ihrem ersten richtigen gemeinsamen Spiel gestanden hatten. Und jetzt setzte er sich einfach so zu ihm? Was bitte schön sollte das?

Hikaru wusste bescheid, als er Akiras nächsten Satz hörte.

"Warum kommst du nicht mehr zu den Turnieren?"

Go!

Das ist alles, was ihn interessiert!

Plötzlich war Hikaru unglaublich wütend. Warum konnten ihn denn nicht einfach alle in Ruhe lassen? Es war schon schlimm genug, dass seine Freunde ihn immer wieder mit dummen Fragen nervten und auch seine Mutter so besorgt drein schaute, aber dass Touya Akira, sein größter Rivale, in seine Schule kam und ihn aushorchen wollte, das war der Gipfel. Warum konnten ihn denn nicht alle einfach allein lassen?

Er wollte dieses doofe Go nicht mehr spielen! Es hatte ihm zwar einen guten Freund geschenkt, ihm diesen jedoch grausam wieder genommen. Nein, der Verlust lag so schwer, Hikaru konnte nicht vergessen, er konnte, nein, er wollte diese verdammten Steine nie wieder berühren! Steine, die sein Lehrmeister viel besser zu führen gewusst hätte als er!

Sai...

Hikaru spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, aber er würde nicht weinen. Nein, verflucht, er würde sich nicht die Blöße geben und hier wie ein Baby heulen. Nicht vor seinen Mitschülern und erst recht nicht vor Touya Akira!

Sai...

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

"Ich werde nie wieder kommen, weil ich nie wieder Go spielen werde. Gewöhn dich dran!" antwortete Hikaru unwirsch und holte tief Luft, um seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dabei entging ihm Akiras Reaktion. Der Junge erbleichte und schien für einen Moment zu erstarren. Sekundenlang starrte er Hikaru schweigend an, bevor sein Ausbruch umso heftiger erfolgte.

"Sag mal, spinnst du? Ich glaube nicht, was ich höre!"

Wieder ein Schimpfwort, wenn auch noch nicht auf unterster Ebene. An einem anderen Tag hätte Hikaru sich wohl einen Spaß daraus gemacht und probiert, wie weit er Akira treiben konnte. Wie weit der sonst so stoische Junge hinter seiner ruhigen Fassade hervortreten konnte. Früher, wenn es nur ein Scherz gewesen wäre, ja , da hätte er es gewiss getan. Heute jedoch war es bitterer Ernst, ihm war ganz und gar nicht nach Lachen zumute.

"Ist mir doch egal, ob du es glaubst oder nicht. Ich spiele nicht mehr und damit basta!" erwiderte Hikaru störrisch und auch seine Stimme hob sich allmählich. Wieso konnte sich Akira damit nicht zufrieden geben und ihn endlich allein lassen? Wie erwartet ließ sich der Junge jedoch nicht damit abwimmeln. Heftig schüttelte er seinen Kopf und seine grünen Strähnen flogen durch die Luft. Erneut packte er Hikarus Schulter, dieses Mal drückte er jedoch noch fester zu.

"Autsch, das tut weh! Sag mal, tickst du noch richtig?" Hikaru war aufgesprungen, Akira drückte ihn jedoch mit einer Kraft auf den Stuhl zurück, die der blonde Junge niemals von seinem Rivalen erwartet hätte.

"Du bist doch derjenige, der nicht mehr richtig tickt! Erst machst du dir all die Mühe und wirst ein Pro - und dann gibst du es einfach so auf?" Akira schrie nun beinahe.

Aufgeben?

Was soll ich denn aufgeben?

Alles, was ich je erreicht habe, habe ich ihm zu verdanken, ohne ihn bin ich ein Nichts in der Go-Welt.

Sai...

"Was geht es dich an, was ich mache? Solltest doch froh sein, hast dann doch einen Rivalen weniger!"

"Nicht so! Nicht so!" Akiras Wangen waren nun stark gerötet und beide starrten einander feindselig in die Augen. "Ich will einen Rivalen besiegen. Besiegen. Du dagegen läufst weg!"

Weglaufen?

Ich bin nie mit dir auf einem Level gewesen. Wir haben nie denselben Weg geteilt. Ich kann gar nicht weglaufen. Nein, ich gehe lediglich dorthin zurück, wo ich herkomme, wo ich hingehöre...

"Das lasse ich nicht zu, Shindou-kun! Hörst du mich? Und wenn ich dich persönlich zum Institut schleifen muss!" schrie Akira, nun völlig in Rage. Wohl niemand aus seiner Klasse, ja nicht einmal seine eigenen Eltern hätten einen solchen Ausbruch von ihm erwartet und Hikaru hätte wohl gut daran getan, diesen denkwürdigen Moment auf Film festzuhalten, aber der blonde Junge war viel zu beschäftigt, ebenfalls wütend zu reagieren, er dachte nicht einmal an seine Kamera, die in seinem Rucksack steckte.

Mit der er unzählige Male versucht hatte, seinen Lehrmeister zu photographieren... und am Ende doch nur leere Bilder erhielt.

Sai...

"Das kannst du nicht machen!"

"Und ob ich das kann!"

"Das ist immer noch mein Leben!"

"Das du so einfach wegwirfst! Aber das lasse ich nicht zu!"

"Wieso? Du bist doch nicht mein Babysitter!"

"Du benimmst dich aber wie ein Baby!"

"Und du wie ein eingebildeter Schnösel, der nicht kriegt, was er will."

Der niemals mehr bekommen wird, was er will.

Hikaru schluckte, als plötzlich eine ältere Dame neben ihnen auftauchte und sie streng anblitzte.

Ja, Akira hatte immer gegen Sai spielen wollen. Seit jenem Spiel damals vor fünf Jahren. War es tatsächlich schon fünf Jahre her? Die Zeit war so rasch vergangen. Die letzten Wochen jedoch waren ihm wie eine Ewigkeit vorkommen. Wie eine nicht enden wollende Strecke voll Leid und Selbsthass.

"Dies ist eine Bibliothek, meine Herren! Entweder Sie sind leise oder Sie verlassen diese Räumlichkeiten AUF DER STELLE!"

Akira blinzelte und ließ Hikaru los. Er schien erst jetzt zu begreifen, dass er geschrieen hatte. Ein tiefes Rot durchzog seine Wangen, zeigte an, dass er sich für seinen Gefühlsausbruch schämte. Tief verbeugte er sich vor der Bibliothekarin und lächelte sie entschuldigend an.

"Gomen nasai. Wir werden jetzt leiser sein."

Kurz sah sie ihn an und ihr Blick verweilte sehr skeptisch auf Hikaru, aber mit einem knappen Nicken ging sie wieder zurück zu ihrem Tisch, immer die beiden im Auge behaltend. Bei der nächsten auch noch so kleinen Störung würden sie fliegen. Egal, wie freundlich der Junge auch lächelte!

Als Akira sich wieder zu Hikaru umdrehte, war jede Gefühlsregung aus seinem Gesicht verschwunden. Nur seine hellblauen Augen leuchteten unheilverkündend. Nein, er würde Hikaru nicht so schnell in Ruhe lassen. Das sah auch der blonde Junge und seufzte tief.

"Geh einfach, ok?" meinte er deshalb genervt und griff nach einem der dicken Geschichtsbücher, das er doch nicht lesen würde. Nicht wirklich. Vielleicht würde er sich ein oder zwei Bilder ansehen und bei dem Anblick von kimonotragenden Männern erneut gegen die Tränen kämpfen.

Oh, Sai...

"Nur, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest." Nun war Akiras Stimme wieder kühl und beherrscht, keine Spur zu laut. Er wartete gar nicht Hikarus Antwort ab und lehnte sich ein wenig vor, damit er besser in Hikarus Gesicht sehen konnte. "Warum hörst du jetzt auf einmal auf? All die Jahre hast du dich verbessert, bist aufgestiegen, und jetzt willst du einfach so aufgeben? Warum?"

Weil ich nicht in deine Welt gehöre, Akira. Sai hat in deine Welt gehört, ich war nur zu Gast. Sai ist... ist fort, deshalb kann ich nicht länger bleiben.

Hikaru öffnete das Buch und starrte für einen Moment auf den alten Kaiserpalast. Dort hatte Sai auch einmal gespielt, dort hatte die ganze Geschichte begonnen, und der blonde Junge sah nicht ein, warum sie hier endete.

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

"Weil ich nicht gut genug bin."

Da war erneut dieser überraschte, völlig verdutzte Ausdruck auf Akiras Gesicht. Damit hätte Hikaru bei jedem Photo-Wettbewerb gewonnen. Der Junge vergaß aber erneut seine Kamera und blätterte traurig einige Seiten um.

"Ich bin nicht würdig, Go zu spielen." Fügte er noch an, nicht in der Lage, seine wirklichen Gedanken auszudrücken. Akira hätte ihn sowieso nicht verstanden. So, wie er ihn jetzt nicht verstand. Akira ergriff Hikarus Kinn und zwang ihn, direkt in seine hellblauen Augen zu schauen, die nun förmlich Funken zu sprühen schienen.

"Welche Drogen hast du genommen, dass du so eine Scheiße redest?"

Ein Schimpfwort der untersten Klasse. Er muss wirklich aufgebracht sein.

Hikaru starrte Akira für einige Momente schweigend an. Normalerweise hätte er sich gewundert, wie gut er seinen ärgsten Rivalen kannte, aber statt dessen schüttelte er nur seinen Kopf. Nein, er wollte nicht länger Rede und Antwort stehen. Er wollte, dass Akira endlich ging und ihn allein ließ. Der junge Dan konnte ihn nicht verstehen, hatte er doch immer zu Sai aufgesehen, nicht zu Hikaru. Zu Sai, der im Schatten des Jungen gestanden, der Akira besiegt hatte. Hikaru war nur das Instrument gewesen Ein kleiner Junge, der auch gern einmal die Steine gesetzt hätte, im Endeffekt jedoch zu unfähig dazu gewesen war.

"Hey, rede mit mir! Wie kommst du zu so einer dummen Annahme, dass du nicht gut genug bist? Du bist verdammt gut! Innerhalb kürzester Zeit bist du ein Pro geworden!" Akira biss auf seine Lippe und die nächsten Worte schienen ihm schwer zu fallen. "Du bist der einzige im Nachwuchs, den ich als Rivalen erachte. Der einzige, hörst du mich, Shindou-kun? Du kannst gar nicht schlecht sein, wenn ich mit Herzklopfen an unser nächstes Spiel denke!"

Nein, du denkst dabei nicht an mich. Du denkst an Sai. Und Sai ist nicht mehr da...

Hikaru schluckte hart und befreite sich schließlich aus Akiras seltsamer Berührung. Er drehte sich weg, wusste jedoch, dass er ohne jegliche Erklärung nicht so einfach gehen konnte. Sonst würde Akira ihm hinter her rennen und laut nach ihm rufen. Wenn Touya Akira das Wort >Scheiße< in den Mund nahm, war alles möglich! Dabei wollte Hikaru einfach nur seine Ruhe.

Mit zitternden Händen nahm er ein Blatt aus seinem Rucksack und reichte es Akira. Er brauchte nicht mehr darauf zu schauen, er kannte die Züge mittlerweile auswendig, hatte ihre Brillanz erkannt.

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen!

"Ich bin dieses Spiels nicht würdig." Wiederholte er, seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Erneut kämpfte er erfolgreich gegen seine Tränen an, wusste jedoch, dass die Dämme nicht ewig hielten.

Akira ergriff das Blatt und erkannte darin die Kopie eines Spielberichtes. Eines sehr alten Spielberichtes. Verwirrt runzelte er die Stirn und blickte von dem Papier in seiner Hand auf zu Hikaru, der ihn sehr ernst anschaute. Ja, er meinte seine Worte, aber, wieso?

"Wieso, Shindou-kun?" formulierte er seine Fragen und schüttelte den Kopf. Er war nicht recht in der Lage, den Gedankengängen des anderen Junge zu folgen. "Dies ist mehrere hundert Jahre alt und eine sehr hohe Klasse. Dieser Spieler war legendär. Ich glaube, mein Vater selbst hätte Schwierigkeiten, mit ihm mitzuhalten."

Ja, er hatte Schwierigkeiten. Er hat gegen ihn verloren. Und ich habe ihm so wenige Spiele gegen Akiras Vater gegönnt, weil ich so egoistisch war und selbst spielen wollte!

Wie hatte ich nur so selbstsüchtig sein können?

"Du wirst noch viel üben, bis du seinen Level erreicht hast, Shindou-kun, aber deswegen..."

"Ich werde NIE diesen Level erreichen, Touya-kun. Nie!" schnitt ihm der blonde Junge das Wort ab und erhob sich mit zitternden Beinen.

"Aber, woher willst du denn das wissen? Du..."

"Weil ich egoistisch, selbstsüchtig und blind bin!"

"Ja, aber..."

"Ich habe diese Größe nie begriffen! Bis es zu spät war!" Hikaru deutete mit bebender Hand auf den kopierten Spielbericht, ließ Akira nicht zu Wort kommen.

"Ich habe einfach seine Fähigkeiten ignoriert und deshalb werde ich nie wieder spielen. Es ist egal, ob du die Wände hoch läufst oder dich quer stellst, ich werde nie wieder Go spielen, weil dieses verfluchte Spiel einfach nur weh tut!"

Dieses Mal klappte Akiras Mund nach unten. Vermutlich hatte ihm noch nie jemand gesagt, dass Go, sein geliebtes Spiel, Schmerzen verursachen könnte. Hikaru nutzte seine Gelegenheit, ergriff seinen Rucksack samt Kopfhörer und wandte sich zum Gehen.

"Was redest du, Shindou-kun? Dieser geniale Spieler ist doch schon seit vielen Jahrhunderten tot, es ist normal, dass du von seinen Spielen erst jetzt erfährst, da du ein Pro bist."

Hikaru drehte sich noch einmal um und Akira war noch entsetzter, als er Tränen in grünen Augen glitzern sah.

"Für mich ist er es erst seit drei Wochen..."

Nun verließ Hikaru endgültig die Bibliothek, ließ einen völlig verwirrten Akira zurück, der noch immer runzelnd den Spielbereicht betrachtete. Einen Spielbericht, der seinesgleichen suchte und seit vielen Jahrhunderten nicht fand. Sai war der Größte Go Spieler Japans gewesen. Und er, Hikaru, hatte ihn durch seinen Egoismus vertrieben.

Verdammt!

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen.

Sai...
 

***
 

"... und morgen wird das Wetter wieder sehr heiß werden, so wie das im Hochsommer..."

