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1945

von

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III - Winter


 

Kapitel III - Winter

"Häschen, vor dem Hunde hüte dich, hüte dich.

Hat gar einen scharfen Zahn,

packt damit mein Häschen an.

Häschen lauf, Häschen lauf, Häschen lauf."
 

-*-
 

1942. Die Welt brennt. Wie viele Höllen hatten die Nationen dieser Erde schon durchlebt?
 

Welche war die schlimmste für Deutschland – Verdun? Die „Knochenmühle“?
 

Sicher, Verdun war ein Wendepunkt gewesen. Mit Verdun war Gilbert endgültig bewusst geworden, wie grundlegend sich die Welt verändert hatte – nein, nicht die Welt. Nicht einmal die Menschen hatten sich wirklich verändert. Es waren vielmehr die geistigen Kinder der Menschheit, ihre Erfindungen. Ihre Maschinen, ihre Technik. Die Menschen waren wie sie immer schon gewesen waren – wankelmütig, unüberlegt, extrem in ihren Gefühlsregungen. Strebsam. Voller Hoffnung, dass die Zukunft immer besser als die Gegenwart sein würde.
 

Es war eher der Aufbruch in eine Epoche, die so vieles Althergebrachte über den Haufen werfen würde, oder es so erscheinen ließ, als hätte sich die Welt grundlegend verändert. Die rasanten Entwicklungen und Erfindungen, mit denen die Menschen selbst kaum noch Schritt halten konnten.
 

Ludwig war noch zu jung, um die Tragweite dieser Veränderung vollkommen zu begreifen – doch Gilbert, der Franzose und der Österreicher, sie hatten alle schon so lange gelebt, dass sie die Zeiten vor Gewehren, Granaten, Senfgas und Mörser noch gut kannten. Sie waren aufgewachsen mit hartem Stahl, mit geschliffenem Stein und kunstvoll geschnitztem Holz. Das Leben war anders, damals –

Und genau so das Sterben.
 

Menschen sind zum Material geworden. Sterben die Soldaten an der Front, so werden sogleich neue nachgeschickt, um sie zu ersetzen. Die die nachkamen waten im Schlamm in dem ihre zerfetzten Kameraden liegen, manch armer Teufel mehr lebendig als tot. Der Boden ist zerbombt von Granaten, aufgeweicht vom Regen. Eine Jauche, in der sich abgesprengte Zähne, Knochensplitter, Unrat und anderer Krankheit erregender Dreck zugleich tummeln.
 

Das, all das war Verdun.
 

Doch ein neuer Meilenstein wird sich auf ewig in das Gedächtnis aller brennen, die an diesem Krieg beteiligt waren, die gelitten und gekämpft und gehofft haben. Ein Ereignis, das den Mythos der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht entlarven wird. Eine Schlacht, die der Anfang vom Ende für die Deutschen bedeuten wird.
 

-*-
 

"Die unheilgeschwängerte Nacht zum 19. November 1942 ist hereingebrochen.

Stille liegt über dem Land. Nur die Stimme aus Moskau hämmert unermüdlich, monoton.
 

Alle sieben Sekunden stirbt ein deutscher Soldat.

Stalingrad: Massengrab!"
 

-*-
 

Es sind einige Monate vergangen. Wir schreiben das Jahr 1943.
 

Der Russe steckt sich das, was er dem Preußen genommen hat, in seine linke Manteltasche. Er beugt sich zu dem nach Luft schnappenden Mann herunter und wischt seine mit Blut besudelte Hand an dessen Uniformjacke ab. Unverwandt blickt er auf das Gesicht des anderen herab, der augenscheinlich mit dem Tode ringt.
 

Das Gesicht des Mannes, der blutend im Schnee liegt, ist kaum wiederzuerkennen. Sein verbliebenes linkes Auge ist weit geöffnet, sein Blick zittert zwischen Horizont und Himmel ziellos hin und her, scheint durch Ivan hindurch zu sehen. Aus seinem Mund dringt unverständliches Gebrabbel, zwischen angestrengten Luftzügen, die zu flach sind, um von Nutzen zu sein. Rotz läuft ihm aus seiner Nase und Tränen aus seinen Augen. Sein silbernes Haar liegt matt und blutnass an seinem Schädel und formt einen schmutzigen, blutroten Kranz.
 

