Zum Inhalt der Seite

Federschwingen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Gula ist nunmehr seit einer Woche verschwunden“, leitete Acedia das Thema betont ein, „Denkt ihr nicht, es wäre langsam an der Zeit, meinem Vorschlag Folge zu leisten?“ Ihre Augen blitzten wütend, sie schaute eindringlich von einem zum anderen, in ihre Stimme klang unterdrückte Ungeduld. Sie hatte es wohl langsam wirklich satt.

„Eine Woche“, wiederholte Invidia. Sie winkte ab. „Das ist wohl wirklich kein Zeitraum, um die Antigöttin hereinzubitten.“ Sie lächelte. „Oder beneidest du ihn um seine Freizeit?“

„Nein“, erwiderte Acedia kurz angebunden, „Aber vielleicht, um etwas zu unternehmen, bevor wir alle drauf gehen.“

„Luxuria ist immerhin schon seit vier Monaten fort“, setzte Ira nach.

Acedia nickte. „Und wer weiß, was derjenige, der dafür verantwortlich ist, vor hat?“ Sie ballte die Hände zur Faust und erhob sich. „Ich will, dass eine Engelsversammlung eingeleitet wird!“

„Es steht drei zu zwei“, klärte Superbia sie auf. Ein Grinsen zierte sein Gesicht. „Deine Seite ist ziemlich angeschlagen.“

„Ja.“ Acedia presste die Lippen aufeinander. „Gula war mein Verbündeter. Aber er hat nie eine etwaige Abwesenheit angedeutet. Sollte das nicht vielleicht Sorge in euch erwecken?“

Avaritia zuckte mit den Schultern. „Er ist ein ausgewachsener Engel und einer der stärksten noch dazu. Ich sorge mich nicht.“

„Warum sollte jemand Todsünden angreifen?“, hakte Invidia kopfschüttelnd nach, „Das wäre sinnlos.“

„Die Anti-Todsünden-Fraktion-…“, begann Acedia, wurde aber von Superbias leisem Lachen unterbrochen. Sie sah unbeeindruckt zu ihm. „Habe ich einen Witz verpasst?“

„Die werden Tag für Tag bewacht“, erinnerte er sie schmunzelnd, „Seit Luxuria nicht mehr auftaucht, sogar noch besser. Die haben nichts damit zu tun. Es gibt keine Angriffe auf Todsünden.“

… Ira fragte sich, wie die drei es schafften, sich so gegen die Realität zu wehren. Zwei ihrer assistentenlosen Kollegen waren verschwunden. Es gab keinen ausgebildeten Nachfolger. Wie konnten sie ihre Sorge nur so gut verbergen? Acedias Vorschlag, eine Engelsversammlung einzuberufen, war mehr als nur berechtigt. Wenn nicht sogar tatsächlich nötig. Ira hätte sich eigentlich auch nicht sofort auf ihre Seite geschlagen – wenn das erste Opfer nicht Luxuria gewesen wäre, zu der diese lange Abwesenheit nicht passte. Und auch Gula war sehr zuverlässig. … Wie konnten sie beweisen, dass etwas nicht stimmte …? Wenn sie sich so gegen Maßnahmen wehrten … Sie konnten doch zumindest einen Kompromiss eingehen. Aber welchen?

„Wir brauchen eine Engelsversammlung“, wies Acedia sie an, „Ohne die …“

„Du brauchst eine Engelsversammlung“, verbesserte Superbia sie barsch, „Warum willst du dir den Aufwand antun?“

„Weil sie auf keine Rufe reagieren?“, fuhr sie ihn an, „Weil sie nicht mehr auftauchen? Weil kein Engel sie mehr gesehen hat?“

„Du siehst das zu eng“, wiegelte er ab, „Wie soll man sie bitte töten? Hier sind nur Engel – und Engel töten keine Engel. Hätten nicht einmal die Möglichkeit.“ Er lächelte sanft, beinahe väterlich. „Und eine Todsünde kann nur von ebenbürtiger Stärke festgehalten werden“, erinnerte er sie, „Das würde dann den Verdacht nahe legen, dass es einer von uns gewesen sein müsste.“ Die Anklage in seiner Stimme war nicht zu überhören: Verdächtigst du uns?

