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Verloren und Gefunden

Bilbo + Thorin
von

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Verloren und Gefunden

Ein jeder Hobbit, der sich ein wenig auf seine Wanderkunst einbildete, kannte das Land in der Nähe von Hobbingen wie seine Westentasche. Oder konnte sich wenigstens grob orientieren. Immerhin war noch keiner von ihnen in den beschaulichen Wäldern verloren gegangen. Das hatte Thorin Eichenschild zumindest gehört. Wie sie es anstellten, sich nicht jedes Mal aufs Neue in ihrem Land zu verirren, war ihm ein Rätsel. Für ihn sah hier alles gleich aus. Es war schön, das Auenland, mit seinen sanften Hügeln, ruhigen Baumketten und blühenden Feldern. Doch selten hatte Thorin einen Ort gesehen, der ihm derart jegliches Gefühl für Richtung nahm.
 

Er befand sich auf dem Heimweg, die Große Oststraße entlang. Das Treffen in Bree war mitnichten ein Erfolg gewesen, doch er musste den Weg regelmäßig auf sich nehmen, um informiert zu bleiben. Neuigkeiten drangen selten bis zu den Blauen Bergen durch, und die Zeiten waren düster für Durins Volk.
 

Genervt seufzend blieb Thorin stehen. Sein Mantel hatte sich in einem großen Brombeerbusch verfangen. Nach einigem erfolglosen Ziehen zückte er kurzerhand seine Axt und hieb die langen, dornigen Brombeerzweige ab, die ihn am Gehen hinderten. Für einen Moment lehnte er sich gegen einen hohlen Baumstumpf und warf einen Blick in den Wald. Die Dämmerung hatte vor einer Weile eingesetzt. Bald würde es dunkel sein und er hatte geplant, das Grünbergland schon vor Stunden zu verlassen. Rein theoretisch würde er nur weiter nach Westen gehen müssen, aber durch die Blätterkronen war es schwierig auszumachen, von wo genau das letzte spärliche Licht kam, das noch bis zum Waldboden durchdrang.
 

Doch es hatte keinen Zweck, nur herumzustehen und sich zu ärgern. Thorin steckte die Axt weg und machte sich wieder auf den Weg.
 

Nicht weit entfernt trieb sich im Unterholz noch ein anderer Wanderer umher. Es war Bilbo Beutlin, der dreizehnjährige Sohn von Bungo Beutlin und Belladonna Tuk. Er hatte die Verwegenheit und Abenteuerlust, die ein jeder Tuk sein Eigen nannte. Stundenlang war er durch die Wälder gestreift, wie er es immer machte, wenn sie bei der Familie seiner Mutter zu Besuch waren. Wie üblich hatte es ihn bei seinen Wanderungen weit weg von Tuckbergen verschlagen. Erst, als die ersten Glühwürmchen im Dämmerlicht schwebten, war Bilbo aufgefallen, dass es höchste Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren. Doch Bilbo kannte die Wälder hier bereits außerordentlich gut und würde auch im Dunkeln heimfinden. Natürlich würde Vater ihn dafür ganz schön rügen, aber im Moment kümmerte ihn das wenig, denn der Wald war bei Nacht noch aufregender. Leise bahnte er sich seinen Weg durchs Dickicht zum Pfad zurück, als ein lautes Geräusch ihn innehalten ließ.
 

Da war eine Gestalt zwischen den Bäumen, groß und kräftig, ganz bestimmt kein Hobbit. Bilbos Herz machte einen Hüpfer. Er hoffte immer heimlich, dass er eines Abends auf Elben stoßen würde, doch wie ein Elb sah die Erscheinung gewiss nicht aus. Als Bilbo näher schlich, wurde ihm doch ein wenig mulmig - die Person war zwar nicht so groß wie ein Mensch, doch für einen kleinen Hobbit mehr als beeindruckend. Er beschloss, sie sich erstmal genauer zu besehen.
 