Aus der Wunde in seiner Brust sickert das Blut wie aus einer nicht versiegenden Quelle.

Nichts ist übrig von der sonst so stolz dreinblickenden Nation, dem Preußen mit den stechenden roten Augen und dem silberblonden Schopf.
 

Langsam verebbt der blendende Hass, der Ivan zuvor gepackt hatte, der unter seiner Haut zu brennen schien und ihn zum beben gebracht hatte. Es wird wieder leise in seinem Kopf, das durchdringende und wütende Schreien seiner Kinder verstummt. Er reißt sich vom Anblick des Preußen los und entfernt sich ein paar Schritte von ihm, tief und langsam ein- und ausatmend.
 

Ein Gefühl von schmerzender Leere macht sich in Ivans Brust breit. Er kann es nicht verhindern. Obwohl der Preuße und dessen Bruder ihn hintergangen haben und in sein Land eingedrungen waren, obwohl er seine Kinder und seine Soldaten geschlachtet und verbrannt, gehängt und vertrieben hatte - es hätte alles anders kommen können. Doch nun ist es vorbei. Endgültig.
 

Als Ivan das bewusst wird, steigt erneut Wut in ihm hoch. Wut auf Preußen, seinen Bruder, ihren wahnsinnigen Führer, seinen eigenen furchteinflößenden Vorgesetzten. Erinnerungen an vergangene Zeiten, vor über hundert Jahren, suchen ihn heim - der kleine Ritterorden, der ihm keck versprach, ihn eines Tages für sich einzunehmen und zu bekehren, die gemeinsame Schlacht gegen Napoleon mit dem Österreicher ... Seite an Seite auf demselben Schlachtfeld ... Und dann, ein gemeinsamer Sieg. Geteilte, ehrliche Freude und ein flüchtiges Gefühl von Verbundenheit.
 

All das bedeutet nichts.
 

Sein Land ist verwüstet, geleert, ausgehöhlt wie ein fauler Zahn. Russland hatte ganze Landstriche in Flammen gesteckt, nur damit die Deutschen sie nicht für sich nutzen konnten. Vieh getötet, Felder verbrannt. Warum niemand jemals daraus lernte, was es hieß, den Russen auf seinem eigenen Grund und Boden anzugreifen, würde er nie verstehen.
 

Stumm kehrt Ivan um und tritt ein letztes Mal an den Deutschen heran. Er greift nach dem Eisernen Kreuz, das an seinem Kragen prangt, zieht daran bis es abreißt und wirft es im hohen Bogen hinfort. Es bedeutet nun nichts mehr, ist nichts als das Überbleibsel eines Besiegten und bald Toten. Der Deutsche atmet immer noch - Sturkopf, denkt Ivan hämisch.
 

"Dies ist mein Abschied von dir, Preußen", spricht Ivan leise. Er überlegt einen Moment, sucht nach den richtigen Worten. Doch es scheint, als gäbe es sie schlichtweg nicht. Was sagt man zu jemandem, der bald tot sein wird? Jemand, dem man die Gnade ihres Schöpfers nicht ehrlich wünschen kann? Jemand, mit dem man hätte Freundschaft schließen können?
 

"... ich wünschte, es wäre nicht so gekommen", beendet Ivan seinen Gedankengang. Und es ist die Wahrheit. "Nun gehen wir getrennte Wege. Ich ins Leben, du in den Tod. Welcher Weg der bessere ist, das weiß nur Gott."
 

Das ist alles, was es zwischen ihnen noch gibt. Und selbst das ist nicht viel.
 

Ivan steht auf und wandert davon.
 

Er schaut nicht einmal zurück.
 

-*-
 

Der deutsche Soldat humpelt, schwankt und fällt blutend zu Boden.
 

Es macht kaum ein Geräusch, als sein Körper in den Schnee stürzt. Eine Weile bleibt er liegen, während zarte Schneeflocken langsam zu Boden taumeln - dann, unendlich langsam, sammelt er sich und hievt sich hoch. Auf Knien kriechend, erreicht er schließlich eine Tanne, an die er sich lehnt und zusammensackt.
 

Die rechte Hälfte seines Gesichts ist unter dem Blut kaum auszumachen, sein Auge geschwollen und geschlossen. Er ringt nach Luft, die ihm trotz aller Anstrengung verwehrt zu bleiben scheint. Sein verbliebenes Auge starrt in die Leere.
 

-*-
 

Mit jedem Luftzug kriecht die Kälte tiefer in mich hinein. Meine Kehle brennt.
 

Ich will die Augen schließen, doch kann es nicht.
 

Der Schnee fällt weiter, teilnahmslos.
 

Ich höre nichts mehr - da waren einmal Melodien, Stimmen, zu einer Zeit lange vor dem Jetzt. Doch ich kann mich nicht an sie erinnern - meine Gedanken gleiten an ihnen herab, wenn ich versuche, Erinnerungen zu erwecken.
 

Es dauert.
 

Jemand spielt Flöte.
 

Da waren einmal Gesichter. Vertraute. So etwas wie Familie.
 

Ich war einmal ein Königreich. Dann ein Kaiserreich. Dann ...
 

Ein Junge mit Sand in den Haaren und dem Himmel in seinen Augen.
 

Niemand ist da, der mir meine Augen schließen könnte. So bleiben sie offen und schauen, unbewegt, in den Horizont, der sich rot, dann blau, dann schwarz, schwarz, schwarz, schwarz, dann violett, dann rot, dann orange, dann wieder blau färbt. Sterne erscheinen, funkeln und verschwinden, ein Blinzeln aus einer weit entfernten Welt. Die Sonne, eine trübe milchige Scheibe im Himmel, steigt auf und wandert, wandert, wandert, wandert, und versinkt wieder.
 

Der gleiche Himmel, in den ich schon als Kind geblickt hatte, mit denselben durchdringenden, roten Augen. Augen, die meiner Gefolgschaft stets etwas Unbehagen bereitet haben. Als kleiner Junge, ein viel zu schweres Schwert in den kleinen blassen Händen haltend, nur getrieben von dem Wunsch zu Überleben und stark zu werden, stärker und größer ...
 

Vereinzelt erscheinen Tiere - Schneefüchse, Wölfe, Schneehasen. Sie scheinen kaum Notiz von mir zu nehmen, schauen mich flüchtig mit dunklen Augen an und bleiben mir fern. Als ahnten sie, dass das was ich bin nicht eins der ihren ist - etwas wider der Natur.
 

Etwas, das weder leben noch sterben kann.
 

Gefangen zwischen Leben und Tod.
 

Keines von ihnen verharrt, und sie verschwinden mit der gleichen Gleichgültigkeit mit der sie erschienen sind. Verfügte ich über die Fähigkeit zu hoffen oder zu wünschen, dann würde ich darum flehen, dass etwas geschehe mit mir, etwas anderes, als dass die Schneeflocken sich auf meinen Gliedern zu einer immer dicker werdenden Schicht ansammeln. Etwas anderes als die Sonne und der Mond, die meinen Körper abwechselnd mit Licht bescheinen, im Himmel stehen und auf mich herabblicken als würden sie mich beide verhöhnen.
 

Es ist, als ob die Erinnerungen, die ich einmal hatte, wie Murmeln in meinem Kopf liegen, unbewegt und unerreichbar. Manchmal regnet es und das Wasser rollt an meinem Körper herab, trommelt auf meinen leeren Kopf. Selbst er kann nichts in mir erwecken, auch wenn er mich berühren kann.

Es ist kalt. Dann ist es wieder warm.
 

Eindrücke dringen an mich, taumeln aber sogleich in die Tiefe in mir herab. Ich kann sie nicht greifen. Da war ein kleiner Junge und dann ein junger Mann, aber ich weiß nicht mehr wie er hieß - ich weiß nur, dass er mein Bruder war. Da war ein Mann, der seine blassblonden Haare im Pferdeschwanz trug. Er brachte mir das Flöte spielen bei. War ich gut darin? War es einfach für mich, es zu lernen, oder widerstrebte es mir?
 