Acedia ließ sich kraftlos auf den Stuhl zurückfallen.

… Sie mussten etwas tun. Etwas, das den anderen die Augen öffnete … Etwas, das ein Verbrechen nachweisen könnte …

„Anwesenheitspflicht“, fiel ihm ein, „Wir verhängen über uns selbst eine Anwesenheitspflicht.“ Fragende Blicke trafen ihn.

„Was willst du damit sagen?“, informierte sich Avaritia mit einem untypischen Stirnrunzeln.

„Wir vereinbaren eine Uhrzeit, zu welcher wir von jetzt an jeden Tag hier erscheinen, um die Konferenzen zu tätigen. Und jeder muss kommen. Wir machen das nicht mehr per Ruf – sondern per Fakten.“

Superbias Mundwinkel zog sich nach unten. „Dann muss ich jeden Tag kommen? Pünktlich?“

Er nickte. „Ja. Und wir sollten uns hiermit schwören lassen, dass wir immer kommen, egal, was uns geschieht, egal, was uns aufhält, egal, was wir tun wollen. Das hier ist ab jetzt unsere oberste Pflicht.“

„Ich habe einen Ruf an Sin ausgesendet“, erklärte Avaritia. Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Wir werden den Schwur an ihn richten, sodass er ewig währt, ungebrochen.“

Invidia nickte. „Ja, die Idee finde ich fabelhaft.“

… Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen – auch der anderen Fraktion war die Gefahr bewusst … nur wollten sie sie nicht wahr haben.

Er fühlte, dass jemand ihn anstarrte. Er erwiderte Acedias Blick. In ihrem Gesicht standen so viele Emotionen, wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte … Etwas wie Dankbarkeit, aber auch Unsicherheit lag darin … aber auch anderes … etwas Berechnendes … etwas … Bedrohliches. … Warum sollte sie gegen den Schwur sein? … Oder hatte sie bloß Angst, dass ihre Zeitplanung und Unpünktlichkeit dadurch über den Haufen geworfen wurde? Sie würde es schaffen. Es stand in ihrem Interesse. So würden sie die Engelsversammlung vielleicht beschwören können – somal noch einer von ihnen verschwand.

„Ja“, stimmte sie zu und wandte den Blick ab, „Tun wir das.“

„Dann werden wir ja sehen, wer Recht hat“, gab Superbia hinzu. Hochmütig grinste er sie an. „Der Bessere gewinnt.“

Und damit materialisierte sich Sin. Und als Ira ihn sah, erschrak er.
 

Nathan hatte sogar das Mittwochstreffen verpasst. Deshalb quälte ihn noch immer ein schlechtes Gewissen. Aber er konnte nichts dafür – auch wenn die Assistenten die Arbeit, die auf Gulas Schreibtisch liegen blieb, untereinander aufteilten, so kam doch relativ viel mehr zusammen. Und das machte mehr Stunden, mehr Stress … aber noch schlimmer war es für Acedia.

Jeden Tag nach dem Erinnerungslöschen kam sie total fertig ins Büro. Sie war stark, sie eine Todsünde – und der Himmel heilte sie. Aber ohne die dritte Todsünde an ihrer Seite, brauchte sie zu viel Energie beim Sprengen der Erinnerungen. … Und das wiederum führte dazu, dass er sie zu kaum etwas gebrauchen konnte.

Aber trotz dessen, dass sie immer wieder in ihrem Stuhl zusammensank, informierte sie sich über seinen Fortschritt im Fall Gula. Und schon seit einer Woche musste er darauf verweisen, dass er nichts hatte finden können, weil er einfach keine Zeit zum Suchen hatte.

… Und weil Kyrie ihm nichts sagen wollte … Aber das hielt er vor ihr zurück.

