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Where Butterflies never die

Die Geschichte einer Assassine
von

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Prüfung

Es war früh an diesem Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber helle Schweife am Horizont kündigten den bevorstehenden Sonnenaufgang an. Leise schlich die 17-jährige durch den Raum, bedacht darauf, ihre schlafenden Zimmergenossen nicht zu wecken. Sie zog sich ihre Hose an und schlüpfte in ihre Stiefel hinein. Dann schnallte sie sich den Ledergürtel um ihren Bauch und steckte das Schwert in die Scheide. Anschließend prüfte sie ihre Ausrüstung und war drauf und dran, das Zimmer zu verlassen, als sie jemand aufhielt.

„Morgen, Arsura“ flüsterte leise jemand neben ihr.

Die Angesprochene drehte sich um.

„He, Sait. Schon wach?“ fragte sie ebenso ruhig.

„Ja. Wo willst du hin?“ fragte Sait nach.

„Ausreiten. Willst du mit?“

Sait nickte. Arsura hatte so ein komisches Gefühl von Déjà-vu. Das gleiche Gespräch hatte sie vor fast zehn Jahren mit ihrem Vater geführt, als sie ihn morgens einmal gehört hatte. Leicht lächelte sie.

„Ich warte draußen“ sagte sie dann.

„In Ordnung. Ich komme gleich“ meinte Sait.

Arsura verließ den Raum und wartete vor der Tür. Es dauerte nicht lange, bis ihr bester Freund ebenfalls aus der Tür trat. Die beiden liefen schweigend durch die Festung, denn es schliefen noch schließlich alle und sie wollten niemanden wecken.

„Und? Wo wollen wir hin?“ fragte Arsura.

„Ich weiß nicht. Vielleicht wieder an die schöne Oase von neulich?“

„Das klingt gut.“

Arsura war größer geworden und sie hatte aufgrund ihrer Ausbildung zum Assassinen einen gestählten, aber schmalen Körper bekommen. Der Schliss, den sie damals von Abbas abgekriegt hatte, war nur noch eine helle weiße Narbe unter ihrem rechten Auge und fiel nicht sehr auf. Die kindlichen Gesichtszüge waren verschwunden und weiblichen Zügen gewichen.

„Heute werden die nächsten Prüflinge bekannt gegeben. Ich bin mal gespannt, ob wir dabei sind“ meinte Sait, als sie beide an den Ställen ankamen.

„Ja, es wäre auf jeden Fall für mich ein besonderes Ereignis“ stimmte Arsura ihm zu und ging direkt in Kadirs Box.

Der Hengst begrüßte sie mit einem leisen schnorchelnden Geräusch und trat auf seine Besitzerin zu. Sie streichelte ihm sanft über die Stirn und lächelte leicht.

„Na komm, Kadir. Lass uns den Wind spüren“ flüsterte sie ihm zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Sait ging zu seiner Stute und putzte sie erst noch ein wenig, bevor er sie aufsattelte. Sein Pferd hatte eine hübsche schokobraune Farbe und tiefschwarze Mähne. Arsura hatte von ihm schon gehört, dass sie manchmal etwas schwierig war. Afya war nun mal eine richtige Dame. Die beiden sattelten ihre Pferde und führten sie aus dem Stall. Am Palisadentor angekommen begrüßten sie kurz die Wachen, zogen sich ihre Kapuzen über, verließen das Dorf und stiegen auf. In einem ruhigen Trab ging es los. Die Morgendämmerung schritt voran, als die beiden Novizen sich auf den Weg zu der schönen, abgelegenen Oase machten. Dort waren sie schon öfter in letzter Zeit gewesen. Arsura bremste Kadir und auch Sait blieb mit seinem Pferd stehen. Verschmitzt grinste Arsura ihn an.

„Ein kleines Rennen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen?“ fragte sie.

„Natürlich“ nickte Sait.

Die beiden stellten sich nebeneinander und galoppierten auf drei an. Kadir und Afya fegten über den kargen Boden hinweg, ihre Hufe klapperten ab und an laut auf den Steinen. Als Arsura in Führung war, ließ sie Kadir die Zügel lang, breitete die Arme aus und genoss einen Moment das Gefühl der Unbeschwertheit. Tief atmete sie die frische Morgenluft ein. Kadir galoppierte schnell und gleichmäßig unter ihr. Arsura nahm die Zügel wieder auf, als sie einen umgestürzten Baum von weitem sah und sprang mit ihrem Pferd gekonnt darüber. Bis zur Wasserstelle war es nicht mehr weit. Kadir nahm die letzten Meter in einem atemberaubenden Tempo. Als sie an der Oase ankam, bremste sie den weißen Hengst und drehte sich um. Sait kam mit seiner Stute angaloppiert und bremste sie ebenfalls, als er da war.