Vorsichtig kroch er zurück zu einem Baum und kletterte geschwind in die unteren Zweige, bevor die Gestalt langsam näherkam. Bilbo spähte durch das Geäst und erkannte einen bärtigen Mann mit einem schweren Mantel, der mühsam durch das Dickicht stapfte. Auf seinem Rücken ruhte eine große Axt.
 

Ein Zwerg! Bilbo hatte bisher nur einmal eine kleine Gruppe Zwerge gesehen, die auf der Großen Oststraße zu den Bergen zogen, wie seine Mutter ihm gesagt hatte. Wie allen Hobbits hatten ihm die grimmig aussehenden Fremden großen Respekt eingeflößt und er hatte seiner Mutter Löcher in den Bauch gefragt - woher sie kamen, was sie machten, ob es noch viele von ihnen da draußen gab. Antworten hatte er kaum bekommen, gleichwohl erzählte sie ihm Geschichten von fernen Gebirgen und großen Drachen. Nicht, dass sich ein Hobbit viel darunter vorstellen konnte. Diese ausgeschmückten Gutenachtgeschichten waren mehr Fantastereien, als dass sie wahren Begebenheiten entsprachen. Aber Bilbo hatte eine lebhafte Vorstellungskraft und Abenteuergeschichten faszinierten ihn mehr als alles andere.
 

Kein Wunder also, dass er wie gebannt von dieser nächtlichen Erscheinung war. Er rückte sogar weiter auf den Ästen nach vorne, auch wenn der Zwerg ihn jetzt leicht würde entdecken können, sollte er nach oben schauen. Über soviel Unvorsicht hätten die meisten Hobbits nur den Kopf geschüttelt, aber Bilbo war noch sehr jung und ihm war noch nie etwas auch nur ansatzweise Gefährliches begegnet. Und noch dazu war er furchtbar neugierig.
 

Doch als er sich auf einem Zweig abstützend nach vorne lehnte, um einen möglichst guten Blick auf den Zwerg zu erhaschen, gab das biegsame Holz nach und er rutschte mit einem kieksenden Schrei vom Ast.
 

Der Ausruf über ihm ließ Thorin zusammenfahren. Augenblicklich duckte er sich, riss den Kopf nach oben und hob seine Hand gen Axt. Nicht, dass er im Auenland jemals auch nur auf etwas Bedrohlicheres als einen Fuchs getroffen war, doch die Zeit hatte ihn Vorsicht gelehrt. Im Halbdunkel spähte er argwöhnisch durch die Äste, wo er etwas zappeln sah.
 

Zuerst brauchte er einen Moment, um auszumachen, was dort vor sich ging. Doch auch im Zwielicht war es deutlich zu erkennen, dass was auch immer dort hing keine Gefahr darstellte. Bei näherem Hinsehen - Thorin stockte kurz der Atem - wurde klar, dass es sich um ein Kind handeln musste, das sich dort, viele Ellen über dem Erdboden, an einen Ast klammerte und zu fallen drohte.
 

Sofort zog sich Thorin den Mantel von den Schultern und spannte ihn wie ein Tuch zwischen den Armen. Keinen Augenblick zu spät, denn einen Wimpernschlag später verlor das Kind endgültig den Halt und fiel mit einem Schrei direkt in Thorins Arme, der mit einem Ächzen die Wucht abfing.
 

Es dauerte einen Moment, bis Bilbo wusste, wie ihm geschah. Gerade noch hatte er sich in Todesangst an einen Ast geklammert, der ihm durch die Finger glitt, dann fand er sich wider Erwarten nicht auf dem harten Boden wieder. Bilbo rührte sich nicht. Vor allem saß ihm der Schreck in den Gliedern, denn wenn ihm etwas wehtat, dann bemerkte er es kaum über das Herzklopfen. Starke, große Arme hielten ihn fest, und das Fell des Mantels kitzelte ihn im Nacken. Als er hochschaute, sah er in das düstere Gesicht des Zwerges. Seine Augen erschienen Bilbo scharf und genau wie der schwarze Bart ziemlich einschüchternd. Er fühlte, wie ihm das Herz bis in den Hals schlug.
 