Die Tür wurde aufgerissen und Acedia kam herein geflogen. Zum ersten Mal seit Gulas Verschwinden wirkte sie halbwegs energiegeladen. Zumindest setzte sie sich voller Schwung auf den Stuhl, schlug ihre Beine übereinander und sah ihn selbstgefällig an. „Wie weit bist du mit dem Fall Gula?“

„Soweit wie gestern und vorgestern“, sagte er trocken, wobei er ihr die nächsten Aufgaben herlegte, sodass sie sich durchschauen konnte, „Und was ist heute mit dir los?“

„Wir haben sie einen Schritt näher bringen können, uns zu glauben“, erklärte sie lächelnd und ließ sich in den Stuhl zurücksinken, „Bald könnte alles vorbei sein …“

„Wieso, was habt ihr gemacht?“, wollte er wissen. Nachdem sie so lange gegen Wände gelaufen waren, musste das ja etwas sehr Schwerwiegendes gewesen sein.

„Es gibt Anwesenheitspflicht in den Konferenzen. Das bedeutet, dass – falls der Täter noch einmal zuschlagen sollte – das ein Beweis dafür wäre, eine Engelsversammlung einzuberufen.“

„Und was würdet ihr dann tun?“, fragte Nathan konkret. Ihre Planung schien bei der Engelsversammlung zu enden. Aber das war es vermutlich, was Superbia und die anderen so abschreckte: Was sagten sie den Engeln? Wie reagierten sie auf Verluste? Gar auf einen Täter?

„Natürlich würden wir euch Assistenten zu den neuen Todsünden ausrufen“, erklärte sie mit einem Ton, der die Selbstverständlichkeit der Sache nicht anzweifeln ließ. Bei ihren Worten unterdrückte er einen Schauer. … Sie würden ihn zu einer Todsünde machen. Er war schon nicht bereit, als Assistent eine Freundin zu vernehmen – was sollte er da als Todsünde anfangen?! Sie konnten ihn doch nicht einfach so losschicken und … und irgendjemandes Arbeit machen lassen! Er hatte sich doch so auf einen Platz auf Acedia eingestellt – in hundert oder zweihundert Jahren: oder besser noch viel weiter weg! „Und dann würden wir sehen, was der Täter als nächstes macht.“

… Er musste sich beruhigen. Der Täter. … Er fühlte, dass sich ihre Gespräche wie beinahe jeden Tag im Kreis drehten. „Falls es nur einen Täter gibt“, entgegnete Nathan, „Und falls er nicht einfach weitermacht. Ihr braucht dringend noch eine Assistenten-Pflicht, sodass jeder vorbereitet ist.“

Sie nickte energisch. „Gute Idee.“

„Vielleicht löst das dann sogar euer ganzes Problem“, fuhr Nathan nachdenklich fort, „Bisher sind zwei Engel ohne Assistenz verschwunden …“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht möchte der Täter wirklich nur darauf hinweisen, dass es unklug ist, ohne Assistent herumzuschwirren, falls es zu solchen Unfällen kommt.“

„Sag das bitte meinen Kollegen“, meinte sie dann schnippisch, „Ich muss mich an die Arbeit machen.“

Nathan nickte. Er würde es ihnen nicht sagen. Und sie genauso wenig. Das war eine Zukunftsregelung, die im Moment keine Bedeutung haben würde. „Und ich mache einfach weiter …“, kündigte er leichtfertig an. Doch dann fiel ihm etwas ein – wenn jemand sein Kyrie-Dilemma aufklären konnte, so wäre es Acedia! Sie war gut darin, eine Todsünde zu sein. Also musste sie auf sein Problem doch eine Lösung haben. „Aber eine Frage habe ich noch!“

Sie schaute auf. „Und die wäre?“

„Wenn man einen Engel befragen möchte, der sich aber zu antworten weigert, einem sogar aus dem Weg geht …“ Er hielt kurz inne. „Was macht man da?“

Sie antwortete gelassen: „Man ruft ihn.“
 


 

Ira saß in seinem Büro. Die Erinnerung an Sins Erscheinung ließ ihn immer noch eiskalt erschaudern. Er sah … noch immer aus wie Sin, aber etwas hatte sich geändert. Er wirkte … zerschlagen. Als wäre er dabei, eine Dämonenhorde alleine zu bekämpfen. Und als würde er diesen Kampf verlieren.