Hikaru lag auf seinem Futon und schaltete gelangweilt durch die verschiedenen Kanäle. Während der letzten Jahre war sein Fernseher fast hinter den Spinnweben verloren gegangen, nun bedeckte eine feine Staubschicht den Go-Tisch, der noch immer in der Mitte des Raumes stand, noch immer im Spiel verharrend. Es war Sais Zug gewesen, als Hikaru ihn das letzte Mal sah. Seitdem hatte der Junge das Brett nicht mehr berührt in der Hoffnung, dass Sai zurück kehren und die Partie zu Ende führen würde. Manchmal hatte Hikaru das Gefühl, dass dieses Brett die einzige Verbindung zwischen ihm und Sai war, die noch existierte, aber wann immer auf die Konstellation der Steine starrte, fühlte er sich so einsam, wie er sich noch nie gefühlt hatte. Sogar einsamer als damals vor 5 Jahren bevor er den alten Goban auf dem Dachboden seines Großvaters fand und somit Sai in sein Leben ließ. Einen aufgeweckten Geist, der süchtig nach Go und meist sehr geduldig mit Hikaru war. Er brachte ihm Go bei, lernte mit ihm Geschichte und andere schulische Fächer und war einfach immer an seiner Seite gewesen. Immer, wenn es ihm nicht gut gegangen war, war Sai da gewesen. Zwar nur als Geist ohne Körper und ohne jegliche Macht gegenüber Hikarus Umwelt, aber dennoch mit viel Weisheit und Rat, manchmal auch mit Witz und ein wenig Naivität hatte er immer zu ihm gestanden.

Und nun war er weg...

"... ein ideales Wetter, um zum Stand zu gehen und dort..."

Weg, wohl für immer. Hikaru hatte überall nach dem Geist gesucht, war jedem Gerücht über übernatürliche Kräfte nachgegangen, aber er konnte nicht einmal den kleinsten Hinweis auf seinen Lehrmeister entdecken. Nichts.

Sai, ich will dich zurück!

Ich will, dass du zurück kommst!

Viele Male hatte er diese Sätze schon gedacht, schon so manches Mal laut aus sich heraus geschrieen, aber es war nichts geschehen. Der Platz am Go-Tisch blieb leer, genauso wie Hikarus Herz.

Nein, er würde nicht mehr in den Go-Salon gehen, nie mehr in das Institut zurück kehren, niemals wieder ein Spiel spielen. Es tat zu weh, einfach zu weh!

"Ich gehe jetzt. Dein Abendessen steht auf dem Tisch, du musst es nur noch in die Mikrowelle schieben." Rief seine Mutter von unten herauf. Hikaru antwortete mit einem genervten >Ja.< und atmete auf, als er die Tür ins Schloss fallen hörte. In letzter Zeit war seine Mutter zu gluckenhaft, das nervte ihn extrem. Immer fragte sie, ob alles in Ordnung mit ihm wäre und ob sie ihm helfen könnte. Als ob sie das je in den letzten Jahren gebraucht hätte, er war doch schließlich schon groß!

Nein... ich war nicht so groß, ich hatte einfach Sai, der auf mich aufgepasst hat...

Hikaru schluckte hart und konzentrierte sich auf das Fernsehprogramm. Es war zwar nur der Wetterbericht, aber es lenkte ab. Das brauchte er, eine willkommene Ablenkung, die seine Alpträume vertrieb. Denn es war immer noch besser von einer öden Daily Soap zu träumen, als von Sai, der vor ihm davon lief, den er nicht einholen konnte, egal, wie sehr er sich auch bemühte...

"... am späten Nachmittag ist dafür mit Sommergewittern zu rechnen, also achten Sie..."

Hikarus Magen knurrte und er drehte den Ton lauter, als er die Treppe hinunter polterte und das von seiner Mutter zubereitete Essen in die Mikrowelle schob. Appetit hatte er zwar keinen, aber er musste etwas essen. Sonst machte sich seine Mutter nur wieder Sorgen und ließ ihn so lange nicht in Ruhe, bis er wenigstens eine halbe Schale Reis gegessen hatte. Heute hatte sie ihm sein Lieblingsgericht zubereitet: Ramen. Aber ihm war dennoch nicht danach. Für einige Momente blickte er auf die weißen Würmer, die in der Brühe schwammen, dann griff er nach den Stäbchen und balancierte auf der freien Hand die Schüssel nach oben. Gleich würde Setsuna Jill erklären müssen, dass sie heimlich mit Robert einen Pack geschlossen hatte, der besagte, dass Hotaru mit Lindas Hund Gassi gehen durfte... oder irgend so etwas in der Art. So richtig begriff Hikaru noch nicht die Handlung der Sendung, die den vielversprechenden Namen "Freudiges Bellen" trug, aber alles war besser, als stundenlang auf die unbeendete Partie zu starren. Das Spiel eines Meisters, den er ignoriert hatte...

"Somit kommen wir jetzt zu den neuesten Nachrichten aus Sport und der Welt. Zuerst geht es natürlich um das beliebte Brettspiel Go. Touya..."

Auf dem Bildschirm wurde soeben eine sehr interessant wirkende Konstellation gezeigt, als Hikaru sein Zimmer betrat. Für einen Augenblick musterte er den Fluss der Steine und wusste, dass dies ein Spiel der Meister war. Bestimmt hatte Akiras Vater wieder einmal gespielt, ein Ehrenspiel sozusagen. Solche Partien spielte er ab und an seitdem er sich vor einigen Monaten nach einem Herzinfarkt aus dem Profilager zurückgezogen hatte, und sie waren immer wieder aufs Neue hochinteressant.

Ohne weiter nachzudenken, ergriff Hikaru die Fernbedienung und drehte den Ton noch lauter.

"Sai!" rief er aufgeregt und deutete mit dem schwarzen Kasten auf den Fernseher. "Sie bringen gerade etwas über Akiras Vater. Du willst das doch nicht verpassen, oder?"

Also nichts geschah, als kein Geist vor Aufregung hinter ihm hervorsprang, als kein Fächer über den Bildschirm schwebte, um markante Stellen des Spieles aufzudecken, drehte sich Hikaru um und sah - nichts. Der Platz neben dem Go-Tisch war leer und würde es wohl auch bleiben.

Sai hätte das hier gerne gesehen. Nein, er hätte dieses Spiel gerne gespielt! Er hätte es gekonnt, wenn ich nicht so egoistisch gewesen wäre. Er hätte es gekonnt...

Aber ich habe selbst spielen wollen. Ich dachte, dass er für immer bei mir bleibt und es ausreicht, wenn er ab und an spielt. Wie dämlich bin ich gewesen?!?

Die Schüssel entkam seiner zitternden Hand und die Ramen ergossen sich über seinen Teppich. Hikaru bemerkte es nicht einmal. Wie in Trance trat her hinüber zu dem Go-Tisch und setzte sich auf seine Seite, starrte erneut auf das begonnene Spiel vor sich, das er so gerne beenden wollte. Mit ihm, mit Sai! Nur mit Sai!

Verdammt...

Heiße Tränen traten in seine Augen, sein Blick verschwamm und die Steine wirkten plötzlich wie große Regentropfen, die zufällig auf einen Ast gefallen waren.

Er hätte sich diesen Bericht so gerne angesehen. Er hätte so gerne gespielt. Er wäre so gerne glücklich gewesen. Und ich habe ihm all dies verwehrt!

Hikaru schluckte und die ersten Tränen rannen über seine bleichen Wangen. Mit zitternden Fingern hob er den letzten Stein, den er gesetzt hatte, auf und setzte ihn erneut. Erwartungsvoll blickte er zu dem Platz gegenüber. Dieser blieb jedoch leer, kein Sai erschien.

"Du bist dran, Sai. Spiel!" schluchzte Hikaru und wiederholte das Ritual. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal... bis er nicht mehr mit zählte. Bis ihm die Finger versagten und der Stein beinahe vom Brett fiel.

"Komm zurück, Sai! Komm zurück.."

Nicht nur, um diese Partie zu beenden. Es gibt so viel, was ich dir sagen will, so viel ist in den letzten Wochen passiert. Akira hat sich verändert, ich habe mich verändert, alles hat sich verändert. Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll, jetzt, da ich erkannt habe, dass Go nicht mein Schicksal ist. Du hättest mir geholfen, nicht wahr? Aber du bist nicht mehr da... du bist fort...

Hikaru musste husten und weitere Tränen lösten sich aus seinen grünen Augen.

Ich hätte ihn mehr spielen lassen sollen.

Hikaru verbarg sein

heißes Gesicht in seinen Händen und weinte leise, sich beruhigend hin und her wiegend.

Ich habe geglaubt, dass du immer bei mir sein würdest, Sai. Ich habe dein Lachen, dein Schmollen, deine klugen Worte als gegeben angesehen. Und dich mit dieser Ignoranz verloren.

Hikaru schob den Go-Tisch von sich, ohne jedoch auch nur einen Stein zu verschieben. Dann schaltete er den Fernseher aus und legte sich auf seinen Futon. Dort schob er sich die Decke über den Kopf und war froh, dass er allein war, als letzten Endes der Damm brach. Laut schluchzte er und ließ seinen Tränen endgültig freien Lauf. Tränen, derer er sich maßlos schämte, weil er selbst schuld war an der Misere, in der er steckte.

Wie immer kam der Schlaf erst sehr spät. Und wie immer suchten ihn Alpträume heim.

Ich hätte dich mehr spielen lassen sollen, Sai...
 

***

Hauptteil: Freunde?

Hauptteil: Freunde ?
 

Das Klingeln seines Weckers beendete schließlich die schier unendliche Nacht. Hikaru schlug mit seiner flachen Hand gegen den kleinen Apparat und zog sich die Decke erneut über den Kopf. Die Sonne schien direkt auf sein Bett und blendete ihn ungemein. Nein, er wollte nicht aufstehen. Nicht heute. Er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und ihm war fürchterlich schlecht. Gut, das konnte daran liegen, dass er seit gestern früh nichts mehr gegessen hatte, aber das würde er seiner Mutter nicht erzählen. Genau! Er würde ihr sagen, wie schlecht es ihm ging und dann könnte er heute zu Hause bleiben. Heute und vielleicht den Rest der Woche.

Moment... gestern war doch Freitag...

Hikaru runzelte seine Stirn und kniff seine Augen genervt zusammen, als sein Wecker erneut zu klingeln begann. Genervt krachte seine Hand auf die arme Apparatur nieder, die nun umfiel und wie beleidigt liegen blieb.

Wenn heute Samstag ist, dann muss ich heute gar nicht in die Schule.

Dieser Gedanke hellte ihn ein wenig auf, aber nur ein wenig. Samstags war er sonst in das Go-Institut gegangen. Samstags wie auch sonntags. Die zwei schönsten Tage in der Woche, für Sai und ihn. Keine Hausaufgaben, nichts zu lernen. Einfach nur Go spielen und fröhlich sein.

Fröhlich sein...

Es läutete erneut und Hikaru ärgerte sich, warum er den verdammten Wecker eingestellt hatte, wenn heute Wochenende und damit schulfrei war, bis er erkannte, dass es die Haustür war, die ihn geweckt hatte und sein geschundener Wecker ganz und gar unschuldig war.

Was zum...

Hikaru zog die Decke noch heftiger über seinen Kopf. Wer immer auch störte, seine Mutter sollte ihn abwimmeln. Er würde sich heute nicht mit irgendwelchen Vertretern herum ärgern. Sein Großvater konnte es nicht sein, der besuchte sie nur an Sonntagen, also bestand kein Grund für Hikaru aufzustehen. Seine Mutter würde schon die Tür öffnen und sich um den ungebetenen Besuch kümmern. Vielleicht war es auch nur eine von ihren Freundinnen aus dem Kochkurs, den sie einmal die Woche besuchte. Das wäre natürlich phantastisch, dann hätte Hikaru wieder den ganzen Tag für sich!

Das Klingeln erstarb endlich und Hikaru seufzte wohlig auf. Na bitte, seine Mutter war doch ab und an richtig nützlich. Da es Samstag war, würde er sich noch ein paar Mützen voll Schlaf gönnen. Im Hellen gelang ihm das Schlafen irgendwie immer besser. Weniger Alpträume jagten ihn, wenn die Sonne schien. Also nutzte er die Gunst der Stunde, bevor er wieder über all den Mist nachdenken musste, den er verpraktiziert hatte!

Sein Wecker schwieg, die Haustür hatte aufgehört zu läuten - statt dessen klopfte es nun an seiner Tür. Hikaru verzog verärgert seine Augen zu Schlitzen, als er sich schließlich aufrichtete. Seine Decke behielt er jedoch störrisch vor seinem Körper, seine Mutter sollte ruhig sehen, dass er noch ein wenig schlafen wollte. Sie sollte ja nicht auf die Idee kommen, dass er mit ihr einkaufen gehen würde. So weit kam es noch! Er mit seiner Mutter und einer vom Kochkurs allein auf Einkaufstour... das war doch nicht auszuhalten.

Früher wäre es gegangen, da hätte mich Sai aufgeheitert.

Sai...

Hikaru schluckte und die Kopfschmerzen verstärkten sich. Unwirsch murrte er ein >herein< und hoffte, dass seine Mutter ihm wirklich nur sagte, dass sie jetzt weggehen würde.

Umso größer war Hikarus Erstaunen, als statt seiner Mutter, einer hübschen Frau mittleren Alters, mit einem Mal ein Junge seines Alters im Türrahmen stand. Er schien sich ein wenig unwohl zu fühlen, aber seine hellblauen Augen blitzten energisch. Nein, er würde sich nicht abwimmeln lassen. Hikaru sah dies und stöhnte unterdrückt.

"Touya-kun, was willst du denn hier?"

"Ich wünsche dir auch einen schönen guten Morgen, Shindou-kun." begrüßte ihn Akira und trat nach kurzem Zögern ein. Er kniff seine Augen zusammen, als er sah, dass Hikaru in seiner Kleidung geschlafen hatte, verlor jedoch keinen Kommentar darüber. Auch nicht, als er über die zerbrochene Schüssel stieg, unter der die Ramen wie lange, weiße Haare hervorquollen. Statt dessen ließ er sich neben einem Go-Tisch auf einem weichen Kissen nieder. Ja, hier fühlte er sich schon wohler, selbstsicherer. Und das musste er heute besonders sein, wollte er Hikaru von seinem Plan überzeugen - oder ihn wenigstens aus seinem Zimmer zerren wollen, ohne dass jener die Polizei rief und ihn wegen Hausfriedensbruch verhaften ließ.

"Morgen..." murmelte Hikaru zurück und fuhr sich über seine müden Augen. Sie lagen tief in ihren Höhlen und der Junge war sehr blass. Er wirkte, als ob er die halbe Nacht nicht geschlafen hatte. "Was willst du?"

