Fakten
Seine Lordschaft wäre entzückt gewesen, hätte er gewusst, wie sehr sein Partherpfeil die Prinzessin traf. So begriff Tokushima allerdings erst, als die schwere Tür hinter ihm zugefallen war und die Bannkreise davor gelegt wurden.
Er vertrat die Anklage?
Ungewohnt zittrig lehnte sie sich gegen die Wand. Das war fast schlimmer als diese Mordanklage an sich. Trotz ihrer persönlich niedrigen Meinung über ihn und seinen Charakter, wusste sie genug aus eigener Erfahrung und durch die Erzählungen der Fürstin, dass dieser arrogante Hundeprinz ein sehr fähiger Ermittler war. Hätte er sie verteidigt, hätte er bestimmt den wahren Mörder gesucht und gefunden, sie hier herausgeholt. Aber er vertrat die Anklage! Sie atmete tief durch. Ihr war nur zu bewusst, dass er sie ungefähr ebenso wenig schätzte wie sie ihn – in dieser Situation war das verheerend.
Sie musste nachdenken. Sie war doch eine intelligente Frau. Er vertrat die Anklage – und er hatte es sich nicht nehmen lassen sie hier persönlich aufzusuchen, bestimmt, um sich an ihrem Unglück zu weiden. Dabei waren ihm allerdings auch die beiden Beweismittel entkommen, die gegen sie sprachen. Da war ihr Blut neben dem Toten und die Tatsache, dass sie gesehen worden war, auch der Streit mit Haru. Das ließe sich doch weg erklären....Ja. Wenn auf irgendjemand anderen genau so gute Indizien deuteten. Und exakt danach würde der Sohn des Inu no Taishou kaum suchen. Theoretisch sollte das zwar ein Ankläger tun und zwar objektiv, aber sie war nicht so weltfremd das schon für einen gewöhnlichen Beschuldigten anzunehmen, geschweige denn für sie selbst und diesem arroganten Hund. Sie müsste irgendwie das dem Fürsten darlegen, den darum bitten, dass dieser Sesshoumaru als Verteidiger einsetzte...
Aber, wie? Der Herr der Hunde galt als gerecht, aber sie bezweifelte dennoch, dass seine Haft bedeutete, dass Gefangene ihre Wächter mal eben als Boten zu ihm schicken konnten oder diese auch nur einen Brief überbrachten.
Nein, das sah nicht gut aus. Sie musste wohl oder übel die Gerichtsverhandlung abwarten, sich dort selbst verteidigen.
Falls es dazu käme, erkannte sie mit gewisser eiskalter Furcht, die durch ihre Adern zu schleichen schien.
Es war durchaus möglich, dass Lord Sesshoumaru seinem Vater die Anklage vorlegen, der Fürst das Urteil sprechen würde, aufgrund der Fakten, und sich ihre Interpretation nicht einmal anhören würde. Ihre Herrin würde kaum für sie bitten, dazu war deren eigene Lage doch ein wenig zu heikel.
Es sah geradezu katastrophal aus und Tokushima ertappte sich zum ersten Mal bei dem gewissen Bedauern sich ausgerechnet mit dem Erbprinzen angelegt zu haben.
Seine Lordschaft schritt derweil in Gedanken versunken durch das Schloss. Er bezweifelte, durchaus in gewisser Eigenliebe, die Täterschaft der holden Prinzessin. Tokushima war vieles, vor allem nervtötend, aber sie war intelligent. Sie würde niemals bewusst einen Dämon unter dem Dach des Fürsten umbringen, eingedenk der Tatsache, dass dieser wahrlich erbost wäre – und sie ihn, Sesshoumaru, als Ermittler am Hals hätte. Sie wusste doch, dass er mehr als fähig war.
