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Sam Parker

von

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Angekommen

Sam Parker
 


 

Als ich das große, weit offen stehende Tor durchschritt, beschlich mich ein Gefühl, das ich in diesem Ausmaß noch nie gespürt hatte. Eine mich verwirrende Mischung aus Neugier, Angst und Vorfreude, die mich erzittern ließ.

Mein Blick wanderte in Richtung Himmel. Er war strahlend blau, wie es sich für einen Sommertag gehörte. Kein Wolke war zu sehen, die meine Stimmung betrübt hätte. Die gute Laune, die ich schon seit dem gestrigen Tag verspürte, machte sich durch das seltsame Gefühlsmischmasch bemerkbar und sorgte dafür, dass ich meinen Schritt beschleunigte. Ich joggte die von hohen, knorrigen Bäumen gesäumte, schattige Einfahrt hinauf und konnte meine Blicke nicht bei mir behalten. Meinen Koffer hinter mir herziehend, beinahe ungehalten darüber, dass er mich aufhielt, hetzte ich vorwärts, inzwischen fast rennend. Dann stand ich schließlich auf dem Hof. In der Mitte war ein großer, sprudelnder Springbrunnen, dem man sein Alter genauso ansehen konnte wie dem Gebäude, das sich vor mir aufbaute. Trotz Restaurationen und Sanierungen hatte das Haupthaus wohl mehrere hundert Jahre auf dem Buckel. Und eben diese Tatsache schickte mir einen Schauer den Rücken hinunter. Schon immer hatte ich solch alte Gemäuer geliebt. Und nun sollte ich in einem wohnen. Fantastisch.

In diesem Moment konnte ich jemanden die Eingangshalle gegenüber verlassen sehen. Ein Mädchen in meinem Alter, sie trug bereits die Schuluniform, die ich noch im Koffer hatte. Scheinbar war sie spät dran, auf jeden Fall rannte sie über den Hof und betrat eines der drei Nebengebäude, die den Hof säumten. Vielleicht hatte sie verschlafen. Ich für meinen Teil war heute Nacht viel zu aufgeregt gewesen, um schlafen zu können. Dementsprechend müde war ich. Auch wenn ich es ungern vor anderen Leuten zugab, diesen Schulwechsel mitten im Schuljahr hatte ich gebraucht. Jeder Ziegelstein meiner alten Schule, jeder Tisch, jede Person erfüllte mich mit so tiefem Abscheu, dass ich mich jeden Tag hatte zwingen müssen, dorthin zu gehen, wenn ich nicht sogar gleich zuhause geblieben war. Auch meine Mutter hatte das nicht besser gemacht. Sie, die mich zwang, in die Schule zu gehen, weil sie einfach keine Ahnung hatte, wollte einfach nicht verstehen, was mich bewegte, was mir die Kehle zuschnürte, wenn ich in den Schulbus einstieg und kurze Zeit später das Gebäude vor mir auftauchte.

Doch das war jetzt glücklicherweise vorbei. Da meine Mutter mit ihrem Latein am Ende gewesen war und sie nicht mehr wusste, wie sie mich dazu bewegen sollte, in die Schule zu gehen und mein Leben nicht in den Sand zu setzen, hatte sie kurzerhand einen Schulwechsel organisiert. Nun sollte ich dieses Internat hier besuchen, eines der strengsten, das dieses Land zu bieten hatte. Sie hatte wohl erwartet, bei mir auf Widerstand zu stoßen, doch um genau zu sein, war dies das Beste, was mir hatte passieren können. Sie wusste es nicht, aber sie hatte mir damit meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt.

Ich ließ den Griff meines Koffers los, streckte beide Arme von mir und räkelte mich in dem Sonnenlicht, das an manchen Stellen durch das dichte Blätterwerk der Bäume drang. Es war wunderschön hier. Und in der Luft lag ein wundervoller Geruch nach Neuanfang.
 

Wenige Stunden später saß ich auf meinem neuen Zimmer, das ich mir mit einem Mädchen teilen würde, das momentan noch beim Unterricht war. Bisher hatte sie alleine gewohnt, weil ihre Zimmergenossin die Schule gewechselt hatte. Wahrscheinlich würde sie sich ihr Einzelzimmer zurückwünschen, doch ich konnte es ja nicht ändern.

Die Zimmer waren nicht besonders groß und relativ spartanisch eingerichtet. Zwei Betten mit relativ harten Matratzen, ein Waschbecken, zwei Kleiderschränke, zwei Schreibtische. Die Zimmerseite meiner Mitbewohnerin war mit Postern und anderen Dingen dekoriert, strahlte eine gewisse Jugend und Behaglichkeit aus, meine Seite war kahl und weiß, unfreundlich und uneinladend, doch davon ließ ich mich nicht beirren. Ich hob meinen schweren Koffer auf das Bett und war einen Moment lang traurig darüber, dass meine Mutter mich nicht hatte herbringen können. Sie war mit ihrem Chef auf Geschäftsreise gegangen und würde wohl nicht vor nächster Woche zurückkommen. Zudem war sie in letzter Zeit so schlecht auf mich zu sprechen gewesen, dass sie mich wahrscheinlich nicht einmal hergebracht hätte, wenn ich sie weinend darum gebeten hätte.

Kurz schlug ich die Augen nieder, dann öffnete ich meinen Koffer. Viel hatte ich nicht mitgebracht. Immerhin würde ich hier nur während der Schulzeit wohnen. Und außerdem... hing ich nicht an meinen alten Besitztümern. Diese Schule bedeutete für mich einen Neuanfang, den ich so dringend brauchte. Meine fünf Schuluniformen waren schnell im Schrank verstaut, ebenso die wenigen anderen Kleidungsstücke, die ich noch mitgebracht hatte. Montag bis Freitag musste hier in der Schule die Uniform getragen werden. Jeweils an den Nachmittagen nach Ende der offiziellen Unterrichtszeit um sechzehn Uhr durften sich die Mädchen umziehen. Als alles im Kleiderschrank verstaut war, betrachtete ich die Schuluniform noch einmal, wie wohl schon tausende Male zuvor. Sie war schlicht und viele hätten sie als hässlich bezeichnet, mir jedoch gefiel sie eigentlich ganz gut. Die Sommeruniform bestand aus einem ärmellosen weißen Hemd mit locker gebundener blauer Schleife um den Kragen und einem mittellangen blauen, schlicht geschnittenen Rock. Das Ganze wurde von simplen schwarzen Halbschuhen vollendet. Den Schülerinnen war es zudem verboten, auffälligen Schmuck zu der Uniform zu tragen. Außerdem wurde, so hatte ich gehört, das perfekte Sitzen der Schuluniform kontrolliert und bei Nichteinhaltung der Regeln auch bestraft.