Der Tonfall zeigte Akira deutlich, dass er nicht erwünscht war, aber dieser ließ sich davon nicht beirren. Er wäre nicht einer der erfolgreichsten Nachwuchsspieler im japanischen Go geworden, wenn er sich von jedem und jeder Situation gleich hätte einschüchtern lassen.

Bevor er jedoch antworte konnte, betrat Hikarus Mutter die Schlafstätte ihres Sohnes. Sie trug ein Tablett in ihren Armen und ein fröhliches Lächeln auf ihrem Gesicht.

"Hier, Jungs, eine kleine Stärkung." Sie betrachtete kurz die Ramen auf dem Teppich und seufzte unterdrückt. "Unten steht noch etwas in der Küche, solltest du noch Hunger haben, Hikaru. Pass das nächste Mal besser auf, ja?"

Der blonde Junge sah sie kurz an, dann nickte er, noch immer unschlüssig, was er tun sollte. Am liebsten würde er ja aus seinem Bett kriechen, Akira zur Tür hinaus werfen und wieder zurück unter seine Decke schlüpfen, um dort seinen Kopfschmerzen zu frönen, aber das ging natürlich nicht, wenn seine Mutter hier im Zimmer stand, dazu noch so gut gelaunt.

"Sanaka-san hat vorhin angerufen, Hikaru. Ich treffe mich in einer halben Stunde mit ihr. Wir wollen für nächste Woche einkaufen fahren."

Sanaka-san. Natürlich kannte Hikaru die korpulente Frau, die den Kochkurs führte, den seine Mutter wöchentlich besuchte. Eigentlich hätte er sich ja gefreut, dass sie shoppen ging und er damit seine Ruhe hatte, aber leider passte ein Teil nicht in sein Puzzle: Der grünhaarige Junge, der neben dem Go-Tisch saß und ihn mit seinem Blick zu durchbohren schien. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als Hikarus Mutter ihm eine große Tasse in die Hand drückte. Artig bedankte er sich.

"Arigatou, Shindou-san."

Ha! Gestern hat er >Scheiße< gesagt, ich hab's genau gehört!

Hikaru seufzte leise. Ohne Sais Kichern in seinen Gedanken machten solche Sticheleien überhaupt keinen Spaß!

"Gern geschehen. Hikarus Freunde sind immer willkommen." Offensichtlich freute sich seine Mutter über den Besuch, was auch kein Wunder war. Seit Wochen hatte er keine Freunde mehr zu sich nach Hause eingeladen, ja, sie sogar kategorisch gemieden. Deswegen wunderte es ihn, warum Akira, der ihn noch nie besucht hatte, ausgerechnet jetzt auftauchte. Ausgerechnet nach dem heftigen Streit, den sie erst gestern in der Bibliothek gefochten hatten. Oder gerade deswegen?

"Sollte etwas sein, ich nehme mein Handy mit, Hikaru."

"Ist ok, Mama." Antwortete er gespielt fröhlich. Er wollte, dass sie endlich ging, damit er sich in Ruhe, oder zumindest ungestört mit Akira befassen konnte.

Ist er wirklich so verrückt nach Go, dass er sogar zu seinem ärgsten Rivalen nach Hause kommt?

Hikaru strampelte die Decke ein wenig zur Seite, weil es ihm doch langsam zu warm darunter wurde. Die Sonne schien mit all ihrer hochsommerlichen Kraft durch das Fenster genau auf sein Bett, ohne seine Jalousien hätte er es sowieso nicht mehr lange auf seinem Futon ausgehalten.

Kurz musterte er Akira, der vorsichtig von der Milch - Hikaru war sich sicher, dass die Becher Milch enthielten, denn das hielt seine Mutter für gesund - trank und schließlich noch ein wenig dagegen blies, weil sie ihm wohl zu heiß war. Ja, Akira war Go-süchtig. Genauso wie Sai es gewesen war.

Ich hätte ihnen beiden mehr Spiele ermöglichen sollen!

Schuldgefühle brachen wieder über Hikaru herein und er reagierte in der einzigen Art, die er gegenüber anderen Menschen beherrschen konnte: Er wurde wütend.

"Was hast du hier verloren? So früh am morgen!" fuhr er Akira an, der ihn nur kurz musterte und einen zweiten Schluck von seiner Milch nahm. Normalerweise mochte er dieses Getränk nicht, aber der Becher wärmte angenehm seine eiskalten Hände.

"Es ist schon fast elf Uhr, Schlafmütze." Erklärte er betont ruhig und setzte den Becher schließlich auf seinem Schoß ab, die Ränder ignorierend, die sich dort bildeten. "Du hast eine sehr nette Mutter."

Hikaru blinzelte verwirrt ob des ungewöhnlichen Themenwechsels, dann aber kehrte sein Zorn in ihn zurück.

Er sitzt dort, wo Sai immer gesessen hat. Er sitzt auf Sais Seite. Er hat kein Recht dazu!!!

"Lenk nicht ab! Warum bist du hier?" Hikaru schlüpfte aus seinem Bett und hielt sich für einen Augenblick den schmerzenden Kopf. Konnte dieser Idiot nicht einfach gehen und ihn in Ruhe in seinem Selbstmitleid ertrinken lassen? In einer halben Stunde würde die spannende Dokumentation >Mein Garten und ich< anfangen und Hikaru wollte keine Minute davon verpassen.

Ich will allein sein!

Nein, ich will nicht allein sein. Ich will Sai um mich haben.

Sai, nicht diesen Idioten.

"Um zu fragen, was du heute so vor hast." antwortete Akira und sah ihn direkt an, schien ihn zu mustern.

"Vergiss es! Ich werde nicht mit dir spielen! Das hab ich gestern gesagt und das habe ich auch so gemeint!" schnappte Hikaru noch bevor er weiter nachdenken konnte. "Du bist hier nicht erwünscht, kriegst du das nicht mit? Hau ab!"

Normalerweise hätte er solch rüde Worte nie zu jemandem gesagt. Nicht einmal zu seinem ärgsten Rivalen, den er so gern als einen Freund angesehen hätte, wenn Akira ihn nicht ständig so kühl behandelt hätte. Ja, normalerweise hätte Hikaru anders reagiert, wäre vor Freude ganz aus dem Häuschengewesen, dass Akira sich die Mühe machte und ihn besuchte. Aber nichts war mehr normal. Nicht seit jenem Abend vor drei Wochen...

"Ich weiß." Entgegnete Akira ungerührt und nahm einen weiteren Schluck Milch. Er verzog nicht einmal sein Gesicht, als er sich die Zunge verbrannte. "Aber darüber diskutiere ich erst, wenn du dich gekämmt und dir was anderes angezogen hast."

"Was glaubst du, wer du bist! Mir vorschreiben zu wollen..."

"Dann schau mal in den Spiegel." Akira nahm einen weiteren Schluck und hob spöttisch eine Augenbraue. "Oder willst du wirklich den ganzen Tag SO rumlaufen?"

Hikaru verdrehte seine Augen und wollte etwas sagen. Dann aber überlegte er es sich anders, schnappte sich ein paar Kleidungsstücke aus dem Kleiderschrank und stürmte Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und musterte seinen seltsamen Gast.

"Wehe, du rührst hier irgendetwas an!"

"Die Wurstbrötchen deiner Mutter sehen aber lecker aus. Sind die auch tabu?"

"ARG!" Hikaru schlug die Tür hinter sich zu und stapfte in das Badezimmer. Selten hatte er sich so schnell geduscht und umgezogen. Das gelbe T-Shirt war schon etwas älter, aber es war sauber. Nur seine Haare konnte er irgendwie nicht bändigen. In alle Richtungen standen sie fort. Hikaru gab schließlich mit einem genervten Seufzer auf und warf den Kamm in die Ecke.

Ist doch egal, wie ich aussehe. Kann doch dem Idioten egal sein!

Aber Sai wäre es nicht egal gewesen...

Der Junge schluckte und hob den Kamm wieder auf. Vorsichtig fuhr er damit noch einmal durch seine Strähnen und starrte eine Weile in sein Spiegelbild. Sein Kinn zeigte noch keinen Bart, aber er wusste, dass er eines Tages Bartwuchs bekommen würde. Sein Vater hatte einen wunderschönen Vollbart gehabt, was so ziemlich das einzige war, woran Hikaru sich erinnern konnte.

Ob Sai sich mit so etwas auskannte? Hätte er mir erklärt, wie ich mich zu rasieren habe?

Hikaru wusste es nicht. Wie er so viele Sachen nicht wusste. Aber es war ihm klar, dass er seine Mutter nicht fragen konnte, wenn es einmal so weit war und er die ersten Stuppel an seinem Kinn entdeckte. Nein, es würde niemand da sein, der ihm erklärte, wie man sich rasierte.

Niemand...

Hikaru legte den Kamm leise beiseite und ging zurück in sein Zimmer. Dieses Mal stampfte er nicht so laut auf, denn plötzlich fühlte er sich matt und ausgelaugt. Er wollte sich nur noch in sein Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und verschwinden. So wie Sai verschwunden war. Vielleicht würde er ihn ja dort treffen, wenn er in dasselbe Nichts entschwand...

Der blonde Junge öffnete die Tür zu seinem Zimmer und erstarrte, als er Akira sah, der über den Go-Tisch gebeugt saß. In der einen Hand hielt er tatsächlich ein angebissenes Wurstbrötchen, in der anderen einen weißen Go-Stein.

Weiß.

Sai hat immer Weiß gespielt.

Hikaru ließ seine dreckige Kleidung fallen und stürmte hinüber zu Akira, der soeben den weißen Stein auf das Brett herab senkte.

Er wagt es, Sais Spiel fortzuführen? Er wagt es, Sais Zug zu setzen? Er wagt es, Sais Steine zu berühren???

"Fass das nicht an!" Hikarus Stimme überschlug sich, als er Akiras Hand packte und sie vom Tisch fort zerrte. Gerade noch rechtzeitig, der Stein hatte das Brett noch nicht berührt. "Was bildest du dir ein?!"

Das Brötchen fiel zu Boden und Akira, noch immer den Stein in seiner Hand haltend, schaute mit großen Augen auf zu Hikaru, der schwer atmend über ihm stand. Am ganzen Körper bebend ergriff der blonde Junge den Stein und legte ihn vorsichtig, ja beinahe zärtlich zurück in die hölzerne Schale.

"Ich... ich wollte nur das Spiel fortsetzen. Weiß war doch am Zug, oder?" Akira klang nicht ängstlich, nur unendlich verwirrt. So war er wohl noch nie in einem Spiel unterbrochen worden.

Aber, verdammt, das war ja auch nicht sein Spiel!

"Das darfst du nicht!" flüsterte Hikaru und suchte nach einem Tuch, das er behutsam über dem Tisch ausbreitete. "Das ist nicht dein Spiel."

"Wessen Spiel ist es dann?" fragte Akira, der solche Züge schon einmal gesehen hatte, sich aber an keinen konkreten Spielbericht erinnern konnte, obwohl er glaubte, so ziemlich alle schon einmal selbst versucht zu haben. Er erhielt jedoch keine Antwort. Hikaru seufzte nur und ging hinüber zu seinem Schreibtisch, um ebenfalls von seiner Milch zu nippen.

Ich sollte ihm keine Vorwürfe machen, er ist so. Wenn er ein Go Spiel sieht, muss er daran teilnehmen. Natürlich muss er das, es ist ja auch seine Welt.

Dennoch war Hikaru wütend. Man wühlte nicht einfach so in den Sachen der anderen!

Seine Kopfschmerzen nahmen zu und erneut hielt er sich seinen Kopf. Entschlossen stellte er seinen Becher ab, wobei Milch überschwappte und auf den Teppich kleckerte.

"Bei dir wäre ein Hausschwein ganz gut, man kann hier ja sprichwörtlich vom Boden essen." Erklärte Akira und sammelte sein Brötchen wieder ein. Vorsichtig blies er über die Wurst, bevor er erneut hinein biss.

"Wozu brauch ich ein Schwein, wenn ich dich habe?" konterte Hikaru ironisch und nahm sich selbst ein Brötchen. Ein schwaches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er Akiras empörten Ausdruck sah.

Früher hätten Sai und ich uns halb tot gelacht...

Hikaru schloss seine Augen.

"Ok, Touya-kun, fangen wir noch mal von vorne an. Warum bist du hier?" fragte er leise und nahm widerstrebend einen zweiten Biss. Ihm war flau im Magen. Vermutlich lag es an den verpassten Mahlzeiten, dann war es gut, wenn er aß. Sollte ihm jedoch generell schlecht sein, nun, dann konnte er sich wenigstens vor Akira übergeben. Vielleicht war dann der Junge überzeugt und ließ ihn endlich allein!

"Um dich zu fragen, was du heute so vor hast."

"Ich spiele aber kein Go mit dir."

"Wer hat etwas von Go spielen gesagt? Ich nicht!"

Hikaru öffnete überrascht seine Augen und runzelte seine Stirn. Moment, hatte er das gerade richtig gehört? Sprach er wirklich mit Touya Akira, dem Touya Akira, der als jüngster Dan in die Geschichte des japanischen Gos einging und sonst eigentlich nichts weiter im Kopf zu haben schien als Go??? Dieser Touya Akira wollte nicht Go spielen???

Hikaru machte ein ziemlich dummes Gesicht.

Was wollte dieser Touya Akira dann?

"Hey, schau nicht so." murmelte Akira und biss rasch in sein Brötchen. "Ja, ich liebe Go über alles, aber das ist doch nicht mein einziges Hobby."

"Nicht?" platzte es aus Hikaru heraus, bevor er es verhindern konnte. Für einen Moment sah Akira verletzt aus, verbarg diese Gefühlsregung jedoch rasch hinter seiner perfekten Maske der Gleichgültigkeit.

"Ich mag zum Beispiel Schwimmen. Heute ist phantastisches Wetter gemeldet, Shindou-kun. Und da dachte ich, wir gehen runter zum Strand und schwimmen ein paar Runden. Ich spendier dir auch ein paar Ramen."

Hikaru blinzelte. Er war zu verwirrt, um überhaupt noch ein kleines bisschen wütend zu sein. Akira fragte ihn, seinen größten Rivalen, ob er mit ihm schwimmen gehen wollte. Und er wollte ihm, der berüchtigt war, sieben Portionen Ramen auf einmal verdrücken zu können, zum Essen einladen?

War etwas kaputt? Hatte er etwas verpasst? War Akira von Außerirdischen entführt worden und nun saß er hier mit einem Klon? Aber dieser Akira sah noch immer täuschend aus wie Akira. Dasselbe Glitzern in seinen hellblauen Augen, das manchmal die einzige Gefühlsregung war, die er zeigte, die er nicht verstecken konnte.