„Nicht schlecht. Kadir ist wirklich schnell. Afya kommt nicht wirklich hinterher“ sagte Sait und stieg ab.

Arsura tat es ihm gleich und sie beide banden ihre Pferde an eine Palme, die über der schönen Wasserstelle Schatten spendete, fest. Entspannt setzte Arsura sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen zweiten Baum.

„Was ein schöner Morgen“ seufzte sie.

„Stimmt. Vor allem haben wir heute keinen Zeitdruck“ stimmte Sait ihr zu und setzte sich ebenfalls.

Eine ganze Weile saßen die beiden schweigend beieinander, dann ergriff Sait erneut das Wort.

„Kann ich dich mal was fragen?“

Arsura nickte leicht.

„Nur zu.“

„Wo kommst du eigentlich her?“ fragte Sait.

„Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen“ antwortete Arsura wahrheitsgemäß.

„Wie meinst du das?“

„Ich kann mich an nichts erinnern, bevor ich im Alter von Sieben Jahren nach Masyaf gebracht wurde. Ich wünschte, ich könnte, denn manchmal plagt mich diese Ungewissheit wirklich. Wo komme ich her? Wie ist mein richtiger Name? Wer waren meine richtigen Eltern? Das sind alles Fragen, auf die ich bis heute keine Antwort gefunden habe. Natürlich sind Sharif und Ayasha für mich wunderbare Eltern und das Leben, welches ich in den letzten Jahren hatte, würde ich auch nicht mehr hergeben wollen. Vielleicht finde ich eines Tages heraus, wer ich bin. Aber, das wird nichts an meiner Treue zu Masyaf und unserer Bruderschaft ändern. Für euch alle werde ich immer Arsura bleiben, egal was passiert und wer ich wirklich bin“ erklärte die Braunhaarige nachdenklich.

„Ich kann mir nicht richtig vorstellen, was in dir vorgeht. Das muss hart für dich sein“ sagte Sait.

„Ja, schon. Aber, mittlerweile habe ich mich damit abgefunden“ erwiderte Arsura.

„Dennoch warte ich darauf, dass sich mein Gedächtnis wieder erholt. Egal, was passiert ist, es muss so traumatisch gewesen, dass ich es einfach vergessen hab.“

„Wie kommst du darauf, dass es traumatisch gewesen sein muss?“ fragte Sait verwirrt.

„Unser netter Doktor hat mir erklärt, als ich ihn danach fragte, dass unser Gehirn manchmal Erinnerungen, die sehr schlimm waren, einfach verdrängt und wegsperrt. So etwas hat er auch ab und an bei Assassinen, die sich nicht mehr erinnern können, was sie denn getan haben. Es ist eine Art Schutzmechanismus, der verhindert, dass man völlig den Verstand verliert“ antwortete sie.

„Ja, von dem Phänomen habe ich auch schon gehört“ sagte Sait leise.

„Ich weiß, dass das bei Ilai schon vorkam. Vater hat es mir erzählt. Das ist noch gar nicht so lange her, wenn ich mich nicht irre“ sagte Arsura mitfühlend.

„Er konnte nicht mal mehr genau sagen, was er getan hatte. Als es ihm wieder einfiel, stand er völlig neben sich“ erzählte Sait.

„So geht es mir, nur mit dem Unterschied, dass ich gar nichts weiß und es mir auch nicht einfällt. Aber manchmal… träume ich von einer großen schönen Blumenwiese, wohinter ein See ist. Das Wasser glitzert im Sonnenschein und auf den Blüten tummeln sich so viele Schmetterlinge, dass man sie gar nicht zählen kann“ sagte Arsura und blickte auf das Wasser vor sich.

Sait stand auf.

„Wollen wir zurück?“ fragte er sie.

„Jetzt schon? Frühstück kann warten. Ich hab jetzt noch keinen Hunger“ erwiderte die Braunhaarige.

„Nein, es geht mir auch um die Listen. Bis wir zurück sind, hängen sie bestimmt schon. Und mich würde wirklich interessieren, ob ich dieses Mal zur Prüfung zugelassen bin“ entgegnete Sait.