Und dennoch hatte er all ihre Angebote, ihm zu helfen, ihm Licht zu spenden, abgelehnt – kopfschüttelnd, wortlos. Er hatte ihnen mit einer Geste bedeutet, fortzufahren, wie sie wollten. Und so hatten sie auf Sin geschworen, dass sie von nun an alle antreten würden zu diesen Konferenzen. Jeden Tag. Immer zur selben Zeit. Ohne Ausnahme.

Ein Schwur auf Sin würde halten. Wenn ihn jemand brach, würde Sin das merken. … Und der Schwur hatte Sin scheinbar ein bisschen mehr Kraft verliehen. Als … hätte der Glaube daran, dass Sin ihre Erwartungen erfüllen würde, ihn schon stärker gemacht … Nein. Wo dachte er nur hin?

Ein Klopfen unterbrach ihn.

Im nächsten Moment stand ein Assistent in seiner Tür. Invidias Assistent.

„Ein Halbengel ist geboren worden“, erklärte er, „Die Todsünden haben sich darauf geeinigt, sofort loszuziehen. Der höchste Turm im Grellen Dorf ist der Treffpunkt.“

… Dann würde das ihren Schwur wohl gleich auf die Probe stellen.

„Vielen Dank“, sagte er und erhob sich.

Der Assistent verbeugte sich und ließ die Tür hinter sich zu fallen.

Ira erhob sich. Es war ein Schwur. Also musste er ihn erfüllen.

Sofort materialisierte er sich am höchsten Turm des Grellen Dorfs – und tatsächlich warteten die anderen bereits dort. Alle hatten sich die typischen Umhänge und Mäntel umgelegt, um im Dunkeln nicht so aufzufallen. Schnell baute er sich mit Hilfe seines Lichts ebenfalls so einen Mantel – und ließ daraufhin seine Flügel verschwinden.

„Damit sind wir vollzählig“, eröffnete Avaritia das Offensichtliche.

„Traurigerweise“, fügte Acedia gereizt hinzu, „Was wir mit einer Engelsversammlung aber ändern können.“

„Ja“, stimmte Superbia plötzlich zu, „Es klänge auch äußerst amüsant, wenn wir zu fünft hineinspazieren und uns unter ‚Sieben Todsünden’ vorstellten!“

Invidia lachte. „Das haben wir ja auch noch nie gemacht.“ Der Sarkasmus triefte nur so aus ihrer Stimme.

„Ihr segnet unseren Untergang“, murrte Acedia, „Los jetzt.“

Ira ging zu ihr.

Und so schritten die Todsünden die Treppen nach unten, um für eine weitere Nacht die Vermittler zwischen Leben und Tod zu spielen. Hoffentlich würden die Eltern sich für ein Ja entscheiden – das wäre weit weniger Magieaufwand, auch wenn sie dann einen weiteren Assistenten verlieren würden. Doch solange die anderen keiner Engelsversammlung zustimmten, würde das ohnehin keinen Unterschied machen.
 

Als Kyrie sich erhob, schubste sie mit der schnellen Bewegung den Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte. Schmerzen fuhren ihr durch Mark und Bein – sie taumelte zurück und fiel über den Stuhl. Sie schlug mit dem Kopf am Boden auf, hatte keine Chance, ihr Gleichgewicht zu halten. Ein Schwindel durchfuhr ihren Körper.

Nathan. … Im Himmel.

War … war das etwa ein Magnet?!

Plötzlich wurde sie aufgerichtet. Nein … sie richtete sich auf!

„… los?!“, verstand sie. Ray saß hinter ihr, stützte sie auf. „Ist dir schwindlig? Bleib lieber liegen!“, riet er ihr besorgt.

Die Tür wurde stürmisch geöffnet. Magdalena stand keuchend darin.

„Kyrie!“, rief sie erschrocken aus, „Mädchen, was ist los?“

… Der Schmerz war noch da. Tief drinnen bohrte er sich weiter in ihr Bewusstsein. Er schien „Beeile dich! Komm zu mir!“ zu schreien. Und sie spürte die Frage, um ihre Geheimnistuerei darin. … Nathan stieß sie tatsächlich so herum? Er respektierte ihre Geheimhaltung nicht? War er nicht ihr gutes Recht, so etwas für sich zu behalten? Ihr wäre auch lieber, wenn sie darüber reden könnte – aber sie hatte es indirekt Gula als auch Thi versprochen! … Und keiner der beiden würde es bezeugen können … Und sie hatte ja nichts mit Gulas Verschwinden zu tun!