Was soll ich jetzt tun?

All die Jahre hatte Hikaru es kaum erwarten können, gegen Touya Akira zu spielen... und jetzt, da er Go aufgab, kam Akira, obwohl er ihn davor jahrelang missachtet hatte, und lud ihn zum Essen ein??? Ergab das einen Sinn? Konnte dies einen Sinn ergeben?

Sai, hilf mir! Was soll ich tun?

Aber als Hikaru sich aus reiner Gewohnheit umdrehte, war der Platz neben ihm leer. Kein Geist konnte ihm wertvolle Ratschläge geben, ihm zur Seite stehen und ihm sagen, was er für das Beste hielt. Nein, jetzt musste Hikaru selbst entscheiden - und so wie er sich kannte, würde er sowieso die verkehrte Entscheidung treffen.

Hikarus Schultern sackten nach unten und er fühlte wieder den Klos in seinem Hals. So etwas Dummes, er hatte die halbe letzte Nacht geweint, er konnte keine Tränen mehr haben! Und dennoch war ihm zum Heulen zumute...

"Pack deine Badesachen und komm einfach mit." Meinte Akira schließlich ruhig, nachdem er schweigend sein Brötchen beendet hatte. Er wusste nicht so recht, was mit Hikaru los war, aber er hatte beschlossen, seinen Rivalen näher kennen zu lernen. Er wollte wissen, warum Hikaru so plötzlich mit dem Spielen aufgehört hatte, und er ahnte, dass er wohl nie eine direkte Antwort auf all seine Fragen erhalten würde. Vielleicht würde er aber eines Tages aus dem merkwürdigen Verhalten Hikarus schlau. Denn Akira musste einfach wissen, warum er seinen größten Rivalen - und damit zugleich einen wichtigen Aspekt im Go - verloren hatte!

Außerdem sah Hikaru aus, als bräuchte er Abwechslung, und wenn es sich dabei lediglich um ein wenig Sonne, Strand, Meer und Ramen handelte.

"Vergiss die Sonnencreme nicht." Erinnerte ihn Akira, als Hikaru schließlich aufstand, mechanisch seine Sachen zusammen sammelte und ungeachtet in einen Beutel stopfte.

"Wo sind eigentlich deine Sachen? Ich geh zu keinem FKK Strand!"

Akira hatte wenigstens die Höflichkeit zu erröten, bevor er ärgerlich seine Lippen aufeinander presste.

"Die stehen noch unten im Flur. Ich wollte sie nicht in dein Zimmer bringen, weil ich befürchtete, sie könnten in deinem Chaos untergehen." Erwiderte er so würdevoll wie möglich, bevor er sich erhob. Nicht jedoch, ohne einen letzten Blick auf den Goban zu werfen. Er hatte die Staubschicht auf den Steinen gesehen, dieses Spiel musste schon mehrere Wochen alt sein.

Warum hat er es nicht zu Ende gespielt?

"Kommst du? Oder muss ich jetzt etwa auch noch auf dich warten?" knurrte Hikaru und riss Akira aus seinen Gedanken.

"Ich komm schon." Lächelte er, als er Hikarus Ungeduld erkannte. Gegen wen der Junge auch immer dieses Spiel geführt hatte und warum es auch immer nicht beendet wurde, das war eine Frage, die Akira herausfinden wollte. Wenn nicht heute, dann morgen. Aber sicherlich irgendwann. Der jüngste Dan Japans hatte Geduld und Zeit. Und verdammt viel Ausdauer. Auf die Art hatte er schon jeden Rivalen geschlagen.

Jeden?

Er seufzte leise als der Hikaru die Treppe hinab folgte und seinen eigenen Beutel aufnahm. Nein, ein Rivale hatte ihn besiegt, neben seinem Vater. Das war Hikaru gewesen. Vor fünf Jahren.

Kurz trafen sich ihre Augen, als beide mit dem Binden ihrer Schuhe fertig waren.

Ich wünschte, ich könnte wieder gegen dich spielen.

Ich wünschte, ich könnte Sai wieder gegen dich spielen lassen.

Schweigend verließen sie das Haus und liefen Richtung Strand.
 

***
 

"Ist das nicht phantastisch?"

Euphorisch ließ Akira seine Tasche in den Sand fallen, riss seine Schuhe von den Füßen und sprang bereits im Wasser herum. Dass die Hosen seiner Schuluniform nass wurden, störte ihn nicht weiter. Genauso wenig, dass ihn wohl jeder für verrückt erklärt hätte, der ihn aus seiner Schule her kannte. Touya Akira war ein gewissenhafter, guter Schüler, ein Go-Genie. Solche Leute liefen nicht lachend durch das seichte Wasser und spritzten herum!

Hikaru schien ähnlich zu denken, denn er starrte ihn für einen Moment mit offenem Mund an, bevor er sich schließlich abwandte und die Decke auf dem Sand ausbreitete, die sie zusammen geschleppt hatten. Sie war alt und staubig, aber sie würde es tun. Nichts war Hikaru unangenehmer am Strand, als wenn der Sand dann an der nassen Kleidung haften blieb und fürchterlich zu scheuern begann.

"Na ja, geht so..." murrte der blonde Junge und sah sich kurz um. Obwohl er Akira nicht zustimmen wollte, musste er doch zugeben, dass der junge Dan ein schönes Fleckchen herausgesucht hatte. Es war in einer Buch versteckt und keinerlei Touristen waren weit und breit zu sehen. Es schien, als ob sie diesen Strand nur für sich hatten. Was Hikaru nur all zu recht war. Er wollte hier niemanden treffen, erst recht nicht jemandem vom Institut. Diese Leute stellten nur unangenehme Fragen. Warum er ausgetreten war, warum er plötzlich aufgab. Warum er nicht mehr spielen wollte.

Hoffentlich fragt Akira heute nicht noch einmal!

Hikaru schielte zu der noch immer tanzenden Gestalt, bevor er sich seiner Sachen entledigte und sich, nur in seiner grünen Badehose bekleidet, auf die Decke legte. Die Sonne schien noch immer heiß vom Himmel herab, aber es ging ein leichter Wind, der alles viel erträglicher machte. Müdigkeit drohte, Hikaru zu übermannen und gähnend erinnerte er sich daran, dass er eigentlich vorgehabt hatte, noch ein wenig zu schlafen, als Akira plötzlich in seinem Zimmer gestanden hatte. Pah, konnte er doch allein Baden gehen, Hikaru würde hier einfach liegen bleiben und ein kleines Nickerchen machen.

Am Tag gibt es keine Alpträume, ich sollte diese Gelegenheit nutzen, sie ist günstig.

Schlaftrunken nahm er kaum die Schritte neben sich wahr und verstand auch nicht, was Akira zu ihm sagte. Er brummte nur müde und erschrak fürchterlich, als er plötzlich einen eisigen Schauer spürte, der seinen Rücken herunter jagte.

"Was soll das?" schrie er und saß im nächsten Moment, obwohl die Landschaft ein wenig schwankte.

"Dich eincremen. Oder willst du heute Abend aussehen wie ein Krebs?" Akira hielt die Sonnencreme in der Hand, die Hikaru vor einer halben Stunde erst aus dem untersten Schubfach seines Schrankes hervor gekramt hatte. Der blonde Junge brauchte ein paar Momente, um den tieferen Sinn zu verstehen. Erst hatte er ja geglaubt, dass Akira ihn heimlich und rücksichtslos mit kaltem Meereswasser vollgespritzt hatte, aber jetzt sah er, als er seinen Kopf ein wenig drehte, dass weiße Sonnenmilch auf seinen Schultern lag, die schon leicht gerötet waren.

"Oh.." murmelte er nur und ließ sich von Akira wieder zurück auf die Decke drücken.

"Daran hast du wohl überhaupt nicht gedacht, was? Wie kommt es dann, dass du die letzten Sommer nie im Krebslook herumgelaufen bist?" scherzte Akira, während er großzügig die Creme auf Hikarus Rücken verteilte. Besser ein wenig mehr, als zum Schluss Schmerzen erleiden. Akira hatte sehr empfindliche Haut, er wusste, wovon er sprach.

"Ich bin sonst nie am Strand." Gestand Hikaru nach einer Weile und seufzte wohlig auf, als Akira nach dem Eincremen seines Rückens dazu überging, vorsichtig seine Schultern zu massieren. Hikaru war gar nicht bewusst gewesen, wie verspannt er gewesen war. Aber, war es denn ein Wunder? Seit Wochen schlief er nicht mehr richtig, schleppte sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Da reagierte natürlich auch sein Körper dementsprechend.

"Meine Güte, du bist ja der reinste Knoten." Witzelte Akira und Hikaru wollte gerade etwas Passendes erwidern, hielt es dann aber doch für klüger zu schweigen und dem anderen Jungen seinen Hohn zu lassen. Nicht, dass Akira mit dem Massieren aufhörte, das war doch so entspannend!

"Wieso bist du sonst nie am Strand? Ist doch schön hier. Ich mein, selbst ich hab manchmal genug vom Institut."

"Nimmst du da deinen Goban mit?"

"Normalerweise ja..." gab Akira nach einigem Zögern zu und Hikaru musste grinsen. Ja, das wäre bei ihm wohl ähnlich gewesen, wenn er mit Sai zum Strand gegangen wäre. Ohne Goban wäre der Geist wohl auch nicht aus dem Haus gegangen.

Sai.

Warum bin ich mit ihm nie zum Strand gegangen?

Hikaru ließ seine Schultern hängen und zuckte leicht zusammen, als Akira in seiner neuen Haltung einen verkehrten Muskel erwischte.

"Halt still, sonst bringt das nichts!" erhielt er auch prompt die Warnung. Normalerweise wäre Hikaru nun wieder wütend in die Luft gegangen, was sich Akira denn einbildete, ihn herum zu kommandieren, aber wieder riefen ihn seine verspannten Muskel zur Vernunft. Also brummelte er nur etwas Unverständliches und kehrte zurück in seine alte Pose.

Ja, warum bin ich nie mit Sai zum Strand gegangen?

Wegen der Erinnerungen?

Und warum bin ich dann jetzt hier mit Akira?

"Ich war früher oft mit meinem Vater hier. Im Sommer. Er hat mir auch das Schwimmen beigebracht." murmelte Hikaru schließlich nach einer ganzen Weile, in der Akira schweigend seinen Rücken bearbeitet hatte.

"Und jetzt kann er wohl nicht mehr mit dir herkommen?" fragte der junge Dan, der vermutete, dass Hikarus Vater beruflich unterwegs war. Bei seinem Vater war es ja so ähnlich gewesen. "Hat er viel in seinem Job zu tun?"

Erneut breitete sich Schweigen aus, nur das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen am Himmel waren zu hören. Aber Akira hatte es nicht eilig. Geduldig wartete er ab und massierte still weiter, obwohl er mehrfach merkte, wie sich Hikaru erneut verspannte, so als kämpfe er mit sich selbst. Schließlich schien er aufzugeben.

"Nein. Er ist vor über fünf Jahren gestorben." Hikarus Stimme hatte noch immer denselben schläfrigen Ton, aber Akira ahnte, dass dies nur Schein war. Seine Augen waren geschlossen, vermutlich hätten sie zu viel preis gegeben.

Warum erzähl ich ihm das? Was geht ihn das an?

Für einen Moment ärgerte sich Hikaru über sich selbst, dann aber zuckte er mental mit den Schultern.

Spielt das überhaupt eine Rolle? Spielt irgendetwas noch eine Rolle?

"Er erlitt einen Herzinfarkt, als wir hier am Strand waren, und ertrank." Murmelte der blonde Junge. Es war ein einfacher Satz, den er schon so oft gesagt hatte. Zu Bekannten, zu trauernden Verwandten, zu einigen Klassenkameraden, die seine Familiensituation gut genug kannten. Es waren nur ein paar Worte, die nie das ausdrücken konnten, was er wirklich empfunden hatte. Damals - wie heute.

Akira beendete seine Massage und Hikaru fragte sich bereits, ob er den jungen Dan mit seiner rührseligen Geschichte vertrieben hatte, als er plötzlich kalte Finger spürte, die sanft durch sein Haar fuhren. Sanft, beruhigend, tröstend. Verstehend.

Ja, es war nur ein einfacher Satz, der niemals das ausgedrückt hätte, was Hikaru empfunden hatte - und noch immer empfand - aber Akira verstand ihn. Vor einigen Monaten, als Hikaru und Akira ihr eigentliches erstes Spiel gegeneinander fechten sollten, erlitt Akiras Vater einen Herzinfarkt und beschloss darauf hin, als Profispieler zurück zu treten und nur noch aus Spaß Go zu spielen, um seine Gesundheit zu schonen. Hikaru hoffte zumindest, dass dies der wahre Grund war und nicht das Spiel, das Akiras Vater gegen Sai über das Internet verloren hatte.

Ja, Akira wusste genau, wovon Hikaru sprach. Beinahe hätte er seinen Vater ebenso verloren...

Hikaru öffnete seine Augen und sah direkt in Akiras Gesicht. Sah das stumme Verständnis dort. Akira leiere keine Phrasen herunter wie >Es tut mir leid.< oder >Schlimm zu hören.< oder gar >Das wird schon wieder.< wie Hikaru sie vor über fünf Jahren ständig zu hören bekommen hatte. Wörter ohne Sinn. Akira sagte nichts von all dem. Schweigend sah er ihn lediglich an, während seine Hand weiterhin sanft durch Hikarus Haar fuhr.

Es war der beste Trost, den Hikaru je bekommen hatte. Besonders, seitdem Sai, der ihn so oft mit seiner fröhlichen Art hatte aufheitern können, verschwunden war.

"Arigatou..." murmelte Hikaru und stand schließlich auf. Damit brach er zwar den mystischen Moment, aber er ging jetzt lieber ins Wasser, bevor sich der Klos in seinem Hals noch löste und er vor Akira wirklich zu weinen begann. Das wollte er weder sich noch seinem Rivalen zumuten.

Ist er überhaupt noch mein Rivale? Wir spielen ja nicht mehr gegeneinander. Oder ist er vielmehr ein Freund?

Hikaru wusste es nicht. Er würde später fragen. Später, wenn seine Stimme wieder etwas stabiler war und nicht mehr zitterte.

"Ball spielen?" fragte Akira und beförderte einen kleinen Ball zu Tage, der über und über mit schwarzen und weißen Go-Steinen übersät war. Hikaru sah ihn und musste gegen seinen Willen breit grinsen.