„Altair hat es letztes Mal geschafft. Ich hab hart gearbeitet, um die Prüfung schon früher ablegen zu können, aber an sein Talent komme ich nicht heran“ meinte Arsura.

„Aber, na gut. Lass uns zurückreiten. Ich bin auch gespannt.“

Sie ging zu Kadir und band ihn los. Dann schwang sie sich auf den Rücken des Hengstes. Auch Sait stieg auf Afya auf. Er und Arsura machten sich auf den Rückweg.

„Weißt du eigentlich, wie die Prüfungen ablaufen?“ wollte Sait wissen.

„Nein. Und darüber wird auch eisern geschwiegen. Die Novizen sollen sich nicht darauf vorbereiten können“ erwiderte Arsura.

„Zumindest hat mein Vater es mir so erzählt.“

„Klingt eigentlich logisch. Wenn wir später in verschiedenen Städten sind, um unsere Aufträge auszuführen, wissen wir auch nicht, was uns erwartet“ stimmte Sait ihr zu.

Arsura konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen.

„Und genau das macht es erst interessant“ meinte sie.

Die Braunhaarige ließ ihren weißen Hengst angaloppieren. Sait war einen Moment verwirrt, schloss sich ihr dann aber an und folgte Arsura mit Afya im selben Tempo. Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden wieder in Masyaf ankamen. Vor dem Eingang zum Dorf stiegen sie von ihren Pferden ab und brachten sie anschließend in die Stallungen. Dann gingen die beiden Novizen hoch zu der prunkvollen Festung.

„Ich will mal schauen, ob Malik schon wach ist“ sagte Arsura dann und ging nach rechts, um sich in Richtung des Zimmers zu begeben.

„Ich warte hier“ meinte Sait.

Arsura nickte kurz und lief die Treppe hoch. Als sie vor der Zimmertür stand, klopfte sie an. Kurz darauf hörte sie ein „Herein“ und betrat den Raum.

„Guten Morgen“ begrüßte Arsura ihren besten Freund.

Malik gähnte herzhaft.

„Morgen. Du bist schon auf?“ fragte er.

„Ja, seit ein zwei Stunden etwa. Ich war mit Sait ausreiten. Wir sind nur schon wieder da, weil wir wissen wollen, wer zur Prüfung zugelassen ist“ entgegnete sie.

„Ach ja. Stimmt. Heute ist es ja soweit“ murmelte Malik.

Arsura nickte zustimmend.

„Kommst du dann zum Frühstück?“ fragte sie.

Malik nickte.

„Klar. Geht schon mal vor.“

Arsura lächelte leicht und verließ das Zimmer. Sie ging zurück zu Sait und sagte ihm Bescheid. Das Frühstück verlief eher schweigend und die Anspannung war schon fast greifbar. Viele der Novizen hier, hofften endlich ihre Chance zu bekommen. Nach dem Essen machte Arsura sich mit Malik und Sait auf den Weg in die Bibliothek. Dort sollten die Listen ausgehängt werden. Ungeduldig warteten die drei darauf und dann endlich kam einer der Ausbilder um die Ecke. Er bat die unruhigen Novizen still zu sein und rollte das Pergament in seinen Händen aus.

„In drei Tagen ist die Prüfung. Und dazu zugelassen sind…“

Er las eine Reihe von Namen vor und als Arsuras Name auch darunter war, klappte ihr der Mund erstaunt auf. Malik und Sait wurden auch genannt. Ungläubig sah sie zu den beiden.

„Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe“ meinte sie.

„Du hast dich in den letzten Jahren auch wirklich bewährt, Arsura. Dafür, dass du vor vier Jahren dazu gekommen bist und einiges nachzuholen hattest, hast du dich gut geschlagen“ sagte Malik pragmatisch.

„Es war auch nicht einfach. Aber, jetzt da es endlich so weit ist, wird sich auch mein Vater freuen, von meinem Erfolg zu hören“ erwiderte sie lächelnd.

„Ja, Sharif wird sich wirklich freuen. Wurde er nicht kürzlich zum Meisterassassinen befördert?“ fragte Sait interessiert.

Arsura nickte zustimmend.

„Ja, wurde er. Und eines Tages komme ich auch so weit. Ich will ihm gleich sagen, dass ich in drei Tagen bei der Prüfung dabei bin. Also, nehmt es mir nicht übel, wenn ich mal kurz verschwinde.“

„Kein Problem. Bis später“ sagte Malik und winkte ihr kurz zu, als sie sich umdrehte und zum Gehen ansetzte.