Hatte sie Haru im Zorn getötet – warum hatte sie nicht aus eben diesen Überlegungen Wachen geholt und sich auf Notwehr berufen? Zu diesem Zeitpunkt musste ihre Verletzung noch deutlich sichtbar gewesen sein. Wieso also war sie nach dem Streit zu Mutter zurückgereist als ob nichts wäre? Sie war zu klug um nicht zu wissen, dass die Szene aufkäme, der Tote gefunden würde. Blinde Panik ihrerseits? Bei Tokushima? Unwahrscheinlich.
Hatte jemand den Streit der Beiden mitbekommen, war nachsehen gekommen, hatte Haru blutend und womöglich wütend vorgefunden, und den nächstbesten harten Gegenstand ergriffen um die Gelegenheit zu nutzen?
Möglich. Aber dazu besaß er noch keine Fakten. Es wäre gerade in diesem Fall, bei einer dermaßen offensichtlichen Täterin, nur ratsam, als Ankläger sorgfältig alle Spuren zu sichern, alle Tatsachen zu betrachten. Vater würde ein objektiver Richter sein – ein Grund, warum dieser nicht selbst die Ermittlungen führte. War Tokushima die Mörderin, so würde seine, Sesshoumarus, Anklage keinen Zweifel daran lassen. War sie es jedoch nicht...nun, es würde ein gewisses Vergnügen bereiten sich nicht nur Mutter zu verpflichten, sondern auch der arroganten und geradezu bissigen jungen Dame einen gehörigen Dämpfer zu verpassen.
Als er die Hütte des Heilers betrat, hörte er, wie dieser sagte: „Oh, Sakura, geh und erstatte Seiner Lordschaft Bericht. Ich ziehe Haru nur wieder an.“
Die Heilerschülerin gehorchte, sichtlich nicht überrascht, dass der Hundeprinz bereits hier stand. Eher war sie ein wenig verwundert wieder einmal seine Vorderseite zu sehen, als sie sich eilig niederkniete und zu Boden blickte, ihr nun, wie stets bei gewöhnlicher, blutiger, Arbeit geflochtener Zopf fiel neben sie.
Sie würde nicht ohne Aufforderung sprechen, dachte Seine Eisigkeit, ein guter Grund, sie selten bestrafen zu müssen. „Nun?“
„Haru starb eindeutig an massiver Gewalteinwirkung durch mehrere Schläge in sein Gesicht. Ein Schlag, mutmaßlich der erste, traf ihn so hart, dass er einen Zahn verlor. Der Täter war sicher ein Rechtshänder.“ Sie holte kurz Atem, schon, um ihm Gelegenheit zu einer Zwischenfrage zu lassen.
Diese kam prompt: „Warum der erste?“
„Der Zahn befand sich nicht mehr in seinem Mund, obwohl...Gewebefäden noch am Zahnfleisch hingen. Er hat ihn sich wohl herausgenommen.“
„Also verging Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Schlag?“
„So sagt mein verehrter Lehrer. Allerdings wohl nicht sehr lange.“
„Und der zweite Schlag?“
„Dieser und wahrscheinlich noch ein weiterer wurden mit einem harten, scharfkantigen Gegenstand geführt, mit sehr großer Gewalt. Es wurden Nase und mehrere Gesichtsknochen gebrochen. Neigi-sama vermutet, dass Knochensplitter in das Gehirn wanderten und dort den Tod brachten.“ Und sie war heilfroh gewesen, dass ihr Lehrer diese Untersuchung selbst geführt hatte. Sie kannte Haru als freundlichen, meist zu Scherzen aufgelegten Dämonenkrieger – so hatte sie ihn nicht sehen wollen. Sie hatte zum Glück eine andere Aufgabe bekommen: „Weder an Händen oder Unterarmen noch Beinen gibt es Zeichen einer Abwehrverletzung, Lord Sesshoumaru.“
Haru war ein Krieger, noch dazu ein so fähiger, dass er in Masarus Gruppe ausgebildet wurde. Unwahrscheinlich, dass ein ausgeschlagener Zahn, der noch dazu rasch wieder nachwachsen würde, ihn vollständig außer Gefecht gesetzt hatte. Eher hatte er seinen Angreifer – oder seine Angreiferin – gekannt und nichts Arges erwartet. Das würde tatsächlich für die Angeklagte sprechen, die ihn ja mindestens schon einmal geschlagen hatte. „Komm.“ Er wandte sich um.