„Nein, eigentlich hat sie so etwas sonst nicht …“, meinte Magdalena. Mittlerweile schien sie ihre Stütze zu sein, während Ray ihre Hand hielt … Ray hielt ihre Hand … Wie schön …

„Es könnte zu niedriger Blutdruck sein“, murmelte er, „Habt ihr ein Blutdruckmessgerät im Haus?“ Der Ernst in seiner Stimme drang an ihr Ohr. Und die Profession.

Der Ruf schien noch immer durch ihren Körper zu springen. Zuckte sie immer zusammen, wenn er das tat? Spürten sie ihn denn nicht … wie er nach ihr schrie … Sie sollte los. Sie sollte sofort los …

„… Krankenwagen rufen?“ Irgendwo in der Ferne war ihre Mutter zu hören. … War sie jetzt schon losgelaufen?

„Bleib wach!“, durchschnitt Rays Befehl ihr Bewusstsein.

Plötzlich wurde alles wieder hell. Alles schien wieder wirklich zu sein.

Der zuckende Schmerz in ihrem Inneren war nach wie vor vorhanden – aber er fraß ihr Bewusstsein nicht mehr auf. Nathan würde warten müssen!

Sie wollte sich erheben – doch Ray drückte ihre Schultern nach unten.

„Nein, bleib so“, meinte er, „Steh jetzt nicht auf.“

„Ruft keinen Krankenwagen!“, sagte sie schnell – aber sie gehorchte ihm. Er war der Arzt. Und sie war doch mit dem Kopf aufgeschlagen … Als hätte sie die Schmerzen damit geweckt, begann der zu pochen. Sie fuhr sich an den Kopf und rieb ein bisschen daran. … Er blutete nicht. Das war doch gut …

„Was ist passiert?“, wollte Magdalena wissen. Der Schreck stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.

Sofort breitete sich ein schlechtes Gewissen in ihr aus. Wie hatte sie ihre Mutter nur so erschrecken können? Aber … sie konnte doch nichts dafür …! Nathan … Sie musste ihm sagen, dass er das lassen sollte. Das … das konnte so doch nicht weitergehen, oder? Und … und vor allem würde sie nicht in den Himmel kommen.

Er konnte es ja noch einmal durch die Tür versuchen. Aber nicht so …! Das war unfair …

„Mir geht es wirklich wieder besser“, beruhigte sie die beiden, „Es war nur kurz … ein Schock …“, redete sie um die Wahrheit herum, „Nichts weiter …“

Sie schaute Ray ins Gesicht. Er wirkte alles andere als überzeugt. „Du bleibst genauso sitzen“, befahl er, „Und wir lassen das untersuchen.“

„Nein, wirklich!“, entgegnete sie, „Gut – vielleicht bin ich in letzter Zeit etwas gestresst! So viel zu lernen und … Schlafmangel!“ Sie lächelte ihn an. „Schlafmangel … genau …“

„Schlafmangel“, wiederholte er, „Und diese nervösen Zuckungen? Das macht dann der Stress.“ Irgendwie klangen seine Worte nicht so, als würde er ihr glauben.

Sie sank in sich zusammen. … Sie wollte doch nicht weiter lügen … Immerhin … war Lügen schlecht. Aber … was sollte sie ihm sonst auftischen? Unterzucker? Er würde ihr doch gleich Traubenzucker in den Mund werfen.

Sie schaute zurück zu Magdalena. Sie erschien ihr leicht hilflos. Mit dem festen Willen, ihr helfen zu wollen – ohne zu wissen, wie sie das anstellen sollte … Warum musste sie ihrer Mutter so etwas antun … Warum musste Nathan ihr so etwas antun? Sie konnte doch nicht darüber reden … Das würde für Gula, Thierry und sie selbst bedeuten, dass sie das Gesetz gebrochen hatten … und noch schlimmer: Wenn Nathan zu solchen Mitteln griff … wie würde er sich dem Verbrechen gegenüber verhalten? Würde … würde er …

Moment. Ray … Er studierte doch Recht. …

Sie schaute ihn an. „Wenn jemand ein eindeutiges Gesetz bricht“, begann sie, „Wie würdest du über denjenigen richten, wenn er dein Freund wäre?“

Ray blinzelte verdutzt. „Überlegst du dir so etwas während du bewusstlos bist oder kommt das erst danach?“

„Danach“, gab sie leise zu. Und todernst.