"Erstens, ich bin kein Hund, ich verstehe auch ganze Sätze." Kicherte Hikaru und mit einem Mal war jede Traurigkeit verschwunden - oder zumindest verdrängt. "Und zweitens, ist bei dir alles voller Go-Steine?" Ein Bild erschien vor seinem inneren Auge und nun musste er leise lachen. "Wie sieht eigentlich dein Bettzeug aus? Und dein Handtuch? Sind da auch lauter Go-Steine drauf?"

"Natürlich nicht!" würdevoll erhob sich Akira und warf Hikaru den Ball zu, den dieser geschickt auffing. Dann entledigte sich der junge Dan seiner Kleidung. Sehr zu Hikarus Enttäuschung war seine Badehose aber glatt schwarz. Kein einziger Go-Stein war darauf zu entdecken. "Meine Bettdecke ist gestreift."

"Mit Markierungspunkten?" neckte Hikaru und grinste breit, als Akira ihm einen giftigen Blick zuwarf. Da fiel ihm etwas auf. Er warf den Ball zurück zu Akira und griff nach der Sonnencreme. "Brauchst du dich nicht eincremen?" fragte und betrachtete den grünhaarigen Jungen, der zum Wasser hinüber lief.

"Ich verlasse im Sommer nie das Haus, ohne mich einzucremen."

"Wenn du meinst..." Hikaru zuckte mit seinen Schultern und rannte durch den Sand, um den kleinen Go-Ball aufzufangen.

Im Wasser hatte er sehr viel Spaß.

Vor Lachen vergaß er beinahe Sai.

Aber nur beinahe.
 

***
 

"Warte, ich krieg dich!"

Akiras grüne Haare klebten nass in seinem Nacken, als er hinter Hikaru durch das knietiefe Wasser watete. Der blonde Junge hielt den Go-Ball hoch über seinem Kopf und hüpfte rückwärts. Er wusste, dass Akira einen halben Kopf kleiner war als er und demzufolge kaum eine Chance hatte, den Ball zu erreichen. Ein breites Grinsen lag auf Hikarus Gesicht, während er Akiras fruchtlose Versuche beobachtete.

"Niemals!"

"Wart's nur ab."

Akira näherte sich bis auf wenige Schritte. Hikaru wollte gerade wieder ein wenig fort hüpfen, als Akira auf einmal einen großen Satz machte und ihn damit umwarf. Beide landeten im Wasser und Hikaru schnappte nach Luft, als er wieder an die Oberfläche kam. Um an den Ball zu gelangen, hatte Akira ihn einfach unter Wasser gedrückt.

"Dir ist jedes Mittel recht, was?"

"Genauso wie dir."

Sie grinsten sich für einen Moment an, als Hikarus Magen lautstark bekannt gab, dass er bis auf ein Wurstbrötchen seit einem Tag nichts Gescheites mehr gegessen hatte und gefälligst mal wieder gefüllt werden wollte.

"Oh..." murmelte Hikaru und errötete leicht. "Steht die Einladung zum Essen noch?" fragte er und wirkte mit einem Mal wieder so wie der junge Hikaru, den Akira damals in dem Go-Salon kennen gelernt hatte. Einen elfjährigen Jungen, der kein Vorurteil gegen ihn gehabt, der ihn offen angelacht und mit ihm gespielt hatte. Gut, Hikaru hatte gewonnen und damit Akira mehr als nur einmal Magenschmerzen und schlaflose Nächte bereitet, aber er hatte ihn nicht aus Überheblichkeit heraus besiegt, wie das so viele andere vor und nach ihm versucht hatten, sondern er hatte einfach aus Stärke heraus gewonnen, in einem fairen Spiel. In einer angenehmen Atmosphäre eines aufgeweckten Jungen, der keinerlei Neid oder gar Hass gegen ihn, den Sohn des berühmtesten Go-Spielers Japans, gehegt hatte.

Können wir noch einmal von vorn beginnen?

Können wir die Jahre der Rivalität überwinden und ein gesundes Maß an Rivalität und Freundschaft von nun an walten lassen?

Akira wäre dies nur mehr als recht.

"Klar steht das Angebot noch." Der junge Dan ergriff sein Handtuch und trocknete sich rasch ab. Dann streifte er sich das Hemd seiner Schuluniform über den Oberkörper und suchte nach seinem Portemonnaie. "Ich kenn hier einen guten Laden, der gar nicht so weit weg ist. Pass du auf die Sachen auf, ich hol was."

"Aber ohne Fisch. Ich mag keinen Fisch."

Akira betrachtete Hikaru für einen Moment, der noch von dem letzen Sturz ins Wasser gerade zu triefte und lächelte amüsiert.

"Verständlich. Man isst nicht seine Artgenossen."

Akira sah Hikarus leicht verärgerten Gesichtsausdruck und machte sich aus dem Staub, bevor er noch wirklich mit dem Go-Ball beschossen wurde.

Er ist jetzt ganz anders als noch heute früh oder gar gestern.

Akira ging in Gedanken versunken die lange Straße oberhalb der Küste entlang und betrat den Shop. Er seufzte wohlig ob der Klimaanlage, erinnerte sich jedoch rasch an seine Mission und räumte ein paar Sachen, die einfach lecker aussahen, in den Einkaufskorb.

Gestern und heute hat er nur so ekelig reagiert, weil ich mit ihm Go spielen wollte. Ist es wirklich wahr? Hat er wirklich keine Lust mehr dazu? Warum behauptet er dann von sich, dass er nicht gut genug wäre?

Akira betrachtete die Eiskrem und fragte sich, ob er diese heil bis zum Strand bekommen würde. Schließlich entschied er sich, das Risiko einzugehen und sie landete ebenfalls im Korb.

Könnte ich die Aussage eher akzeptieren, dass er keine Lust mehr hat, als dieses verworrene Nicht-Gut-Genug-Getue?

Akira bezweifelte dies irgendwie. Wer einmal so weit im Go gekommen war, der verlor nicht die Lust. Nicht einfach so. Nicht einmal sein Vater, der aus gesundheitlichen Gründen zurück getreten war, hörte komplett mit dem Go auf. Nein, jemand, der dieses Spiel so lange so leidenschaftlich gespielt hatte, verlor nicht einfach so die Lust daran. Da musste mehr dahinter stecken. Viel mehr.

Aber was?

Akira bezahlte und verstaute seine Errungenschaften in einer Plastetüten. Sein Eis riss er sofort auf und aß es nachdenklich, während er zurück zum Strand schlenderte.

Aber was?

Diese Frage nagte an ihm. Was bewegte einen Menschen, etwas aufzugeben, was er so offensichtlich geliebt hatte? Er selbst könnte es sich nicht vorstellen, einfach so nicht mehr Go zu spielen. Es war sein liebstes Hobby, böse Zungen behaupteten ja, es wäre sein einziger Lebensinhalt. Fakt war, er würde sich sehr einsam fühlen ohne den Goban, die Steine, die Spannung während eines Spieles, die Gleichheit unter den Spielpartnern innerhalb des Zugs.

Aber was?

Akira beendete sein Eis und warf den Stiel in einen Papierkorb, bevor er zurück zu der Stelle kletterte, wo Hikaru auf der Decke lag und sich sonnte. Es war sinnlos, sich über diese Frage den Kopf zu zerbrechen. Hikaru würde sie sowieso nicht beantworten. Nicht heute, nicht morgen, vielleicht nie wirklich. Auf jeden Fall würde Akira ihn heute damit nicht noch einmal belästigen. Hikaru hatte so gute Laune bekommen, er wollte diese nicht unnötig verderben. An anderer Stelle konnte er ja weiter bohren und nerven.

Akira grinste, während er an die Decke trat.

Und das würde er auch machen, darauf konnte sich Hikaru verlassen!

"Shindou-kun?" fragte er und stellte die Tüte auf die Decke. Erst jetzt erkannte er, dass es sich hierbei um eine Gefriertüte handelte.

Sehr gut, dann bleibt das Essen frisch und Hikarus Eis könnte noch gut sein.

"Shindou-kun?"

Erneut erhielt Akira keine Antwort. Der blonde Junge hatte seine Augen geschlossen, seine Atmung ging regelmäßig. Vermutlich war er eingeschlafen.

Er sah heute früh ziemlich müde aus.

Akira stellte die Tasche mit dem Essen in den Schatten hinter einem Felsen und setzte sich neben die Decke in den Sand. Er würde Hikaru nicht wecken, sondern einfach abwarten. Nein, er würde sich schon nicht langweilen, das hatte er noch nie getan.

Akira ergriff einen kleinen Stock und begann geduldig, gerade Linien in den Sand zu malen.
 

***
 

Möwen schrieen, die Wellen schlugen in einem beruhigend regelmäßigen Rhythmus gegen den Strand. Langsam, ganz langsam kehrte Hikaru aus dem Land der Träume zurück. Erst brauchte er ein paar Momente, um zu begreifen, wo er war. Gerade eben hatte er sich noch bei seinem Großvater befunden, um ihm das Bild zu zeigen, das er in der Vorschule für ihn gezeichnet hatte. Nun aber war er kein kleines Kind mehr und er befand sich... Wellen... genau, er befand sich am Strand.

Leises Kratzen ließ ihn seine verklebten Augen öffnen und er wandte leicht den Kopf, um Akira im Strand neben sich sitzen zu sehen. Der junge Dan hielt einen Stock in seiner linken und einen Stein in seiner rechten Hand.

Baut er Sandburgen?

Hikaru setzte sich auf und gähnte herzhaft. Dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte gut geschlafen, stellte er zu seiner Verwunderung fest. Sehr gut. So gut, wie er seit drei Wochen nicht mehr geschlafen hatte... seit Sai verschwunden war...

Akira schien ihn gar nicht zu bemerken. Seeligenruhig legte er den Stein in den Sand und kritzelte wieder etwas mit seinem Stock. Plötzlich sah Hikaru das Bild eines Fünfjährigen vor sich, der Sandkuchen baute und dann stolz seinem Papa zu essen geben wollte. Der blonde Junge musste bei diesem Gedanken breit grinsen.

Ob er damals schon Go gespielt hat?

Eines Tages würde Hikaru Akira fragen. Heute hatte er den jungen Dan von einer komplett anderen Seite kennen gelernt. Und egal, was für harte Rivalen sie die letzten Jahre auch gewesen waren, Hikaru mochte diesen neuen Akira und wollte ihn besser kennen lernen. Selbst wenn sie nicht mehr Go spielen würden, vielleicht konnten sie ja trotzdem Freunde sein. So, wie Hikaru das immer gewollt hatte.

Prompt erwachte auch Hikarus Magen und begann, lautstark zu knurren. Akiras Kopf fuhr herum und er legte einen anderen Stein vorsichtig beiseite. Hikaru fragte sich, warum Akira den ganz gewöhnlichen Kiesel wie einen Go-Stein hielt, verkniff sich aber einen entsprechenden Kommentar. Vermutlich war das normal und nach einer gewissen Weile fasste man jeden Stein so an.

"Dein Magen ist der beste Wecker." Akira erhob sich und ging hinüber zu einem Felsen, wo er eine Supermarktüte hervor zauberte. "Na, ausgeschlafen?"

"Es ist Wochenende." Verteidigte sich Hikaru und riss Akira die Tüte förmlich aus der Hand. "Lecker! Es sind zwar keine Ramen, aber das hier ist auch nicht zu verachten." Er hielt triumphierend ein fertiges Reisbällchen in die Höhe, bevor er es auswickelte und gierig zu essen begann. Wann hatte ihm das letzte Mal ein Essen so gut geschmeckt? Er wusste es nicht, aber es schien seinem Magen schon zu lange her zu sein.

"Mach langsam, sonst verschluckst du dich. Eis ist übrigens auch noch drin. Ich weiß aber nicht, ob es mittlerweile geschmolzen ist."

"Ja, Mama. Und ich schau mal nach." Hikaru nahm sich zwei Reisbällchen und schlenderte zu Akira hinüber, der wieder im Sand Platz genommen hatte und erneut einen Stein zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger hielt.

"Was machst du da?" fragte er und hätte beinahe die Reisbällchen fallen gelassen, als er den Goban sah, den der junge Dan in den Sand geritzt hatte. Auf einigen Punkten lagen bereits Steine. Akira hatte es sogar geschafft, unterschiedlich aussehende Steine zu finden. Hikaru wusste sofort, wer Weiß und wer Schwarz war. Verärgert musste er feststellen, dass ihm wirklich die Finger zuckten und er am liebsten den nächsten schwarzen Stein gesetzt hätte. Statt dessen wickelte er sein Reisbällchen aus und aß es, während er Akira das verbleibende reichte.

"Na ja, sieht man doch, oder?" Akira errötete leicht. "Ich bin aber gleich fertig, gib mir noch fünf Minuten."

"Dann ist das Essen aber alle." Hikaru zog die Tüte zu sich hinüber und setzte sich gegenüber von Akira vor das gekritzelte Brett.

"Ok, ich ruf dann auch die Ambulanz wegen der Magenverkrümmung." Neckte Akira und setzte, ohne weiter aufzusehen, den nächsten Stein. "Das schaffst du sowieso niemals alles allein."

"Wetten?"

"Lieber nicht."

Wieder einen Stein gesetzt. Und den nächsten. Und noch einen.

Hikaru griff nach dem nächsten Reisbällchen, entschied sich dann aber dagegen. Nachdenklich blickte er zu Akira, der schweigend da saß und einfach Stein nach Stein auf das sandige Brett legte. Ganz anders als gestern bat er ihn nicht um ein Spiel. Hatte er es tatsächlich akzeptiert? Oder gab er sich fürs erste mit diesem Nachmittag zufrieden, um später erneut zu nerven? Nervte er überhaupt? Konnten Freunde überhaupt nerven? War er überhaupt ein Freund?

Ich war gestern und heute so ekelig zu ihm, aber er hat sich nicht beirren lassen und mir sogar was zu Essen gekauft. Wie könnte ich mich revangieren?

Sai, was würdest du an meiner Stelle tun?

Hikaru blickte hilfesuchend zum Himmel empor, aber wie die letzten Wochen auch antwortete ihm niemand. Stille herrschte für weitere Minuten, die nur von dem stetigen Rauschen der Wellen unterbrochen wurde.

Würdest du noch einmal mit ihm spielen?

Soll ich noch einmal mit ihm spielen?

Nur, um ihm zu zeigen, dass er nicht auf mich zu warten braucht? Dass ich nicht der Rivale war, den er die ganzen Jahre gesucht hat? Dass wir einfach so Freunde sein können, ohne dabei auf das Go angewiesen zu sein?

Was meinst du, Sai? Soll ich's wagen?

Sai?