Nun, da Thorin das kleine Häufchen Elend so in seinen Armen hielt, fiel ihm auf, dass das weder ein Menschen-, noch Zwergen-, noch Elbenkind war. Es musste einer der Hobbits sein, die in diesem Land hausten. Thorin hatte sie schon oft auf den Feldern arbeiten sehen, doch noch nie aus nächster Nähe. Obwohl Hobbits so schon sehr klein waren, war dieser offensichtlich noch sehr jung. Thorin musterte ihn einen Moment. Wenn der Hobbit Angst hatte, so war sie ihm nicht anzusehen. Mit großen Augen starrte der Kleine ihn an, erschrocken, aber nicht furchtsam. Thorin setzte ihn auf dem Boden ab, betrachtete kurz seinen Mantel, dann wieder den Hobbit.
 

"Bist du wohlauf?", fragte er etwas gröber, als es angesichts so eines Winzlings nötig gewesen wäre.
 

So von Angesicht zu Angesicht mit diesem für Bilbo sehr verwegen aussehenden Zwergenkrieger hatte es dem kleinen Hobbit erst einmal die Sprache verschlagen und er nickte nur rasch, während er Thorin weiter mit großen Augen anstarrte. Doch so bedrohlich der Zwerg auch sein mochte, er hatte ihm nichts getan, und jetzt, da er wieder Boden unter den Füßen hatte, gewann Bilbos Neugier schnell wieder die Oberhand.
 

"Was macht Ihr hier im Wald, Herr Zwerg?", platzte es schließlich aus ihm heraus. Er hätte ihm natürlich erst einmal danken sollen, wie es sich gehört, aber er hatte alle Höflichkeit vergessen. "Ich hab hier noch nie einen Zwerg gesehen!"
 

Thorin hob eine Augenbraue. Nicht nur ein junger, sondern auch ein verdammt neugieriger Hobbit war ihm hier in den Schoß gefallen.
 

"Ich bin auf Reisen", antwortete er kurz angebunden. Er warf Bilbo noch einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass es ihm auch wirklich gut ging. Doch er hatte es eilig und konnte sich keinen kleinen Schwatz erlauben. So schwang er sich den Mantel wieder um die Schultern, murmelte "Wenn du mich nun entschuldigst..." und schob den Winzling zur Seite, um sich weiter seinen Weg durch den finsterer werdenden Wald zu bahnen.
 

Bilbo jedoch ließ sich davon nicht beirren und beeilte sich, um Schritt zu halten, auch wenn er dabei mehr schlecht als recht durch das Unterholz stolperte.
 

"Wo wollt Ihr hin? Ihr geht zu den Bergen hinter den Türmen, nicht wahr?", sagte er, stolz, dass er Bescheid wusste. "Gibt es da Drachen?", fügte er beinahe hoffnungsvoll hinzu.
 

Bei der Erwähnung von Drachen hielt Thorin kurz inne, doch als er sich umwandte und in das vor Begeisterung strahlende Gesicht des kleinen Hobbits sah, wurde ihm klar, dass dieser keine Ahnung hatte, wovon er da redete. Er kannte Drachen wahrscheinlich nur aus Gutenachtgeschichten. Verärgert schnaubte der Zwerg, wandte sich wieder ab und ging weiter. "Es ist meine Angelegenheit, wohin ich gehe, junger Herr Hobbit."
 

Doch Thorins Verschwiegenheit machte ihn für Bilbo nur noch interessanter und mysteriöser und der Hobbit war nur noch bestrebter, so viel er konnte über ihn herauszufinden. Am mysteriösesten erschien es ihm allerdings im Moment, dass sie immer weiter in die Wälder vordrangen.
 

"Wieso seid Ihr nicht auf dem Weg?", fragte er, und da ihm das selbst einige Male passiert war, fügte er sogleich hinzu: "Habt Ihr Euch verlaufen?"
 

Allmählich wurde Thorin die Fragerei wirklich lästig, aber das bei weitem größte Problem war, dass die letzten beiden Fragen tatsächlich ihre Berechtigung hatten.
 

"Ich muss beim Überqueren des Baranduin vom rechten Weg abgekommen sein", brummte er vor sich hin. Er hatte es vermeiden wollen, die Brandyweinbrücke zu benutzen, da diese öfters kontrolliert wurde, und er nicht gerade erpicht darauf war, sich irgendwelchen dahergelaufenen Bütteln zu erklären. So war er etwas flussabwärts nach Bockland gewandert, um dort die Fähre zu nehmen. Von da aus musste er die Wässer mit dem Stockbach verwechselt haben, denn er war es gewohnt, einem Fluss bis nach Froschmoorstetten zu folgen. Der Stockbach jedoch führte direkt hinein nach Waldende.
 

"Na, da seid Ihr aber bestimmt kein großer Abenteurer, wenn Ihr nicht mal eine Straße finden könnt!", rief Bilbo aus. Sein ehrfürchtiger Respekt war völlig vergessen, denn bei der Vorstellung, dass Thorin nun schon den ganzen Tag im Wald herumirrte, Meilen von der Großen Oststraße entfernt, musste er unwillkürlich loslachen. "Die kennt doch jedes Kind!"
 

Wie angewurzelt blieb Thorin stehen, sodass Bilbo, der vor Lachen nicht aufgepasst hatte, gegen ihn stieß. Betont langsam wandte der Zwerg sich zu seinem Begleiter um und starrte mit grimmigem Blick auf ihn herab. "In manchen Landen könnte ich dir für diese Bemerkung die Zunge herausschneiden", knurrte er, wohl wissend, dass er gerade etwas dick auftrug. Doch er konnte sich solche Reden nicht bieten lassen, nicht mal von einem jungen Hobbit. Ein kleiner Schreck würde ihn in seine Schranken weisen.
 

Und als der Zwerg sich so vor ihm aufbaute, riesig und bedrohlich im Dunkeln, da wurde sich Bilbo schnell wieder der mächtigen Axt bewusst, die der Fremde bei sich trug, und auch der Tatsache, dass sie noch weit von den Lichtern der Smials von Tuckbergen entfernt waren. Er schluckte und beeilte sich ängstlich, Thorin zu beschwichtigen. "Verzeiht, ich hab‘s nicht so gemeint!" Er stolperte ein paar Schritte zurück, wobei er das Gleichgewicht verlor und in ein Brombeergestrüpp fiel. "Bitte- bitte nicht die Zunge rausschneiden!"
 

Thorin war ein wenig verblüfft von dem Effekt, den seine Worte hatten. Er hatte wohl unterschätzt, dass er hier nicht seine beiden Neffen vor sich hatte, die wussten, dass er ihnen niemals auch nur ein Haar krümmen würde, und auf seine Drohungen hin lachend davonliefen. Dies war ein kleiner fremder Hobbit mitten im dunklen Wald, der sich vielleicht auch verlaufen hatte oder von der Dämmerung überrascht worden war, und der gerade um ein Haar in seinen Tod gestürzt wäre. Und schließlich waren seine Fragen und Bemerkungen nur Ausdruck seiner Neugier und Unbefangenheit.
 

Nun mit einem Schmunzeln im Gesicht trat Thorin so unverfänglich wie er konnte auf Bilbo zu und bot ihm seine Hand an. "Nun hab keine Angst, ich werde weder dir noch deiner Zunge etwas tun."
 

Bilbo wich ein klein wenig zurück, doch mehr aus Reflex, denn Thorins Lächeln wirkte aufrichtig. Es war erstaunlich, wie sich diese grimmigen Gesichtszüge verändern konnten – mit einem Mal sah er um einiges freundlicher aus. Bilbo griff nach der großen, rauen Hand und zog sich wieder auf die Beine, dann ließ er aber rasch wieder los. "Oh, gut", sagte er erleichtert. Er war zwar um einiges kleinlauter geworden, doch nicht mehr eingeschüchtert und auch bei weitem nicht auf den Mund gefallen. "Dann könnte ich Euch nämlich helfen. Ihr wisst schon, den Weg wiederzufinden."
 