Er schüttelte den Kopf. „Gut, da oben scheint soweit noch alles in Ordnung zu sein.“ Er ließ ihre Hand los.

Das Fehlen hinterließ eine unangenehme Kälte auf ihrer Hand.

„Aber wenn dir wieder schwindlig wird, legst du dich sofort hin“, trug er ihr auf, während er ihre Frage überging, „Und wenn es nicht besser wird, gehst du doch ins Krankenhaus.“ Sein Ton war scharf und herrisch. … Machte das der Arzt in ihm … oder sprach die Sorge? „… Kopfverletzungen sind zu gefährlich, um sie einfach zu übergehen.“

Sie lächelte ihn an. „Danke.“

Magdalena ächzte hinter ihr, als sie sich erhob. Doch ihre Hände ließ sie immernoch bei Kyrie. „Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie noch einmal mit Nachdruck.

Kyrie schaute zu ihr hoch und nickte. Sie erhob sich geräuschlos, wobei sich ihr Kopf aber ein bisschen drehte. Aber … das war nicht so schlimm … hoffte sie – und sie war erleichtert, als es sogleich wieder verschwand. Der Ruf drückte noch immer in der Hoffnung gegen sie, sie zum Nachgeben zu zwingen. Aber das würde sie nicht. Man konnte sich an jeden Schmerz gewöhnen.

Auch an diesen.

„Ja“, meinte sie sicher und wollte sich zum Stuhl beugen – doch Ray kam ihr zuvor. Und als er ihn aufrichtete, bemerkte sie, dass sein verletzter Arm ihn dazu zwang, das auf eine andere Art zu tun, als jeder andere es getan hätte … Ja … man konnte sich wohl an jede Verletzung gewöhnen … Sie spürte den Drang, ihn zu umarmen, ihm alles zu beichten … Doch das war nicht möglich. „Mir geht es super.“

Auch Magdalena erhob sich, wirkte bereit, sie jederzeit wieder aufzufangen, auch wenn sie nickte und: „Dann bin ich erleichtert …“, sagte. Sie spürte ihren Blick auf sich ruhen – die Frage, ob sie ihr etwas verheimlichte. Ob sie wusste, woher sie es hatte …

Aber Kyrie würde schweigen.

„Ich hole dir schnell etwas zu essen“, meinte Magdalena – und ehe Kyrie sich wehren konnte, war die Frau schon verschwunden. Vermutlich würde sie auch gleich ihren Vater benachrichtigen … Hoffentlich sorgten sie sich nicht zu viel …

Sie verschränkte die Arme, stand neben Ray und hoffte, dass auch er sich nicht zu viele Gedanken über den Vorfall machen würde.

„Es würde vermutlich das Härteste sein, was ich in meinem Leben entscheiden müsste“, antwortete er leise, „Vielleicht würde ich nicht einmal ein Urteil fällen können. Es einem anderen überlassen …“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wahrscheinlich wäre ich genauso enttäuscht darüber, dass er so etwas getan hat, wie auch zwiegespalten, wie ich verfahren soll.“ Er musterte sie.

Und sein Blick ließ etwas in ihr gefrieren. … Er fragte sich, ob sie etwas getan hatte. Wie sie auf die Frage kam … Sie wollte sich weiter zusammen ziehen, wollte sich verstecken und abhauen … Nathan würde enttäuscht sein … Was, wenn er Xenon auf sie ansetzte?

Nein – so weit würde er nicht gehen … Würde er doch nicht … oder? Immerhin … waren sie Freunde … auch wenn sie nicht wusste, wer von ihnen beiden sich weniger wie einer verhielt.

„Aber als ersten Schritt“, fuhr Ray plötzlich fort, „würde ich das Warum hinterfragen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen <3
Hoffe, es gefiel euch <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück