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Unvorsätzliche Vorsätze

von

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„Das neue Jahr hat so lange eine weiße Weste, bis man sie anzieht.“
 


 

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Ich würde mein Bett niemals mit Satin beziehen. Zu dekadent, zu sehr ein stilistisches Statement, das weder zu mir, noch zu meinem Monatsgehalt passt. Nicht, dass sich der glatte Stoff nicht gut auf meiner nackten Haut anfühlen würde. Im Gegenteil, aber genau da liegt mein Problem: Das hier ist nicht mein Bett. 
 

Oh, shit.
 

Ich habe eine gewisse Ahnung, wo ich mich gerade befinde, auch wenn mein verkaterter Kopf seinen Betrieb noch nicht so richtig aufgenommen hat. Das Ganze ist allerdings so absurd, dass ich am liebsten laut aufgelacht hätte, wenn ich nicht genau wüsste, dass das wahrscheinlich eine ziemlich schlechte Idee wäre. Denn ich liege nicht alleine in diesem Bett. Und um ehrlich zu sein, habe ich kein gesteigertes Interesse daran, die Person neben mir zu wecken, da das hier ohnehin schon der katastrophalste Einstieg ins neue Jahr ist, den man sich wünschen kann.
 

Vorsichtig und probeweise versuche ich, meine Augen zu öffnen. Nur, um sicherzugehen, dass ich mir das mit dem Satin nicht doch eingebildet habe. Das funktioniert ganz gut, abgesehen von den leisen Kopfschmerzen, die hinter meiner Stirn hervorkriechen. Jepp, ich habe definitiv ein Problem, denke ich mir, während ich das schlafende Gesicht betrachte, das sich nur Zentimeter von meinem eigenen entfernt befindet.
 

Jackpot. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Hauptgewinn gezogen. 
 

Jacky, sage ich in meinem Kopf zu mir selbst, du hast wirklich schon eine Menge Scheiße gebaut. Es ist sicherlich nicht der schlechteste Start in das neue Jahr, mit jemandem ins Bett zu steigen und heißen, vermutlich ziemlich dreckigen Sex zu haben. Immerhin bin ich frei, ungebunden und jung. Aber hätte es nicht gereicht, sich einen Wildfremden zu suchen? Auf der Silvesterfeier gestern hätte es sicherlich den einen oder anderen Freiwilligen gegeben. 
 

Aber nein. Ich musste mir ja unbedingt meinen Boss aussuchen. Typisch.
 

Mit einem mühsam unterdrückten halben Lachen drehe ich mich behutsam auf den Rücken und wische mir die Haare aus dem Gesicht, um Zeit zu schinden und einen klaren Kopf zu bekommen. Ich bin ein wenig wund und möchte eigentlich gar nicht so genau wissen, wie ich gerade aussehe. Das passende Adjektiv ist vermutlich „wie frisch gevögelt“. Falls das überhaupt ein eigenständiges Adjektiv ist. Oder einfach nur ein Zustand. An sich ein ziemlich guter Zustand, möchte ich an dieser Stelle betonen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich mir vermutlich demnächst direkt einen neuen Job suchen darf.
 

Ich wende meinen Kopf leicht zur Seite, um ihn anzusehen. Irgendwie kann ich’s wohl noch immer nicht so richtig fassen, obwohl der Gedanke zugegebenermaßen schon vorher da war. Ziemlich häufig sogar, denn seien wir mal ehrlich: Der Mann ist viel zu schade, um ihn in hinter einem Schreibtisch verstauben zu lassen. Ich finde, er macht sich schon ziemlich gut in Satin. Und ohne seinen Designeranzug, wenn wir schon dabei sind. 
 

Um ehrlich zu sein, bereue ich es eigentlich nicht. Auch, wenn meine Zurechnungsfähigkeit letzte Nacht vermutlich durch den dank Gruppenzwang aufgedrängten Sekt ein wenig gelitten hat. Ich wollte ihn schon lange. Und offensichtlich hatte Leo auch nichts dagegen, aber wer weiß, wie lange noch.  
 

Leo.
 

Ich habe seinen Vornamen überhaupt erst letzte Nacht erfahren. Zwei Jahre lang hab‘ ich ihn mit „Mister Cheshire“ angeredet, so wie jeder andere in der Agentur auch. Er ist keiner dieser Vorgesetzten, die mit einem auf Du sind und ihre Mitarbeiter auf spaßige Angelausflüge einladen. Eigentlich weiß ich also gar nichts über ihn, was mich die Jahre über schon ein wenig gewurmt hat. Jedes Mal, wenn ich an seinem Büro vorbeigelaufen bin, habe ich das Namensschild mit der Aufschrift „L. Cheshire“ gelesen und mich gefragt, wofür dieses mysteriöse „L“ steht.
 

Das ist zu einem regelrechten Spiel geworden, dessen einziger Mitspieler ich selbst war. Ich habe mir häufig vorgestellt, wie hinter diesem einen, harmlosen Buchstaben vielleicht ein ganz furchtbar spießiger Name stehen könnte.
 

Ludwig. Lorenz. Oder, der akustische Liebestöter schlechthin: Larry. Vielleicht war das, rückblickend betrachtet, so eine Art unbewusster Schutzmechanismus. Der Versuch, irgendetwas an ihm zu finden, was nicht so verdammt anziehend ist. 
 

„Verrätst du mir deinen Namen, oder stehst du darauf, im Bett ‚Boss‘ genannt zu werden…?“, hab‘ ich ihn letzte Nacht mehr spaßeshalber gefragt, als er gerade dabei war, mich von meinem Pullover zu befreien und ich somit ein paar Sekunden hatte, um wieder zu Atem zu kommen. Daraufhin, vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet, hat sich ein kurzes, überraschend verschmitztes Schmunzeln auf seinen Lippen gebildet, sodass ich mir für einen Moment nicht sicher war, ob ich nicht wirklich ins Schwarze getroffen hatte. Stattdessen hat er sich vorgebeugt und mit leicht angerauter Stimme, als ob’s was Verbotenes und ziemlich Schmutziges wäre, in mein Ohr geraunt: „Leo.“
 

Schon komisch, dass ich ausgerechnet das noch so klar vor Augen habe, während alles andere irgendwie eher ein verschwommener Brei aus Erinnerungsfetzen in meinem Kopf ist. Nun ist er also „Leo“ für mich. Zumindest so lange, bis er aufwacht und mich rausschmeißt. Schade eigentlich.
 

Vorsichtig richte ich mich ein wenig auf einen Ellenbogen auf, immer bedacht, ihn nicht zu wecken. Ich sollte vermutlich verschwinden, bevor genau das passiert, und uns beiden eine sehr unangenehme Szene zu ersparen. Außerdem bin ich nicht der Typ dafür, nach einer einmaligen Liebesnacht morgens noch lange herumzulungern. 
 

Seine hellbraunen Haare fallen ihm lose ins Gesicht. Der Verlust seines Haargummis geht, glaube ich, auch auf mein Konto. Ich muss für einen Moment den kitschigen und vollkommen kontraproduktiven Drang unterdrücken, ihm eine dieser vorwitzigen Haarsträhnen aus der Stirn zu streichen. Seine Haare sind normalerweise immer an den Seiten ein wenig nach hinten gegelt, aber erstaunlich weich. Ideal, um seine Hände darin zu vergraben.
 

Und bevor ich mich jetzt vollkommen lächerlich mache, sollte ich wirklich gehen. Bevor er wirklich noch aufwacht oder auf einmal seine Freundin in der Tür steht.
 

Jawohl, ich habe tatsächlich in der Vollidioten-Lotterie den Hauptgewinn gezogen: Der gute Mister Cheshire ist nämlich in festen Händen. Sagt man. Nicht, dass er jemals über die Besagte gesprochen hätte, aber ich habe das Foto auf seinem Schreibtisch stehen sehen. Brünett ist sie, hübsch, aber nichts Besonderes. Jemandem wie ihm hätte ich eher ein blondes Vorzeigeweibchen zugetraut, so ganz standesgemäß. Aber anscheinend ist es noch schlimmer, als ich anfangs gedacht hatte – Er ist allem Anschein nach einer dieser Typen, die komplett solide dastehen. Guter Job, mit Anfang 30 bereits an die Altersvorsorge gedacht und einer, der seine Freundin vor Anderen seine „Lebensabschnittsgefährtin“ nennt. Erschreckend bieder also. Abgesehen davon, dass er ab und zu mit halbfremden Männern ins Bett steigt.
 

Ohja, ich bezweifele, dass es für ihn das erste Mal war. Niemand, der noch nie mit einem anderen Mann geschlafen hat, legt so eine Geschicklichkeit an den Tag. Entweder das, oder er ist das gottverdammt größte Naturtalent, das mir je untergekommen ist. Blöd nur, dass ich nicht an Zufälle glaube. Der ewig korrekte Mister Cheshire hat definitiv mehr als ein schmutziges kleines Geheimnis. Tja, und jetzt bin ich eines davon.
 

Mit einem leisen Schnauben setze ich mich auf und schiebe die Satindecke von mir. Für einen kurzen Moment dreht sich der Raum ein wenig, aber es wird besser. Ich vertrage einfach nichts, aber zum größten Teil ist es auch Prinzip. Jetzt weiß ich auch wieder, warum. 
 

Vorsichtig tapse ich um das Bett herum, auf der Suche nach meinen Klamotten. Ist gar nicht so einfach, denn offensichtlich hat letzte Nacht keiner von uns auch nur einen Gedanken daran verschwendet, alles fein säuberlich zusammenzulegen, bevor wir übereinander hergefallen sind. Alles liegt wild durcheinander auf dem Fußboden. Zumindest in Teilen. 
 

Ich entdecke meine Hose, eine einzelne Socke, die sich bei genauerem Hinsehen allerdings als eine von Leo entpuppt, und meinen Pullover. Keine Ahnung, wo meine Shorts abgeblieben sind, aber ich habe sicherlich nicht vor, hier alles auf den Kopf zu stellen und zu riskieren, Leo damit aufzuschrecken. Sind ja nur ungefähr minus zehn Grad draußen, kein Problem. Muss der werte Herr eben damit leben, beim nächsten Hausputz in irgendeiner Ecke eine fremde Männerunterhose zu finden. Kann er gerne als Souvenir behalten, so nach dem Motto „Wer’s auszieht, darf’s behalten“. 
 

Ehrlich gesagt habe ich keine allzu deutliche Erinnerung daran, wie es überhaupt letztlich zu diesem Intermezzo gekommen ist. Irgendwo zwischen Mitternacht, ausgelassener Feierstimmung und Feuerwerk war da irgendwann auf einmal nur noch er. Der Geschmack nach Champagner, auf seinen Lippen. Scheiße, er muss ganz schön betrunken gewesen sein, anders kann ich mir das nicht erklären. Ich kann Alkohol eigentlich nicht leiden, und betrunkene Typen noch viel weniger. Aber in dem Moment fand ich’s irgendwie heiß. Leo ist ein gutes Stück größer als ich, und als wir uns geküsst haben, musste ich mich ihm ein wenig entgegen recken. Wollte mich ihm entgegen recken, um mehr zu bekommen von diesem leicht prickeligen Gefühl auf den Lippen, das wohl vom Champagner gekommen sein muss. 
 

Es war ja nicht mal vorsätzlich, aber irgendwie sind wir dann in seiner Wohnung gelandet. In seinem Bett. Und ich schwöre, so betrunken kann er gar nicht gewesen sein. Das mit der Standhaftigkeit zumindest hat echt gut geklappt. Zweimal. 
 

Ich sollte wirklich langsam ins Bad verschwinden, bevor mir noch mehr Details in den Sinn kommen und ich das neue Jahr damit beginne, mit verletztem Stolz und Morgenlatte vor einem fremden Spiegel zu stehen.
 

Glücklicherweise scheint Leo einen wirklich festen Schlaf zu haben, sodass ich ohne weitere Zwischenfälle am Bett vorbei und ins angrenzende Badezimmer verschwinden kann. Ich wage es nicht, mich unter die Dusche zu stellen, obwohl ich das eindeutig nötig hätte. Außerdem gefällt es mir irgendwie, nach ihm zu riechen. Vielleicht klaue ich ihm zum Tausch gegen meine Unterhose sein Shampoo. Wäre doch nur fair, oder?
 

Relativ zügig schlüpfe ich in meine unangenehm klammen Klamotten und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich gar nicht so schlimm aussehe, wie gedacht. Die Cornrows müssten zwar demnächst mal wieder neu geflochten werden, aber abgesehen davon brauche ich wohl keine Angst zu haben, den Taxifahrer mit meinem Anblick in die Flucht zu schlagen.
 

Happy New Year. Ich grinse meinem Spiegelbild etwas schief zu und wende mich dann ab, um dieser Wohnung und ihrem Besitzer endgültig den Rücken zu kehren. Wenn ich Glück habe, vergisst Leo ohnehin, mit wem er die Nacht verbracht hat. Dann könnte ich meinen Job behalten und es würde nur gelegentlich zu kleinen, peinlichen Begegnungen auf dem Flur kommen. Bis dahin sollte ich auf jeden Fall die Erinnerung aus meinem Kopf verbannen, wie er unter seinem Anzug aussieht. 
 

Mister Cheshire“, murmele ich einmal leise und probehalber zu mir selber. Seltsam. Ich wiederhole die förmliche Anrede noch einmal stumm, in meinem Kopf, aber ich kann mir nicht helfen, es klingt falsch. Nun ja, ich werde mich wieder daran gewöhnen.
 

Ich lege die Hand auf den Türgriff und öffne die Badezimmertür. Meine sofortige Flucht wird allerdings passiv verhindert. Von jemandem, der vor dem Bad steht und anscheinend gerade vorgehabt hat, es zu betreten. Leo.
 

Es entsteht ein kleiner, peinlicher Moment, in dem wir uns perplex anstarren, genau die Art von Situation, die ich eigentlich vermeiden wollte. Keiner sagt auch nur ein Wort. Was soll ich auch schon sagen?
 

‚Hey, du auch hier?‘‚Ich bin nur eine Illusion, die dir dein verkatertes Hirn vorspielt. Leg dich wieder hin. ‘‚War nett letzte Nacht.Meld dich doch mal wieder, wenn du aus dem Schrank gekrochen bist.‘
 

Letztlich ist alles, was mein Mund von sich gibt, ein etwas lasches, von einem Grinsen untermaltes „Gut geschlafen?“. Ich gebe zu, ich war auch schon mal schlagfertiger.
 

Offensichtlich hat Leo nicht damit gerechnet, denn eine seiner Augenbrauen wandert nach oben. Vielleicht überlegt er gerade auch einfach nur, ob er sich Schuhe anziehen sollte, bevor er mich mit einem Tritt aus seiner Wohnung befördert. Es folgt wieder ein kurzer Augenblick der Stille, bevor er schlicht mit einer Gegenfrage reagiert: „Du gehst?“
 

Oh? Jetzt ist es an mir, ein wenig verwundert zu ihm aufzublicken. Aber eigentlich passt so eine Reaktion zu ihm. Vermutlich möchte er aus der ganzen Geschichte kein unnötiges Drama machen, was mir ganz recht ist. Ich erwarte dann die Kündigung in meinem Briefkasten, auch ohne als der böse Twink dargestellt zu werden, der den treusorgenden Familienvater in spe verführt hat. Kann ich mit leben, auch wenn ich vielleicht doch ein kleines bisschen enttäuscht bin, dass das alles ist, was er zu der ganzen Sache sagt.
 

Ich zucke also mit den Schultern und erwidere in etwas gestellt wirkendem, scherzhaften Tonfall: „Nein, eigentlich wollte ich mir ein Taxi nehmen.“
 

„Du bleibst also nicht zum Frühstück?“
 

Diesmal starre ich ihn tatsächlich an. Er blickt zurück. Vollkommen ruhig, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, seinem One Night Stand sowas anzubieten. Vielleicht habe ich auch etwas falsch verstanden, also frage ich in einem etwas verwirrten Tonfall zurück: „Hast du mich gerade gefragt, ob ich mit dir frühstücken möchte?“
 

Ich weiß den Ausdruck, der daraufhin kurz über sein Gesicht huscht, nicht so richtig zu deuten. Vielleicht ist ihm mittlerweile auch aufgefallen, dass das eventuell eine beschissene Idee ist. Er wirkt zwar gefasst, aber irgendwie auch nicht so, als ob er wirklich genau wüsste, wie er mit der Situation umgehen soll. Schließlich zuckt er kurz mit den Schultern und wendet sich dann halb ab, vermutlich, um die Küche anzusteuern.
 

„Ich könnte Brötchen aufbacken.“
 

Er geht wirklich. Um verdammte Brötchen aufzubacken. Und lässt mich vollkommen entgeistert zurück. Dieses Szenario habe ich mir nun wirklich nicht ausgemalt, und um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, was ich davon halten soll. Offensichtlich ist Leo entweder ein größerer Pragmatiker, als ich mir je vorstellen konnte, oder das hier ist reine Routine für ihn. 
 

Ein wenig unentschlossen schiele ich zur Wohnungstür. Jetzt wäre die richtige Gelegenheit, um die Biege zu machen. Aber irgendetwas hält mich zurück, denn irgendwie möchte ich dann doch wissen, was in seinem Schädel vor sich geht. Außerdem hören sich aufgebackene Brötchen echt nicht so übel an. Mein Magen grummelt zustimmend, also ist es wohl beschlossene Sache.
 

Ich folge den Geräuschen von rauschendem Wasser und klapperndem Geschirr und bleibe zunächst im Türrahmen der Küche stehen. Leo hat offenbar darauf spekuliert, dass ich seine Einladung annehmen würde, denn er hat auf dem Küchentisch für zwei Personen gedeckt. 
 

„Setz dich“, bietet er an, ohne sich zu mir umzuwenden. Er füllt in aller Seelenruhe ein schwarzes, körniges Pulver in einen Kannenaufsatz. Tee. Er hat mich nicht einmal gefragt, ob ich Kaffee möchte. Das ist interessant, da ich Kaffee nicht ausstehen kann und es ihn ganz offenbar auch zu einem Teetrinker macht. Passt zu ihm. 
 

Ich lasse mich auf einen der hohen, eleganten Barhocker am hochbeinigen Küchentisch gleiten und beobachte ihn bei seinen Frühstücksvorbereitungen. Er hat sich einen dunkelgrünen Morgenmantel übergeworfen und offenbar entweder sein Haargummi von gestern wiedergefunden oder sich ein anderes organisiert. Es ist trotzdem irgendwie seltsam, meinen Boss so scheinbar entspannt in dieser Szenerie zu sehen. Als ob ihm das alles vertraut wäre und ich nicht einfach nur jemand Fremdes wäre, den er zufällig letzte Nacht gevögelt hat. 
 

Der Duft von frischen Brötchen und Darjeeling beginnt, den Raum zu durchfluten, und langsam fange auch ich an, mich zu entspannen. Ich lasse meinen Blick ein wenig träge durch die Küche schweifen. Unbewusst halte ich Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen einer weiblichen Note, aber irgendwie wirkt Leos Wohnung eher wie eine typische Junggesellenbude. Nur ordentlicher… bei seinem Gehalt kann er sich sicherlich eine Haushälterin leisten. Keine Pärchenfotos am Kühlschrank, keine Kitschdeko, nicht einmal der Hauch eines Hinweises auf die temporäre Anwesenheit der Brünetten vom Foto. Interessant.
 

Ich werde davon abgelenkt, dass Leo sich wieder zu mir umdreht, eine Platte mit Aufschnitt in der einen und die Teekanne in der anderen Hand. Er weicht meinem Blick nicht aus, als ich ihn offen mustere, aber er sagt auch kein Wort. Schön, fange ich eben an.
 

„Und du bist dir wirklich sicher, dass du mich an deinem Frühstückstisch haben möchtest?“„Ich habe für die Feiertage genug eingekauft.“
 

Er weiß vermutlich genau, dass meine Frage nicht von der Sorge um seine Nahrungsvorräte motiviert war, aber ich belasse es dabei. Ich kann allerdings nicht verhindern, dass langsam ein kleines Grinsen beginnt, in meine Mundwinkel zu kriechen.
 

„Das ist ganz schön seltsam“, spreche ich meinen Gedanken laut aus und greife nach der Tasse, die er mir mit dampfend heißem Tee gefüllt hat, „Ich hätte nicht gedacht, dass wir mal an einem Tisch sitzen und zusammen Tee trinken würden.“ Hätte ich wirklich nicht. Das hier ist gerade vollkommen surreal und auf eine gewisse Weise auch noch verrückter als die Tatsache, dass er und ich zusammen im Bett gelandet sind.
 

Er führt seine Tasse ebenfalls an die Lippen und erwidert gelassen: „Nun…ich denke, die letzten 12 Stunden sind einige unerwartete Dinge passiert.“
 

Mir gefällt seine Denkweise. Zur Hölle, er gefällt mir, wie er da sitzt, an seinem Tee nippt und nicht einmal den Versuch unternimmt, sich irgendwie herauszureden oder Ausflüchte zu finden. Es ist gefährlich, aber ich beginne mir vorzustellen, dass das gestern vielleicht alles nicht ganz so unvorsätzlich passiert ist, wie ich die ganze Zeit über dachte. Und schon ist das seltsame Prickeln von gestern wieder da. Dabei trinke ich doch gar keinen Champagner, sondern nur Tee.
 

„Meinst du, es könnte auch unerwarteter Weise passieren, dass du mich nicht feuerst?“, frage ich in möglichst lockerem Tonfall, aber warte angespannt darauf, wie die Antwort lauten wird. Leo sieht mich beinahe ein wenig überrascht an und scheint einen Moment lang über die Frage nachzudenken.
 

Ich kann mich nur knapp davon abhalten, unruhig auf dem Hocker herumzurutschen, obwohl ich nach außen hin mein Grinsen nach wie vor aufrecht erhalte. 
 

„Warum sollte ich das tun, Jacky?“, kommt schließlich die Frage zurück.
 

Jacky.Er hat mich gerade Jacky genannt. Nicht ‚Mister Lewis‘. Vielleicht bin ich ja doch nicht der einzige, dem die förmliche Anrede falsch vorkam. Zumindest möchte ich das gerne glauben.
 

Bevor ich irgendetwas erwidern kann, setzt er noch eine Frage hinterher: „Wäre es dir unangenehm, weiterhin unter mir zu arbeiten?“
 

Er sieht mich an. Abwartend. Und da ist er wieder, dieser Ausdruck, den ich vorhin noch nicht deuten konnte. Es ist Angespanntheit. Nervosität. Unsicherheit. Eigentlich ist es genau dasselbe, was ich vorhin gesehen habe, als ich mein Spiegelbild betrachtet und vergeblich versucht habe, meinem Gesicht den gewohnten selbstbewussten Zug zu verpassen.
 

Wir blicken uns eine Weile lang stumm an, aber irgendetwas passiert. Es ist nur eine Ahnung, mehr ein unbewusstes Gefühl, aber es bringt mich dazu, ein etwas unverschämtes, aber durch und durch aufrichtiges Grinsen aufzusetzen und zu erwidern:
 

„Nein…es würde mir gefallen, weiterhin… unter dir zu  arbeiten.“
 

Und Leo sieht mich an und lächelt. Nicht unbewusst, sondern vollkommen vorsätzlich. Und ich weiß irgendwie, dass das ein sehr interessantes neues Jahr wird.
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Suesabelle
2013-02-16T22:15:47+00:00 16.02.2013 23:15
Schade da kam mir ein Kommentar der alles beinhaltete was ich sagen wollte zuvor^^
Also kann ich schlichter Weise nur zustimmen!

Sue Chan <:3 )~
Antwort von:  Newt
17.02.2013 12:15
Auch dir vielen Dank! <3
Von:  Evilsmile
2013-02-16T21:16:34+00:00 16.02.2013 22:16
Hallo erstmal!

Was für eine kurzweilige Geschichte! Morgen-danach-Geschichten haben einfach das gewisse Etwas, finde ich... Hat Spaß gemacht, die Grübeleien und Spekulationen des Ich-Erzählers mitzuverfolgen, und die Erinnerungsfragmente waren genau richtig portioniert.
Alkoholkonsum unter Gruppenzwang ist saublöd, aber in diesem Fall kann man sagen, dass es sich gelohnt hat^^ Ein Chef von der Sorte "zu schade um ihn hinter seinem Schreibtisch verstauben zu lassen" <-- der Satz hats mir angetan *3*
Haha, was für ein verbaler Schlagabtausch und der zweideutige Satz am Ende rundet die Geschichte sehr schön ab.
Ja, ich glaube auch, dass es ein interessantes Jahr wird.

GLG, Evilsmile.
Antwort von:  Newt
17.02.2013 12:15
Vielen Dank für deinen Kommentar! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, hier auf Animexx überhaupt Feedback zu bekommen, umso mehr freue ich mich über deine Worte. :)


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