Thorin beäugte den kleinen Hobbit abschätzend. Dann räusperte er sich. Dann zog er sich sein Gepäck zurecht. Dann ließ er sein Auge durch den inzwischen fast dunklen Wald schweifen. Dann warf er einen Blick auf den Boden. Dann räusperte er sich noch einmal. Dann öffnete er den Mund und sagte "Wenn du mir den Weg aus dem Wald weisen könntest, wäre ich dir zu Dank verpflichtet."
 

Ein Strahlen breitete sich auf Bilbos pausbäckigem Gesicht aus und er war sofort Feuer und Flamme. "Also, wir sollten da lang gehen", er zeigte in die entgegen gesetzte Richtung, "weg von den Hügeln, bis wir auf einen Weg kommen und dann raus aus dem Wald, und dann querfeldein zur Straße, das geht am Schnellsten, und um die Uhrzeit erwischt uns auch niemand." Er hielt kurz inne, denn ihm fiel auf, dass er ja noch nach Hause musste. "Aber es ist schon ziemlich dunkel, und auch noch ein ganz schönes Stück... Wollt Ihr nicht lieber mitkommen und bei uns übernachten?"
 

Die Tuks würden ihn bestimmt nicht von der Tür weisen, davon war Bilbo überzeugt, und der Gedanke begeisterte ihn viel zu sehr, als dass es ihn groß kümmerte, was sein Vater Bungo wohl dazu sagen würde.
 

Der Junge kannte sich aus, das musste Thorin ihm lassen. Er konnte nicht umhin, etwas Anerkennung für diesen wackeren kleinen Kerl zu empfinden, der sich im finsteren Wald nicht beirren ließ, fast zu Tode gestürzt und bedroht von fremden Zwergen wie er war.
 

Und dazu noch den Weg wusste.
 

Wer weiß, wie lange Thorin noch im Gestrüpp hätte herumkrauchen, oder ob er am Ende vielleicht sogar auf dem Waldboden sein Nachtlager hätte errichten müssen. Nicht, dass er nicht schon Schlimmeres erlebt hatte. Doch es war Frühling, und in den Nächten stahl sich noch immer die Kälte des letzten Winters in den Wind und in die Erde. Thorin kratzte sich nachdenklich am Bart. Er würde, sobald er erst einmal die Wege wieder unter den Füßen hatte, sicher auch allein zu einem Gasthaus finden. Doch er wusste, wie weit es von Waldende bis zur nächsten Ortschaft war, und der Gedanke an ein prasselndes Kaminfeuer und gutes Essen ließ ihn schließlich nicken.
 

"Gut, dann führe mich zu deinem... Heim."
 

Das ließ sich Bilbo nicht zweimal sagen. "Folgt mir!"
 

Noch nie war er sich so unwahrscheinlich mutig vorgekommen wie jetzt, da er einen Zwerg durch den nächtlichen Wald führte. Eifrig lief er ein Stück voraus, bis er schließlich auf einen kleinen Waldweg stieß und Thorin zu sich winkte. "Jetzt ist es nicht mehr weit, in ein, zwei Stunden sind wir da", erklärte er. "Die werden Augen machen! Wisst Ihr, wir kriegen nämlich selten Leute von außerhalb zu sehen." Jetzt, da sie nicht mehr den Weg durchs Unterholz suchen mussten, lief er an Thorins Seite, um ihn besser anschauen zu können. "Noch dazu so jemand wie Euch." Allein der Bart war genug, um Bilbo davon zu überzeugen, dass er hier einen mächtigen, uralten Zwerg vor sich hatte. Er hatte einmal gehört, dass Zwerge aus dem Stein des entfernten Gebirges gemacht wurden. Jetzt, wo er einen von ihnen von nahem sah, schien ihm das auch sehr glaubwürdig. "Ihr müsst so alt wie ein Berg sein! Das stimmt doch, oder?"
 