Hikaru schluckte und richtete seinen Blick schließlich wieder auf das Spielbrett. Schwarz war wieder am Zug. Bis jetzt war es ein sehr interessantes Spiel. Welches Spiel Akira gerade nachspielte, es sah vielversprechend aus. Für beide Seiten. Noch war alles offen, noch konnten beide gewinnen. Es war ein sehr starkes Spiel und erinnerte Hikaru ein wenig an die alten Spielberichte. Es kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht mehr entsinnen, ob er diese Konstellation schon einmal irgendwo gesehen hatte. Vielleicht in einem Magazin oder bei einem der vielen Turniere.

Wie auch immer. Ich muss ihm zeigen, dass ich kein Verlust für die Go-Szene bin. Nur so können wir Freunde werden und er in Frieden das Ziel verfolgen, das ich Sai immer verwehrt habe...

"Touya-kun?" Hikarus Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren und Akira nickte nur, bevor er den nächsten Stein ergriff. Verwirrt blickte er auf, als Hikaru seine Hand zurück hielt und ihn ernst, sehr ernst anschaute.

"Darf ich für Schwarz weiter setzen?" fragte er und räusperte sich, da seine Stimme zu versagen drohte. "Das sollte dir erklären, warum ich nicht mehr spielen werde."

Akira sah ihn an und Freude sowie Trauer mischten sich zugleich in seinem Blick. Dann nickte er stumm und drückte den dunklen Kiesel in Hikarus Hand.

Kurz verbeugten sie sich und wünschten einander viel Glück, dann setzte Hikaru den ersten schwarzen Stein. Seine Hand zitterte und mit einem Mal wünschte er sich, seine Reisbällchen mit mehr Bedacht gegessen zu haben. Nun lagen sie ihm wie Wackersteine im Magen.

Das Spiel verlief in absoluter Stille, nur das Kratzen war zu hören, wenn ein Kiesel in den Sand gesetzt wurde. Hikaru hätte sich unsicher fühlen müssen, war es doch das erste wirkliche Spiel zwischen ihnen. Wie würde Akira reagieren, wenn er herausfand, dass er gar nicht so stark war, wie er das all die Jahre immer angenommen hatte? Wäre dies das Aus für ihre blühende Freundschaft?

Drei Züge verliefen ohne Zögern, dann hielt Hikaru inne. Eigentlich hätte er in die rechte Ecke setzen müssen, um Akiras Angriff abzublocken, aber irgendwie war dies zu offensichtlich. Irgendwie passte dieser Zug nicht. Irgendwie musste er hier anders reagieren. Irgendwie...

Noch immer zögerte Hikaru, aber Akira sah nicht auf, zeigte mit keiner Geste, dass er ungeduldig wäre. Nein, wenn es um Go ging, konnte Akira unglaublich geduldig sein. Manchmal sogar geduldiger als ihm gut war.

Nicht dort hin...

Hikaru schloss für einen Augenblick die Augen und hätte beinahe aufgeschrien, als aus dem schwarzen Nichts plötzlich ein Fächer auftauchte und ihm den Weg zu deuten schien. So, wie Sai das früher immer getan hatte.

Wie Sai...

Hikaru schluckte hart und öffnete seine Augen wieder. Ohne weiter zu überlegen setzte er den Stein an die Stelle, die er eben noch hinter seinen geschlossenen Liedern gesehen hatte. Akiras bereits gezückter Kiesel verharrte mitten in der Bewegung. Kurz sah er zu Hikaru auf, dann konzentrierte er sich wieder auf das sandige Brett und setzte seinen weißen, oder besser gesagt, etwas helleren Stein.

Jetzt hat er's gesehen. Das war bestimmt ein Fehler. Jetzt weiß er, dass ich nicht gut genug bin. Ist er jetzt wütend?

Aber er spielt eben mit mir und nicht mit Sai. Sai hätte keine Fehler gemacht. Sai war ein Genie. Und ich habe ihn nicht spielen lassen! Nicht so oft, wie er das verdient hätte! Ich Egoist!

Hikaru legte die nächsten Kiesel und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass jener Zug ganz und gar nicht verkehrt gewesen war. Kurz rechnete er die Punkte durch. Gut, er würde noch immer verlieren, aber mit einem Mal sah es knapp aus. Sehr knapp. Akiras Pokerface verriet nichts, aber er zögerte immer wieder und überlegte immer länger, bevor er den nächsten Zug setzte.

Nach einer Stunde war das Spiel vorbei und Hikaru bedankte sich artig für das Spiel. Akira hatte gewonnen, natürlich. Aber nur ganz knapp: Bei einem Moku!

"Warum glaubst du, dass du nicht gut genug bist? Das war ein exzellentes Spiel." Akiras Stimme war betont ruhig, als er noch einmal den Ablauf in seinem Kopf rekonstruierte. "Solche Spiele will ich auch in Zukunft mit dir spielen, Shindou-kun. Gib nicht auf."

Es klang beinahe wie eine Bitte, aber Akiras Gesicht verriet nichts, während seine Augen über die einzelnen Steine schweiften. Hikaru rutschte unruhig hin und her. Er hatte mit jeder Reaktion gerechnet, vom absoluten Verschließen bis hin zum wütenden Ausbruch wie gestern, aber diese Aussage traf ihn völlig unvorbereitet.

"Weil es nicht gut genug ist!" beharrte Hikaru. "Erinner dich mal an unser erstes Spiel, so gut werd ich wohl niemals wieder spielen können!"

Wieder warf Akira ihm einen von seinen undefinierbaren Blicken zu, bevor er sich wieder dem sandigen Brett zuwandte.

"Genauso hast du heute aber gespielt, Shindou-kun."

"Was?" Das nahm Hikaru nun völlig aus dem Rennen, aus all seinen vorbereiteten Ausflüchten. "Was?"

"Vielleicht ist dir das nicht aufgefallen, aber ich habe unser erstes Spiel nachgespielt, bevor du aufgewacht bist. Etwa in der Mitte bist du eingestiegen. Ich muss zugeben, einige der Züge waren anders als die von damals, aber das ist normal, niemand spielt ein Spiel zweimal, das wäre langweilig." Akira deutete mit dem kleinen Stöckchen auf eben jenen Kiesel, bei dem Hikaru zuerst gezögert und dann schließlich aufgrund der Eingebung mit dem Fächer gesetzt hatte. "Aber dies hier war ein ganz wichtiger Zug. Es ist eine Falle und du hast besonnen reagiert. Viele Leute sehen das nicht und tappen natürlich hinein. Du hast das aber nicht getan. Statt dessen hast du mich dort oben..." Akiras Hand bewegte sich vorsichtig über das sandige Brett. "... angegriffen. Das war die einzig richtige Antwort. Du hast vor fünf Jahren schon richtig reagiert - und heute auch wieder." Der junge Dan seufzte leise. "Einige deiner Züge mögen anders sein, Shindou-kun, aber das ist normal. Fünf Jahre sind vergangen, jeder verändert sich. Aber die wichtigsten, die grundlegenden Züge sind noch genauso raffiniert wie damals. Also erklär mir, warum du aufhören willst."

Hikaru hatte während der Erklärung Akiras die Luft angehalten und stieß diese langsam wieder aus. Für eine ganze Weile starrte er auf das gekritzelte Brett und schluckte, vermochte aber nicht, den Klos in seinem Hals herunter zu würgen.

"Du hast das Können in dir, Shindou-kun. Warum also willst du aufhören? Ich glaube nicht, dass du nicht gut genug bist."

Akiras Stimme war noch immer sehr ruhig, beinahe besänftigend. Für Hikaru war sie weit weg. Seine Ohren rauschten und ihm war mit einem Mal sehr schwindelig. Er griff sich an den Kopf und schüttelte diesen, was das Schwindelgefühl nur noch verstärkte.

Dieser eine Zug... er war wie damals vor fünf Jahren... wie Sai...

Hikaru schluckte, aber das Klos schien anzuschwellen.

Sai hätte diesen Zug gesetzt. Genau. Sai. Aber ich habe ihn letzten Endes gesetzt. Weil der Fächer mir das gezeigt hat.

Sicher? Hast du nicht von dir aus gezögert? Hast du nicht genau so gespielt, wie Sei es dir gelehrt hat?

>Das Können ist in dir.<

Das Können von Sai. Nein, nicht nur sein Können, er selbst. Sein Spiel ist mein Spiel geworden.

Hikaru schluckte erneut und ballte seine Hände zu Fäusten, während das Spielbrett vor seinen Augen verschwamm.

"Shindou-kun?"

Bedeutet das, dass Sai nun wirklich nicht wieder kommt? Wird er gehen, nachdem er mir seine Fähigkeiten übertragen hat? Hat er bemerkt, dass ich genauso spiele wie er und ist deshalb gegangen, weil er glaubte, ich würde ihn nicht mehr brauchen?

Aber verdammt! Ich brauche ihn noch!!!

Selbst wenn ich Go spielen kann, wie Akira mir gerade gezeigt hat, so gibt es noch so viel andere Sachen, bei denen er mir helfen, bei denen er einfach nur da sein kann. Verdammt! Selbst wenn ich keinen Lehrmeister in Go mehr brauche, so brauche ich dennoch den Menschen Sai. Den Freund Sai. Das Familienmitglied Sai...

Verdammt!

"Shindou-kun?"

Hikaru brauchte zwei Anläufe, bevor er begriff, dass Akira seinen Namen rief. Verwirrt schaute er auf und blickte in Akiras besorgtes Gesicht, das dem seinen plötzlich nahe war. Der blonde Junge drehte leicht den Kopf und sah, dass das sandige Brett zerstört war. Akira schien einfach durchgelaufen zu sein.

"Hab ich irgendetwas falsches gesagt?" Akiras Gesicht war nun wirklich voller Sorge und Hikaru fragte sich für den Bruchteil einer Sekunde, wie viele Menschen den jüngsten Dan Japans jemals ohne seine Maske der Gleichgültigkeit gesehen hatten.

"Etwas.. falsches...?" flüsterte Hikaru und bemerkte erst jetzt, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Geschockt befühlte er seine nassen Wangen, gab aber dem Impuls, aufzustehen und wegzulaufen nicht nach. Akira hatte seine Schwäche bereits gesehen, weglaufen hätte einfach nur noch dämlich ausgesehen.

So blieb der blonde Junge sitzen und schloss seine Augen für einen Moment. Dieses Mal umfing ihn nur Schwärze, kein Fächer war zu sehen. Kein Sai, nicht einmal eine Spur von ihm. Nichts...

"Ich... ich hab nur grad erkannt, dass ich Go nicht aufgeben kann." Flüsterte Hikaru und ballte seine Fäuste härter, bis die Knöchel weiß hervor traten und seine Handgelenkte schmerzten. "Wenn ich es aber nicht aufgebe, verlier ich jemanden, der mir sehr wichtig ist." Der Junge schüttelte seinen Kopf, ein paar Tränen blieben in seinen Haaren haften. "Macht nicht viel Sinn, oder?" murmelte er bedrückt und wagte es nicht, seine Augen wieder zu öffnen. Akira musste ihn doch für einen totalen Volltrottel oder für einen Wahnsinnigen halten!

Sai, warum kommst du nicht zurück?

Warum tust du mir das an?

Es stimmt, ich habe durch dich Go kennen und lieben gelernt.

Aber ich habe auch gelernt, wie es ist, nicht mehr so allein zu sein. Besonders nach Papas Tod. Willst du mich jetzt auch im Stich lassen?

Hikaru fuhr zusammen, als er plötzlich wieder diese sanften Finger in seinem Haar spürte. Zögernd öffnete er seine tränengefüllten Augen und sah direkt in Akiras verständnisvolles Gesicht. Es war genauso wie vor wenigen Stunden, als er ihm von dem tragischen Unfall seines Vaters berichtete. Stumm bot Akira ihm Trost an. Es lag an ihm, diesen anzunehmen.

Zwar verstand Akira nicht so recht, was Hikaru ihm sagen wollte, aber vielleicht würde es ihm eines Tages klarer werden, wenn sie sich besser kannten, wenn Hikaru ihm die Geschichte, die hinter all dem zu stehen schien, erzählte. Jetzt im Moment sah er die Tränen, die unaufhaltsam über bleiche Wangen liefen und wusste, dass Hikaru traurig und verzweifelt war. Gefühle, die er selbst gut genug kannte. Gefühle, die niemand haben sollte.

Hikaru sah den ihm angebotenen Trost und verharrte einen Moment regungslos im Sand.

Sai, was soll ich tun?

Sai?

Sai...

Noch immer fuhren diese Finger so sanft durch seine Haare. So beruhigend, so Trost spendend. Trost, den er so dringend brauchte, den ihm sonst niemand geben konnte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, lehnte sich Hikaru vor und vergrub sein Gesicht an Akiras Schulter. Das Hemd war noch ein wenig feucht und roch nach Salzwasser und Meeresluft, aber auch ein wenig nach dem jungen Dan selbst.

Wieder sagte Akira keine überflüssigen Floskeln, sondern strich einfach nur durch schwarze und blonde Strähnen, vermittelte Geborgenheit und Sicherheit, während Hikaru leise vor sich hin weinte, endlich all den Schmerz aus sich heraus lies und nicht noch tiefer in sein Selbstmitleid abrutschte, wie er das die letzten Nächte immer getan hatte.

Auch nachdem die Tränen längst versiegt waren und die Sonne zu sinken begann, blieben sie in dieser Pose. Hikaru hatte seine brennenden Augen geschlossen und lauschte dem Rauschen des Meeres und dem besänftigenden Schlagen von Akiras Herzen. Nach einer Weile, die wie eine halbe, aber angenehme Ewigkeit erschien, flüsterte der junge Dan schließlich.

"Willst du jetzt dein Eis essen?"

Hikaru brauchte einige Momente, um seine Stimme wieder unter seine Kontrolle zu bringen.

"Du bist schlimmer als meine Großmutter. Die hat mir auch immer was zu Essen gegeben, wenn ich traurig war."

"Danke für den Vergleich, aber dein Magen knurrt wieder."

"Ich hab aber keinen Appetit."

"Das scheint deinem Magen aber egal zu sein."

Akira kicherte leise, als sich Hikarus Magen tatsächlich protestierend zu Wort meldete. Die zwei Reisbällchen hatten ihn noch lange nicht befriedigt, er stand immer noch knapp vor dem Hungertod. Mindestens!

"Ok. Dann her mit dem Eis. Klingt ganz gut." Hikaru löste sich von Akira und beobachtete, wie dieser in der Tüte herumwühlte und schließlich ein kleines Päckchen zu Tage förderte. Tastend prüfte er es eingehend und nickte zufrieden.