All das mag unheimlich streng klingen, doch mir gefiel es. Es war, dachte ich, genau das Richtige für mich, genau das, was ich brauchte.

Ich widerstand dem Drang, die Schuluniform anzulegen und schloss den Kleiderschrank wieder. Stattdessen ging ich wieder hinüber zu meinem Koffer und holte die wenigen Andenken an meine Vergangenheit heraus, die ich mitgebracht hatte. Ein Foto von meiner Mutter und mir, vor drei Jahren bei unserem Badeurlaub entstanden. Ihr braungebranntes Gesicht, halb unter ihrem Sonnenhut verborgen, den sie so geliebt und nie ausgezogen hatte, strahlte mir entgegen. Sie hielt mich fest im Arm und auch ich strahlte. Zu dieser Zeit war noch alles in Ordnung gewesen. Sie hatte mich geliebt, ich hatte ihr ja auch keine Probleme bereitet. Ich war immer ein braves Kind gewesen, nie hatte ich ihr Scherereien gemacht, ich war gut in der Schule und höflich. Nun, das alles hatte ja ziemlich abrupt sein Ende gefunden.

Das Foto fand seinen Platz auf meinem Nachttisch, zusammen mit meinem großen, altmodischen Wecker. Dann holte ich einen zerfledderten, an mehreren Stellen geflickten Kuschelbär aus dem Koffer. Er erinnerte mich an noch ältere Zeiten und fand seinen Platz in einer Ecke meines Bettes, wo ich ihn, wenn mir die Tränen kamen, schnell erreichen konnte. Mein Vater hatte ihn mir geschenkt, zu meinem dritten Geburtstag, wenn ich mich recht entsann. Ein halbes Jahr, bevor er mit unserer Nachbarin durchgebrannt war. Die Postkarte, die ich vor vier Jahren von ihm bekommen hatte, legte ich unter mein Kopfkissen, wo sie immer lag.

Meine Malsachen verstaute ich in meinem Schreibtisch, ebenso wie die Schulsachen, die ich mitgebracht hatte. Und viel mehr war es auch nicht, was ich aus meinem alten Leben mit in mein neues brachte. Und viel mehr brauchte ich auch nicht.

Ich schnappte mir eines meiner Bücher, in denen ich mich in den letzten Wochen und Monaten so verkrochen hatte, und ließ mich auf mein Bett nieder. Irgendwie musste ich mich ja beschäftigen, bis meine Mitbewohnerin aus dem Unterricht kam und mich herumführte, wie mir gesagt worden war.

Und wieder einmal tauchte ich ab in eine andere Welt voller Fantasie und Abenteuer. Schon seit ich ein kleines Kind war, hatte ich ein äußerst ausgeprägtes Vorstellungsvermögen besessen und so spielte sich vor meinem geistigen Auge ein fesselnder Film ab, der mit jedem neuen Wort mehr gespeist wurde.

So vertieft war ich in meine Lektüre, dass ich nicht bemerkte, dass jemand in das Zimmer eintrat. Erst, als eine Stimme etwas sagte, blickte ich von meinem Buch auf. Das Mädchen, das vor mir stand, erweckte in mir, leider muss ich sagen, einen ähnlichen Eindruck wie die Mädchen, die ich damals auf meiner alten Schule gekannt hatte. Eben nahm sie ihre Schleife ab und löste den strengen Pferdeschwanz, in dem ihre hellbraunen Haare zusammengebunden waren. Sie war dezent geschminkt, wohl gerade so stark, wie man es den Schülerinnen erlaubte, ihr Gesichtsausdruck war selbstbewusst und das, was ich bisher von ihrer Seite des Zimmers gesehen hatte, vollendete den Eindruck von ihr. Poster von Stars, einige Zeitschriften über Mode und ein aufgeschlagenes Magazin mit einem Artikel über verschiedene Schminktipps.

„Hörst du nicht recht?“, fragte sie mich mit hochgezogener, offensichtlich gezupfter Augenbraue. Wie ich bereits erwartet hatte, war sie nicht begeistert darüber, eine Zimmergenossin zu bekommen, zumindest erklärte ich mir damit ihren schnippischen Tonfall.

„Tschuldigung“, nuschelte ich und setzte mich ein wenig auf. „War ganz vertieft in das Buch. Ist... ein echt Gutes“, fügte ich hinzu, obwohl ich nicht viel Hoffnung darauf hatte, dass sie sich für so etwas interessieren könnte.

Wie erwartet ging sie nicht weiter darauf ein und ließ ich seufzend auf ihr Bett fallen. Sie streckte sich kurz, dann richtete sie wieder das Wort an mich: „Ich bin Natasha. Natasha Green.“

Ich nickte. Ich kannte ihren Namen bereits von der Dame im Sekretariat, die mir meinen Zimmerschlüssel gegeben hatte. „Sam Parker“, antwortete ich ihr mit meiner in letzter Zeit so typischen ruhigen, etwas zu leisen Stimme.

Etwas schien ihr nicht zu passen, ob es an meinem Verhalten lag, das man vielleicht als schüchtern hätte interpretieren können, oder an meinem Äußeren, das konnte ich nicht genau sagen. Vielleicht war es auch beides.

„Ich nehm' mal an, man hat dir gesagt, dass ich dich rumführen soll, oder?“, fragte Natasha und legte ihre Beine hoch, machte folglich keinerlei Anstalten, das zu tun, was ihr aufgetragen wurde.

„...Ja“, antwortete ich schlicht. Ich wusste nicht so recht, was ich von meiner neuen Zimmernachbarin halten sollte. Irgendwie wollte sie mir nicht so recht sympathisch werden.

„Wir hatten grad Sport, ich bin ziemlich fertig. Ich führ dich nachher rum, vor dem Abendessen“, antwortete sie mir und streckte sich auf ihrem Bett aus. Ob sie müde war oder nur so tat, wusste ich nicht, denn sie drehte mir im nächsten Augenblick den Rücken zu und schnappte sich die aufgeschlagene Zeitschrift, die auf ihrem Bett gelegen hatte und begann, darin zu blättern.

Nachdem sie mich so gekonnt ignorierte, nahm ich mein Buch wieder zur Hand. Doch es wollte mir nicht mehr so recht gelingen, mich in den Tiefen der Fantasie zu verlieren. Kurz überlegte ich, ob ich versuchen sollte, Natasha in ein Gespräch zu verwickeln, doch das war nicht meine Art. Vielleicht traute ich mich auch einfach nicht. Stattdessen beobachtete ich das Mädchen über den Rand meines Buches hin und versuchte mir weiterhin, ein Bild von mir zu machen. Seit jeher hatte ich über eine recht gute Menschenkenntnis verfügt, daher fiel es mir leicht. Natasha war keine natürliche Schönheit, sie war ganz nett anzusehen und war sehr gepflegt. Sie achtete auf ihr Äußeres, das konnte man ihr ansehen. Wie es in ihrem Inneren aussah, konnte ich nach so kurzer Zeit noch nicht wirklich sagen. Dazu würde ich sie wohl noch ein wenig besser kennen lernen müssen.