Sakura war versucht ihren Lehrer zu fragen, ob sie mitgehen dürfe, aber das war sinnlos. Der alte Heiler hatte gegenüber dem künftigen Fürsten zurückzustecken. Und, das gab sie zu, sie war neugierig, wie Seine Lordschaft in einem Fall ermitteln würde, der ihm als Konstellation gefallen musste. Soweit sie aus Erfahrung wusste erfreuten sich er und Prinzessin Tokushima einer geradezu innigen Feindschaft.
Sie gingen also zum Tatort, erkannte sie kurz darauf, nicht überrascht, dass zwei Krieger vor der Tür postiert waren, die sich vor dem Sohn des Hauses nur verneigten und hastig öffneten. Sakura folgte ihm, kniete jedoch unverzüglich neben dem Eingang nieder.
Sesshoumaru blickte sich in der schmalen Kammer um. Ein vergittertes Fenster dem Eingang gegenüber, eine Truhe darunter, sicher für die Kleidung, eine Matte mit Decke, auf beiden Stoffen Blutlachen, am Kopfende der Holzkeil, der als Kopfstütze beim Schlafen diente, so Mensch oder schwacher Dämon das benötigten. Dieser lag verschoben: „Passt der Holzkeil zu den Verletzungen?“
„Ich werde ihn auf Blut untersuchen,“ bot sie an. Bei diesen Gesichtsverletzungen – wie hätte man die Ursache finden sollen?
Da er sich nur abwandte nahm sie es als Bestätigung und eilte hinüber, kniete erneut nieder um den Klotz zu untersuchen, während sich der Hundeprinz den Rest des Zimmers ansah. Umgeworfen lag dort ein hölzerner, dreibeiniger Schwertständer, das Schwert noch darin. Direkt vor seinen Füßen war ebenfalls Blut und er war trotz der intensiven Witterung dort von dem Lager sicher, dass dies das Blut einer zweiten Person war – Tokushimas im Zweifel. Sie hatte also hier gestanden, als Haru sie schlug. Er musste noch einmal mit ihr reden, worum genau es gegangen war. Sie mochte nicht darüber sprechen, das war klar, aber sie musste, wollte sie am Leben bleiben.
Er drehte sich um, als er bemerkte, dass ihn jemand anblickte: „Masaru?“ Dieser stand vor der Tür. Was wollte denn der Ausbilder von ihm? Aber Moment, womöglich konnte der ihm etwas über das Opfer erzählen. Nun, sicher, schließlich gehörte Haru ja zu dessen Sondergruppe.
Der alte Krieger verneigte sich lieber mehr als höflich: „Ich sah gerade Euer Lordschaft.....Habt Ihr Anweisungen?“
„Komm später in mein Zimmer. Ich möchte Auskunft über Haru. Und dann auch mit den anderen Vieren deiner Schüler sprechen.“
„Natürlich, Lord Sesshoumaru. - Auch mit Takeru?“
Der Hundeprinz überlegte eilig. Bei dem Namen hatte solch eine Verwunderung mitgeschwungen: „Er ist doch auch in deiner Gruppe?“ fragte er daher zurück. Er hatte keine Ahnung, wer in dieser Sonderausbildung steckte, da ihm das ziemlich gleich war. Bestand jemand und wurde Hauptmann so musste er ihn kennen, darauf bestand Vater, aber zuvor merkte er sich bestimmt nicht jeden Namen im Schloss.
„Ja, selbstverständlich, Euer Lordschaft. Ich dachte nur....Heerführer Kaito könnte es besorgt machen. Aber natürlich, Ihr wünscht die Gruppe zu befragen, um die Schuld der....Prinzessin festzustellen.“
Und das war ein Hauptmann, ja, deren Ausbilder? „Die Schuldfrage entscheidet allein mein Herr und Vater“, korrigierte Sesshoumaru prompt eisig, während er begriff: dieser Takeru war wohl der Sohn des Heerführers. Na und? War Tokushima die Mörderin wurde sie hingerichtet. War es jemand anderer, eben dieser. Das war nur eine logische Folge der Tat. Und Dämon und Mensch hatten mit den Konsequenzen ihrer Taten und Entscheidungen zu leben.