"Ich glaube, es hat's tatsächlich überstanden. Diese Kühltaschen von heute sind wirklich ausgezeichnet." Kurz musterte er das Eis, als ob er es selbst essen wollte, doch dann drückte er es in Hikarus wartende Hand. "Beeil dich, bevor es doch noch schmilzt."

"Na klar." Hikaru riss die Verpackung auf und stockte, als ihm ein Clown aus verschiedenen Eissorten breit entgegen grinste. "Was ist DAS denn?" fragte er leicht geschockt und drehte das Eis hin und her, aber es änderte seine Form nicht. "So was hat man als Dreijähriger zum Kindergeburtstag." Vergessen war Hikarus Kummer, zumindest in dem Moment. Vorsichtig biss er in die Nase des Clowns, die aus Schokolade bestand, und hob fragend seine Augenbrauen, als er den Ausdruck auf Akiras Gesicht sah. Der junge Dan wirkte ein wenig geschockt ob seiner Art, das Eis zu essen.

Da kam Hikaru ein Verdacht und obwohl seine Augen noch immer brannten und er sich innerlich immer noch traurig fühlte, musste er grinsen.

"Das muss man anders essen, oder?" fragte er unschuldig und Akira, dem man auf dem Go-Goban keine Falle stellen konnte, fiel natürlich prompt darauf herein.

"Ja, man fängt eigentlich von außen an. Die Nase ist für den Schluss, weil sie nicht so schnell schmilzt. Als letztes..." er verstummte und errötete. Hikarus Grinsen wurde noch breiter.

"Du kaufst Kindereis? Eis, das normalerweise Kleinkinder futtern? In deinem Alter?" Er konnte kaum ein Kichern zurück halten, als Akira wieder sein Pokerface aufsetzte. Aber seine geröteten Wangen und seine feuerroten Ohren, die zwischen den grünen Strähnen hervor lugten, verrieten ihn.

"Na und? Du isst es gerade!" meinte der junge Dan und Hikaru blinzelte erstaunt. Hatte er Akira gerade schmollen gesehen? Den Touya Akira? Den gefürchtetesten Nachwuchs Dan in ganz Japan, vielleicht der ganzen Welt? Dieser Touya Akira aß Kindereis und schmollte?

Hikaru musste mit einem Mal lachen. Er wusste, dass es unhöflich wirkte, vielleicht sogar verletzend, aber er musste lachen, sonst wäre er explodiert. Also hielt er das Eis an dem wackeligen Stiel in der einen Hand und hielt sich mit der freien den Bauch, während er so lachte, wie er seit Sais Verschwinden nicht mehr gelacht hatte.

"Gomen ne..." kicherte er nach einer ganzen Weile und leckte das erste geschmolzene Eis von seinen Fingern. "Ich wollte dich nicht auslachen, aber dein Gesichtsausdruck..." allein die Erinnerung ließ ihn wieder leise lachen. "... der war einfach zu köstlich."

"Das Eis soll köstlich sein, nicht mein Gesichtsausdruck." Grummelte Akira, aber seine Stimme verriet, dass er nicht beleidigt war. Im Gegenteil. Er war froh, dass Hikaru wieder etwas fröhlicher war. Er konnte den Jungen nicht weinen sehen, das machte ihn selbst traurig. Viel lieber als Tränen sah er das Glitzern in grünen Augen, wenn Hikaru Go spielte, fröhlich war oder einfach nur lachte - so wie jetzt.

Da konnte Akira ein Leuchten in Hikarus Augen, in seinem ganzen Gesicht sehen, das ihn selbst fröhlich stimmte. Ein Licht, nach dem er die letzten Jahre gejagt hatte, ohne zu erkennen, dass er es nicht in eiserner Rivalität finden konnte, sondern nur in Freundschaft...

"Hast du aufgegessen?" fragte er, nachdem er Hikaru eine Weile beim Eisessen zugesehen hatte. Der Junge warf den Stiel zurück in die Verpackung und nickte.

"Jap."

"Dann lass und zurück gehen."

"Wieso? Erhoffst du dir von meiner Mama noch ein leckeres Abendbrot?"

"Na, das Angebot nehm ich dankend an." Lächelte Akira und deutete zum Horizont. "Aber erstens geht die Sonne bald unter und zweitens ziehen Gewitterwolken auf. Ich will nicht in den Regen kommen."

"Na gut. Du nimmst die Decke und ich die Vorratstüte."

"Glaubst du wirklich, dass das eine faire Aufgabenverteilung ist, Shindou-kun?"

"Nenn mich Hikaru. Shindou klingt zu formal."

"Was?"

"Das klingt so alt. Ich bin noch nicht so alt."

"Stimmt, du hast gerade erst ein Kindereis gegessen."

"... wie dem auch sei, man nennt einen Freund nicht beim Nachnamen. Das macht man nur mit Bekannten. Aber wir sind doch Freunde, oder, Akira-kun?"

Akira schwieg für einen Moment, dann nickte er, lächelnd.

"Glaubst du wirklich, dass das eine faire Aufgabenverteilung ist, wenn du das Essen nimmst, Hikaru-kun?"

"Für mich schon."

"Gauner."

Hikaru lachte nur und griff nach Decke und Proviantbeutel.
 

***

Immer für Dich da

Epilog: Immer für Dich da
 

"Akira-kun? Meine Mama meinte, dass du vielleicht hier bleiben solltest. Bei dem Unwetter fährt sowieso kein Taxi. Am besten, wir rufen deine Eltern an und sagen bescheid. Morgen ist sowieso Sonntag, da stört es niemanden."

Hikaru balancierte gerade ein Tablett mit heißer Schokolade, die ihm seine Mutter gekocht hatte, als er sein Zimmer betrat. Kurz nachdem sie sein Haus erreicht hatten, brach das Gewitter über Tokio herein. Von einem Moment auf den nächsten war eine schwarze Wolkenwand aufgezogen und die Blitze krachten noch immer durch die Luft. Die Luft roch schwer nach Regen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Himmel seine Schleusen öffnen würde.

Akira und Hikaru hatten sich derweil in Hikarus Zimmer verkrochen und noch eine Runde Go gespielt, unterbrochen von dem leckeren Abendessen, das Hikarus Mutter zubereitet hatte. Ihr Tag beim Shoppen war sehr erfolgreich gewesen, umso besser war ihre Laune, als sie sah, dass ihr Sohn wieder lachte und Scherze mit seinem Freund trieb. In den letzten Wochen waren gar keine Freunde mehr zu Hikaru nach Hause gekommen und seine Mutter hatte sich schon Sorgen um ihn gemacht. Wenn sie ihn jetzt aber mit dem anderen Jungen lachen sah, wusste sie, dass alles wieder in Ordnung war. Vielleicht war es ja auch nur eine Phase gewesen. Jungs sind nun einmal schwierig in dem Alter.

"Akira-kun?" Hikaru schloss die Tür umständlich hinter sich mit seinem rechten Fuß, bevor er sich umdrehte und erkannte, warum der junge Dan ihm nicht geantwortet hatte. Akira lag zusammengerollt neben dem Go-Goban und schlief tief und fest. Hikaru war noch immer nicht bereit, das letzte Spiel zwischen Sai und ihm fortzuräumen, also hatten sie dafür ein anderes Brett, das Hikaru vor vielen Jahren von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, benutzt. Eigentlich war das Spiel noch nicht entschieden, aber Hikaru würde Akira nicht wecken. Entweder sie spielten morgen weiter oder sie begannen eben ein neues Spiel. Dies war schließlich kein Wettbewerb, nicht mehr.

Er hat mich heute Nachmittag ja auch schlafen gelassen und ist Essen einkaufen gegangen. Da darf er ruhig müde sein.

Hikaru stellte das Tablett auf seinen unordentlichen Schreibtisch. Nun, wenigstens hatte er es geschafft, die zerbrochene Schale wie auch die mittlerweile getrockneten Ramen fortzuschaffen. Sein Zimmer mochte zwar immer noch chaotisch sein, dafür war es jetzt sauber.

"Akira-kun?" flüsterte er leise, als er neben dem schlafenden Jungen in die Knie ging und vorsichtig das Brett zur Seite schob. Einige Steine zitterten, aber die Konstellation wurde nicht verschoben.

"Hm?" Akira reagierte kaum. Er öffnete zwar seine Augen einen Spalt breit, aber Hikaru war sich sicher, dass sich der junge Dan am nächsten Morgen an diese Unterhaltung nicht mehr erinnern würde, zu weit war er schon ins Traumland vorgerückt.

"Du solltest wenigstens die Jacke ausziehen und den Schlips, bevor du dich strangulierst." Hikaru verstand nicht, wie jemand bei dieser Hitze noch beharrlich seine Schuluniform tragen konnte. Vorsichtig löste er die Krawatte und half Akira aus seiner Jacke. Dann öffnete er noch einige Knöpfe des Hemdes und geleitete ihn hinüber zu seinem Futon. Akira schien im Stehen zu schlafen. Hikaru grinste ein wenig, dann drückte er den jungen Dan auf die weiche Unterlage und deckte ihn mit einer dünnen Decke zu. Mehr würde er bei der Hitze sowieso nicht brauchen. Hikaru selbst konnte auf dem Boden schlafen. Irgendwo in der Rumpelkammer, wie seine Mutter den kleinen Raum neben der Eingangstür nannte, befand sich noch ein alter Schlafsack, der reichte ihm. Schließlich war er der Gastgeber, da konnte er seine Gäste schließlich nicht auf dem Fußboden schlafen lassen!

Gäste nicht, und besonders nicht Freunde!

Hikaru lächelte, als er einen neuen Schlafanzug aus dem Schrank nahm und leise zur Tür hinüber schlich.

Warum nur haben wir so lange gebraucht, um unsere eisige Rivalität zu überwinden und endlich Freunde zu werden?

"Gute Nacht, Akira-kun."

Der Angesprochene reagierte nun überhaupt nicht mehr. Tief im Schlaf versunken lag er unter der dünnen Decke, sein Gesicht war ganz entspannt, friedlich.

"Schlaf gut."

Hikaru öffnete leise die Tür und schlich sich heraus, um seiner Mutter bescheid zu sagen und den Schlafsack zu suchen.
 

***
 

Es war in der Mitte der Nacht, als Hikaru langsam aufwachte. Das Gewitter schien vorüber gezogen zur sein, sanfter Regen rann leise die Fensterscheiben herab. Noch war es vollkommen dunkel in dem Raum, aber ein Blick zum Fenster zeigte rötliche Verfärbungen jenseits der Nachbardächer, der Sonnenaufgang war nicht mehr weit.

>Hikaru?<

Diese Stimme!

Mit einem Schlag war Hikaru hellwach. Er richtete sich auf und blickte suchend umher... und fand eine ihm bekannte Gestalt hinter dem Go-Goban sitzen. Nachdenklich sahen dunkelblauen Augen auf die Konstellation, schienen über den nächsten Zug nachzudenken.

>Ich bin an der Reihe, oder?<

Die Gestalt war erleuchtet, schien von innen heraus zu strahlen. Um sie herum blieb der Raum stockdunkel, sie erhellte nichts, nicht einmal den Go-Goban, auf den sie so angestrengt schaute. Hikaru starrte sie an und wusste nicht, was er zuerst tun sollte: Aufspringen oder schreien oder wie ein Verrückter im Kreis tanzen oder einfach alles auf einmal.

>Weiß ist doch dran, oder?<

Sai blickte auf und das Licht in seinen Augen warf Hikaru fast um. Es war dasselbe Licht, das er damals gesehen hatte bei dem ersten Mal, als sie sich begegnet waren, auf dem Dachboden von Hikarus Großvater. Immer hatte er es gesehen, wenn Sai Go spielte. Zuerst dachte er, dies sei seine geheime Gabe, dass er deswegen nie verlor und so verdammt gut in dem Spiel war. Mit der Zeit war er jedoch dahinter gekommen, dass es einfach ein Ausdruck dafür war, dass Sai sich glücklich fühlte.

Das Licht ist die letzten Wochen, bevor er verschwand, immer mehr erloschen.

Warum ist mir das nicht eher aufgefallen?

Nun war es aber wieder da und leuchtete stärker als je zuvor.

Ist er jetzt glücklich?

Wird er bleiben? Ist er deswegen glücklich?

>Komm, Hikaru, spiel noch das eine Spiel mit mir.<

Was? Geht er dann etwa endgültig?

Ich will nicht, dass du gehst! Ich will, dass du hier bleibst! Für immer! Ich will, dass du für mich da bist! Bitte...

>Aber du kannst Go, du brauchst mich nicht mehr. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß. Nun liegt es an dir, die Hand Gottes auszuführen. An dir und deiner Generation< antwortete Sai, der Hikarus Gedanken lesen konnte, wenn dieser es wollte, und deutete auf den nächsten Stein, den er setzen wollte. Hikaru löste sich endlich aus seiner Starre und rutsche hinüber zu dem verstaubten Brett, um den gewünschten Zug auszuführen.

Vielleicht nicht für Go, aber für so viele andere Dinge. Sai, bitte, geh nicht wieder. Lass mich nicht im Stich!

Hikaru überlegte kurz und setzte den nächsten Stein. Einen schwarzen Stein. Einen Stein, von dem er schon fast geglaubt hatte, er könnte ihn niemals setzen. Sai nickte andächtig und öffnete seinen Fächer. Dann deutete er auf eine andere Stelle und Hikaru setzte für ihn.

"Bitte, Sai, lass mich nicht allein!" flüsterte Hikaru, der das Gefühl hatte, dass er seinen Worten mehr als seinen Gedanken glauben konnte.

>Aber du bist nicht allein.< Sai antwortete auf Hikarus nächsten Stein und zeigte mit seinem nun wieder zusammen geklappten Fächer auf die schlafende Gestalt Akiras. >Ich bin glücklich, ja, sehr glücklich, dass ihr zwei euch endlich vertragt. Ihr seid die Zukunft des Go, Hikaru. Zusammen könnt ihr es bis zur Spitze schaffen, bis zur Hand Gottes.<

Das Licht in Sais Augen schien alle Sterne in den Hintergrund zu stellen. Hikaru sah ihn für einen Moment sprachlos an, dann senkte er bockig seinen Kopf. Aber nicht, um zu resignieren, noch war das Spiel nicht endgültig entschieden.

"Ich brauch dich trotzdem, Sai!" protestierte er, seine Stimme schwoll ein wenig an. "Verdammt, du warst mehr als ein Lehrmeister oder ein verrückter Geist, der nur Go spielen wollte!"