Nach etwa einer halben Stunde schien sie sich fürs Erste genug ausgeruht zu haben. Mit neuem Elan sprang sie aus ihrem Bett und ging zu ihrem Kleiderschrank hinüber. Als sie ihn öffnete, staunte ich nicht schlecht. Sie besaß eine sehr große Auswahl an Kleidung, teilweise sogar äußerst extravagante Stücke waren dabei.

So brauchte sie auch erwartungsgemäß lange, bis sie sich für ein Outfit entschieden hatte. Als würde sie keinerlei Schamgefühl kennen, zog sie sich aus und schlüpfte in eine enge Jeans und ein relativ weit geschnittenes schulterfreies Oberteil. Dann drehte sie sich zu mir um und lächelte: „So, dann führen wir dich mal rum. Geht ja nicht an, dass du dich hier nicht auskennst.“

Als wäre sie ein gänzlich anderer Mensch und ihre schlechte Laune von vorhin von ihr abgefallen, strahlte sie mich an. Ob es nur gespielt war und sie mich in Wahrheit lieber loswerden wollte, wusste ich nicht.

Nichtsdestotrotz stand ich auf und legte mein Buch sorgfältig auf mein Kopfkissen. Kurz strich ich über die Decke, um sie zu glätten, dann wandte ich mich wieder zu Natasha, die mich jetzt neugierig musterte. An mir war nicht wirklich etwas Besonderes. Meine langen, schwarzblauen Haare, die ich in zwei Zöpfen über den Schultern trug, mochten mich langweilig, kindisch und spießig erscheinen lassen. Auch meine Kleidung war nicht wirklich auffällig. Schlichte Jeans und ebenso schlichtes T-Shirt. Absolut nichts Besonderes. Zudem war ich blass und in letzter Zeit war ich beinahe ungesund dünn geworden.

„Reden tust du ja nicht besonders viel, huh?“, erkundigte sie sich bei mir, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Sie schnappte sich ihren Zimmerschlüssel von ihrem Schreibtisch und verließ das Zimmer. Ich folgte ihr auf dem Fuße, wusste allerdings immer noch nichts zu erwidern. Sie schloss die Tür ab und begann die Führung durch das Haus. Obwohl ich das im ersten Moment nicht erwartet hatte, gab sie sich dabei sogar Mühe. Sie erklärte mir einige der Gepflogenheiten, die hier üblich waren und auf die die Lehrer und anderen Aufsichtspersonen großen Wert legten. Ich erfuhr die wichtigsten Regeln und hier und da auch eine Möglichkeit, diese zu umgehen. Natasha hatte eine angenehme Art und Weise zu erzählen. Zwar redete sie nicht besonders gewählt, doch hatten die kleinen Anekdoten, die sie ab und an hervorbrachte, eine schlichte Art der Lebendigkeit an sich, die Natasha auszumachen schien. Das eine ums andere Mal konnte ich mir ein leises Lachen nicht verkneifen. Und das schien sie weiter anzuspornen, sodass sie danach erst recht versuchte, die Schule so lebendig und lustig wie möglich zu beschreiben. Natürlich merkte man ihr an, dass sie nicht hundertprozentig freiwillig in einem strengen Internat wie diesem war. Ihre Eltern waren beide berufstätig und viel unterwegs, sodass sie sie hier untergebracht hatten. Doch sie verstand es auf die typische Art einer kecken Jugendlichen, sich das Leben hier erträglich zu machen.

Nachdem sie mich im Wohnhaus herumgeführt und mir die Gruppenräume und Duschen gezeigt hatte, gingen wir über den inzwischen belebteren Hof hinüber ins Unterrichts- und Verwaltungsgebäude. Auf dem Hof rief sie einer Gruppe von Mädchen einen Gruß hinüber und versprach, sich nachher noch dazu zu gesellen. Ob sie mich mitnehmen wollte, darüber sprach sie nicht.

Sie zeigte mir die Unterrichtsräume, das Lehrerzimmer, die Cafeteria und einige weitere Räume, die für verschiedene Freizeitaktivitäten genutzt werden konnten. Mein Blick, wie hätte es auch anders sein können, wurde vom Raum der Kunst-AG gefesselt. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich dort einschreiben würde.

Schließlich kamen wir zu den beiden großen Sporthallen. Auch eine Schwimmhalle war vorhanden, die nach Unterrichtsende von den Schülerinnen nach Belieben benutzt werden konnte. Neben den Sporthallen lag das kleine schuleigene Wäldchen, das noch innerhalb der Mauern des Internats lag. Zwar durfte man sich dort nach 22 Uhr nicht mehr aufhalten, doch störte das die wenigsten, wenn man Natashas Worten Glauben schenken durfte. Sie zeigte mir den kleinen See und die große Wiese, wo sich zu diesem Zeitpunkt sehr viele Schülerinnen aufhielten, die sich fast alle ihrer Schuluniform entledigt hatten.

„Ich glaub, das dürfte das Wichtigste gewesen sein“, gab Natasha nun von sich, als wir wieder auf dem Hof standen und seufzte erleichtert. „Ist immer so nervig, sowas. Glaubst du, du hast alles gesehen, was du brauchst?“

Ich nickte und erwiderte das leichte Lächeln, das sie auf den Lippen hatte, schüchtern. Während der Führung hatte ich kaum gesprochen, sie stattdessen erzählen lassen, mich sozusagen von ihr unterhalten lassen. Und das schien sie wirklich außergewöhnlich gut zu können. Vielleicht hörte sie sich auch nur gerne reden.

„In 'ner halben Stunde gibt’s Abendessen, wir sehen uns dann im Speisesaal, ja?“, fuhr sie fort und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging hinüber zu ihren Freundinnen, wandte sich jedoch noch kurz um und winkte mir mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu.

Sie wollte mich also nicht mitnehmen. Gut, ich konnte sie nicht zwingen. Und wie ich vermutete, waren wir sowieso zu verschieden, um gute Freundinnen zu werden. Außerdem... was hatte ich mir erhofft. Ich kam mitten im Schuljahr hierher. Alle Freundschaften hatten sich bereits entwickelt. Der Posten als Außenseiterin war mir also quasi vorprogrammiert, vor allem, da ich kein besonders einnehmendes Gemüt hatte.