Thorin verzog ein wenig die Mundwinkel. Er war in seinen besten Jahren, kein Jungspund mehr, und auch noch nicht sehr alt. Doch er erinnerte sich daran, dass der kleine Hobbit keine Ahnung von Zwergen hatte, und so atmete er tief durch. Schließlich half ihm Bilbo gerade, und so war er ihm vielleicht doch ein paar Antworten schuldig. "Nein, alt wie ein Berg bin ich nicht", brummte er.
 

Den ganzen Weg ließ Bilbo nicht locker, auch wenn er nur schwer zufriedenstellende Antworten bekam und Thorin fast alles verneinte, die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus.
 

"Aber ihr lebt doch in den Bergen und sucht nach Schätzen, ja? Ich hab gehört, dass ihr aus Stein Gold formen könnt! Habt Ihr welches bei Euch? Oder faustgroße Edelsteine, die habt Ihr doch bestimmt?", bohrte er nach, offensichtlich begierig, magische Zwergenschätze zu sehen.
 

"Selbst wenn ich welche hätte, in dieser Düsternis könntest du sie ohnehin nicht sehen", antwortete Thorin. Etwas freundlicher setzte er hinzu: "Ich kann dir nachher meine Kette zeigen. Sie ist ein altes Familienerbstück und mir sehr teuer."
 

Das Versprechen, ein altes Zwergenerbstück gezeigt zu bekommen, war für Bilbo, als würde er in Zwergengeheimnisse eingeweiht werden und es kam ihm wie eine große Ehre vor.
 

In der Ferne erblickten sie flackernde Lichter, die auf eine Hobbitbehausung schließen ließen. So verdrießlich er am Anfang von der Fragerei auch war, so dankbar war Thorin dem kleinen Hobbit auch, je näher sie den immer wärmer leuchtenden Lichtern kamen.
 

Bilbo indes hatte nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war, und er war fast schon enttäuscht, als sie in den Weg einbogen, der zu einem der Eingänge der Großsmials führte.
 

"Wartet kurz hier", wies er seinen ungewöhnlichen Begleiter an und lief vorneweg, um den Gast anzukündigen. So spät war er selten nach Hause gekommen und er musste sich erst einiges anhören, doch als er damit herausplatzte, dass er einen Zwerg getroffen hatte und selbiger vor der Tür wartete, war die Gardinenpredigt erst einmal vergessen. Nach einigem Hin und Her wurde letztendlich der Alte Tuk persönlich um seine Meinung gebeten, der beschloss, dass allein schon die Gastfreundschaft es gebiete, den Reisenden unterzubringen.
 

Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich einig war, wie das vonstatten zu gehen hatte, doch schließlich durfte Bilbo ihn hereinholen und Thorin wurde in einem der abgelegeneren Gästezimmer untergebracht (gut versorgt mit allerlei Essbarem natürlich, wie es sich für achtbare Hobbits gehörte). Die neugierigeren der jüngeren Tuks wurden angehalten, nicht vor seiner Tür herumzulungern, und auch Bilbo wurde von seiner Mutter ohne weiteres Federlesen ins Bett geschickt, auch wenn er protestierte.
 

-
 

Thorin hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall länger als unbedingt nötig die Gastlichkeit der freundlichen Hobbits in Anspruch zu nehmen, die ihm ohne weitere Fragen ein Bett und Verpflegung angeboten hatten. Als der Himmel begann, sich vom Dunkelblau der Morgendämmerung zu einem sanften Rosa zu färben, war er bereits dabei, leise seine Tasche zu packen. Dabei kaute er noch auf einem der Brötchen herum, die er vom vorherigen Abend übrig hatte. Er legte einen Brief auf den Nachtschrank, in dem er seinen Dank zum Ausdruck brachte.
 

Bilbo hingegen hatte die restliche Nacht kaum ein Auge zugetan und als er es in den frühen Morgenstunden nicht mehr aushalten konnte, schlich er sich hinaus. Er hatte vor allem Angst, der Zwerg würde aufbrechen, ohne sich zu verabschieden. Leise und mit angehaltenem Atem klopfte er an die Gästezimmertür.
 

Thorin sah auf und raunte ein "Herein."
 