Arsura konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich die Chance bekam, zum Assassinen aufsteigen zu können. Als sie die Festung verlassen hatte, sprintete sie auf die Dächer zu, erklomm die Wand und kletterte zügig daran hoch. Als sie auf dem Dach stand genoss sie einen Moment die Aussicht auf das Dorf, das unter ihr lag. Die Menschen liefen geschäftig durch die staubigen Gassen, es herrschte reges Treiben an diesem Morgen. Arsura riss sich von dem schönen Panorama los, sprang auf das Dach unter ihr und dann auf den Boden. Dabei wurde sie von den Passanten ein wenig schräg angesehen, aber daraus machte sie sich schon lange nichts mehr. Vor ihr fehlte ein Teil der Steinmauer, die den Hang abgrenzte. Arsura ging auf den Vorsprung zu und sah hinab. Jemand hatte Heu darunter aufgeschichtet. Sie lächelte, drehte sich um und nahm Anlauf. Mit beiden Füßen gleichzeitig stieß sie sich an der Felskante ab und breitete leicht die Arme aus, als wollte sie davon fliegen. Sie spürte, wie es abwärts ging, drehte sich im Flug um und landete rücklings, so wie sie es gelernt hatte, in dem weichen Heu. Schnell stieg sie aus dem Haufen und klaubte das Stroh aus ihrer Kleidung. Arsuras blaue Augen blickten nach oben, an die Stelle, an der sie sich eben in die Tiefe gestürzt hatte. Diese ‚Todessprünge‘ wie sie hier genannt wurden, waren immer sehr befreiend. Zufrieden lief sie zu dem Haus ihrer Zieheltern. Sie konnte es kaum erwarten ihnen zu erzählen, was auf sie zukam.

„Vater? Mutter? Seid ihr da?“ fragte sie, während sie anklopfte.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und Ayasha stand im Rahmen. Sie umarmte Arsura lächelnd.

„Hallo, Arsura. Wieso bist du hier? Hast du heute keinen Unterricht?“ fragte die Schwarzhaarige interessiert.

„Nein, heute nicht. Ist Vater auch da?“ wollte Arsura wissen.

Ayasha nickte.

„Komm rein.“

Die beiden gingen in das Haus und trafen dort am Tisch auch Sharif an.

„Vater, ich habe tolle Neuigkeiten“ platzte es aus der Braunhaarigen heraus.

Sharif runzelte die Stirn. Was konnte denn passiert sein, dass Arsura so eine wunderbare Laune hatte?

„Darf man auch erfahren, um was es sich handelt?“ fragte der frisch beförderte Meisterassassine interessiert.

„Natürlich. Ich bin für die kommende Prüfung zum Assassinen in drei Tagen zugelassen. Sie haben heute die Liste vorgelesen und ich bin auf jeden Fall dabei“ sagte Arsura glücklich.

„Das freut mich“ meinte er, aber es klang nicht so.

„Vater, was ist los? Ich dachte, du freust dich, wenn ich es schaffe aufzusteigen“ sagte Arsura skeptisch.

„Ja, es freut mich schon, dass du es so weit geschafft hast, aber… Arsura, die Prüfung ist etwas, dass ich selbst nicht gemacht hätte, wenn ich damals gewusst hätte, was passiert. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber es ist mir verboten darüber zu sprechen“ erklärte Sharif und seufzte schwer.

Arsura setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Was willst du damit sagen?“ wollte sie wissen.

„Wie gesagt, ich darf nicht darüber sprechen. Aber, denke einmal darüber nach, was noch zum Leben eines Assassinen dazugehört“ meinte Sharif nun.

Arsura sah ihn fragend an.

„In drei Tagen weiß ich mehr. Egal, was diese Prüfung beinhaltet, ich werde es schaffen“ meinte sie zuversichtlich.

„Ich zweifle auch nicht daran“ lächelte Sharif zurück.

„Ob du das dann mit dir selbst vereinbaren kannst, steht auf einem anderen Blatt.“

Sharif stand auf, ging zu ihr, klopfte ihr auf die Schulter und drehte sich dann mit einem undefinierbaren Blick weg, bevor er das Haus verließ. Immer noch verwirrt und auch ein wenig beunruhigt sah Arsura Sharif hinterher. Was er wohl damit gemeint hatte? Ayasha ging zu ihrer Ziehtochter und sah sie mitfühlend an.

„Was hat Vater damit gemeint? Wieso sollte ich das nicht mit mir vereinbaren können?“ wollte Arsura wissen.

Ayasha seufzte schwer.

„Als dein Vater damals von der Prüfung zurückkam, habe ich ihn im ersten Moment nicht wiedererkannt. Er war aschfahl im Gesicht, stand völlig neben sich und ich habe ewig gebraucht von ihm zu erfahren, was passiert ist. Erst als er es mir unter Tränen beichtete, wurde mir klar, dass dieses Leben als Assassine auch sehr grausam sein kann“ erzählte Ayasha.

„Mutter, sprich mit mir. Was ist passiert?“ hakte Arsura ungeduldig nach.

„Eigentlich darf es dir nicht sagen, aber es ist besser, wenn du es weißt. Bei seiner Prüfung musste Sharif einen Menschen töten. Und das schlimme daran war, das es nicht irgendwer war, sondern einer seiner besten Freunde. Die Novizen werden nach Leistung eingeteilt und je nachdem wie stark oder schwach man ist, bekommt man einen entsprechenden Gegner zugeteilt. Sharif, der einer der Jahrgangsbesten war, musste gegen seinen besten Freund antreten, da dieser nicht den Anforderungen entsprach. Sharif erzählte mir, dass er dazu gezwungen wurde, denn hätte er es nicht getan, hätte er seine Ehre und die der Bruderschaft beschmutzt und wäre selbst hingerichtet worden, wegen der Verweigerung eines Befehls. Sharif wollte nicht in Schande sterben, deswegen hat er es getan und es ist ihm nicht leicht gefallen“ erzählte Ayasha traurig.

Arsura sah sie entsetzt an. Sie bekam im ersten Moment keinen Ton mehr heraus.

„Auch du wirst gezwungen werden, jemanden zu töten, den du kennst. Wenn du es nicht schaffst, stirbst du und wenn du es schaffst, kannst du es wahrscheinlich nur schwer mit dir vereinbaren. Deswegen war Sharif auch gerade eben so bedrückt. Er möchte nicht, dass du denselben Schmerz spürst, wie er damals“ sagte die Schwarzhaarige.

„Ich… ich kann nicht mehr zurück. Die Prüflinge stehen fest und ich bin unter ihnen. Ich muss antreten, ob ich will oder nicht“ murmelte Arsura leise.

„Noch kannst du es abbrechen. Töten gehört dazu, wenn man ein Assassine ist, aber normalerweise tötet ihr Leute, die ihr nicht kennt. Al-Mualim ist in dieser Hinsicht wirklich grausam, seinen Schülern so etwas anzutun. Man könnte das Argument, dass sie es so am besten lernen, aber das ist schwachsinnig. Er will nur ausgewählte Schüler zum Assassinen aufsteigen lassen. Jeder, der zu schlecht ist, stirbt“ sagte Ayasha betrübt.

Arsura schluckte hart. Die Wahrheit war wirklich grausam und jetzt konnte sie Sharifs Reaktion nachvollziehen. Sie hatte Glück, war eine der Besten in ihrer Gruppe und sie hatte Durchschlagsfähigkeit und keine Hemmungen. Trotzdem. Konnte sie einen Freund, Kameraden, Bruder töten? Jemanden, mit dem sie schon jahrelang zu tun hatte? Das konnte sie sich nicht vorstellen und trotzdem würde es so kommen.

„Keine Sorge, Mutter. Ich finde einen Weg, damit klar zu kommen. Wenn es sich so verhält, dann wird es eben so sein. Ich kann das genauso wenig aufhalten, wie die Sonne daran zu hindern unterzugehen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich es schaffe“ meinte Arsura.

Fassungslos sah Ayasha sie an.

„Wie kannst du nur so reden?! Du wirst einen Menschen töten, den du kennst!“ platzte es aus Ayasha heraus.

„Nichts ist wahr und alles ist erlaubt“ erwiderte Arsura kalt.

Ayasha entgleisten die Gesichtszüge. Arsura schob das Kredo vor. Ihr schien ihr Aufstieg zum Assassinen wirklich so wichtig zu sein, dass sie dafür bereit war, über Leichen zu gehen.

„Denk an meine Worte, wenn es so weit ist. Du wirst deine Entscheidung bereuen, sobald du über einem deiner Brüder stehst und ihm in die verzweifelten Augen blickst, kurz bevor du gezwungen bist, ihn zu töten“ sagte Ayasha ernst.

„Keine Sorge, das werde ich“ erwiderte Arsura und stand auf.

„Ich gehe jetzt wieder hoch zur Festung. Wenn etwas ist, weißt du, wo du mich finden kannst.“

Ohne auf eine Antwort von Ayasha zu warten, verließ sie das Haus. Einen Moment lang, war sie entsetzt über sich selbst. Seit wann redete sie so daher? Woher kam diese plötzliche Kaltblütigkeit in ihrem Herzen? Die Erkenntnis, was bei der Prüfung passieren würde, war noch nicht ganz bei ihr angekommen – so schien es ihr zumindest. Arsura schüttelte den Kopf atmete tief durch und ließ den Blick schweifen. An einer Mauer, die den Hang zum Tal abgrenzte, sah sie Sharif. Der Meisterassassine stand davor und blickte hinunter. Er schien in Gedanken verloren zu sein. Der Wind wehte die langen weißen Schöße seiner Robe leicht nach rechts. Arsura ging langsam auf ihn zu.

„Vater?“

Sharif drehte sich zu ihr und lächelte leicht. Arsura musterte ihn mitfühlend.

„Deinem Blick nach zu urteilen, hat Ayasha dir erzählt, was damals passiert ist“ sagte er ruhig.

Arsura nickte.

„Ja. Und ich bin unschlüssig darüber, ob ich das über mich bringe. Ich meine, es ist nicht leicht, so etwas zu tun“ meinte sie nachdenklich und starrte hinab ins Tal.

„Ich sehe noch heute seinen Blick. Wie er mich leise anflehte, es nicht zu tun. Das kann ich einfach nicht vergessen“ sagte Sharif traurig.

„Das tut mir leid“ meinte Arsura mitfühlend.

„Ich wünsche mir nicht, dass du diesen Schmerz spürst, mein Kind. Dennoch, wenn du es so willst, kann ich dich nicht aufhalten“ entgegnete Sharif nun.

Arsura nickte verstehend und biss sich leicht auf die Unterlippe. Es würde dauern, bis dieser Gewissenskonflikt abriss.
 

Und er riss nicht ab. Drei Tage später war es dann so weit. Arsura hatte die letzten Nächte kaum geschlafen. Ihr innerer Konflikt wirkte sich stark auf ihr Gemüt aus. Malik und Sait waren ratlos, warum sie denn so schlechte Laune hatte. Arsura konnte es ihnen einfach nicht erzählen. An diesem Morgen stand sie völlig neben sich, hörte gar nicht, was ihre beiden Zimmergenossen zu ihr sagten.

„Arsura, hey! Hörst du mich?“ fragte Sait verwundert und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.

Arsura schrak auf.

„Was ist denn?“ fragte sie beiläufig.

„Kannst du uns mal erklären, warum du so komisch bist? Ich dachte, du freust dich auf Prüfung und jetzt ziehst du ein Gesicht, als würde die Welt untergehen“ meinte Sait.

„Es… ist nichts“ wimmelte Arsura ihn ab.

Sait schüttelte den Kopf.

„Irgendetwas muss doch los sein“ beharrte er weiterhin.

Malik stand von seinem Bett, auf dem er bis eben gesessen hatte, auf und ging auf Arsura zu. Er setzte sich neben sie und musterte sie besorgt.

„Sait, geh mal bitte raus“ sagte Malik ernst.

Sait fragte nicht weiter, sondern verließ das Zimmer. Arsura starrte weiter vor sich hin und schluckte schwer.

„Willst du mir wirklich nicht erzählen, was dich so bedrückt?“ fragte Malik mitfühlend.

Arsura schüttelte langsam den Kopf.

„Nein“ sagte sie gefasst.

„Du weißt, du kannst mir alles erzählen“ meinte Malik nun.

Arsura stand auf und sah ihn unruhig an.

„Werde ich auch. Aber, erst nach der Prüfung“ sagte sie schnell und wollte gehen, doch Malik sprang auf und packte sie am Arm.

Arsura drehte sich zu Malik um und er sah seine beste Freundin eindringlich an.

„Erzähl mir, was los ist. Ich möchte nicht, dass du mit so einem Kopf in die Prüfung gehst. So kannst du dich sowieso nicht konzentrieren“ beharrte Malik weiterhin.

„Es ist nichts, Malik“ beschwichtigte Arsura erneut.

Ihre blauen Augen sprachen genau das Gegenteil. Malik sah, dass irgendetwas in ihr vorging, das sie sehr beschäftigte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was es war. Arsura war doch sonst nicht so übersensibel und unter Prüfungsangst litt sie garantiert nicht. Arsura sah zur Seite, wich seinem Blick aus und wollte gehen, aber Malik ließ sie nicht.