Mich schon mental damit abfindend, ging ich noch einmal zurück auf mein Zimmer. Ich ließ mich auf mein Bett nieder und sah mich im Zimmer um. Mein Blick fiel auf ein Foto, das mit einer Büroklammer an Natashas Schreibtischlampe befestigt war. Neugierig stand ich auf und sah es mir näher an. Darauf war sie zusammen mit einem Jungen zu sehen. Er war groß und gutaussehend und genau deshalb zog sich mir der Magen zusammen. Schnell setzte ich mich wieder auf mein Bett. Wie von selbst griff meine Hand nach dem abgegriffenen Teddy und ich drückte ihn an mich. Selten hatte ich mich so alleine gefühlt. Das freudige Gefühl von gestern und heute Morgen wollte sich nicht wieder einstellen.
 

Schließlich stand ich kurze Zeit später vor dem Speisesaal, traute mich jedoch nicht wirklich, einzutreten. Nachdem ich einige Minuten unschlüssig von einem Bein auf das andere getreten war, spürte ich eine Hand auf der Schulter: „Komm schon. Du kannst dich zu mir hocken“, schlug mir Natasha vor und ging hinüber zur Essensausgabe, wo sie sich ein Tablett zusammenstellte. Dankbar folgte ich ihr und sah mich um, ob etwas von dem, was angeboten wurde, meinen Appetit weckte. In letzter Zeit hatte ich nie viel Hunger gehabt und mir meiner Mutter zuliebe dann und wann etwas hinuntergewürgt. Und dies merkte ich auch jetzt. Schließlich goss ich mir einen Becher Milch ein, ich liebte Milch, und nahm mir einen Müsliriegel. Dieser würde die Kapazität meines Magens bereits aufs Äußerste ausreizen, zumindest hatte ich dieses Gefühl, als ich auf die Massen an Brot, Käse, Wurst, Marmelade, Resten vom Mittagessen, Cornflakes, Saft und sonstigen Dingen, die sich vor mir aufbauten, starrte. Mir wurde beinahe schlecht von den Massen an Essen.

Wenige Momente später hatte mich Natasha zu einem Platz am Rand des Speisesaales gebracht, wo sie schon einige Mädchen zu erwarten schienen.

„Leute, das ist Sam“, stellte sie mich knapp vor und ich fühlte mich von fünf neugierigen Augenpaaren gemustert.

„Hi“, brachte ich glorreich heraus, nachdem ich einen Kloß im Hals heruntergeschluckt hatte und ließ mich neben Natasha auf die Sitzbank fallen. Mit meinem so „üppig“ gefüllten Tablett.

„Sie ist ein bisschen schüchtern“, witzelte Natasha und stupste mich leicht in die Seite. Dabei kicherte sie und erntete auch von ihren Freundinnen leises Gelächter, das ich allerdings als freundlich auffasste.

„Musst du nicht sein. Wir Mädels sind doch hier alle unter uns“, antwortete in blondes Mädchen mit kurzen Haaren und man konnte ihrer Stimme deutlich entnehmen, dass sie letztere Tatsache lieber geändert hätte.

„...Ist alles noch neu für mich. Ich muss mich erst einleben“, rechtfertigte ich mich mit meiner üblichen, leisen Stimmlage und starrte auf meinen Müsliriegel. Wie ich erkennen konnte, hatte noch niemand mit dem Essen angefangen, also dachte ich auch nicht daran.

„Machst du Diät?“, erkundigte sich das Mädchen gegenüber bei mir, als sie sah, wie wenig ich auf dem Tablett hatte. Sie war ähnlich gekleidet wie Natasha, war jedoch deutlich hübscher. Sie hatte leuchtend rot gefärbte Haare, die sie schulterlang und mit schrägem Pony trug. „Sollte ich eigentlich auch mal wieder tun. Ich krieg grad richtig Lust, das ganze Zeug hier in den Müll zu werfen“, fügte sie seufzend hinzu.

„Ich... hab einfach nicht viel Hunger“, antwortete ich ihr. Mir war nicht wohl bei der ganzen Aufmerksamkeit, die ich gerade bekam, doch wusste ich, dass ich mich dazu verdammen würde, den Rest meines Lebens ganz allein verbringen zu müssen, wenn ich mich jetzt zu sehr zurückziehen würde. Ich war entschlossen, es nicht zu versauen, wenn Natasha schon so nett war und versuchte, mich zu integrieren. Durch diesen Gedanken motiviert, schaffte ich es sogar, eine Frage an die um mich herum sitzenden Mädchen zu richten: „Wie... heißt ihr denn?“

Die Rothaarige unterbrach Natasha, die ebenfalls dazu ansetzte, mir zu antworten und sprach: „Ich bin Caitlyn, aber alle nennen mich Cat. Das ist Emma.“ Sie deutete auf ein Mädchen mit langen, braunen Haaren. „Das dort ist Mia.“ Ihre zeigende Hand wanderte zu dem Mädchen mit blondem Pagenkopf und Püppchengesicht. „Das ist Alyssa.“ Dabei zeigte sie auf ein Mädchen mit extrem gebräunter Haut und hellblonden, fast weißen Haaren. „Und das sind Sophia und Sandra.“ Sie zeigte auf ein Zwillingspaar, bei denen zu meiner Erleichterung jedoch deutliche Unterschiede erkennen konnte. Der eingänglichste war die Haarfarbe. Sophia hatte blond gefärbte Haare, Sandra schwarz gefärbte.

„Freut mich“, brachte ich heraus und mein Blick wanderte durch die Reihen der Mädchen. Gerade in diesem Moment ertönte eine Glocke, die dreimal geläutet wurde. Sofort standen alle Mädchen auf. Rasch beeilte ich mich, es ihnen gleich zu tun. An einem Tisch am anderen Ende der Halle trat eine ältere Frau nach vorne, offensichtlich eine wichtige Person an dieser Schule, und sprach ein kurzes Gebet. Danach erlaubte sie den Schülerinnen, sich zu setzen und mit dem Essen anzufangen.

„Das ist die Direx“, wisperte Natasha mir zu, bevor sie begann, ihre Cornflakes zu verdrücken.

Kurz beobachtete ich die Direktorin der Schule dabei, wie sie sich wieder hinsetzte, offensichtlich an den Lehrertisch, dann machte ich mich daran, langsam das Papier von meinem Müsliriegel zu entfernen. Es dauerte schier endlos, dann lag er entblättert vor mir und stank meinem Empfinden nach ganz entsetzlich. Erst überlegte ich, ob ich einfach nur die Milch trinken sollte, dann erinnerte ich mich an das besorgte Gesicht meiner Mutter, als sie mein Gewicht gesehen hatte, und würgte ihn schnell hinunter. Wenige Momente später bereute ich dieses schnelle Essen wieder, denn ich hatte etwas in den falschen Hals bekommen und hustete los.
 

Für den ersten Tag hätte es definitiv schlechter laufen können, zumindest war ich dieser Meinung, als ich wenig später wieder auf meinem Bett lag. Auch Natasha war mit aufs Zimmer gekommen, sie wollte noch ein wenig telefonieren, sagte sie.

Während ich mit einem Ohr Musik hörte und ihr mit dem anderen Ohr lauschte, führte sie drei Telefonate. Das erste war offensichtlich mit ihren Eltern, das zweite mit einer Freundin zuhause und das dritte... mit ihrem Freund. Bei diesem Gespräch streckte ich mir den zweiten Ohrstöpsel in mein Ohr und drehte die Musik lauter.

Bloßgestellt

Am nächsten Tag begann nun auch für mich die Schule. Als ich morgens vor dem Spiegel stand und meine Schuluniform anlegte, fühlte ich mich seltsam, aber erstaunlich wohl.

Es war lange her, dass ich das letzte Mal wirklich in der Schule gewesen war, anstatt nur einige Stunden da zu sein oder ganz zu schwänzen. Sicherlich würde es mir schwer fallen, mich zu konzentrieren, dachte ich. Doch eigentlich freute ich mich darauf. Entgegen der meisten Jugendlichen in meinem Alter hatte ich nie ein großes Problem mit der Schule gehabt. Ich war meistens relativ gerne hingegangen, hatte auch nie Schwierigkeiten mit dem Stoff oder dem Lernen gehabt. Ich war zwar keine herausragende Schülerin, aber in der oberen Hälfte der Klasse war ich immer gewesen.

Ich packte meine Schultasche sorgfältig ein und kontrollierte mehrfach, dass ich nichts vergessen hatte. Gestern hatte ich noch den Stundenplan von Natasha bekommen, heute in der ersten Pause wollte sie mich in die Bibliothek begleiten, damit ich auch meine Schulbücher bekam.

Meine Mitbewohnerin war noch damit beschäftigte, ihrem Make Up den letzten Schliff zu verpassen, als der Gong verkündete, dass der Unterricht in zehn Minuten beginnen würde. Natasha zeigte keine Eile, aber ich saß auf glühenden Kohlen. Dennoch sagte ich nichts. Schließlich brachen wir zwei Minuten vor Schulbeginn auf und kamen gerade noch rechtzeitig im Klassenzimmer an. Zu meiner Überraschung befanden sich dort nur Einzeltische. So etwas war ich nicht gewohnt, aber es störte mich nicht wirklich. Ich fand einen Platz relativ weit hinten in der Klasse. Darüber war ich erleichtert, so konnte ich immerhin meine Mitschülerinnen unbemerkt mustern und mir ein Bild über die Klasse und auch die Lehrer machen. Der Unterricht, das bemerkte ich schon am ersten Tag, war streng und wurde strikt durchgezogen. Störungen wurden nicht geduldet und schon heute wurde ich Zeuge davon, wie eine Strafe hier verhängt wurde. Für eine Mitschülerin, die etwas zu laut geschwätzt hatte und dies wohl auch öfter tat, wurde eine Ausgangssprerre für das kommende Wochenende verhängt. Sie schien einen Moment lang empört aufmucken zu wollen, hielt sich dann allerdings zurück.

In der vierten Unterrichtsstunde lernte ich meine Klassenlehrerin kennen. Sie war eine kleine Frau mittleren Alters mit sehr strengem Gesicht, die sich mir als Mrs. Coleman vorstellte und mich nach der Stunde zu sich bat.

Das Gespräch, das ich mit ihr hatte, war kurz, aber informativ. In recht kühlen Worten, die ihr zueigen schienen, aber einem relativ freundlichen Tonfall hieß sie mich an der Schule willkommen und fragte mich, ob ich mich gut eingefunden hätte. Auch bat sie mich, zu ihr zu kommen, falls es Probleme gäbe. Auch klärte sie mich noch einmal über einige wichtige Regeln auf, die hier herrschten, vor allem bezüglich Ausgang und Kontakt mit Personen außerhalb der Schule, der, offen gesagt, sehr streng gehandhabt wurde. Fremde hatten selbst an Wochenenden keinen Zugang zur Schule, es sei denn, er wurde eine Woche vorher bereits angemeldet und gestattet. Der Besuch musste die Schule bis spätestens 20 Uhr verlassen haben. Und Männerbesuche auf den Zimmern waren selbstverständlich bei Höchststrafe untersagt. Als mir das verkündet wurde, konnte ich mir ein leises, ironisches Lachen nicht verkneifen. Der Blick von Mrs. Coleman sagte mir, dass sie das Lachen eindeutig falsch verstanden hatte und ich hörte schnell wieder damit auf.

Nach dem Gespräch gabelte mich Natasha auf, um mich mit zum Mittagessen zu nehmen. „Die Coleman ist ziemlich streng, ansonsten aber in Ordnung. Sie ist nicht ungerecht und benotet fair. Aber weißt du. Obwohl sie angeblich verheiratet ist, hat diesen Kerl noch niemand zu Gesicht gekriegt. Es geht das Gerücht um, dass sie ihn nur erfunden hat.“

Natasha kicherte bei dem Gedanken und schnappte sich eine große Schale mit Salat zum Mittagessen.

Wieder stand ich vor dem umfangreichen Essensangebot und wusste nicht, was von all dem ich wohl hinunterbringen würde.
 

Langsam aber sicher gewöhnte ich mich daran, in meiner Schule zu leben. Auch wenn mir der Gedanke anfangs seltsam erschien, so begann es bereits am zweiten Tag Gewohnheit zu werden. Es hatte durchaus seine praktischen Seiten. Man konnte ein wenig länger schlafen, hatte einen kurzen Schulweg und konnte zwischen den Stunden kurz aufs Zimmer gehen, wenn man etwas vergessen hatte. Außerdem hatte man immer jemanden in der Nähe, den man wegen der Hausaufgaben fragen konnte. Und gerade hier hatte ich ein Problem. Ich hing, was den Stoff anging, hoffnungslos hinterher, auch mein halbwegs kluges Köpfchen genügte nicht, um das vergessen zu machen.

Natasha war zwar selbst nicht auf den Kopf gefallen, doch zeigte sie wenig Interesse am Lernen. Wie nun sollte ich jemanden finden, der mir half? Für mich stellte es eine schier unüberwindbare Herausforderung dar, einfach zur Nebentür zu gehen, zu klopfen und um Hilfe zu bitten. Auch die Lehrer wollte ich deswegen nicht fragen, zu große Angst hatte ich davor, als dumm abgestempelt zu werden.

Also biss ich mich durch, lieh mir Bücher aus der Bibliothek aus und versuchte, nach und nach, den Stoff nachzulernen.

Die Worte meiner Mutter, die sie mir mit auf dem Weg gegeben hatte, hallten in meinem Kopf wider und wider, während ich meinen Kopf in einem Mathebuch vergrub.

„Weißt du, wie du enden wirst, wenn du dich nicht änderst? Du wirst auf der Straße landen, ohne Job, ohne Bildung, ohne jemanden, der dich wieder vom Boden abkratzt. Raff dich auf, Sam. Ich habe lange genug zugesehen, wie du dein Leben vergeudest. Ich habe dir immer alle Möglichkeiten gegeben, etwas aus dir zu machen. Aber du scheinst das partout nicht zu wollen. Also geh auf diese Schule und sieh selbst, was du daraus machst. Lerne oder lass es sein. Ich habe lang genug geredet.“

Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich in meiner Brust bemerkbar, als mir die Tränen in die Augen stiegen. Doch ich ließ nicht zu, dass sie über meine Wangen liefen, verkniff sie mir und paukte weiter die Formeln, die vor meinen Augen verschwammen.
 

„So viel, wie du paukst, musst du ja ein echter Überflieger sein“, war die Aussage, die ich mir am Samstag nach meiner Ankunft von Cat anhören musste, als ich eine Einladung, mit ihnen ins Schwimmbad in der Stadt zu gehen, mit der Ausrede, ich müsse lernen, ausschlug.

Ich hätte, um ehrlich zu sein, gerne etwas mit den anderen unternommen. Ich wollte keine Außenseiterin sein, da war ich lieber ein Mitläuferin. Lieber das als ganz allein. Aber... schwimmen gehen? Das wollte ich nicht.

„Vergiss das Lernen doch mal für nen Nachmittag! Du lernst schon die ganze Woche, da schadet es doch nicht, mal ein paar Stunden Pause zu machen“, fügte Natasha hinzu, die sich wirklich viel Mühe gab, mich zu integrieren. Inzwischen vermutete ich, dass sie sich schlicht und ergreifen gut mit mir stellen wollte, da wir ja gezwungenermaßen noch ein dreiviertel Jahr ein Zimmer teilen würden. Wenn wir uns da nur streiten würden, wäre das für uns beide nur hinderlich.

„Ich... hab nicht mal einen Badeanzug dabei“, versuchte ich, mit einer letzten Ausrede die Verabredung zu umgehen.

„Meine Güte, dann kaufen wir dir halt einen. Wozu gibt’s denn Läden in der Stadt?!“, seufzte Cat und fügte hinzu: „Keine Widerrede. Wir treffen uns um halb drei am Tor.“

Es wurde ja immer schlimmer. Jetzt würde ich auch noch mit ihnen einkaufen gehen und musste zulassen, dass sie mich in Badesachen steckten und mich ins Wasser warfen. In diesem Moment stritten sich zwei Seiten in mir darüber, was ich tun sollte. Einerseits wollte ich mich wirklich gerne integrieren und so übel waren Natasha und ihre Freundinnen wirklich nicht, andererseits war es das letzte, was ich wollte, mich halbnackt im Schwimmbad zeigen zu müssen.

Schließlich sagte ich zu mir selbst, dass ich ja sowieso irgendwann über meinen Schatten würde springen müssen, schnappte mir Geldbeutel, Handtücher und Duschsachen und packte meine Tasche.

Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend stand ich schließlich am vereinbarten Treffpunkt und wartete, dass nach und nach die anderen eintrafen. Als wir schließlich vollzählig waren, nur Sandra fehlte, da sie sich an irgendetwas den Magen verdorben hatte, gingen wir die wenigen Schritte bis zur Bushaltestelle. Das Internat war wirklich wundervoll gelegen. Oben auf einem Hügel etwas außerhalb der Stadt, weit und breit nur Waldgebiet. Die Luft war frisch und kühl, man konnte gar nicht glauben, dass es nur fünfzehn Minuten dauerte, um mit dem Bus in die Innenstadt zu gelangen. Und genau diese war unser Ziel. Sofort wurde ich in einen der offensichtlich angesagteren Läden geschleppt und in eine Umkleide gezerrt. Nach und nach reichten die Mädchen mir, ohne dass ich wirklich Mitspracherecht besaß, einige Bikinis herein, die ich jedoch von vorne herein ablehnte.

„Komm schon, du hast doch ne gute Figur. Du kannst sowas tragen“, versuchte Natasha, mich dazu zu überreden, einen schwarzen, sportlichen Bikini anzuziehen.

„Darin fühle ich mich nicht so wohl“, antwortete ich kleinlaut und nahm stattdessen einen Badeanzug aus Cats Hand. „Das ist besser“, stellte ich fest, als ich ihn angezogen hatte. Die anderen wollten ihn unbedingt sehen. Obwohl ich mich äußerst schlecht dabei fühlte, mich nur so bekleidet zu präsentieren, tat ich es trotzdem und erntete erstauntes und teilweise neidvolles Lob für meine Figur.

Als ich wieder in der Umkleide stand, besah ich mich im Spiegel. War ich denn wirklich so hübsch? Meine Blicke wanderten über meinen Oberkörper. Meine Brüste waren nicht so sonderlich groß. Außerdem war ich zu dünn, viel zu dünn. Ich hatte mich lange nicht mehr so angesehen und musste nun feststellen, dass meine Mutter recht gehabt hatte.. Man könnte glauben, ich wäre magersüchtig. Dabei hatte ich einfach nur keinen Hunger. Meine Beine waren lang und spargeldünn. Ich wirkte alles in allem zerbrechlich wie sprödes Glas. Das konnte man doch nicht als hübsch bezeichnen!

Ohne weiter herumzusuchen, kaufte ich den Badeanzug, den Cat herausgesucht hatte und wir verließen kurze Zeit später den Laden wieder und begaben uns in Richtung des großen Erlebnisbades, das sich hier in der Innenstadt befand. Die anderen zeigten ihre Vorfreude durch reges Plappern und Lachen. Und auch ich begann langsam, mich zu entspannen. Vielleicht würde es ja doch ganz schön werden?

Doch als ich eine halbe Stunde später in meiner Umkleide stand, nur mit meinem Badeanzug bekleidet, änderte sich diese Hoffnung. Nein, es würde nicht schön werden! Es würde grauenvoll werden! Ich löste meine Zöpfe und versuchte, mit meinen langen Haaren und meinem großen Handtuch meine Blöße zu bedecken, bevor ich die Umkleide schließlich mit zittrigen Beinen verließ. Die anderen hatten schon auf mich gewartet und Mia witzelte: „So schüchtern, dass du dich im Handtuch verkriechen musst? Komm schon, dir guckt doch keiner was weg!“ Mit diesen Worten griff sie nach meinem Handtuch und wollte es mir wegziehen, doch ich hielt dagegen. „Bitte... lass doch“, versuchte ich, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, doch vergebens.