Ich weiß nichts mehr mit Gewissheit.
 

Manchmal bilde ich mir ein, riechen zu können. Die Kälte in der Luft, die in meine Nase dringt, mit jedem Atemzug. Sie riecht klamm, fahl. Verbraucht. Oder bin ich das selbst?
 

Wie riecht ein Körper ohne Leben, der nicht weniger werden kann?
 

Die Wolken wehen, werfen Schatten. Jeder Tag reiht sich hinter den vorigen, ohne dass etwas Nennenswertes passiert. Dies ist mein Fegefeuer. Gefangen in der Gleichgültigkeit der Natur, die beobachtet doch nicht eingreift, gefangen im eigenen Körper, der nunmehr ein leeres zersprungenes Gefäß ist, dem meine Seele in einem Rinnsal zu entfliehen versucht. Doch ich bin gezwungen zu verharren, mein Geist fest verankert in dieser vollkommenen Einöde.
 

Gehört habe ich schon lange nichts mehr, als Jemand in mein Blickfeld tritt. Ich weiß nicht, ob ich erschrecke. Ob ich es noch kann. Erst glaube ich an eine Überlieferung - ist jemand gekommen, um mich zu holen?
 

Instinktiv weiß ich jedoch, dass der Fremde kein Engel ist. Er ist nicht mal fremd.
 

Ich erblicke langes, ergrautes Haar, das ihm im Pferdeschwanz über die Schulter hängt.
 

Ein vertrauter Mund, der mich anlächelt.
 

Ich weiß nicht genau, wer er ist.
 

Doch ich glaube, ich habe ihn mal geliebt.
 

Er spricht - die gedämpften Worte dringen wie durch Watte an meine Ohren, ich verstehe sie nicht. Ein quälendes Gefühl der Hilflosigkeit steigt in mir empor und ich möchte schreien, weinen, doch meine Zunge bleibt trocken und unbewegt in meinem geschlossenen Mund liegen.
 

Er spricht, immer noch - hör auf, hör auf! Ich kann dich nicht verstehen!!, flehe ich und endlich, endlich streckt er seine Hand aus und schließt mit ihr meine Augen, und die Welt um mich herum versinkt in Dunkelheit. Sind das Tränen, die mir heiß über die Wangen laufen?
 

Hier in der Tiefe der Ewigkeit liege ich,
 

kalt und allein,
 

und höre das Rauschen in den Bäumen.
 

Alles verschwindet in Stille.
 

Nichts ist geblieben.
 

Ich habe Ruhe gefunden.
 

... nein.
 

"Häschen in der Grübe saß und schlief, saß und schlief,

armes Häschen bist du krank,

dass du nicht mehr hüpfen kannst?

Häschen hüpf, Häschen hüpf, Häschen hüpf!"


 

-*-
 

Gilbert wachte auf.
 

-*-


Nachwort zu diesem Kapitel:
A/N; Endlich habe ich es geschafft, dieses Kapitel abzuschließen! :') Es hat mir einiges an Kopfzerbrechen bereitet, und ich bin mir im Klaren darüber, dass ich dem Leser so einiges abverlange mit dem ständigen Wechsel von POV und Tenpus - aber alles hat für sich schon seinen Sinn, und es ist auch durchaus gewollt dass man nicht alles auf einem silbernen Tablett serviert bekommt sondern ein bisschen nachdenken muss, bis man alles versteht was in der Geschichte so angedeutet wurde. Es war eine Herausforderung, Gilberts Perspektive einzunehmen und zu schildern was wohl in ihm vorgegangen sein mag zu dieser Zeit - ich hoffe, es ist mir irgendwie gelungen. Da ich mich eher als Künstler als als Autor sehe, hätte ich alles viel lieber gemalt als geschrieben, da mich Worte etwas beschränken - ich bin den Umgang mit Worten schlichtweg weniger gewöhnt, als den Umgang mit dem Zeichentablett/Stift und Papier.

Ich hoffe es hat euch gefallen - über Reviews und Feedback jedlicher Art würde ich mich sehr freuen! :) Komplett anzeigen

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