Behutsam wurde die Tür gerade soweit geöffnet, dass der kleine Hobbit hindurchschlüpfen konnte, bevor er sie hinter sich schloss. "Ihr könnt doch nicht einfach so gehen", sagte er entrüstet, als er sah, dass er richtig gelegen hatte und der Zwerg schon zum Aufbruch bereit war. "Ihr habt doch versprochen, mir Eure Kette zu zeigen!" Dass Thorin sich einfach so davonstehlen wollte, kränkte ihn schon ein bisschen.
 

Einen Augenblick lang sah Thorin den Jungen verwirrt an, dann musste er lächeln. "Ja, du hast Recht. Das hatte ich vergessen." Vorsichtig stellte er den Reisesack wieder ab und zog seinen Mantel beiseite, um darunter seine fein gearbeitete Kette zum Vorschein zu bringen, die unter Zwergen als Machtsymbol galt. Er hielt dem Hobbit den mit Edelsteinen besetzten Anhänger hin. Als dieser die kleinen Finger danach ausstreckte, zog er ihn nicht zurück. Doch Bilbo ließ die Hände sinken kurz bevor sie den Anhänger berührten, und Thorins Lächeln wurde eine Spur breiter.
 

Bilbo war ganz gefangen von dem Schimmern der Juwelen. So etwas Schönes hatte er in seinem ganzen jungen Hobbitleben nicht gesehen und es erschien ihm unheimlich wertvoll, sodass er aus dem Starren kaum herauskam. Ehrfürchtig sah er schließlich zu Thorin auf, der ihm jetzt vorkam wie ein reicher König aus alten Sagen. Davon würde er noch ewig seinen Freunden erzählen, doch jetzt fühlte er sich vor allem als hätte er einen Blick auf eben eine dieser alten Geschichten erhascht, fast sogar, als wäre er Teil eines Abenteuers. Die Welt erschien ihm auf einmal riesig, weit und voller unentdeckter Wunder.
 

"Kann ich mit Euch mitkommen, bitte?", drängte er, denn er wollte so sehr noch mehr sehen, noch mehr entdecken. "Ich kann Euch auch den Weg zeigen, Ihr müsst doch noch die Straße finden!"
 

Sofort wich Thorins Lächeln einem ernsten Stirnrunzeln. "Die Welt da draußen ist gefährlich. Einen kleinen Hobbit kann ich da nicht gebrauchen." Er steckte seine Kette wieder fort und sah Bilbo durchdringend an. "Und den Weg finde ich von hier aus auch allein", setzte er ein wenig schnippisch hinzu. Er warf sich das Gepäck über die Schulter und wollte gerade entschiedenen Schrittes hinausgehen, da sah er, wie das Strahlen in Bilbos Gesicht erlosch und einer großen Enttäuschung Platz machte.
 

Unbeholfen hielt Thorin inne und stand einen Augenblick so da, vor ihm der in sich zusammengesunkene kleine Hobbit, dessen Trübseligkeit nur noch stärker schien als seine vorherige Begeisterung. Schließlich hob Thorin eine Hand und legte sie zögerlich auf den Kopf des Jungen. "Es ist besser so, glaub mir", hörte er sich sagen.
 

Auch wenn die Enttäuschung blieb, reichte die Geste, um Bilbo aus seiner trüben Stimmung herauszuholen. Er verstand, dass er den Zwerg nicht weiter begleiten konnte - er wusste selbst, dass in keiner Geschichte je von jungen Hobbits die Rede war, und außerdem fiel ihm ein, dass er ja unmöglich einfach so seine Eltern verlassen konnte. Trotzdem wollte er den Gedanken nicht so leicht aufgeben, der Wunsch saß schon zu tief.
 

"Na schön", gab er schließlich nach, "Aber wenn ich älter bin und Ihr noch einmal ins Auenland kommt, dann gehe ich mit Euch", sagte er mit Nachdruck und blickte mit bestimmtem Blick zu Thorin auf, als wäre das nun beschlossene Sache. "Schließlich will ich zumindest ein Abenteuer erleben."
 