„Hab dich doch nicht so“, stimmte auch Sophia ein und schnappte sich meine Handgelenke, sodass Mia mir das Tuch leichter wegziehen konnte. Natasha und Cat lachten, doch mir war ganz und gar nicht danach zu Mute. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ein Gefühl der Verzweiflung überkam mich, als mich das Handtuch schließlich nicht mehr bedeckte. Ich fühlte mich in diesem Moment, als würde das ganze Schwimmbad mich anstarren und mir mit den Augen den Badeanzug, meinen letzten mageren Schutz, vom Leib reißen. Meine Stimme zitterte unter den aufkommenden Tränen, als ich mit einem versuchte, meine imaginäre Blöße zu bedecken und die andere nach dem Handtuch ausstreckte: „Bitte...“ Mehr brachte ich nicht mehr heraus.

Die Mädchen sahen mich mit Gesichtern, die eine Mischung aus Spott und Mitleid zeigten, an. Cat ergriff für sie alle das Wort: „Meine Güte, reiß dich doch mal zusammen! Ist doch nicht so, als würde dir hier jemand an die Wäsche wollen.“ Einen Augenblick lang blickte ich ihr ins Gesicht. Ihre eine Augenbraue war hochgezogen, drückte eine gewisse Ungläubigkeit darüber aus, dass sich jemand so sehr zieren konnte, wie ich es gerade tat.

Doch in meinem Herzen keimte die gleiche Angst, das gleiche Panikgefühl auf, das gleiche Gefühl wie damals. Das Gefühl, das mir signalisierte, dass ich so schnell wie möglich weglaufen musste, weg von hier, weg von diesen Mädchen, weg von allem. Im Bett verkriechen, die Musik ganz laut drehen und ein Buch lesen, ein gutes Buch, das mich von all dem ablenken konnte.

Natasha griff nach meinem Handgelenk, wohl um mich mit ihr zu ziehen, ins Wasser vielleicht. Sie wollte sie Situation lockern, sich vielleicht einen Spaß daraus machen, mich ins Wasser zu werfen. Doch in diesem Moment machte sie mir Angst. Mit einer Kraft, die man meinem schmächtigen Körper wohl sonst nicht zutrauen würde, riss ich mich los und rannte davon.

Die Tränen strömten mir übers Gesicht, ich konnte den rutschigen Weg vor mir kaum noch erkennen. Dennoch rannte ich weiter, stieß gegen eine gekachelte Säule, spürte den Schmerz, wie er von meiner Schulter über meinen Oberkörper kroch, stieß mich ab und hastete weiter. Meine Gefühle überschlugen sich, die Angst, die Panik beherrschten mich, ließen keinen klaren Gedanken zu. Wäre ich bei Sinnen gewesen, wäre mir wohl klar gewesen, dass die Mädels es nicht böse gemeint hatten, dass sie nicht hatten wissen können, wie ich reagieren würden, dass sie vielleicht überhaupt nicht so gehandelt hätte, wenn sie mich gekannt hätten. Aber wer konnte schon von sich behaupten, mich zu kennen. Weder meine alten Freunde noch meine Mutter hatten dieses Privileg gekannt.

Plötzlich spürte ich, sehen konnte ich aufgrund der Tränen, die die Welt um mich herum verschwimmen ließen, schon gar nichts mehr, wie ich an den Schultern gegriffen wurde, von zwei Händen mit festem Griff gehalten wurde. „Pass auf, wo du hinrennst. Sonst wirfst du noch jemanden um.“

Eine relativ tiefe Stimme ertönte vor mir und ich blickte auf, blinzelte einige Male, um etwas sehen zu können. Ich zitterte heftig aufgrund der Angst, die mich immer noch in ihren Klauen hielt. Außerdem trug der feste Griff, mit dem ich gehalten wurde, nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhigte, im Gegenteil. Mein Bewusstsein verdrängte langsam aber sicher die Tatsache, dass ich mich in einem öffentlichen Schwimmbad befand und signalisierte mir, dass ich mich in akuter Gefahr befand.

Schließlich hatte ich genug Tränen weggeblinzelt, dass ich wieder etwas erkennen konnte. Vor mir stand eine Frau, allerdings erkannte ich das erst auf den zweiten Blick. Der Körperbau war sehr maskulin, muskulös und durchtrainiert, das Gesicht zeigte erst auf den zweiten Blick weibliche Züge. Die dunkelblonden Haare waren hauptsächlich fransig kurz geschnitten, zeigten hinten jedoch einen relativ dünnen, aber dafür langen Zopf. Erst der sportliche Badeanzug, den die Frau trug, überzeugte mich gänzlich davon, wirklich ein weibliches Wesen vor mir zu haben.

Nun jedoch verzogen sich die Züge des Gesichts, in das ich nun ängstlich starrte, und zeigten einen besorgten Ausdruck: „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Die Stimme, sehr tief für eine Frau, klang beunruhigt, aufrichtig besorgt. Diese Frau schien mir wirklich helfen zu wollen. Mein Zittern beruhigte sich ein wenig und die ersten klaren Gedanken mischten sich unter die blanke Panik in meinem Kopf.

„Ich... es...“ Ich brachte keinen klaren Satz heraus. Als die Frau merkte, dass ich mich ein wenig beruhigte, lockerte sie den Griff um meine Schultern, sodass es sich so anfühlte, als hätte sie mir beschwichtigend ihre Hände darauf gelegt.

Der Blick der Frau wanderte kurz über meine Schulter, sie schien dort etwas zu entdecken und ließ mich gänzlich los. Einen Moment lang vermisste ich die schweren Hände, die mich seltsam beruhigt hatten, dann blickte ich mich ebenfalls um. Die fünf Mädchen, mit denen ich hierher gekommen war, kamen auf uns zu, großteils schuldbewusste, besorgte oder verwunderte Ausdrücke auf den Gesichtern. Selbstverständlich wussten sie nicht, was gerade in mir vorging.

„Hey, Sam. Was war denn das grad?“, fragte Cat, die der Gruppe wie üblich vorausging. Ihre Augenbraue war hochgezogen, ihre Stimme eine Mischung aus vorwurfsvoll und überrascht.

Ich sah das Handtuch in ihren Händen und nahm es wortlos an mich. Schnell hatte ich mich hinein gewickelt. Nun ebbte meine Panik nach und nach gänzlich ab, sodass ich wieder fähig war, zu sprechen. „Tschluldigung... ich... mag es nicht, wenn mich jeder anstarrt...“

Meine Stimme war leise, zitterte noch immer von dem Heulkrampf, den ich soeben gehabt hatte und für den ich mich nun mit hochrotem Gesicht in Grund und Boden schämte.