„Vergebt, ich habe mich falsch ausgedrückt, ich wollte selbstverständlich nicht meinen verehrten Herrn und Fürsten beleidigen.“ Masaru stellte für sich fest, dass er nervöser war als gewöhnlich. Er galt eigentlich als Mann mit eisernen Nerven, aber sich so direkt mit dem Erbprinzen befassen zu müssen, noch dazu in solch einer Situation, gehörte nicht zu den Dingen, die einen besonders gelassen ließen. Es gab durchaus eine längere Liste von Dämonen, die dieses Zusammentreffen aus weit harmloseren Anlässen nicht überlebt hatten, einige davon auch aus dem Schloss. Und den Inu no Taishou abzuqualifizieren war auch in Gegenwart seines Sohnes ein in aller Regel letzter Fehler. „Wenn Euer Lordschaft gestattet hole ich die Jungen und bringe sie dann mit zu den Räumen Euer Lordschaft.“
„Geh.“ Ein wenig missgestimmt sah sich der Dämonenprinz nach einem vernünftigeren Wesen um: „Sakura?“
„Ich finde an dem Holzkeil keinerlei Blut, Lord Sesshoumaru,“ stellte sie sich verbeugend fest. Sie wusste aus Erfahrung, wann es gefährlich wurde nicht die Etikette perfekt einzuhalten: „Ganz sicher könnte es wohl ein Hundedämon sagen....Aber wenn ich eine Vermutung äußern darf? Danke. Diese Kanten oder auch die Breitseite scheinen mir weniger zu passen...“
Dann blieben zwei andere, nein, drei Möglichkeiten. Er blickte sich erneut um. War die Tatwaffe mitgebracht und nach dem Mord wieder mitgenommen worden? Das spräche gegen eine spontane Entscheidung, obwohl doch niemand hatte wissen können, dass sich Haru und die reizende Prinzessin derart in die Haare geraten würden. Die Truhe? Konnte ihn jemand gepackt und gegen den Rand der hölzernen Truhe gestoßen haben oder gar geschlagen? Nein. Haru hatte keinerlei Abwehrverletzungen, das wäre ungewöhnlich bei einem ausgebildeten Krieger. Die dritte Alternative war der Schwertständer. Und ja, wenn er sich konzentrierte....Er trat näher. Ein kaum wahrnehmbarer Blutgeruch, den der vom Lager für Neigi wohl verdeckt hatte. „Hier.“
Zu seiner Zufriedenheit kam sie sofort neben ihn, kniete zu seinen Füßen nieder, wartete jedoch auf einen weiteren Befehl.
So fuhr er fort: „Hier daran ist Blut, das aber vermutlich abgewischt wurde. Passt dies zu den Verletzungen?“
Sakura musterte den dreibeinigen hölzernen Ständer: „Ich vermute, Lord Sesshoumaru. Aber....“ Nein, nicht vorlaut werden, nicht, wenn er ermitteln musste und sowieso gereizt wirkte.
Sie hatte in aller Regel brauchbare Einfälle: „Rede.“
„Danke. Das Schwert müsste dann doch herausgefallen sein?“
Ja. Und als der Täter den Ständer abwischte, hastig vom Blut säuberte, steckte er das Schwert zurück. Um die Tat zu verschleiern? Tokushima als Mörderin darzustellen? Das Tuch wäre sicher schon gründlich entsorgt, verbrannt, vergraben. In einem Schloss voller Hundedämonen war jedem diese Gefahr bewusst. Nun gut. Jetzt musste er erst einmal mit Masaru und dessen Schülern reden. Und dann mit der holden Prinzessin.
Was für ein Leben!