„Komm schon. Mach mir nichts vor. Du stehst doch völlig neben dir“ meinte er und seufzte leicht.

„Ich… ich kann es dir jetzt noch nicht sagen. Ich erzähle es dir nach der Prüfung. Vertrau mir, Malik. Ich schaff das schon“ sagte Arsura entschieden.

„Bist du dir sicher?“ fragte er skeptisch nach.

Sie nickte entschlossen.

„Gut. Wenn du meinst, dann lasse ich es erst mal dabei bewenden“ meinte Malik.

Arsura nickte dankend.

„Lass uns gehen“ sagte sie schließlich und verließ mit ihm das Zimmer.

Sait wirkte etwas ungeduldig, als die beiden aus der Tür traten.

„Kommt schon. Wir sind spät dran“ drängelte er ungeduldig.

Arsura hatte das seltsame Gefühl den Weg zum Galgen anzutreten, als sie sich mit Malik und Sait auf den Weg zu den anderen machte. Ein unbeschreiblich beklemmendes Gefühl hatte ihre ganze Magengegend im Griff. Und es wurde immer stärker. Die Novizen standen vor den großen Flügeltüren. Es würde das erste und auch einzige Mal sein, dass sie diesen Raum betreten würden. Arsura hörte die Worte des Mannes, der vorne stand überhaupt nicht. Mehr versuchte sie ihre Panik im Griff zu halten. Noch nie hatte sie sich in ihrem Leben gegen etwas so dermaßen gesträubt. Das Klacken der Tür ließ sie aus ihren Gedanken schrecken und sie sah nach vorne. Die schweren Türenflügel aus Holz wurden geöffnet und die Novizen setzten sich in Bewegung. Es ging eine Treppe hinunter, dann kam man zu einem relativ hohen Raum. Er war gut beleuchtet, das Licht der Sonne wurde mithilfe von Spiegeln hin und hergeworfen. In der Mitte befand sich ein Übungsplatz, der dem auf dem Innenhof glich. Überall waren eingetrocknete Blutflecke auf dem Boden des Platzes zu sehen. Arsura drehte sich kurz um, als sie hörte, wie die Türen geschlossen wurden. Sie atmete tief durch.

„Nun, es wird eisern darüber geschwiegen, was hinter diesen Türen geschieht. Und das aus gutem Grund. Kein Novize soll die Möglichkeit erhalten, sich auf diese Prüfung vorzubereiten, da es auch später nicht so sein wird, dass ihr euch auf alles vorbereiten könnt. Eure Aufgabe ist simpel und doch auf ihre Weise sehr schwer: Tötet euren Gegner“ erklärte der Mann, der die Prüfung leitete kühl.

Verwirrung ging durch die Reihen der Novizen. Dem Prüfer entging das nicht, deshalb wurde er konkreter.

„Wir haben euch nach eurer bisherigen Leistung eingeteilt. Die Schüler, die in diesem Jahrgang sehr gut waren, bekommen einen Gegner, der nicht diesen Anforderungen entspricht.“

Sait sah entsetzt zu Arsura. Hatte sie das vielleicht gewusst? War sie deshalb so seltsam in den letzten Tagen gewesen? Eine gespenstische Stille kehrte ein. Jeder wusste jetzt, aus was die Prüfung bestand.

„Naim Aziz und Arsura Antun Sa’ada bitte vortreten“ sagte der Prüfer dann.

Gedanklich flehte Arsura den Prüfer an, das nicht zuzulassen, aber ein anderer Teil von ihr brachte ihren Körper dazu, sich in Bewegung zu setzten und aus der Menge hervorzutreten, genauso wie der andere Novize, dessen Namen genannt wurde. Die beiden gingen zum Prüfer, der sie mit einer Geste dazu aufforderte, direkt zum Kampfplatz zu gehen. Arsura verdrängte ihr schlechtes Gewissen und versuchte sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Mit einer eleganten Hockwende schwang sie sich über das Geländer und atmete tief durch. Der junge Novize ihr gegenüber sah entsetzt zu ihr. Arsura schluckte hart ihr Mitleid hinunter, denn davon durfte sie sich jetzt nicht unterkriegen lassen. Es war schlimm, ja. Aber notwendig. Wieso konnte sie so kaltblütig denken? Seit wann sperrte ihr Kopf alle Empfindungen und ließ sie tun was nötig war? Arsura schüttelte den Kopf leicht und zog sich ihre Kapuze über. Das machte ihre Schritte unvorhersehbarer als sonst. Dann holte sie ihr Schwert hervor und begab sich in Angriffsposition. Naim, der ihr gegenüber stand schlotterte vor Angst, aber auch er versuchte sich zu fassen und zog die Waffe aus der Scheide.