„Okay?“, erwiderte Cat mit immer noch hochgezogener Augenbraue und zuckte mit den Schultern. Kurz herrschte Schweigen in der Gruppe, dann schlug Natasha vor, um die Stimmung aufzulockern: „Woll'n wir dann endlich mal ne Runde schwimmen?“

Ich nickte zustimmend, zwar verspürte ich eigentlich nicht die geringste Lust darauf, doch war es wirklich eine gute Gelegenheit, um diese peinliche Aktion meinerseits zu vergessen. Auch die anderen stimmten zu und machten sich auf den Weg in Richtung der Liegestühle, um ihre Handtücher abzulegen. Mir jedoch fiel in diesem Moment wieder die Frau ein, die hinter mir gestanden hatte und ich drehte mich um. Sie war nicht mehr dort, doch nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, konnte ich sehen, wie sie gerade in eines der größeren Becken sprang und mit kraftvollen und ausdauernden Zügen begann, ihre Bahnen zu schwimmen. Ich hätte mich zwar gerne noch bei ihr bedankt, doch war ich andererseits dankbar dafür, die ganze Situation nicht auch noch erklären zu müssen, also ließ ich es darauf beruhen und gesellte mich zu den anderen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich gänzlich beruhigt hatte, aber letztendlich schaffte ich es sogar, mich dazu zu überreden, ins Wasser zu gehen. Schließlich schwammen wir alle gemeinsam im Wellenbad und alberten herum. So wurde es letztendlich doch noch ein halbwegs passabler Nachmittag, bei dem es mir nach und nach gelang, ein klein wenig aufzutauen und mehr zu sagen als „Hi“ und „Tschuldigung“.
 

Den Sonntag, der auf diesen teilweise sehr schmerzvollen Samstag folgte, verbrachte ich wieder mit Lernen, musste jedoch zwei Stunden lang Kopfhörer dabei aufsetzen, da sich Natasha mit ihrem Freund festgequatscht hatte und ihr Geturtel wirklich äußerst störend war. Als sie schließlich endlich auflegte, tönte ihr „Ich liebe dich, Schatz“, sogar durch die laute Musik, die ich hörte. Mir drehte sich dabei der Magen um und ich drehte am Lautstärkepegel, sodass mir beinahe die Ohren wegflogen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Natasha nun anfangen würde, mir von ihm vorzuschwärmen. Für so etwas war ich definitiv der falsche Ansprechpartner, auch wenn sie das wohl noch nicht wollte. Glücklicherweise schien sie sich dafür auch nicht zu interessieren, denn sie verließ das Zimmer. Wahrscheinlich wollte sie eine ihrer Freundinnen besuchen und sich bei ihr ausschwärmen. Glücklicherweise. Ich nahm meine Kopfhörer ab, erleichtert, das Dröhnen los zu sein und verschränkte die Arme auf dem Tisch, bettete meinen Kopf hinein und versuchte eine Minute lang, die Tränen zu unterdrücken, die in mir aufstiegen. Glücklicherweise gelang es mir dieses Mal, sodass ich danach mit dem Lernen fortfahren konnte.

Am Nachmittag des Sonntags klingelte das Telefon meines Zimmers erneut. Da Natasha nicht da war, nahm ich, nachdem ich es eine Weile hatte klingeln lassen, den Hörer ab. Es war meine Mutter, die mich fragte, wie ich mich eingelebt hatte und warum ich mich denn nicht gemeldet hatte, dass ich sicher angekommen war. Sie hätte sich Sorgen gemacht. Eigentlich klang ihre Stimme eher erleichtert, dass sie mich endlich los war, dass ich endlich weit weg war, sodass sie meine Leidensmiene nicht täglich sehen musste. Ich wusste nicht, was ich noch tun sollte, um sie zufrieden zu stellen. Dies hier war wohl das Letzte, was ich für sie tun konnte. In den letzten Monaten hatte ich es mir wohl gewaltig mit ihr verscherzt. Verständlich, immerhin hatte ich drei Monate lang das Haus kaum verlassen, obwohl ich zur Schule, zum Musikunterricht oder einmal zum Arzt hätte gehen müssen. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen, alles abgedunkelt und nichts gegessen. Anfangs hatte sie sich schreckliche Sorgen gemacht, mich gefragt, was passiert war und ob sie mir helfen könne. Nach zwei Wochen wollte sie mich gewaltsam herausziehen und zu einem Arzt bringen, doch ich hielt mich fest, trat sie fest und schloss das Zimmer wieder.

Seit dem Tag hatte sie noch eine Weile lang versucht, mich dazu zu bringen, wieder heraus zu kommen, hatte mir jedoch Essen gebracht und sich Mühe gegeben, mich wieder ein wenig aufzupäppeln. Auch das hatte nicht geholfen. Nach eineinhalb Monaten fragte sie mich das erste Mal, was denn aus meiner Zukunft werden sollte. Nach zwei Monaten hatte sie mich aufgegeben. Und nach drei Monaten hatte sie den Schulwechsel hierher geplant. Sie war überrascht gewesen, dass ich so einfach zugestimmt und meine Sachen gepackt hatte. Ich hatte mein Zimmer verlassen, sogar einen Toast mit Marmelade gegessen, obwohl der so süß war, dass ich beinahe gebrochen hätte, und das Bahnticket entgegengenommen. Dann war sie in den Flieger gestiegen und auf Geschäftsreise gegangen. Ihr war es wohl letztendlich inzwischen doch egal, ob ich nun die Schule beendete oder nicht, ob etwas aus mir wurde oder ob ich weiterhin im Dunkeln von mich hinvegetierte.

Da ich nicht viel sagte und wenig erzählte, legten wir schnell wieder auf. Sie hatte mir kurz von ihrer Geschäftsreise erzählt, die sehr stressig gewesen war und mich danach gefragt, warum ich nicht auf dem Handy zu erreichen gewesen war. Ich antwortete ihr schlicht, dass es weg war.

Weg war ein etwas verharmlosender Ausdruck für das, was mit meinem Handy geschehen war. Ich hatte es damals in meinem dunklen Zimmer mit meiner Gitarre zertrümmert, in Einzelteile zerschlagen, weil es ständig gepiept und geblinkt hatte. Dabei war leider auch die Gitarre zerbrochen. Im ersten Moment fand ich es noch schade, doch gleich darauf war mir aufgefallen, dass ich das Zimmer sowieso nie wieder verlassen würde, also war es ja egal.

Als wir uns knapp verabschiedet hatten, legte ich den Hörer zurück aufs Telefon und streckte die Beine aus. Irgendwo, am Rand meines Herzens tat mir etwas weh, doch ich ignorierte es und brütete weiter über meinem Mathebuch. Mathe war schon immer mein schwächstes Fach gewesen, deshalb war es nur logisch, dass ich hier anfing, meine Versäumnisse nachzuholen. Es war harte Arbeit und abends tat mir mein Kopf weh.



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