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PredElection

von

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Part III - Brot und Spiele

Part III - Brot und Spiele
 

Oh mein Gott! Eine Fanfic! Von Yu-chan! ... Nein, Leute, kommt wieder aus'm Bunker, die Welt geht nicht unter. Hoffe ich. Dass dieses Kapitel entstanden ist, resultiert aus einer Verkettung unglücklicher Zufälle. Letzte Woche packte mich so ein Zwang (kein Spaß) und ich MUSSTE einfach was schreiben. Naja, da der Anfang dieses Kapitels (Anfang soll heißen alles bis auf den letzten Abschnitt und ein winziges Bisschen von vorletzten... gomen, muss mal eben in die Ecke und mich schämen... ^^;;;) schon seit Monaten auf meinem PC rumgammelte, hab ich mich also an PredElection gemacht. Und weil ich krank geworden bin und für alles andere zu müde war, konnte ich es tatsächlich korrigieren. *drop* Wie das Leben so spielt... und sonst? Diese Fanfic ist merkwürdig und ich kann nicht sagen, dass ich sie mag, aber irgendwie auch doch. Allerdings glaube ich nicht, dass ich weitergeschrieben hätte, wenn nicht plötzlich so viele Commis (viel für meine Gewohnheiten ^^;) eingetrudelt wären. DANKE!!!! Ihr habt mich wirklich so unglaublich motiviert! Ehrlich, ich danke euch allen! Euch allen widme ich dieses Chapter: Peruka, leaenae, Dwiezel und natürlich meinem FÜNKCHEN!!!!!! ^.^ *rundumknuddl* Und ein ganz besonders gestörtes Arigatou an Yoko-chan, an Tía, Marron und Picco. ^_____^ Ich freue mich so, dass ihr meine Stories lest, obwohl ich so verplant bin gerade... ich danke jedem, der durchhält! ;_; Genug der langen Rede, bitteschön, ihr habt lang genug gewartet:
 

Eigentlich war ich wirklich guter Dinge. Meine erste Etappe, der schulinterne Schönheitswettbewerb, verlangte den Teilnehmerinnen an und für sich noch nicht viel mehr ab, als gut auszusehen und über eine eigens zu diesem Anlass errichtete Bühne in der Turnhalle zu stolzieren. Danach gab es noch eine kleine Fragerunde, alle anderen Runden und Etappen waren streng vorgeschrieben und verlangten glücklicherweise noch keine besondere Kreativität - außer natürlich, die richtigen Kleider auszusuchen.

Drei Tage vor dem großen Samstag kam ich todmüde vom Gruppen-Training nach Hause. Wir mussten einen kleinen Tanz einstudieren, den alle Mädchen gemeinsam vorzutragen hatten, synchron und perfekt. Ich schwöre, dieses gottverdammte Herumgehüpfe war um Längen anstrengender, als ich es mir jemals hatte vorstellen können, und meine einzigen Gedanken galten an jenem Abend einer kühlen Dusche und meinem weichen, gemütlichen Bett.

Ich achtete nicht mehr wirklich auf den Weg, immerhin kannte ich unser altes, verfallenes Treppenhaus mittlerweile in- und auswendig und hätte mich auch mit geschlossenen Augen in der schnuckeligen kleinen Bruchbude zurechtgefunden. Mit einem herzhaften Gähnen schloss ich unsere Türe auf, trottete lustlos in die Wohnung, während ich mir mit dem Arm über das Gesicht wischte - und wäre bei dieser Gelegenheit beinahe über etwas Großes, Duftendes gefallen, das irgendein hochintelligenter Mensch mitten auf unserer filzigen Fußmatte platziert hatte.

Mit einem leisen Aufschrei krallte ich mich am Türrahmen fest, kämpfte einige Sekunden lang um mein Gleichgewicht und kam dann schließlich fluchend und nach Luft schnappend wieder zum Stehen. Spontan sank meine Laune verdächtig in Richtung Keller und während ich noch darüber nachdachte, wer solch eine unglaubliche Blödheit aufbringen konnte, ein Hindernis - was auch immer es sein mochte - so penetrant mitten in den Weg zu stellen, beugte ich mich herunter, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Zu meinen Füßen lag ein inzwischen leicht mitgenommen aussehender Blumenstrauß. Die meisten der Blumen waren rote Rosen, aber es waren auch noch ein Paar andere dazuarrangiert, deren Namen ich beim besten Willen nicht kannte. Ich verdrängte hastig den Gedanken, wer denn nun im Endeffekt idiotischer war - derjenige, der einen Blumenstrauß mitten auf den Weg legte, oder derjenige, der ihn trotz dieser alles andere als versteckten Position schlichtweg übersah und sich bei der Gelegenheit mal eben so beinahe den Hals brach - und hob das kitschige Gebilde stattdessen vorsichtig an.

War das Ding etwa für Mum? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Ihr neuster Lover, Shane, war wirklich alles, aber bestimmt kein verkappter Romantiker, der seiner holden Angebeteten Blumen vor die Pforte legte! Außerdem verrieten laute, aufgebrachte Stimmen aus Mums Zimmer, dass ebendieser reizende Nachtclubbesitzer just in diesem Augenblick in unserer bemitleidenswerten Wohnung weilte - und zwar, Mums Tonfall nach zu urteilen, ganz bestimmt zum allerletzten Mal.

Ich stöckelte hastig in Richtung der Streitenden, als sich plötzlich etwas Kleines, Rosafarbenes aus den blutroten Blüten löste und langsam zu Boden segelte. Mit einer fließenden Bewegung angelte ich das herzförmige Stück Papier, rannte weiter - und kam vor der Türe von Mums Zimmer dann doch noch einmal zum stehen. Meine Neugierde war stärker als mein versammeltes Ehrgefühl, und so hob ich das pastellfarbene Kärtchen an, bis ich auch im Halbdunkel des engen Ganges die verschnörkelte Schrift lesen konnte.

"Hey Jessie!"

Schon nach den ersten beiden Worten beschlich mich ein gar furchtbarer Verdacht, und ich musste mich beherrschen, nicht gleich wieder mit dem Lesen aufzuhören und die Karte schwungvoll in den nächsten Mülleimer zu befördern. Ich atmete tief durch und zwang meine Augen tapfer auf das Papierchen zurück.
 

"Ich habe gehört, dass du in letzter Zeit knapp bei Kasse sein sollst. Nun, Süße, hier ist ein Idiot, der sich wahnsinnig gerne von dir ausnutzen lassen würde. Falls du meine Nummer nicht mehr hast, meine Adresse steht in der Telefonliste der Klasse deines reizenden Bruders. Eure übrigens auch.

Tausend Grüße, in Liebe,

dein Tatsumi

P.S.: Ich glaube nicht, dass ich dir die Symbolik von roten Rosen extra erklären muss, oder? ^_~"
 

Ich verzog das Gesicht. Warum begriffen manche Menschen eine Abfuhr nicht mal dann, wenn sie ihnen boshaft lächelnd geradewegs auf einem blitzenden Silbertablett präsentiert wurde? Seufzend steckte ich die Karte wieder an ihren Platz zwischen den hier und dort ein wenig eingedrückten Rosen zurück und schloss einen Moment lang die Augen. Mein Plan brachte doch tatsächlich Schwierigkeiten mit sich, an die ich nicht einmal im Traum gedacht hatte! Jetzt musste ich nicht nur meine Klassenkameradinnen und eine ausgewählte Jury davon überzeugen, dass ich ein waschechtes Mädchen mit dem Zeug zur großen Modelkarriere war, sondern hatte auch noch einen alles andere als heimlichen Verehrer am Hals, der zu allem Überfluss auch noch an schwerster Selbstüberschätzung im Endstadium litt. Das Leben konnte aber auch wirklich Scheiße sein!

Ein Schrei von Mum riss mich ausgesprochen unsanft aus meinen trüben Gedanken, und so verdrängte ich hastig die Schreckensvision an eine gewisse blonde Nervensäge und verfluchte mich innerlich für meinen gottverdammten Egoismus. Immerhin war es nicht ich, der gerade ein wirkliches Problem am Hals hatte! Ich holte tief Luft, dann riss ich die Türe derart heftig auf, dass sie mit einem erschrockenen Knall gegen die Wand schlug, stapfte mit wütender Miene breitbeinig in Mums Zimmer hinein und schrie so laut ich konnte:

"Lass Mum in Ruhe, du gottverdammtes Arschloch!!!"

Gut, im Nachhinein gebe ich zu, dass das vielleicht nicht unbedingt die intelligenteste aller möglichen Handlungsweisen gewesen war. Ich muss wirklich betonen, dass ich Shane nie hatte leiden können und er an diesem Abend und überhaupt der Letzte war, der in irgendeiner Weise Hand an meine Mum legen durfte. Ich hätte ihm am liebsten auf der Stelle seinen schmierigen Kopf von den Schultern gerissen, und gut, vielleicht habe ich im Zuge dieses Blutrausches eine winzige Kleinigkeit zu wenig darüber nachgedacht, was für ein Bild ich unserem Barbesitzer da eigentlich bot.

Die kleine Nervensäge Jesse Maguire - unsere Abneigung beruhte so ganz nebenbei erwähnt nämlich stets auf Gegenseitigkeit - platzt mitten in einen Streit hinein, der ihn nichts, aber auch gar nichts angeht. Aber hey, Jesse startet so eine an und für sich schon äußerst riskante Aktion nicht einfach irgendwie - nein, er tut es mit Stil. Oder besser gesagt, in einem kurzen Jeansrock, einem hautengen rot-schwarzen Schnür-Top und kurzen schwarzen Stiefeln mit acht Zentimeter hohen Absätzen. Und passend zu diesem Outfit trägt das schnaubende, vor Wut nahezu glühende Etwas einen großen Strauß roter Rosen in der Hand - als vernichtende Waffe sozusagen.

Ich glaube, bei meinem Anblick wäre selbst ich in Gelächter ausgebrochen. Aber natürlich dachte ich an jenem Abend noch nicht so weit, und Shanes schmierige Lache brachte mein Temperament endgültig zum Überkochen.

"Hör sofort auf zu Lachen und verpiss dich, Vixer!" schrie ich ihm entgegen und stemmte meine Hände samt Blumenstrauß in die Seiten.

"Ach wie süß, der böse kleine Jesse is unter die Tunten gegangen!" grinste Shane und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Ich hätte ihm am liebsten augenblicklich Selbiges poliert, konnte mir aber sehr gut vorstellen, wie diese Aktion geendet hätte und begnügte mich so damit, ihn noch ein bisschen feindseliger anzustarren.

"Jetzt halt dein Maul und hau endlich ab! Du weißt doch sonst immer bei allen Dingen am besten, wo Ein- und Ausgänge sind, oder?"

"Hey, werd bloß nicht frech, du Ratte!" Er verzog sein dreitagebartbewehrtes Gesicht zu einer wütenden Grimasse, dann grinste er wieder und riss mir mit einer schnellen Bewegung den Rosenstrauß aus den Händen. "Und was is das? Zeig mal her - von deinem Freund?"