„Wenn ihr soweit seid, dann dürft ihr anfangen. Alles ist erlaubt“ sagte der Prüfer und seine Stimme hallte in dem relativ hohen Raum wider.

Arsura machte die ersten Schritte. Naim war viel zu nervös. Sein Schwertarm zitterte vor lauter Angst. Die Braunhaarige gestand es sich ungern ein, aber hier hatte sie leichtes Spiel. Naim hing an seinem Leben und aus der Verzweiflung heraus, griff er Arsura mit einem kämpferischen Schrei an. Die Attacke war offensichtlich. Arsura blockte den Schlag, nutzte die Blöße und ließ ihre linke Faust gegen seine Wange prallen. Naim wich zurück. Als er sich gefasst hatte, griff er erneut an. Sie seufzte unhörbar, blockte den Schlag erneut, trat ihm in die Kniekehle und schlug ihm erneut gegen sein Gesicht. Naim ging zu Boden. Arsuras Mimik war weder für Sait noch für Malik deutbar. Etwas hatte sich verändert, das sahen beide, aber sie konnten nicht definieren, was es genau war. Als Malik einen Blick auf Arsuras blaue Augen, die unter der Kapuze schlecht zu sehen waren, erhaschen konnte, wusste er, was es war. So einen kalten unbarmherzigen Blick hatte er bei ihr noch nie gesehen. Offenbar hatte sie ihre Panik der letzten Tage in den Kampf gelegt. Aber, unglaublich geschickt und passend. Wie eine Löwin umkreiste Arsura ihre Beute, gab ihm aber die Chance aufzustehen, bevor sie sich auf ihn stürzte. Alles andere wäre auch zu einfach.

„Ich erkenne sie nicht wieder. Was ist passiert? Warum ist sie auf einmal so eiskalt und berechnend?“ fragte Sait leise.

„Ich weiß es nicht“ gab Malik in derselben Tonlage zurück.

Harte Hiebe droschen auf das Schwert von Naim ein. Er wurde immer weiter zurückgedrängt. Verzweifelt versuchte er sich aus der Misere zu befreien, doch als er zurückschlug ließ er seine Deckung fallen. Arsura nutzte das aus und schlug ihr Schwert mit der scharfen Seite gegen seine Kniekehle. Ein widerliches Knacken war zu hören, als die Sehnen zerrissen und Naim erneut zu Boden ging. Er jaulte laut auf vor Schmerz und hielt sich das Bein. Als der erste Schock überwunden war, drehte er sich panisch auf die andere Seite und versuchte wieder aufzustehen. Arsura ging auf ihn und trat ihm das Schwert weg. Klirrend glitt es über den Boden und blieb außer Reichweite des verzweifelten Novizen liegen.

„Nein, tu mir nichts – bitte!“ flehte er weinerlich.

Arsura musterte ihn mit kalten blauen Augen und verengte diese leicht. Sie hielt ihr Schwert so, dass es mit der Klinge nach unten zeigte. Naim flehte sie weiterhin an, als sie ihr Schwert hob, um zuzuschlagen. Die Klinge glänzte im Licht als Arsura die Waffe etwas anhob und dann erbarmungslos zustach. Das Metall bohrte sich erbarmungslos in Naims Kehle. Er röchelte kurz und sah mit ausdruckslosen Augen an die Decke, dann war es still. Allgemeines Entsetzen über Arsuras Kaltblütigkeit machte die Runde, doch die junge Novizin ließ sich davon nicht stören. Irgendetwas war in ihr gebrochen, als ihre Schwertklinge den Hals des Novizen durchstoßen hatte. Es hatte einem anderen, starken Gefühl Platz gemacht. Sie ließ den toten Körper achtlos zurück und ging zum Prüfer.

„Herzlichen Glückwunsch. Damit hast du die Prüfung bestanden. Wenn du möchtest, kannst du gehen“ sagte der Mann anerkennend.

Arsura verneigte sich wortlos, drehte sich zur Seite, lief an den Novizen vorbei die Treppe hoch und verließ den Raum.



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