Sai lächelte amüsiert, wahrscheinlich erinnerte er sich an verschiedene Situationen, wo er genau das gewesen war: Ein verrückter Geist, der Hikaru so lange angebettelt hatte, bis er endlich Go spielen durfte und damit Hikaru mehr als nur einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte.

"Du bist ein Familienmitglied für mich, weißt du das?"

>Ich kann deinen Vater nicht ersetzen, Hikaru.<

"Verdammt! Das sollst du auch nicht!" Erneut rannen Tränen über Hikarus Wangen. Tränen, die er schon so oft geweint hatte, zu oft. "Du sollst einfach nur da sein! Sai sein!"

Das Licht in Sais Augen wurde ein wenig dunkler, als er sich vorbeugte. Aber wie immer konnte er den Jungen nicht berühren, so wie er das manchmal gerne getan hätte, wenn Hikaru traurig oder enttäuscht gewesen war.

>Was kann ich schon ausrichten?< Wie zum Beweis fuhr seine Hand durch Hikarus Oberkörper. Wütend blickte der Junge auf.

"Viel mehr als manch anderer! Wenn es mir dreckig ging, hat das meine Mutter nie bemerkt, aber du. Du warst da und hast mich immer wieder aufgebaut! Du hast mich zum Lachen gebracht! Mich in den Wahnsinn getrieben! Verdammt, bleib einfach hier, was macht dir schon das eine Menschenleben!"

>Aber meine Zeit ist abgelaufen, Hikaru. Egal, wie gerne ich auch bleiben würde, es wäre mir nicht erlaubt. Ich wurde ein Geist, um dir meine Fähigkeiten zu geben. Diese Aufgabe habe ich nun erfüllt.<

Sai sah für einen Moment unglaublich traurig aus. So traurig hatte Hikaru ihn noch nie gesehen. Der blonde Junge schluckte und weitere Tränen rannen über seine bleichen Wangen. Er wollte zu Sai gehen, wollte ihn umarmen und festhalten. Wollte ihn nicht gehen lassen. So, wie er damals seinen Vater hatte gehen lassen müssen. Nein, noch einmal würde er seine Familie nicht so einfach aufgeben! Sai war seine Familie geworden. Begriffen das die Götter nicht? Begriffen die Götter denn nicht, dass er keinen Lehrmeister brauchte, dafür aber einen väterlichen Freund? Einen Freund den er über die Sachen ausfragte, die ihm seine Mutter nicht beantworten wollte und Akira nicht beantworten konnte, weil er eben über keine jahrtausendlange Erfahrung verfügte?

Warum waren die Götter so blind?

Sai wollte nicht gehen, Hikaru wollte ihn nicht verlieren.

Konnten sie nicht eine Ausnahme machen? Konnten sie Sai nicht eine andere Aufgabe auf dieser Welt geben? Zumindest für die nächsten siebzig Jahre? Sie hatten ihm über tausend Jahre gegeben, war es denn da zu viel verlangt, noch ein paar Jahrzehnte dran zu hängen?

War dieser Wunsch etwa übertrieben?

Sai öffnete seinen Fächer und verbarg für einen Moment sein Gesicht dahinter. Dann schüttelte er seinen Kopf und lächelte gequält.

>Dich in den Wahnsinn zu treiben, das kann auch jemand anderes für mich tun.< Erneut deutete Sai zu der schlafenden Gestalt. >Du brauchst mich nicht länger, ich habe Dir alles beigebracht, hier gibt es für mich keinen Grund mehr zu bleiben.<

Sai sah so aus, als würden ihm seine Worte selbst weh tun. Er klappte den Fächer wieder zusammen und legte ihn in seinen Schoß. Seine Hände schienen zu zittern. Hikaru schüttelte heftig seinen Kopf, noch mehr Tränen rannen über seine Wangen.

"Du brauchst einen Grund, um zu bleiben? Bin ich denn kein Grund?"

>Bitte, weine nicht, Hikaru. Ich werde immer für dich da sein. Wo immer du auch bist, wann immer du auch ein Spiel spielst, ich werde immer in deiner Nähe sein.<

Sai hielt den Fächer fest in seinen Fäusten. Er konnte Hikaru sowieso nicht die Tränen von dem bleichen Gesicht streichen, also ersparte er sich gleich die Enttäuschung und versuchte es nicht einmal.

Hikaru schluckte hart und presste seine bebenden Lippen fest aufeinander.

Du willst immer für mich da sein?

Dann tu es auch, Sai! Bleib einfach! Verdammt!

Sai seufzte leise und deutete auf den nächsten Stein. Hikaru setzte ihn widerwillig. Traurig musste er erkennen, dass Sai damit gewonnen hatte. Seine Gruppe würde keine Freiheiten mehr finden. Somit war das Spiel beendet und Sai würde verschwinden. Auf immer...

Nein!

Verdammt!

Das darf nicht wahr sein!

>Du sollst nicht fluchen.<

Dann bleib hier!

>Hikaru...<

"Sai..."

Gerade wollte Hikaru seinen Kopf senken und resignieren, als er Schritte neben sich hörte.

Schritte? Sai schwebt! Er geht nicht!

Ruckartig sah sich Hikaru um und blickte durch den Schleier von Tränen direkt in Akiras müdes, aber gefasstes Gesicht.

"Du solltest weniger weinen, sonst trocknest du aus." meinte dieser und reichte einem völlig verblüfften Hikaru ein Taschentuch. Dann ging er neben ihm auf die Knie und studierte für eine lange Weile den Goban. Sai reagierte nicht. Schweigend saß der Geist hinter dem kleinen Tisch und betrachtete den jungen Dan eingehend. Er schien mit sich zu kämpfen.

Hikaru bemerkte dies nicht. Er wischte sich die Tränen ab und beobachtete Akira verwirrt. Der Junge brachte es immer wieder fertig, ihn zu überraschen.

Was macht er? Was soll das? Wacht mitten in der Nacht auf und schaut sich fremde Spiele an? Findet er mein Verhalten nicht seltsam? Oder schlafwandelt er?

Wie soll ich reagieren, Sai? Was soll ich zu ihm sagen?

Sai antworte jedoch nicht, schien ihn gar nicht zu hören. Der Geist schwebte einen halben Meter über dem Boden und schwenkte nachdenklich seinen geschlossenen Fächer vor seinem Oberkörper.

"Du bist Schwarz, oder, Hikaru-kun?"

Hikaru zuckte zusammen, als er plötzlich Akiras leise Stimme neben sich vernahm.

"Hai."

"Dann würde ich dorthin setzen." Akira deutet mit seinem Zeigefinger auf einen leeren Fleck inmitten eines weißen Gebietes. "Dann kriegst du diese Gruppe..:" er machte eine kurze Bewegung über dem Goban "... zum Leben und gewinnst mit einem halben Moku."

Hikarus und Sais Augen nahmen synchron Tellergröße an. Erstaunt blickten sie auf das Brett herunter und fragten sich, warum sie beide den Fehler, den so offensichtlichen Fehler, nicht gesehen hatten.

Akira strich sich einige Strähnen seines vom Schlaf zerwühlten Haares aus der Stirn und gähnte herzhaft. Dann rieb er die Augen und begann, die Steine zurück in die Schalen zu füllen.

"Das war ein sehr unfaires Spiel, Hikaru. Du kannst einen sehr aus dem Konzept bringen, wenn du weinst. Ich hoffe, dass das nicht zu deiner neuen Taktik wird." sagte Akira und lächelte leicht, als er nach all der Verzweiflung und der Trauer der letzten Minuten einen erbosten Schmollmund auf Hikarus Gesicht sah.

Nein, Akira hatte noch nicht ganz begriffen, was er die letzten Minuten erlebt hatte, aber er war sich sicher, dass Hikaru ihm all das schon noch erklären würde. So wie er sich ganz sicher war, was es nun zu tun galt.

Kurz musterte er den blonden Jungen neben sich, der leise in das Taschentuch schnaubte, beschämt die Tränen fort wischte und immer wieder zu dem Goban schielte. Dann sah der junge Dan in Sais Richtung und verbeugte sich tief.

Einen Grund?

Denn soll er bekommen!

"Bitte. Ich würde gerne mit Euch spielen." sagte er förmlich und hob seine Hand, in der er mehrere Go-Steine hielt.
 


 

Ende
 

Disclaimer:
 

Das Lied "In Your Eyes" gehört Peter Gabriel. Ich konnte ihn dieses Jahr im Mai live erleben, es war ein unglaubliches, für mich sehr bewegendes Erlebnis!
 

Der Anime/Manga "Hikaru no Go" gehört Hotta Yumi. Ich habe mir lediglich die Charaktere liebevoll ausgeborgt. Diese Geschichte gehört mir.
 

Den Inhalt von Folge 70&71 habe ich abgeändert, weil ich das Gefühl habe, dass Akira Hikaru aus dieser Misere hätte helfen sollen, niemand anderes. Sai kommt im Anime nicht noch einmal wieder (zumindest nicht so direkt), aber das konnte ich irgendwie nicht wirklich akzeptieren. Also musste ich ihn hier auftreten lassen. Am Ende hat es auch eine besondere Bedeutung, dass Akira Sai zum Spiel auffordert. Denkt mal drüber nach ^-^.
 

Dies ist meine erste Hikaru no Go Geschichte und nachdem ich den Manga gelesen und mir den Anime angeschaut habe, juckte es mir einfach in den Fingern, da auch mal meinen Senf abzugeben. Sollte Akira ein wenig anders erscheinen als im Anime/Manga, so ist das Absicht. Ich denke, dass er privat viel offener ist. Bei seinen Go-Turnieren und gegenüber Fremden ist er verschlossen, manchmal richtig kühl. Oder eben ganz einfach Go-besessen. Aber ich glaube nicht, dass er immer so ist, sein ganzes Leben lang, in jeder Situation.
 

Natürlich kann mir hier jeder widersprechen, dies ist eben meine Auffassung und es hat mir Spaß gemacht, diese Auffassung nieder zu schreiben ^-^.
 

Über Kommentare freue ich mich immer wieder. Schreibt einfach an: aprileagle@freenet.de (Kritik ist erwünscht, gerade bei Erstlingswerken in einer neuen Serie).
 

Diese Geschichte nahm an dem Animexx Sommer Fanfiction Wettbewerb 2003 teil. Voraussetzungen waren: Sommer, Sonne, Strand & Meer sowie eine Mindestzahl von 8 Seiten (dieses Mal gab es keine Höchstbegrenzung, aber aus Zeitgründen musste ich mich für eine kürzere als die ursprünglich geplante Geschichte entscheiden).
 

Ich habe mir ihr bei diesem Wettbewerb den ersten Platz belegt und freue mich natürlich sehr darüber ^_____^.
 

Ob diese Geschichte Elemente von Shonen-Ai enthält oder einfach nur von Freundschaft handelt? Entscheidet selbst, ich dränge da niemanden in eine Rolle (besonders nicht Hikaru und Akira ^-^''').
 

Danke schön fürs Lesen.
 

April
 

Geschrieben: in der Nacht vom 10. zum 11. Juni 2003 (9 Stunden Schreibzeit)
 

Veröffentlicht: 30. Juli 2003



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Kommentare zu dieser Fanfic (21)
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Von:  Astrido
2008-01-13T00:05:37+00:00 13.01.2008 01:05
Hi, deine story is richtig gut geworden. ich mag die total. aber ich würde gerne wissen, wieso akira auf einmal sai sehen konnte. und ob der nun geht oder nicht. eine kleine antwort wäre lieb.

viel glück für die nächste story.

astrido
Von:  Colby
2007-08-29T15:37:53+00:00 29.08.2007 17:37
oooh, des is eine tolle story ^^ ich war wirklich sehr traurig, als hikago zuende war ^^... aber des finds toll, wie du des anders beschrieben hast ^^...des wär wirklich toll gewesen, wärs auch so in dem anime gewesen ^^ also, ich mag deine story wirklich sehr gerne ^^
Von: abgemeldet
2007-01-19T14:34:51+00:00 19.01.2007 15:34
awww, cutey-cute!
Von:  Niji
2007-01-05T13:13:43+00:00 05.01.2007 14:13
ich find die story so toll^^ *lob*
gefällt mir bessa als im anime^^

glückwunsch zum sieg des wettbewerbs^^
Von:  Ye_Tianyu
2006-08-30T16:01:26+00:00 30.08.2006 18:01
Ich muss sagen, dieser Teil hat mich extrem zum lachen gebracht!
Es war sehr schön das zu lesen und lustig, gut geschrieben. Die Charaktere handeln ja nich 100% iC aber sie sind gut gestaltet und man kann sie sich schön vorstellen.
Ich liebe Akira *_*

Lg Honey
Von:  Ye_Tianyu
2006-08-30T15:18:38+00:00 30.08.2006 17:18
Ich bin erst seit kurzem Hikaru no Go Fan und das ist die erste Fanfic die ich zu dem Thema lese. Sie gefällt mir sehr gut von Story und Grammatik her, wobei es mich manchmal verwirrt, das Ich-Form und Erzähler-Form so einfach gewechselt werden. XD Aber es passt perfekt rein, sollte man gar nicht erst ändern.

Sehr rührend bis jetzt, ich les erstmal weiter ;)

Lg Honey
Von:  RayDark
2006-08-03T08:59:27+00:00 03.08.2006 10:59
Fantatstisch!!!
Einfach der Wahnsinn!
Und das Ende... total Genial!!!!
Ich bin sprachlos, ich weiß nicht was ich sagen bzw. schreiben soll.
Die Gefühle Hikarus kommen einfach super rüber und...
owe, ich fange glatt an zu heulen...
kann nichts mehr schreiben, sry!^^""
Von:  CelestieSara
2005-09-16T16:38:29+00:00 16.09.2005 18:38
Das einzige, was mich an der Geschichte stört, is, das sie so kurz is (jetzt im vergleich zu Shaman King^^^, >>Jaja, Dai, mach des ma nach *selbstgespräche führ*<<)
Du musst einfach ma mehr FFs schreiben, ich liebe es, deine FFs zu lesen XDDD *froi*

Akira hast du soo gut verkörpert und Hikaru erst^^ oh....ich mag sai^^ schade, dass er gegen ende des animes verschwindet (hab das Anime nich gesehen, und den Manga erst bis 4, und im Banzai .....-.-.)

Your DaichiNiwa^^
YunYuriAsakura
Von: abgemeldet
2005-06-08T19:27:49+00:00 08.06.2005 21:27
Hab schon lang nicht mehr so ne gute Story gelesen! ^-^
Bye Miku15
Von:  Haibane-Renmei
2005-02-19T17:24:30+00:00 19.02.2005 18:24
Diese Story hat den Preis mehr als verdient. Bitte schreib noch weitere so traurige Hikaru-no-Go-Fanfiction.


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