Der Zwerg war sich nicht sicher, ob er den Wagemut des Jungen gutheißen konnte, hatte er doch in seinem Leben wenige Abenteuer erlebt, die gut ausgegangen waren. Doch aus irgendeinem Grund spürte er, wie ein Schauer ihm den Rücken hinab lief, als ob das Versprechen des kleinen Hobbits an die Fäden des Schicksals gerührt hätte.
 

Er wuschelte kurz durch das goldbraune Haar des Kleinen, dann ließ er von seinem Kopf ab und sah ihm fest in die Augen. "Wenn dein Wille stark genug ist, dann werde ich dich nicht aufhalten können", sprach er und bedachte Bilbo mit einem ernsten, fast feierlichen Nicken.
 

Bei diesen gewichtigen Worten strahlte der Hobbit und seine Brust schwoll voller Stolz. Er wusste gar nicht, was er darauf erwidern sollte – ehrlich gesagt schwurbelte ihm ganz schön der Kopf, denn trotz der großen Töne war er doch ein kleiner Junge dem bisher nichts Aufregendes widerfahren war, abgesehen von den Dingen, die er sich selbst ausdachte. Er nickte also nur noch einmal bekräftigend und schaffte ein "Alles Gute für Eure Reise", als der Zwerg ihm Lebwohl sagte und sich nun endlich aufmachte zu gehen.
 

Als seine Mutter ihn später am Morgen suchte, war er immer noch in dem Gästezimmer, in Gedanken bei Zwergenschätzen, Bergen und großen Abenteuern.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  kleines-sama
2014-02-25T20:33:49+00:00 25.02.2014 21:33
Wow, was für ein wundervoller und super süßer One-Shot! :D
Ich persönlich bin ja ein riesiger Fan von Thorin und ich finde, dass du ihn absolut perfekt getroffen hast! Er wirkt auf den ersten Blick zwar sehr kühl und berechnend, aber ist innen drin doch ein warmherziger Mensch, äh, Zwerg. Und das hast du wirklich super authentisch rüber gebracht! Da kann ich dich nur loben! :)
Und der kleine Bilbo ist unfassbar putzig. Ein richtiger kleiner Junge eben^^
Was mir am One-Shot besonders gut gefällt, ist die Tatsache, dass die Geschehnisse, die du dir hier ausgedacht hast, ja tatsächlich genau so passiert sein können. Du hast ja sogar an Details wie die Namen der Ortschaften und der Eltern von Bilbo gedacht. Man könnte meinen, es handelt sich um einen kleinen Prolog zum "Hobbit" :D
Schade, dass die Story hier schon zu Ende ist. Über eine Fortsetzung oder einen kleinen Ausblick hätte ich mich sehr gefreut. z.B. über einen älteren Thorin, der seinen Meisterdieb kennenlernt und irgendwie nicht aus dem Kopf bekommt, dass ihm dieses Gesicht bekannt vorkommt. Er weiß nur nicht woher. Oder so.^^
Waah, jetzt fange ich schon an, die Story weiterzuspinnen. Sorry^^ Jedenfalls gefällt mir der One-Shot richtig gut. Vill. folgen ja noch weiter Hobbit-Ffs von dir? Ich würde mich auf jeden Fall sehr freuen! :)

bye
sb
Von: abgemeldet
2013-06-12T17:51:02+00:00 12.06.2013 19:51
Schaaade dass die geschichte hier schon aufhört...
Super geschrieben! Ich liebe geschichten, die im tolkien stil geschrieben sind >D und dann noch mit den beider <3
Von: abgemeldet
2013-06-02T18:10:45+00:00 02.06.2013 20:10
Der absolute Hammer, bitte schreib eine FF in der sie sich wieder sehen also daran anschließend.....die Story des Hobbits, wenn sie Thorin Bilbo das erste mal trifft, mal außer acht gelassen.
Von:  Sean
2013-02-21T22:57:01+00:00 21.02.2013 23:57
Find die Dialoge sehr putzig - und die Idee, waie das wäre wenn Thorin einen winzigen kleinen Hobbit wirklich mit genommen hätte. XD


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