"Das geht dich einen Scheißdreck an! Gib... gib das sofort wieder her!!!" Langsam wurde ich wirklich böse. Ich meine - nicht, dass mein Herz in irgendeiner Form an diesen Blumen gehangen hätte, aber sie gehörten trotzdem mir. Und ganz nebenbei legte ich alles andere als großen Wert darauf, dass ausgerechnet Shane diese abstoßend herzförmige rosafarbene Karte in seine schmierigen Finger bekommen sollte.

"Tausend Grüße!" kicherte er und klang dabei wie ein absterbender Motor, der nach einem harten Winter seinem endgültigen Niedergang ins Auge blickte. "In Liebe, dein Tatsumi! Ach nee, wer hätte denn das gedacht? Unser Jesse is nich nur ne Tunte, er is auch noch ne Schwuchtel!"

"Das bin ich nicht! Der Typ ist nicht mein Freund, OK? Und jetzt gib das wieder her und verzieh dich endlich!!!"

"Shane, Jesse macht bei einem Theaterstück mit. Lass ihn in Ruhe!" Mum versuchte, ihren zukünftigen Ex-Lover am Arm zu packen und ihn von mir wegzuziehen (wen genau sie damit jetzt schützen wollte, weiß ich nicht), aber der weitaus größere und mindestens doppelt so breite Kleiderschrank dachte nicht daran, das boshafte Spielchen, an dem er gerade erst richtig Gefallen gefunden hatte, so schnell schon wieder abzubrechen. Mit einem ungeduldigen Schnauben stieß er Mum zurück. Ihr zierlicher Körper prallte gegen die Bettkante und sank mit einem leisen Schmerzenslaut auf dem harten Boden zusammen.

"Das machst du nicht noch einmal, du dreckiges Arschloch!" Ich schrie mittlerweile schon so laut, dass ich selbst den Fernseher unseres schwerhörigen weil 87 Jahre alten Nachbarn locker übertönen musste, aber Shane schien das nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er drehte sich vollkommen ungerührt zu mir um und eine Wolke seines billigen Aftershaves schlug mir wie eine unsichtbare Faust entgegen.

Im nächsten Augenblick verwandelte sich das schmierige Grinsen auf seinem Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Mit trotzig nach vorne geschobener Unterlippe zog ich meinen Fuß wieder zurück, den ich gerade eben mitsamt Absatz und voller Wucht an seinem Schienbein platziert hatte.

"Da nächste Mal treffe ich woanders hin, kapiert?"

Und wieder einmal in meinem Leben begriff ich ein paar verfluchte Sekunden zu spät, dass ich einen ganz gewaltigen Fehler gemacht hatte. Nämlich exakt in dem Augenblick, in dem Shane meinen Blumenstrauß auf den Boden warf und ihn mit dem eben getretenen Bein in einen aufwirbelnden, tiefroten Matsch verwandelte, aus dem irgendwo ein zerknicktes, kitschig rosarotes Herzchen hervorragte. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und ihn erneut anschreien, als er mich auch schon gepackt und seine Faust überaus unsanft in meinem Gesicht platziert hatte.

An die nächsten Minuten kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, und vielleicht ist das auch besser so. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann auf dem Boden gelandet bin und zum letzten Mal in meinem Leben einen Blick auf Shanes ekelhafte Zuhältervisage werfen musste, bevor er sich umdrehte, eine Zigarette ansteckte und aus dem Raum schlenderte. Ich weiß, dass Mum geweint hat, und dass ich irgendwann aus dem Haus gerannt bin. Draußen regnete es, ganz leicht, und irgendwann ließ der Regen auch nach. Ich lief und lief und lief einfach, immer weiter, wahrscheinlich bin ich auch eine kleine Strecke mit der U-Bahn gefahren, aber das kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen.

Das Nächste, woran ich mich wieder bewusst erinnern kann, waren meine Füße. Sie schmerzten beinahe unerträglich, immerhin war ich mit Absatzschuhen über den harten Asphalt gerannt und hatte den ganzen Nachmittag davor trainiert. Jetzt bemerkte ich auch, dass ich furchtbares Seitenstechen hatte, und da mir eh schon alles vollkommen egal war, ließ ich mich schlicht und einfach in das feuchte Gras am Rande des Weges fallen und schnappte nach Luft.

Nach einigen Minuten klärte sich das Bild vor meinen Augen wieder und ich achtete zum ersten Mal darauf, wo ich mich überhaupt befand (nicht, dass es mich wirklich interessiert hätte!). Ich saß ganz offensichtlich in einem kleinen Park. Nur einige wenige Straßenlaternen erhellten den Weg, der sich in Schlangenlinien einen kleinen Abhang hinunterzog. Neben mir plätscherte gemächlich der Fluss wie ein dunkles Band im bläulichen Gras dahin, in der Ferne, irgendwo jenseits der tagsüber grünen, nun beinah schwarzen Oase des Parks erstrahlte die glitzernde, hell erleuchtete Skyline der nächtlichen Stadt.

Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. Schweiß rann über mein Gesicht herab und vermischte sich mit einer anderen, warmen Flüssigkeit. Die Nacht war warm, und ich merkte erst jetzt, was für einen Durst ich eigentlich hatte. Mein Blick fiel auf das trübe Wasser zu meiner Rechten. Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Gut, trinken konnte ich diese von Abgasen und schlimmeren Dingen verseuchte Brühe ganz bestimmt nicht, aber für eine kleine Erfrischung reichte sie allemal - ich war ja nicht anspruchsvoll.

Das feuchte Gras kitzelte angenehm kühl an meinen nackten Knien. Ich krabbelte bis an das niedrige Flussufer hinunter und war froh, dass die Wiese an dieser Stelle des Parks in einem sanften Bogen bis zum Wasser hinabreichte. Trotzdem war ich äußerst vorsichtig, als ich mich schließlich über die schwarzen Fluten beugte. Langsam streckte ich meine Hand dem träge dahinfließenden Wasserspiegel entgegen - und erstarrte.

Aus dem Fluss blickte mir ein Monster entgegen. Im ersten Moment hätte ich beinahe geschrieen, so unglaublich schrecklich war der Anblick, der sich mir da bot. Das Etwas im Wasser hatte ein unförmiges, verquollenes Gesicht, dessen eine Hälfte über und über mit Blut verklebt war. Sein rechtes Auge war halb zugeschwollen, seine Lippen im Mundwinkel aufgeplatzt. Alles in allem war es das hässlichste, abstoßendste und widerlichste Ding, das ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen hatte.

Irgendwie schrie ich dann noch auf, holte aus und schlug mit der Faust auf das Ungetüm ein, woraufhin sich das feige Wesen augenblicklich in ein bizarres Gebilde aus Kreisen und Wellen verwandelte. Ich atmete tief durch. Die erste Runde ging an mich. Mit zittrigen Fingern schöpfte ich zwei Hände voll mit Wasser aus dem Fluss und wusch mir das Gesicht damit ab. Meine Stirn verwandelte sich augenblicklich in einen brennenden Krater, aber ich biss die Zähne zusammen, wusch und wischte weiter, bis das klebrige Gefühl auf der Haut irgendwann beinahe verschwunden war. Dann wartete ich einige Sekunden ab, ehe ich es erneut wagte, einen Blick auf das Monster im Wasser zu werfen.

Die Kreatur hatte einiges von ihrem Schrecken verloren. Gut, ihr Auge war nicht unbedingt schöner geworden, und die Wange, die eben noch blutig rot gewesen war, kündigte bereits einen hübschen blauen Fleck an, aber immerhin ließen sich in all der Hässlichkeit wieder entfernt menschliche Züge entdecken.

Aha, stellte ich neugierig fest, dieses Ding im Fluss musste also irgendwann einmal ein Mensch gewesen sein. Und gleichzeitig analysierte ich zufrieden, dass die von Blut verklebten Flecken an Stirn und Mund tatsächlich auf den direkten Verletzungsherd reduziert worden waren und nicht mehr das halbe Gesicht mit ihren klebrigen Flüssigkeiten bedeckten. Es war kaum zu glauben, was für einen enormen Unterschied so ein bisschen Wasser doch ausmachte! Ich nickte anerkennend und zog meinen Kopf von dem schwarzen Spiegel zurück.

Im nächsten Augenblick sank ich schluchzend in mich zusammen.

Es war vorbei, aus und vorbei, alles, mein Plan, meine Anstrengungen, meine so mühsam errungenen Erfolge, alles wurde binnen einer einzigen Sekunde zerschlagen und fiel wie ein morsches Kartenhaus in sich zusammen. Ich dachte in diesem Augenblick nicht an die Schmerzen, die sich durch meinen ganzen Körper zogen, und, wenn ich ganz schonungslos ehrlich bin, dachte ich auch erst einmal gar nicht so sehr an Mum, sondern einzig und allein an den Schönheitswettbewerb. Die große Lucky-Karma-Misswahl, deren Vorausscheidung in drei Tagen stattfinden würde. Eigentlich war es ganz so wie in einem Hotel oder in einem Flugzeug, der Wettbewerb würde natürlich vollkommen ungerührt vonstatten gehen, nur eine Nummer 13 würde es dabei eben nicht geben. Jessica Maguire existierte nicht mehr, sie lag tot und erschlagen auf dem Boden im Zimmer meiner Mum, während ihr erbärmlicher Bruder mitten in der Nacht und in Mädchenklamotten irgendwo in einem Park hockte, auf den regennassen Boden einschlug und sich dabei die Seele aus dem Leib heulte.

Mit einem letzten Funken gesunden Menschenverstandes im Leib hätte ich in einer derartigen Situation wahrscheinlich eine Heidenangst gehabt. Als hilfloses Mädchen, ganz allein in einem verlassenen, düsteren Park inmitten der Großstadt konnte man guten Gewissens von einem Wunder sprechen, wenn einem gerade mal nichts passierte. Leider war das in dieser Nacht so ziemlich das Letzte, worüber ich mir Gedanken machte. Vielleicht, weil ich einfach gar nicht mehr damit rechnen konnte, dass sich irgendeine Menschenseele in diesen durch und durch einsamen Flecken Erde verirren würde, um mich gewaltsam aus meinem bodenlosen Tief zu reißen. Vielleicht war es mir auch einfach nur egal.

Jedenfalls wäre ich beinahe vor Schreck gestorben, als sich mir urplötzlich von hinten zwei Arme um den Hals legten. Das an und für sich logischerweise darauf folgende, lähmende Gefühl von Angst stellte sich jedoch nicht ein. Stattdessen projizierte sich meine ganze hilflose Wut, die ich bis eben noch an der vollkommen unschuldigen Rasenfläche ausgelassen hatte, von einem Augenblick auf den nächsten auf die unglücksselige Gestalt hinter mir.

"OK, jetzt hör mir mal zu, du verfickter Vergewaltiger, du hast dir verdammt noch mal das falsche Opfer ausgesucht! Ich gebe dir jetzt genau drei Sekunden, um dein Leben zu retten, ansonsten ramme ich dir meine Absätze in den Unterleib, bis sie dir..."

Ich wandte ruckartig und mordlüstern meinen Kopf und erstarrte zum zweiten Mal an diesem Abend - zeitgleich mit meinem Gegenüber, das mich im wohl falschesten Augenblick meines ganzen Lebens von hinten hatte überwältigen wollen. Oder auch nicht, denn nachdem ich noch eine Sekunde lang hoffte, dass mir mein Gehirn nach all der Aufregung nur ein grausames Trugbild vorspinnen würde, starrten mich immer noch zwei entsetzte, dunkle Augen aus einem von schulterlangem blondem Haar eingerahmten Gesicht entgegen.

"Ta-Tatsumi?" schluchzte ich und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, dem Schicksal doch bitte einmal ganz kräftig in den Hintern zu treten. Warum konnte ich denn nicht einfach irgendeinen perversen Lustmolche vor mir haben, an dem ich ungestört meinen geballten Hass auslassen konnte? Aber nein, nein, Tatsumi, von all den Millionen Menschen in dieser verfluchten Stadt musste es ausgerechnet Tatsumi sein! Können sie sich das bitte mal vorstellen?!

"Jessie?!? Oh... oh Gott, was ist mit dir passiert?" Tatsumi strich mir behutsam mit einem Finger über die Wange. "Aber... was rede ich lang rum... du kommst jetzt am besten erst einmal mit zu mir!"

"Vergiss es!" Ich schob seine Hand zur Seite und wischte mir stattdessen selber die Tränen aus dem Gesicht. "Damit du mich aufreißen kannst oder wie? Davon träumst du wohl!"

"Hey, man, red keinen Scheiß!" Der Blondschopf ließ sich neben mich ins Gras sinken. "Aber gut, wenn du nicht mitkommen willst, bleibe ich eben hier. Und glaub nicht, dass ich dich gehen lasse, bevor ich weiß, welches Schwein dich so zugerichtet hat!"

Ich murmelte etwas, das entfernte Ähnlichkeit mit einem "geht dich nichts an" besaß, zog meine Beine an den Körper und platzierte meinen Kopf auf den Knien. Meine Augen fixierten die Lichter der Skyline, die sich in dem schwarzen Fluss spiegelten.

"Wenn ich dich wirklich so sehr genervt habe, dann ist das OK. Ich lass dich schon in Ruhe, keine Angst, so was hab ich auch gar nicht nötig. Von mir aus schick ich dir in Zukunft keine Blumen mehr. Aber ich schau doch nicht einfach so zu, wie du total grün und blau geschlagen mitten in der tiefsten Nacht und mutterseelenallein in einem Park sitzt!"

"Warum interessiert dich das überhaupt?!" Ich wusste gar nicht genau, warum, aber mit einem Mal begann ich zu schreien. In meine Augen trat ein wütendes Funkeln. "Du bist doch Schuld an dem ganzen! Wenn... du mir nicht diese Scheiß-Blumen geschickt hättest, wär es gar nicht so weit gekommen und er hätte mich nie geschlagen!!!"

"Wer denn überhaupt?!?"

"Ach, ist doch jetzt eh egal. Der Lover von meiner Mum. Und deine dummen Rosen hat er auch gleich zertreten, aber glaub nicht, das würde mich irgendwie kümmern, ja? Wahrscheinlich freut es dein gekränktes Ego doch auch noch, mich so zu sehen! Oder weil es eine Gelegenheit für dich ist, dich wieder an mich ranzuschmeißen und den großen Beschützer raushängen zu lassen!!!"

Tatsumis Gesicht blieb bei meinen Worten ungerührt, aber ich sah an seinem Blick, dass ich ihn verletzt hatte. Ich hätte mir am liebsten selbst eine runtergehauen und schaffte es irgendwie, mich noch ein bisschen schlechter zu fühlen. Mit was für einem Recht ließ ich da eigentlich gerade meine Wut an ihm aus? Gut, Tatsumi war ein Arschloch, Tatsumi war selbstverliebt, Tatsumi war arrogant, aber irgendwie, ja, zumindest an diesem Abend und in diesem Augenblick wollte er mir doch eigentlich nur helfen. Und was tat ich? Meine Güte, was war ich erbärmlich! Zu meinem größten Entsetzen musste ich feststellen, dass mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen, und ich senkte hastig meinen Kopf und biss mir auf die Lippe.

"Ist schon OK!" Tatsumi rutschte ein Stückchen näher zu mir hin und lächelte mich an. "Wenn du dich noch ein bisschen abreagieren möchtest, bitte, ich steh dir da gern zur Verfügung. Das glaubst du mir zwar eh nicht, aber ich kann echt nachvollziehen, wie scheiße du dich jetzt fühlst."

"Du kannst ja auch irgendwie doch nichts dafür", murmelte ich leise. "Tut mir leid... ich glaub, du solltest jetzt wirklich besser gehen."

"Hab ich dir nicht schon irgendwann mal gesagt, dass du das vergessen kannst?" Der Blondschopf grinste. "Hey, dafür musst du dir schon was Besseres einfallen lassen, wenn du mich loswerden willst!"

"Ich sehe aus wie ein Monster, reicht das?" Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

"Du siehst nicht aus wie ein Monster!" entgegnete Tatsumi entschieden und legte mir vorsichtig einen Arm um die Schultern. "Das geht doch in ein paar Tagen wieder vorbei, und außerdem... oh scheiße... der Schönheitswettbewerb..."

"Blitzmerker!" Meine Hände krallten sich wie von selbst um ein nasses Grasbündel. Wieder einmal kaute ich auf meiner Lippe herum, wohl, weil ich mir in irgendeiner Weise Trost oder Beruhigung dadurch versprach - ich weiß es nicht, aber irgendwie half's mir doch, die Beherrschung zu wahren. "Na ja, damit hätt sich das Thema wohl erledigt."

"Erledigt?" Die Stimme des Blondschopfes klang nachdenklich. Ich spürte, wie seine Finger vorsichtig begannen, über meine Haut zu streichen, aber ich hatte nicht mehr die Energie, mich dagegen zu wehren. Vielleicht war ich, auch wenn ich es mir natürlich auf den Tod nicht eingestanden hätte, irgendwo auch froh, in dieser schrecklichen Nacht wenigstens nicht mehr ganz allein zu sein. Wie auch immer, ich blieb jedenfalls sitzen und starrte wie gehabt auf die nächtliche Skyline.

"Ja, erledigt. Tot, aus, Ende, vorbei. Aber hey, ich kann mich ja stattdessen mal bei der nächsten Freak-Show bewerben. Da hab ich noch richtig Karrierechancen!"

"Jessie..." Tatsumi drehte unendlich behutsam meinen Kopf in seine Richtung. In seine dunklen Augen war ein ernster Ausdruck getreten, wie ich ihn nie zuvor bei ihm gesehen hatte. "Sorry, wenn ich das jetzt so sage, aber wenn du so schnell aufgibst, kannst du den Wettbewerb von Anfang an vergessen!"

"Na toll. Wenn du mich mit klugen Lebensweisheiten belehren willst, ertränk ich mich dann lieber mal im Fluss, da hab ich mehr Spaß dabei!"

"Jessie! Ich mein das ernst, OK?" In seinem Blick lag kein Vorwurf, sondern irgendetwas anderes, das ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. Ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich sagen sollte. "Ich weiß, mein Gelaber hört sich jetzt nach irgendeinem beschissenen Lehrer an, aber wenn ich sage, dass es noch lange nicht tot und aus und vorbei und was auch immer ist, dann kannst du mir das verdammt noch mal auch glauben!!!"

"Und... und was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?" Etwas in mir wehrte sich entschieden dagegen, neue Hoffnung zu schöpfen. Schön, ich hatte verloren. Meine Mühen, mein Plan, mein Ehrgeiz, alles lag zertreten auf dem nasskalten Boden. Aber wenigstens war es jetzt zuende und ich hatte Zeit, mich mit meinem grausamen Schicksal abzufinden und mich ausgiebig zu bemitleiden. Das Letzte, was ich jetzt noch verkraften konnte, war ein neuer Hoffnungsschimmer am Horizont, der mich noch einmal auf die Beine zerrte, nur, um mich danach noch brutaler, noch umbarmherziger niederzuschmettern.

"Pass auf: Entweder du vertraust mir jetzt, oder du lässt es bleiben. Ich weiß, wie man blaue Flecken und Schwellungen schnell wieder wegbekommt und zur Not auch überschminken kann. Ich kann dir helfen, aber nicht versprechen, dass es auch wirklich funktioniert."

"Ich... ich will das aber nicht mehr!" Meine Stimme zitterte. Es fiel mir schwerer denn je, Jessies Tonfall beizubehalten. Ich atmete noch einmal tief durch und zwang mich dazu, ruhiger weiterzusprechen. "Ich weiß nicht, ob du das echt so verstehst. Ich habe keine Lust mehr dazu, mich ständig in irgendwelche gottverdammten Träumereien zu verrennen, und am Ende ist dann doch wieder alles für den Arsch! Warum strenge ich mich überhaupt noch an? Ich habe einfach keine Lust mehr darauf!"

"Hey, ich versteh dich vielleicht besser, als du denkst, Jessie!" Aus irgendeinem Grund hatte ich damit gerechnet, dass Tatsumi auf meine Worte vorwurfsvoll oder sogar wütend reagieren würde. Stattdessen legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das ehrlicher wirkte als jedes andere, das ich bislang bei ihm gesehen hatte. "Aber jetzt denk doch noch mal in Ruhe nach: Was meinst du, wie scheiße du dich erst fühlen wirst, wenn du es nicht einmal versuchst? Wenn du hoffst und enttäuscht wirst, dann ist das verdammt noch mal schmerzhaft, aber irgendwann kommst du darüber hinweg. Aber wenn du jetzt den Kopf in den Sand steckst und alles hinschmeißt, gut, im Moment ist das einfacher, schon klar, aber dann wirst du's echt dein ganzes Leben lang bereuen!"

"Ja aber..."

"Kein Aber!" Tatsumi sprang mit einem Ruck auf und grinste zu mir hinunter. Er strich sich sein blondes Haar aus dem Gesicht, dann streckte er mir seine Hand hin und machte eine auffordernde Kopfbewegung. "Was ist jetzt? Kommst du?"

Für einige Augenblicke saß ich nur schweigend im feuchten Gras und starrte meinen Klassenkameraden leicht hilflos an. Dann nahm ich seine Hand, ließ mich auf die Beine ziehen und trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her.

"Ich muss aber auf jeden Fall zuhause anrufen... Mum macht sich bestimmt Sorgen um mich... oh Scheiße, ich bin echt ein Idiot!"

"Stimmt!" Der Blondschopf lächelte von einem Ohr zum anderen. "Aber ein Süßer! Du kannst von mir aus anrufen, ja? Und jetzt komm, es wird langsam kalt hier draußen... oh Shit, kein Wunder, wer ist auch so bescheuert und hockt sich in eine klatschnasse Wiese! Ich muss jetzt nicht extra betonen, wonach das aussieht?"

"Ich glaube nicht..." Gegen meinen Willen musste ich grinsen. Ich wagte es, meinen Blick ein ganz kleines Stückchen weit anzuheben und Tatsumi in die Augen zu sehen. Es war seltsam, aber irgendetwas an ihm war anders als an jenem heißen Sommernachmittag, an dem er mich im "Seven Sins" zu einem Hochmut eingeladen hatte, anders als in der Schule, überhaupt anders, als ich es bislang bei ihm gesehen hatte. Vielleicht lag es nur an den schlechten Lichtverhältnissen, an dem dämmrigen Schein der verdreckten Straßenlaternen, aber zum ersten Mal, seit ich meinen Mitschüler kannte, war die arrogante Kälte aus seinem Blick verschwunden. In Tatsumis dunklen Augen lag ein beinahe kindlich wirkendes Blitzen, wie ich es nie zuvor bei ihm gesehen hatte.

Ich wandte meinen Kopf wieder dem regennassen Boden zu und folgte ihm schweigend durch die nächtlichen Gassen der Stadt.
 

Der Weg zu Tatsumis Haus war länger, als ich erwartet hatte. Gut, um ehrlich zu sein, ich war an diesem Abend nicht wirklich in der Verfassung, irgendwelche klaren Gedanken zu fassen, ansonsten hätte sogar ich mir vielleicht denken können, dass der Sohn eines Firmenbesitzerehepaares nicht unbedingt in meiner näheren Nachbarschaft beheimatet war.

Trotzdem fielen mir fast die Augen aus dem Kopf, als wir endlich vor der schneeweißen Gartentüre standen, hinter der sich der Weg zu einem Palast auftat. Für sie mag dieser Vergleich übertrieben erscheinen, aber jemand wie ich, der solche Prachtbauten bislang höchsten im Fernsehen hatte bewundern können, schien sich eine vollkommen andere, unglaubliche Märchenwelt aufzutun. Mir stockte vor Ehrfurcht schier der Atem, als ich über den weißen Steinweg durch den riesenhaften Garten schritt, umgeben von schneeweißen Bäumen, deren Blüten langsam auf den tiefgrünen Rasen hinabsegelten. Irgendwo konnte ich eine weiße Bank inmitten dieses so unwirklich scheinenden Blütenmeeres erkennen.

"Das sind irgendwelche Baum-Mutationen, die blühen irgendwie doppelt so lang wie herkömmliche Bäume, was weiß ich!" winkte Tatsumi ab, dem meine bewundernden Blicke - wie konnte es auch anders sein? - natürlich nicht entgangen waren. Als ich leicht verstohlen zu ihm aufsah, war der alt gewohnte Ausdruck auf sein Gesicht zurückgekehrt. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich wieder meiner weitaus interessanteren Umgebung zu. Wahrscheinlich hatte ich mich in dem verschwommenen Halbdunkel ganz einfach nur geirrt, war ich an jenem Abend doch ohnehin nur äußerst beschränkt zurechnungsfähig.

"Sei bitte leise", fügte der Blondschopf hinzu und schloss die mit Gold verzierte, ebenfalls schneeweiße Eingangstüre auf. "Ich will nicht, dass uns jemand hört."

Ich nickte nur und folgte ihm mit angehaltenem Atem. Angesichts der unglaublichen Pracht, die mir schon die Eingangshalle der Villa bot, war ich nämlich ohnehin sprachlos. Die meisten Dinge waren weiß, hier und dort zierte Gold die schlichte, aber unglaublich stilvolle Einrichtung. Alles passte perfekt zusammen, und zwar ganz genau so, wie es jetzt angeordnet war - jede Änderung konnte das vollkommene Kunstwerk nur stören. Die Bilder an der Wand, die Blumen auf den kleinen Marmortischchen, die ein wenig altertümlich wirkenden Stühle, alles schien zu einem bis ins Detail stimmigen Gemälde zu gehören.

Tatsumi steuerte auf die breite Marmortreppe zu, deren Geländer wiederum golden im blauen Schein der Nacht glänzte. Ich folgte ihm auf Zehenspitzen und wagte immer noch kaum, Luft zu holen. Ich fühlte mich ein klein wenig so wie das arme Mädchen in einem Märchen, das von einem edlen Prinzen auf seinem weißen Ross in sein wunderschönes Schloss getragen wurde.

Ich musste Grinsen. Dem Vergleich Tatsumis mit einem Prinzen haftete eine unbestreitbare Komik an. Erst beim zweiten Nachdenken fiel mir auf, dass ich mit der Rolle des armen Mädchens noch ungleich absurderer wegkam.

"Hier! Das ist mein Zimmer." Tatsumi öffnete eine der schönen weißen Türen und trat in ein großes Zimmer, dessen Wände ebenfalls schneeweiß waren. Irgendetwas daran störte mich, auch wenn ich im ersten Moment noch gar nicht begriff, was genau das eigentlich war. Auch als der Blondschopf das Licht eingeschaltet hatte, sah ich auf den ersten Blick nur ein sehr schönes Zimmer mit einem großen, dem nächtlichen Lichtermeer der Stadt zugewandten Fenster.

"Cool!" murmelte ich andächtig und sah mich mit großen Augen in dem weißen Raum um. Die Decke war recht hoch, eine der Wände wurde von einem Bücherregal verstellt. Die meisten Buchtitel und Autoren sagten mir nicht das Geringste, einige waren in japanischer Sprache und Schrift verfasst, sodass ich ohnehin nichts davon verstehen konnte. In einer Ecke lehnte eine pechschwarze e-Gitarre mit silbernen Schriftzeichen darauf. Vor dem Fenster stand ein großer Schreibtisch mit etlichen Schulbüchern und anderen, bis ins kleinste Detail geordneten Unterlagen darauf. Ein breites Bett mit schwarzer Bettwäsche und ein hoher, verspiegelter Schrank nahmen den Rest des Zimmers ein.

Spontan drängte sich mir der Gedanke auf, dass dieses Zimmer voll und ganz zu dem Tatsumi passte, wie ich ihn in der Schule kennen gelernt hatte. Und trotzdem, irgendetwas störte mich an dem durchaus ansprechenden Gesamtbild. Auf den zweiten Blick fiel mir auch auf, was genau dieser unangenehme Eindruck war, der mich schon beim Eintreten befallen hatte.

Dies war nicht das Zimmer eines Jugendlichen. Es fehlten die Poster, wie sie meine Zimmerwände zupflasterten, oder zumindest irgendwelche anderen Bilder, die das erdrückende Weiß wenigstens ein kleines bisschen zurückgedrängt und eingefärbt hätten. Es fehlte das Chaos, CDs, Klamotten, Zeitschriften, irgendwelche Dinge, die einfach nur herumlagen und der nackten Sterilität eines Raumes diese unverkennbare, persönliche Note und Wärme gaben.

Dieses Zimmer war ein Gefängnis.

"Was ist? Gefällt es dir nicht?" erkundigte sich Tatsumi in ungerührtem Tonfall.

"Ähm, doch, klar!" entgegnete ich ein kleines bisschen zu hastig. "Ich hab doch schon gesagt, dass es cool ist."

"Du wolltest bei dir anrufen?" Tatsumi zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und zauberte ein schnurloses schwarzes daraus Telefon hervor. Ich erschauderte unweigerlich und ergriff zögernd den Hörer. Dieses Zimmer war ja besser durchorganisiert als ein Büro!

Während ich die Nummer meiner Mum wählte und mit angehaltenem Atem darauf wartete, dass sie endlich abnahm, musste ich zu meinem größten Entsetzen feststellen, dass ich mit diesem Gedanken gar nicht so falsch gelegen hatte. Hinter einer der Schranktüren verbarg sich eine Stereoanlage samt ganz offensichtlich in alphabetischer Reihenfolge sortierter CDs. Die Fernbedienung war in einer extra zu diesem Zweck angebrachten kleinen Schublade verstaut. Hinter einer unauffälligen Türe verbarg sich ein Mini-Kühlschrank mit sämtlichen Getränken, die man sich nur wünschen konnte. Ich beobachtete fassungslos, wie Tatsumi von irgendwoher auch noch Gläser organisierte und hätte vor lauter Verwunderung beinahe vergessen, dass ich gerade im Begriff dazu war, einen Anruf zu tätigen.

"Ja? Maguire hier? Wer ist da?"

Die Stimme drang so plötzlich und unvermutet an mein Ohr, dass ich im ersten Augenblick vor lauter Schreck beinahe den Hörer fallen ließ. Dann jedoch machte sich ein schmerzhaftes Stechen in meiner Seite bemerkbar. Ich erkannte an der Stimme meiner Mum augenblicklich, dass sie geweint hatte. Ich biss mir auf die Lippe und musste einmal tief durchatmen, bevor ich antworten konnte.

"Mum? Ich bin's..."

"Jesse? Jesse... oh mein Gott... wo bist du?"

"Mach dir keine Sorgen, Mum. Es geht mir gut."

"Ich... ich soll mir keine Sorgen machen? Du rennst mitten in der Nacht davon und du bist verletzt!"

"Ich bin OK, Mum, wirklich. Ich bin bei einem Mitschüler."

"Einem Mit... Jesse, warum redest du so seltsam? Hast du dich erkältet?"

"Nein! Nein, natürlich nicht!" Ich spürte, wie meine Hand warm am Telefonhörer klebte. "Oder vielleicht ein bisschen. Aber ich bin gerannt, ich bin... noch ein wenig außer Atem."

"Gut, dann pass auf dich auf. Wann kommst du heim?"

"Weiß ich noch nicht genau. Aber wie gesagt, mach dir keine Sorgen, ich bin ja nicht allein unterwegs, OK?"

"Ist gut, Schatz." Ich hörte, wie sie am Ende der Leitung tief durchatmete.

"Ich hab dich lieb, Mum. Bis dann!"

"Ich dich auch, Jesse. Bis dann!"

Mum legte auf und ich reichte Tatsumi das Telefon. Für einen Moment meinte ich, einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen, tat es jedoch erneut als Irrtum ab. Scheinbar bildete ich mir an diesem Abend eine Menge seltsamer Dinge ein, ganz einfach deshalb, weil mir Tatsumis überhebliches Grinsen langsam aber sicher auf die Nerven ging.

"Jetzt trink erstmal was. Dann hole ich meine kleine Hausapotheke... oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Das kriegen wir schon hin!"

Er drückte mir das Glas in die Hand und lief dann aus dem Zimmer. Ich sah dem Blondschopf kopfschüttelnd hinterher und verbesserte mich in Gedanken. Tatsumi passte beim besten Willen nicht in dieses Haus! Aber wohin passte er denn überhaupt? Ich musste mir eingestehen, dass ich den Jungen einfach nicht einschätzen konnte, genauso wenig wie ich wusste, ob ich ihn dann doch irgendwie mochte oder hasste.

Mit einem tiefen Seufzer nahm ich einen Schluck von meiner Cola und lehnte mich an die Wand zurück. Im Grunde genommen war es doch völlig egal, was ich von Tatsumi hielt. Er war vielleicht meine letzte Chance, doch noch an diesem gottverdammten Wettbewerb teilnehmen zu können. Ich musste es ganz genau drei Tage mit ihm aushalten, nicht länger. Und so nett sein großmütiges Hilfeangebot auch sein mochte - wenn ich an sein arrogantes Lächeln dachte, war ich heilfroh darüber, dass es kein einziger Tag länger war.
 

Tatsumi verfügte über eine ganze Menge wundersamer Salben und Methoden, meine weibliche Schönheit binnen der unmöglich kurzen Zeit wiederherzustellen. Noch am selben Abend wurde ich in unzählige Eisbeutel eingepackt und musste derart gut konserviert erst einmal ein paar Stunden auf seinem Bett liegend verbringen. Danach wurde ich mit Dingen eingeschmiert, deren Namen ich mir beim besten Willen nicht merken konnte - und ich war heilfroh, dass Tatsumi in seinem Schrank auch einen Fernseher versteckt hatte, der mich über die scheinbar endlos lange und doch viel zu kurze Zeit rettete.

An meiner persönlichen Beziehung zu Tatsumi änderten diese Tage vor allem eines - ich fand ihn nun noch viel seltsamer als zuvor. Seine Annäherungsversuche und Komplimente wusste ich zu ignorieren, aber seine ständige Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ging mir mit der Zeit gehörig auf die Nerven, auch wenn ich gar nicht so genau sagen konnte, warum eigentlich. Aber was mich am meisten wunderte, war die Tatsache, dass er mich scheinbar krampfhaft von seinen Eltern fernhalten wollte. Er brachte mir das Essen auf sein Zimmer, aber er plante sämtliche Raumwechsel und die abendlichen Abschiede mit einer logistischen Perfektion, die es mir unmöglich machte, seine Eltern auch nur aus der Ferne zu sehen.

Langsam aber sicher kroch ein schrecklicher Verdacht in mir hoch. Bitte verstehen sie es jetzt nicht falsch, wenn ich das so schreibe, aber vor meinem inneren Auge baute sich ein gar grauenhaftes Bild auf. Wie schrecklich mussten diese Menschen sein, wenn selbst der grenzenlos coole Tatsumi um jeden Preis verhindern wollte, dass ich sie irgendwie zu Gesicht bekam? Ich erwähnte ja bereits, dass ich über eine höchst ausgeprägte Fantasie verfüge und so kam mir langsam aber sicher ein schrecklicher Verdacht, der endgültig Gestalt annahm, als Tatsumi mich am Abend vor dem großen Tag wieder einmal alleine auf seinem Zimmer zurückließ, um mit jenen mysteriösen Fremden an einem Tisch zu essen.

Ich lag auf dem Bett, hatte irgendwelches seltsam riechende Zeug ins Gesicht geklatscht und starrte gedankenverloren durch den Fernsehbildschirm hindurch. Ich erinnerte mich an die Begegnung am nächtlichen Fluss, an einen Satz, mit dem Tatsumi mir wahrscheinlich nur hatte Mut machen wollen. Trotzdem beschlich mich zunehmend ein höchst ungutes Gefühl, wenn ich jetzt daran zurückdachte.

Ich weiß, wie man blaue Flecken und Schwellungen schnell wieder wegbekommt und zur Not auch überschminken kann.

Warum wusste der Blondschopf das eigentlich so genau? Und wieso schleppte ein Mensch mit auch nur einem Funken normalen menschlichen Verstandes (nicht, dass ich Tatsumi so etwas zugetraut hätte!) ein ganzes Sortiment von merkwürdigen Wundsalben mit sich herum? Und dann war da noch so ein Satz, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Ich versteh dich vielleicht besser, als du denkst, Jessie.

Woher kam dieses plötzliche Verständnis? All diese ominösen medizinischen und kosmetischen Kenntnisse? Ich konnte mir das Mysterium nur auf eine einzige plausible Art und Weise erklären: Tatsumi hatte selber Erfahrung darin, nach Strich und Faden verprügelt zu werden. Und die gegebenen Umstände ließen nur eine mögliche Erklärung zu.

Tatsumi wollte mir seine Eltern nicht zeigen, weil es schlichtweg brutale, tyrannische Schläger waren, die sich hinter der schönen Fassade einer schneeweißen Prachtvilla versteckten.

Vielleicht war es genau dieser Abend, an dem ich anfing, Tatsumis ganzes Verhalten in einem anderen Licht zu sehen. Er tat mir mit einem Mal leid, und auch wenn ich ihn deshalb nicht unbedingt sehr viel sympathischer fand, gab ich mir doch zumindest Mühe, freundlicher zu ihm zu sein. Immerhin gab er sich ja auch Mühe und riskierte vielleicht sogar, von seinen schrecklichen Eltern Ärger zu bekommen, wenn er den ganzen lieben langen Tag über ein wildfremdes Mädchen in seinem Zimmer verschanzte.

Als ich mich an diesem Abend von ihm verabschiedete, lächelte ich ihm zu und bedankte mich für seine Hilfe. Als Antwort bekam ich nur ein breites Grinsen.

"Hey, kein Problem!" Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und zwinkerte mir zu. "Meinst du wirklich, mich stört der Gedanke, den ganzen Tag lang so ein süßes Mädchen in meinem Bett liegen zu haben?"

"Na, dich bestimmt nicht!" Ich verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus. "Morgen wird das aber leider ein Ende haben."

"Stimmt, aber morgen ist immerhin auch noch ein Tag!" Sein Lächeln wurde noch ein Stückchen breiter, und augenblicklich bekam sein Gesicht den üblichen arroganten Ausdruck zurück. "Und vergiss nicht, ich habe die große Ehre, dich schminken zu dürfen! Wird aber auch Zeit, dass wir endlich mal auf Tuchfühlung gehen."

"Nein, wie komisch!" Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Warum musste Tatsumi es einem nur so verdammt schwer machen, freundlich zu ihm zu sein? "Aber egal. Ich komm dann bei dir vorbei, OK?"

"Um 11?"

"OK, alles klar! Die Klamotten für meinen Auftritt sind ja schon in der Schule."

"Na dann, bis morgen, Süße!"

Ich sparte mir eine Antwort, hob noch einmal zum Abschied die Hand und schlenderte dann die Straße entlang, zurück zu meinem bescheidenen Zuhause. Mum war nicht da, aber eigentlich war ich auch froh, meine Aufregung nicht vor ihr verbergen zu müssen. Natürlich konnte ich ihr nichts von der Veranstaltung erzählen, wie hätte ich ihr sonst erklären sollen, dass sie nicht bei dem angeblichen Theaterstück zusehen konnte? Offiziell übernachtete ich einmal mehr bei jenem mysteriösen Klassenkameraden, mit dem ich seltsamerweise urplötzlich meine gesamte Freizeit verbrachte. Ich schrieb Mum einen Zettel und wusste, dass sie sich ohnehin nicht darüber wundern oder nachfragen würde. Mum ließ mir eine ganze Menge Freizeit, aber vielleicht lag das auch einfach daran, dass es so viele andere Dinge gab, um die sie sich mehr Sorgen machen musste.

Ich packte die Sachen zusammen, die ich für den nächsten Tag brauchte und ging dann weitaus früher ins Bett als gewohnt. Nach etwa drei Stunden wurde mir langsam aber sicher bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war. Trotz der Aufregung in den vergangenen Tagen war ich nicht ein kleines bisschen müde. Ich lag im Dunkeln und starrte an die Decke. Mein Zimmer war viel zu heiß, um Ruhe zu finden. Ich stand auf und öffnete das Fenster, aber die stickige Nachtluft machte die Situation nicht unbedingt besser.

Seufzend ließ ich mich wieder auf mein Bett fallen, wälzte mich unzählige Male von einer Seite auf die andere, auf den Rücken, in die Ausgangslage zurück, aber ich erreichte nur, dass mein Bettlaken zerwühlt wurde und an allen möglichen und unmöglichen Stellen überaus unbequeme Falten warf. Trotzdem war ich zu faul und zu erschöpft, um mich darum zu kümmern und bemühte mich stattdessen krampfhaft, die Augen geschlossen zu halten. Meine Digitaluhr piepste. Ich wagte nicht, einen Blick darauf zu werden und drehte mich der Wand zu. In meinem Kopf spielte sich in einer Endlosschleife der folgende Tag ab. Ich ging die Tanzschritte durch, meine Kleiderfolge, meine Bewegungen. Ich verzog ein paar Mal das Gesicht, um mein Lächeln zu kontrollieren. Währenddessen malte ich mir im Geiste Abertausende peinlichster Situationen aus, in denen ich auf ganzer Linie versagen konnte.

Verdammt, ich musste endlich schlafen, sonst würde ich den ganzen Stress unmöglich durchstehen können!

Wie viel Zeit tatsächlich verging, bis ich irgendwann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich mich wie frisch verstorben und beerdigt fühlte, als mich am nächsten Morgen das unbarmherzige Piepsen des Weckers aus meinem chaotisch versponnenen Traumnetz riss.

Neun Uhr früh. Ich verzog gequält das Gesicht, drehte mich auf die andere Seite und schaffte es nach einigen Minuten endlich, mich aus meinem ganz plötzlich so furchtbar gemütlichen Bett zu quälen. Ich trank eilig eine Tasse Kaffee, zog zur weiteren Schocktherapie eine eiskalte Dusche heran, und noch ehe ich fertig angezogen war und in Richtung U-Bahnstation rannte, war ich mehr als hellwach.

Der Tag der Entscheidung war gekommen.
 

Tatsumi hatte mich schon erwartet. Er klatschte wiederum irgendeine seltsame dickflüssige Salbe auf mein Gesicht und wies mich an, auf dem Bett zu warten. Dann verließ er den Raum, damit ich auch die Blutergüsse auf meinem Körper einschmieren konnte. Ich seufzte. Um die quälenden Stunden bis zum Abend ein wenig schneller voranzutreiben, angelte ich nach der Fernbedienung und schaltete das schwarze Gerät ein. Nach einigen Minuten erfolglosen Zappings entschied ich mich seufzend für eine Talkshow zum Thema Brustvergrößerung und ließ mich auf die weiche Matratze zurücksinken.

Es dauerte lange, bis Tatsumi zurückkam.

"Na, wie fühlst du dich?" fragte er und grinste mich an. Augenblicklich schlug ich meine weit ausgestreckten Beine übereinander und warf ihm einen strafenden Blick zu.

"Langweilig!" maulte ich. "Die Sendung hab ich schon gesehen. Scheiß Sommerpause!"

"Stimmt..." Tatsumi zuckte mit den Schultern und machte einen Satz zur Seite, um mir nicht die Sicht auf den Bildschirm zu versperren. Dann griff er nach der e-Gitarre, die immer noch zwischen Regal und Wand lehnte. "Keine Sorge, ich stör dich nicht! Ich üb im Nebenzimmer!"

"Höh? Wieso denn?" Ich stellte den Fernseher auf tonlos und sah den Blondschopf erwartungsvoll an. "Ich hab dich noch nie spielen hören! Na los!"

"Bist du sicher?" Tatsumi zog eine Augenbraue in die Höhe. "Die Hälfte der Sachen sind Fingerübungen. Stinklangweilig, aber es muss sein. Willst du dir das echt antun?"

"Immer noch besser als wiederverwertete Talkshows, oder?"

"Na gut..."

Tatsumi zuckte mit den Schultern, hob das pechschwarze Instrument auf und begann nach einigen kurzen Vorbereitungen zu spielen. Anfangs erkannte ich tatsächlich nicht mehr als unsinnige Tonfolgen, Tonleitern und andere Notenkombinationen, die weder gut noch unterhaltsam klangen, und ich ertappte mich mehr als nur einmal dabei, dass meine Augen wie von selbst auf die flimmernde Mattscheibe schlichen. Eine strohblonde Frau mit aufgepolsterten Lippen und einer Oberweite, die mich aus irgendeinem Grund spontan an Medizinbälle denken ließ, regte sich über irgendetwas wahnsinnig auf, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben. Der Anblick war so absurd, dass ich unweigerlich grinsen musste.

Ich bekam kaum mit, wie sich aus den sinnlos aneinander gefügten Fingerübungen langsam aber sicher eine Melodie entwickelte. Als ich mich endlich von der stummen Barbiepuppe auf dem Bildschirm losreißen konnte, erschrak ich sogar beinahe. Tatsumis erstes Lied war aggressiv, auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise verletzt und unendlich wütend. Ich blickte auf. Der Blondschopf hatte seine Augen geschlossen, seine Lippen formten ebenso tonlose Worte wie das wandelnde Silikonkissen in der Talkshow - mit dem großen Unterschied, dass es bei ihm nicht lächerlich aussah, sondern irgendwie gleichzeitig konzentriert und entspannt, ganz in einer eigenen Welt versunken.

Aus welchem Grund auch immer, ich war fasziniert. Jeder einzelne Ton der Musik schien sich auf Tatsumis Gesicht wiederzuspiegeln. Er spielte schlicht und einfach wundervoll. Gut, ich gebe zu, ich verstand nicht viel von musikalischem Talent und Instrumenten und all diesen Dingen, aber das war auch gar nicht nötig, um zu merken, dass Tatsumi wirklich genial war. Ich spürte, wie mir trotz der Hitze eine Gänsehaut über den Rücken lief.

Als der Blondschopf sein Instrument sinken ließ und sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte, nutzte ich die Zeit, um zu applaudieren. Tatsumi blickte auf und grinste.

"Hey, das war ein indirektes Kompliment!" stellte er kopfschüttelnd fest. "Dass ich das noch erlebe... also wirklich. Jetzt bin ich - gerührt."

Ich spielte mit einer meiner Haarsträhnen. Dann richtete ich mich ein wenig auf und strahlte ihn an.

"Ich will, dass du singst!"

"Dass ich... was?!?" Tatsumis schmale Augen weiteten sich ein bisschen.

" Warum so entsetzt? Ich meine... du singst doch die ganze Zeit leise mit! Ich will dich jetzt mal richtig singen hören." Ich schob meine Unterlippe ein ganz kleines Stück weit nach vorne. "Bitte!"

"Nein!" Er schüttelte erneut den Kopf, diesmal jedoch weitaus entschiedener. "Keine Chance. Ich singe nicht! Ich... schau mich nicht so an!"

"Warum nicht?" Ich schlug meine dezent getuschten Wimpern einige Male auf und nieder. "Hast du etwa Angst, ich könnte dich auslachen?"

"Red nicht so einen Müll! Ich..." Er holte tief Luft. "OK - OK! Aber nur ein einziges Lied. Und nur unter einer Bedingung."

"...die wäre?" fragte ich, mehr pflichtbewusst als interessiert.

"Wenn ich dafür einen Kuss bekomme! Und zwar einen richtigen Kuss."

"Einen - bitte was?!?" Nun war ich derjenige, der entsetzt die Augen aufriss. Und wenn ich jetzt ,entsetzt' schreibe, hey, dann meine ich das verdammt noch mal auch so. Entsetzt - und empört. Denn natürlich wusste ich, dass ich diese Bedingung nicht erfüllen konnte und würde, und in Tatsumis Grinsen las ich überdeutlich, dass er das ebenso gut wusste wie ich. Über meine Lippen entfloh ein tiefer Seufzer. Nun gut, dachte ich genervt - enttäuscht, dann eben kein Gesang. Wenn Sir Asagi seinen Willen unbedingt durchsetzen musste, bitte, ich würde bei seinem kindischen Spielchen ganz bestimmt nicht auch noch mitmachen!

Ich wollte mich gerade beleidigt zur Seite abwenden, als mir plötzlich ein teuflischer Gedanke kam. Er kroch in meinen Kopf, ganz heimlich, still und leise, machte es sich dort aber augenblicklich mit einem schwefelgelben Longdrink in der Hand zwischen Angst, Aufregung und Enttäuschung bequem. Ich grinste, verschränkte meine Arme hinter dem Kopf und sah Tatsumi herausfordernd an.

"Gut, ich bin einverstanden. Du singst, und ich gebe dir einen Kuss."

"Ähm... ja? Echt?!" Tatsumi zog die Augenbrauen hoch, doch trotz seiner offensichtlichen Überraschung wirkte er nicht im Mindesten enttäuscht, seiner künstlerischen Pflicht nun doch nachkommen zu müssen. Ich meinte sogar, für einen Moment, nur ganz, ganz kurz, so etwas wie ein freudiges Blitzen in seinen Augen erkennen zu können, und meine Antwort tat mir beinahe schon wieder leid. Wie gesagt, beinahe, immerhin hatte Tatsumi mit den Kindereien angefangen.

"Meinst du wirklich, ich könnte dich anlügen?"

"Und... du hast es schon verstanden... ein richtiger Kuss..."

"Tatsumi, du wirst es nicht glauben, aber ich weiß, was ein Kuss ist."

"Ja... aber nicht, dass du dich nachher mit einem Küsschen auf die Wange aus der Affäre ziehen willst!"

"Als ob ich das nötig hätte! Ein richtiger Kuss. Ich hab's schon kapiert, keine Angst."

"Na gut..." Tatsumi zuckte kurz mit den Schultern, dann hob er seine e-Gitarre wieder an. Er holte tief Luft, schloss die Augen und schien sich für einen Moment zu konzentrieren, so als müsse er die Grenzen der gewohnten Welt erst noch hinter sich lassen, um ganz in das mystische Märchenland der Musik eintauchen zu können. Dann begann er zu spielen.

Das Lied war schöner als jedes andere, das ich jemals zuvor gehört hatte.
 

Just for the first time I looked in your eyes

I simply knew that it had to be fate

Like pieces of a broken heart that perfectly fit
 

Eine langsame, melancholische Melodie begleitete Tatsumis Gesang. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was mich mehr fesselte - die Musik oder ihre stimmliche Begleitung. Der Blondschopf sang schlicht und einfach wundervoll. Seine Stimme schien plötzlich völlig anders zu klingen. Der Tonfall. Der Ausdruck. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, einen vollkommen anderen Menschen vor mir zu haben.
 

Before we met, we were just on our own

Now, for the first time I felt alive

How should I notice that you cried when I looked away?
 

Der unbestimmte, vage Eindruck jener Nacht, als ich Tatsumi am Ufer des schwarzen Flusses getroffen hatte, wurde nun zur Gewissheit. Sein Gesicht hatte sich einmal mehr verändert, und... er sah mit einem Mal unendlich traurig aus, genauso traurig wie das Lied, das er spielte. Und gleichzeitig war gerade diese leise, beinahe hoffnungslose Traurigkeit auf eine unfassbare Weise so wunderschön, dass ich kaum noch zu atmen wagte, aus bloßer Angst, dieses Bild zerstören zu können.
 

Searching your shadow in the endless night

There's only artificial starlight around

You took the silver moon with you, as you ran away
 

Aus irgendeinem Grund konnte ich meine Augen nicht mehr von Tatsumis Geicht nehmen. Ich vergaß für einige Sekunden sogar, warum ich eigentlich hier war, ich vergaß meine Aufregung, mein inneres Chaos, all die Hoffnung und Angst und was weiß ich noch alles, und wünschte mir einfach nur, dass dieses eine Lied niemals zu Ende gehen würde.
 

Just one single look at the light

And the darkness makes you suffer and cry

With no one to wipe these tears

Such a lonely night, so I'll tell only the starlight goodbye
 

Als Tatsumi seine Gitarre schließlich wieder sinken ließ und die Augen noch einige Sekunden lang geschlossen hielt, herrschte vollkommene, aber ganz und gar nicht bedrückende Stille in dem weißen Zimmer. Dann jedoch sah er mich an, grinste und zog erwartungsvoll die Augenbrauen nach oben. Ich drehte mich auf die Seite und applaudierte brav.

"Das... das war echt geil!" musste ich zugeben, auch wenn mir Tatsumis selbstgefälliger Gesichtsausdruck dieses ehrliche Lob beinahe bitter und trocken im Hals stecken bleiben ließ. Unweigerlich stahl sich ein leiser Seufzer über meine Lippen, und mir drängte sich die brennende Frage aufdrängte, warum Tatsumi nicht einfach 24 Stunden am Tag mit seiner e-Gitarre um den Hals hängend und melancholische Lieder singend durch die Gegend laufen konnte.

"Ist bislang unser bester Song, denke ich. Na ja, ich hab ihn ja auch immerhin selber geschrieben - ich schreibe die meisten Lieder selbst, immerhin muss ich sie ja auch singen, und da verlässt man sich besser nicht auf andere!"

"Sowieso nicht. Aber hey, das Lied klang irgendwie - traurig..." murmelte ich und ließ meinen Blick über die viel zu weißen Wände streifen.

"Na das hoff ich doch!" Mit einer liebevollen, vorsichtigen Bewegung stellte Tatsumi sein pechschwarzes Instrument in die Ecke zurück und ließ sich neben mir auf das Bett sinken. "Es geht um einen Jungen, der seine große Liebe gefunden und wieder verloren hat und sich deshalb umbringen möchte."

"Cool!" stellte ich mit einem Schulterzucken fest und musterte Tatsumi mit großen Augen. "Kannst mich ruhig einladen, wenn deine Gruppe irgendwann mal auftritt oder ne CD rausbringt oder so... wie gesagt, wenn - oh, und wie heißt ihr eigentlich?"

"Predilection. Heißt soviel wie Vorliebe. Eine ganz besondere Vorliebe, um genau zu sein..."

"Aha... ist ja direkt poetisch... und verrätst du mir auch mal, was dieses Geschreibsel da auf deiner e-Gitarre zu bedeuten hat?"

"Warum interessiert dich das? Aber gut - das Geschreibsel heißt Kodoku no Uta, also soviel wie... Lied der Einsamkeit oder so. Keine Ahnung, ich finde jedenfalls, es sieht ziemlich stylish aus, oder?"

"Schon..." ich fixierte Tatsumi noch einmal, dann richtete ich mich auf und quälte mich leicht widerwillig von der nur allzu bequemen Matratze auf die Füße. "Aber jetzt sollten wir uns vielleicht lieber darum kümmern, dass ich heute Abend ebenso stylish aussehe, meinst du nicht?"

"Mooooooment!" Der Blondschopf sprang auf und stellte sich vor mich. "Hast du da nicht eine... winzige Kleinigkeit vergessen? Abmachung ist Abmachung, Süße!"

"Ab - machung?" Ich blinzelte ihn mit großen Augen zuckersüß an. "Verzeih, aber wovon sprichst du?"

"Hey! Du glaubst ja wohl hoffentlich nicht wirklich, dass ich dich mit so einer billigen Tour davonkommen lasse! Wie war das doch gleich? Ich singe, und du gibst mir einen Kuss. Schon vergessen?"

"Nein, wieso? Die Abmachung gilt immer noch. Und jetzt mach Platz."

"Ja aber..."

"Wenn du so kuckst, dann siehst du sogar noch blöder aus als sonst, also lass es bitte. Ich löse meinen Teil der Abmachung schon ein, was denkst du denn?"

"Na also, geht doch..." Tatsumi lächelte und sah mir tief in die Augen. Er legte mir einen Arm um die Hüften und zog mich vorsichtig ein wenig näher zu sich hin. Dann beugte er sich zu mir hinunter und blickte mich erwartungsvoll an.

"Was tust du da?" Ich legte dem Blondschopf einen Finger auf die Lippen und löste mich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff. "Wir haben Wichtigeres zu tun! Ich habe dir schließlich nur gesagt, dass du deinen Kuss bekommst. Ich habe nie gesagt, dass es sofort sein wird!"

"Moment mal... das... das war doch wohl klar, oder?"

"Für mich nicht."

"Für mich aber! Das... das ist nicht fair! Du kannst es ja bis zum Ende deiner Tage herauszögern! Dann bist du alt und runzlig und... wäääh!" Er verzog demonstrativ das Gesicht.

"Natürlich kann ich das! Aber verlass dich drauf, ich wird's schon nicht machen." Ich zwinkerte ihm zu. "Zum zweiten Mal: Könnte ich dich etwa anlügen? Du bekommst deinen Gutenachtkuss schon noch, und jetzt reg dich nicht auf, sondern hilf mir lieber, Süßer. Ein dankbares Mädchen küsst besser!"

"Du bist ein Monster, Jessie!" Tatsumi schüttelte lachend den Kopf und boxte mir in die Seite. "Nein, du bist ein Engel. Aber ein Gefallener!"

"Was erwartest du?" Ich blinzelte ihn unschuldig an. "Immerhin haben wir uns im Seven Sins kennen gelernt! Meinst du, ein echter Engel würde sich eine Todsünde leisten?"

"Wer weiß?" Der Junge strich sich seine blonden Haare aus der Stirn und grinste mich an. "Wenn's danach geht, dann müsste ich schon öfter aus dem Himmel gefallen sein, als es für meine Knochen und Flügel gesund sein kann. Ich wette, ich bringe keinen Tag herum, ohne nicht mindestens eine Todsünde zu begehen!"

"Da wette ich mit!"

"Du? Bestimmt nicht! Ich glaub dir kein Wort! Du bist doch die Unschuld in Person, Jessie!"

"So, bin ich das? Dann kann ich nur sagen: die Wette gilt! Ich glaub dir nämlich auch nicht, dass so ein braver kleiner Streber wie du es jeden Tag auf eine gar schreckliche Sünde bringen kann."

"Bitte! Dann fangen wir am besten sofort damit an... hm... wie wär's mit Rache?" Er grinste noch ein wenig breiter. Dann packte er mich, riss mich mit einer blitzschnellen Bewegung von den Füßen und drückte mich auf den Boden. Ich quietschte, zappelte und versuchte verzweifelt, mich aus seinem eisernen Griff zu befreien - vergeblich. Und wenn ich jetzt sage, dass keine Folter dieser Welt schlimmer sein kann als ein kitzelnder Tatsumi, dann meine ich das verdammt nochmal ernst. Ich konnte gar nicht anders, als mir die Seele aus dem Leib zu kreischen und zu kichern und es fiel mir plötzlich gar nicht mehr so schwer, dabei wie ein Mädchen zu klingen. Irgendwann standen mir Tränen in den Augen, und mein ganzer versammelter Stolz konnte mich nicht mehr davon abhalten, um Gnade zu flehen.

"La-lass mich los!!!" keuchte ich und schnappte verzweifelt nach Luft. " Bitte!"

"Keine Chance!" Der Blondschopf reckte sein Kinn in die Höhe. "Ich kenne kein Erbarmen!"

"Ich... ich tu... alles was du willst!" stammelte ich. "Äh - fast alles!"

"Alles? Bevor du so etwas versprichst, könnten wir ja den Vertrag, den du schon bei mir unterzeichnet hast, ein wenig - überarbeiten."

"Hinterhältiges Arschloch! Aber gut. Gut. Du bekommst deinen Kuss!"

"Bekomme ich? Ja? Und wo ist der Haken?"

"Es gibt keinen Haken!" Ich legte den unschuldigsten Hundeaugenblick auf, den ich noch irgendwo aus den Tiefen meiner Verzweiflung hervorkramen konnte und blinzelte Tatsumi flehend an. "Du bekommst dein Küsschen! Aber nur, wenn ich heute Abend weiterkomme."

"Aber, aber, aber... du bist ne knallharte Geschäftsfrau, Jessie. Und dabei bist du eigentlich gar nicht in der Position, Forderung zu stellen..." Er seufzte. "Na gut, dein Wunsch sei mir Befehl. Und da du ja sowieso das bezauberndste Wesen im Umkreis von mindestens fünfhundert Meilen, auf jeden Fall aber von meiner ganzen Schule bist... der Deal gilt!"

"Wie schön. Lässt du mich jetzt los?"

"Oh... natürlich..." Tatsumi stand auf und streckte mir eine Hand hin. "Darf ich bitten, Mylady?"

"Bitte dich doch selber!" Ich grinste und stemmte mich mit einer schnellen Bewegung wieder auf die Füße. "Mylady wünschen nun, von ihrem Diener zum Bad geleitet zu werden, damit sie sich dieses ekelhafte Zeugs vom Körper waschen kann."

"Wenn Mylady selber aufstehen kann, findet sie das Bad sicher auch allein!" grinste der Blondschopf und öffnete mit einer galanten Handbewegung die Türe. "Ich pack solang schon mal die ganzen Schminksachen aus, wenn Hochwohlgeboren gestatten."

"Hmm... na gut. Aber gerade noch so!" Ich schnappte mir ein paar meiner mitgebrachten Klamotten und lief eilig in Richtung Bad davon.

Das letzte Styling konnte beginnen.
 

Die Atmosphäre war - überwältigend. Ganz ehrlich: Nie im Leben hatte ich mir auch nur ansatzweise erträumen können, wie unglaublich großartig unsere Turnhalle eigentlich aussehen konnte, aller Fantasie und Verrücktheit zum Trotz. Nachdem es mir beim Eintreten erst einmal für einige Minuten lang die Sprache verschlagen hatte, war ich verdammt nahe dran, einfach wieder umzukehren, weil dies einfach nicht der richtige Ort sein konnte.

Was soll ich sagen? Er war es. Und er hätte richtiger gar nicht sein können.

Die hohen Wände waren auf irgendeine mysteriöse Art und Weise mit langen, abwechselnd schwarzen und schimmernd blauen Stoffbahnen verhängt worden, sodass von der Unmenge hässlicher Werbeaufdrucke (ich habe nie ganz verstanden, warum sich all diese Firmen überhaupt die Mühe machten, ausgerechnet eine Schulsporthalle mit ihren netten Slogans und Bildchen und Adressen zu tapezieren, allen gelegentlichen Hand- und Fußballturnierchen zum Trotz) und Folterinstrumente - Verzeihung, ich meine natürlich Sprossen und Ringe nicht mehr das Geringste übrig geblieben war.

Wo sonst dicke und dünne Matten über den Boden quietschen, wo Barren und Reckstangen wie grauenvolle Mahnmale gen Hallendecke ragten, wo Bälle, tödlichen Geschossen gleich, die Luft versengten und Schüler rannten, hüpften, warfen, sich überschlugen und gelegentlich Arme, Beine und Genicke brachen, da stand nun eine pechschwarze Armee von Stühlen, die selbst auf dem hässlichen grünen Laminatboden noch irgendwie elegant aussah. Geteilt wurden die mehr oder minder bequemen Heerscharen durch das breite Band eines roten Teppichs, der sich bis vor zur Bühne erstreckte.

Und die Bühne - mein Gott, wie unglaublich cool sie war! Mir fehlen jetzt noch die Worte, um dieses Ding würdig beschreiben zu können. Da war so ein richtiger Laufsteg aufgebaut, und die Decke, ja, eigentlich auch die Wände, alles war mit Tüchern verhangen. Ein Teil von ihnen war so schwarz wie die Stoffbahnen der Turnhallenwände, aber darüber hingen noch andere Tücher, blaue, türkisfarbene, teils schimmernd, teils transparent... der Effekt war überwältigend. Dazwischen waren noch in unglaublich geschickter Weise Lichter platziert, so dass sich alles irgendwie zu einem Gesamteindruck zwischen Sternenhimmel und Ozean fügte. Der Boden an sich war schwarz, doch quer über die Bühne und einige Meter auf eine Art Laufsteg hinaus führten schmale, mattsilberne Platten, die dem Ganzen einen derart stylischen Touch gaben, dass ich gar nicht mehr anders konnte, als beeindruckt zu sein.

Etwas abseits der Bühne flankierten silberne Tafeln die rechte Wand der Turnhalle und warteten nicht minder ungeduldig auf das abschließende Buffet, als es der eine oder andere Gast im Laufe des Abends wohl noch tun würde. Zur Linken des Laufstegs, etwas abseits von den Sitzgelegenheiten des einfachen Volkes, verrieten drei pechschwarze Stühle vor einem wichtig aussehenden Tisch, dass hier die Jury Platz nehmen und residieren würde. Ich wandte meinen Blick hastig wieder von diesem doch recht beunruhigenden Ort ab und machte mich stattdessen daran, einen prüfenden Blick über die Konkurrenz streifen zu lassen.

Was soll ich sagen? Es war ein Fehler. Irgendwie. Ich meine, es war natürlich unvermeidlich und änderte nichts mehr an meiner Entscheidung, aber... alles um mich herum war so schön, so... perfekt, rein, atemberaubend - ganz, ganz ehrlich, keine von diesen Mädchen (oder zumindest fast keine) hatte in der Schule oder bei den Proben auch nur annähernd so unverschämt gut ausgesehen und auch auf die Gefahr hin, mich hier zu wiederholen, wenn ich von gut spreche, meine ich wirklich verflucht gut. Selbst Tanith war es auf wundersame Weise gelungen, ihre wasserblauen Glubschaugen derart gekonnt zu betonen, dass sie mit einem mal regelrecht attraktiv anmuteten! Verstehen sie das? Es war ein Schock für mich! Enge Kleider umspielten zarte Mädchenkörper und überall glänzten und schimmerten und betonten vielfarbige Haarprachten diesen Überfluss an Schönheit und jugendlicher Ausstrahlung. Gut, vielleicht war ich ein Stück weit selber Schuld und auch reichlich naiv, dass mich die Anwesenheit von Schönheit auf einem Schönheitswettbewerb derart verblüffen konnte, aber...

Ja, ich gebe es zu, ich hatte die Aufgabe unterschätzt. Verflucht unterschätzt sogar. Und wenn mich Tatsumi noch sieben Jahre und acht Wochen lang mit einer meterdicken Schleimschicht umwickelt hätte - in diesem Moment wär selbst diese zu Asche und Staub zerfallen und zwar direkt auf mein bleiches Antlitz. Ich übertreibe nicht, falls sie das auch nur zu denken wagen. Niemals zuvor in meinem Leben hatte sich jene pechschwarze Bleinadel namens Lampenfieber tiefer in mein Herz gebohrt wie an jenem Abend in dieser - zumindest in meinen Augen - strahlend glamourösen Hölle, nebenberuflich Turnhalle. Und dieses Faktum wird auch nicht dadurch gemindert, dass mir meine Deutschlehrer zeitlebens in blutroter Tinte unter die Aufsätze herniedergeschrieben haben, dass ich dann und wann arg ins Pathetische abrutsche.

Wie auch immer, ich stand also da, gefangen und gelähmt zwischen Nachthimmelbühne und Klappstuhlarmee, ganz tief unter einer Woge von Minderwertigkeitskomplexen begraben, als sich plötzlich aus einer unscheinbaren Türe zu meiner Rechten der Kopf einer Frau Mitte Dreißig hervorschob, die dem bildschönen Haufen und mir milde lächelnd zuwinkte. Ein zweiter Blick beschenkte meine Wahrnehmung mit einem etwas missglückt auf Hollywood getrimmten Silberschildchen, das mir von dem schwarz gestrichenen Rechteck das Wort: "Umkleidekabine" entgegenschrie.

Gut, schoss es mir durch den Kopf, begleitet von einem schrillen Chor imaginären Gekichers. Diese freundliche Tante lud uns also ein zur Schlachtba- ... zum Umziehen, sollte heißen: Der Wettbewerb hatte so gut wie begonnen.

Hatte so gut wie begonnen.

Können sie sich das vorstellen? In meinem Kopf begann sozusagen synchron eine ganze Armada von Alarmglocken loszukreischen und ich musste mich so verflucht zusammenreißen, nicht augenblicklich aus den Schühchen zu kippen, das glauben sie gar nicht mehr! Ich meine... all diese Mädchen, die spekulierten auf Mode und kostenloses Make-up und Hochglanzcover - die sie eh niemals erreichen würden, aber gut - und vielleicht noch die eine oder andere Nacht in den behaarten Armen eines Designer-Masterminds... oder... ach, ich weiß es ja auch nicht, vielleicht verfolgte sogar noch jemand außer mir irgendwelche höheren Ziele und sparte für die lebensrettende Notoperation seines Haustieres oder eine Brustimplantation, aber... für mich ging es um so viel, so unglaublich viel, dass ich selbst jetzt bei der bloßen Erinnerung noch schier einen Kreislaufkollaps erleide. Das ist kein Witz.

Und just in diesem Augenblick, als ich meinen Kopf mit reichlicher Mühe ein angestrengtes Stückchen weit anhob, um mir einen letzten Motivationsschub aus den Augen meines treuen, aufdringlichen, selbstverliebten Ritters zu holen, da fand ich den Platz an meiner Seite leer und verlassen vor. Nur etwa einen Meter weiter stand ein wohlbeleibter Mann mit leicht angegrauter Haarpracht und Perlmuttanzug, der meinen fragenden Blick mit einem derart schmierigen Grinsen quittierte, dass es mir wiederum beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Ich schluckte. Gut - es war kindisch. Lächerlich. Vielleicht sogar peinlich. Aber in diesem Moment - also der, in dem ich Tatsumis Abwesenheit bemerkte - da fühlte ich mich noch so viel schrecklicher als zuvor, dass ich mich ernsthaft beherrschen musste, um nicht gleich wieder auf Händen und Füßen aus der Halle zu flüchten.

Ich wusste natürlich nicht warum. Eigentlich weiß ich es noch immer nicht. Aber... in meine Augen trat so eine merkwürdige Panik, die sie wieder und wieder über das schillernde Bildnis des Pseudo-Festsaales trieb, auf hilfloser Suche nach Tatsumis blondem Haarschopf... aber was soll ich sagen? Da waren verdammt viele blonde Haarschopfe und alle wuselten sie durcheinander wie eine Horde psychotischer Lemminge auf dem Weg zum Massenselbstmord. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Diese Situation war entsetzlich! Grauenvoll! Ich konnte ja nicht mehr weg von dieser Türe, im Gegenteil, ob ich wollte oder nicht, ich wurde mitgerissen im Strudel der Schönheit, dabei hatte ich doch eigentlich ganz und gar andere Dinge im Sinn! Aber was hätte ich tun sollen?

Haben Sie schon einmal einen dieser dramatischen Filme gesehen, in denen die strahlenden Helden und Antihelden irgendwann jenen mystischen Punkt erreichen, von dem an es kein zurück mehr gibt? Geben soll. Denn eigentlich ist es ja Unsinn - umkehren kann man immer, gut, vielleicht nicht, wenn man zwischen dem 20. und 21. Stock eines Hochhauses im Aufzug festsitzt, so ganz kurz nach Geschäftsschluss... vielleicht auch nicht, wenn man sich in geheimagentischer Selbstüberschätzung auf irgendeine einsame Tropeninsel jenseits unserer Zivilisation manövriert hat, oder in die exakte Mitte eines blutrünstigen feindlichen Sondereinsatzkommandos... aber sonst ist das doch alles nur Gerede, eine Schranke im Kopf, ach, es mag sich ja gut und nervenaufreibend und ganz besonders heroisch anhören, trotzdem ist es Unsinn - wenden und weglaufen konnte man entweder schon vorher nicht, oder man kann's auch nachher noch.

Glauben Sie.

Glaubte ich auch - bis zu jenem Abend, an dem ich diesen berühmten Point of no Return mit eigenen Füßen überschritten habe. Genau in diesem dunkelsten Augenblick bin ich nicht mehr umgedreht. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Nicht mehr. Und obwohl ich ganz genau wusste, dass mir keine strahlende Mutter, kein vor Stolz schier platzender Vater, nicht einmal ein eifersüchtiges Geschwisterlein aus der vordersten Reihe entgegenwinken würde... dass selbst mein letzter Mitstreiter mich verlassen hatte und ich jetzt vollkommen und so sehr wie niemals zuvor allein war... ich musste und ich würde es durchziehen.

In den nächsten flüchtigen Stunden stand mehr auf dem Spiel als jemals zuvor in meinem Leben.

Und die Spiele konnten beginnen.
 

Fortsetzung folgt!



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Sakurajima
2004-07-24T12:07:19+00:00 24.07.2004 14:07
WAHHHHHH!!! Die Story is ja klasse! Njahahaa
Ehrlich gesagt, habe ich jetzt keine große Lust einen langen Kommentar darüber zu schreiben, was für einen geilen Schreibstil du hast und dergleichen. Ich denke, dass weißt du auch so ^^
Also beschränke ich mich auf den Satz: "Supi!! Lass uns nicht lange zappeln und schreib weiter! Denn ich HASSE Enden!!! Wuuuhuuuuu.... *heul* Also hopp hopp! ^^
Von: abgemeldet
2004-06-12T17:46:09+00:00 12.06.2004 19:46
genial, genial, genial! habe ich schon erwähnt, dass diese story genial ist?
echt, sie ist einfach fantastisch und ich bin unheimlich gespannt, wie es wieter geht. dein schreibstil ist grandios und ist einfach fesselnd. ich konnte mich einfach nicht von der story lösen, bis ich das letzte kapitel durch hatte.
deswegen hoffe ich ganz sehr, dass der nächste teil ganz schnell kommt!

*knuddel*
mel
Von: abgemeldet
2004-05-23T09:54:58+00:00 23.05.2004 11:54
Nyuhuhu...
ich habe es schon lääängst gesehen.. Nur ist das Kind mal wieder zu arm... halt, zu gestresst für irgendetwas...
.______________.
Gomen. Nyu, des war... X3 Hammer, und so schön lang... *freu*

Hach, es ist so genial... und es entwickelt sich ja sososososoooo~ niedlich!! Echt, ey!
Und so ungefäht stimme ich Yoko zu, sry aber, dass ich keinen so langen Kommi liefer...*ächz* Frage mich immer noch, ob ein Relaunch das wahre ist... *murmel* ach egal... mach einfach weiter, ne?*liebguck*büddö...
*_____________________________________*

Ich will wissen, die Jesse davon kommt, dann will ich wissen, was genau tatsumi hat, dann will ich diesen witzigen Erzählstil weiter geniessen...

*liebguck*

Ja ne

Peru-chin
Von:  killerkuerbis
2004-05-14T16:30:59+00:00 14.05.2004 18:30
Endlich! Endlich endlich endlich habe ich Zeit zum kommentieren!! Naaah, Schule - schrecklich!
Also, was wollte ich sagen? Achso, ich... liebe PredElection! Ich weis nicht warum, aber ich liebe es einfach! ^_^ Oder doch, eigentlich weis ich warum ich es liebe. ^-^ Ok, manchmal ist es etwas hinderlich, wenn man vor lachen fast erstickt, aber hey, die Story IST einfach super witzig und vor allem genial geschrieben! Ich weis nicht, ob ich das schon ein paar mal gesagt habe (wenn, sicher höchstens ein...oder zwei mal...oder auch öfter.) aber du schreibst wirklich wirklich genial! Wirklich! (<-- ich mag dieses Wort irgendwie in letzter Zeit ^^;).
Und zum Kapitel selbst?
Zuerst mal bewundere ich Jesse wirklich (schon wieder...) dafür, dass er auf 8 cm hohen Stöcklern nicht nur rumlaufen, sondern auch rennen kann. O.o Ich meine, ich hatte schon mal 6,5 cm hohe an, und das nur zum Essengehen und KANN zwar rein theoretisch drin laufen, aber praktisch sieht das Ganze dann doch etwas seltsam aus und wie sehr meine Füße danach geschmerzt haben will ich lieber nicht versuchen zu beschreiben. Also ich verbeuge mich vor dieser Leistung. *ganz tief verneig*
Ah, und als dieser Shane den/die arme/n Jesse geschlagen hat dachte ich wirklich es ist jetzt aus, vorbei, finite. Zum "Glück" war dann Tatsumi zur Stelle. Glück deshalb in Anführungszeichen, weil ich nicht behaupten kann, dass er mir bisher sooo sympathisch ist. Was aber eigentlich nur daran liegt, wie Aufgeräumt sein Zimmer ist. Ich weis nicht, aber ich liebe Chaos (oder was heißt ,liebe es'? Ich verbreite es gewollt oder ungewollt eigentlich überall... *drop* aber na ja, irgendwie mag ich's doch. <-- versteh einer welchen Sinn der Satz jetzt gemacht hat). Auf der anderen Seite kann ich mir denken (nja, vielmehr hoffe ich inständig) dass im nächsten Kapitel (<-- indirekte Aufforderung weiterzuschreiben) gelöst wird, warum der alles so penibel aufgeräumt hat. Oder macht der das freiwillig?
Und wie immer eigentlich mag ich das Ende nicht. Naja, das heißt nicht, dass ich DIESES Ende nicht mag, sondern dass ich Enden einfach allgemein nicht mag, weil's ja dann zu Ende ist, (nein, wirklich? ^^;;) und ich eigentlich wirklich gern weiterlesen würde. ^-^
So also, was gibt's noch zu sagen? Ich will das nächste Kapitel lesen!!! ^.^
Du schreibst halt einfach wirklich genial, da lässt es sich nicht vermeiden, weiterlesen zu wollen. ^__^
Also, noch ganz viele verrückte Grüße!! ^^
Yoko

PS: Preisfrage: wie oft kam das Wort "wirklich" in obigem Comment vor? Einsendeschluss ist egal, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Preise bereits in Planung und Arbeit. (*grins*)
Von:  Netti_2407
2004-05-09T00:57:04+00:00 09.05.2004 02:57
wow echt voll Klasse!
Du musst unbedingt weiter schreiben, ich will wissen was Jesse Noch alles pasiert!
MfG
Netti


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