Frei zu sein
Eine Stunde war bereits vergangen, nachdem sie das hiesige Gebäude verlassen hatten. Juugo starrte wie gebannt den Mond an. Und kaum hatte er sich an diesem satt gesehen, begutachtete dieser die Wellen, die mit einem sanften Klang gegen die Küste schlugen. Dieser Augenblick war perfekt, zumindest dachte er dies, denn sogleich ergriff Kimimaro seine Hand, lächelte, und zog ihn hinter sich her. Tiefe Spuren wurden in den weißen Sand gegraben, als sie schlendernd an der Küste entlang gingen. Juugos Blick ruhte mit Wohlgefallen auf dem Meer, das sich schwarz in endloser Weite erstreckte.
„Schön, nicht wahr?“ Kimimaro drückte die Hand des anderen, die sich mittlerweile gelockert hatte. Das Meer hatte Juugos Gedanken mitgerissen, und wie ein Retter in der Not holte er ihn aus den Fluten zurück – aus den Fluten diverser Gedankengänge, die Juugo aus lauter Bewunderung nicht mehr in Griff hatte. Er dachte an alles und an nichts.
„Ja...“ Sprachlos ging er weiter, er wollte diese heutige Nacht auf sich einwirken lassen. Es würde kein nächstes Mal geben. Kimimaro war der einzige Grund, weswegen er hatte rausgehen dürfen, und wenn dieser starb, dann würde besagter Grund wegfallen. Man würde ihn wie ein wildes Tier einsperren, an ihm herumexperimentieren, bis sein Körper zu schwach war, um sich ans Leben zu klammern, das wohlgemerkt nicht mehr lebenswert war... mehr oder weniger, stellte Juugo jedes Mal fest, wenn er die Anwesenheit des anderen bemerkte.
Kimimaro hatte so oft mit dem Gedanken gespielt, Orochimaru zu bitten, Juugo wie einen Ninja zu behandeln. Der Rotschopf hätte viele Aufträge mit Leichtigkeit erfüllen können, zumindest dessen schwarze Seite, und doch hätte Orochimaru diesen nie das Risiko eingehen lassen, auf einer Mission zu sterben. So wichtig war dieser ihm. Und allein deswegen hatte er aus Trennungsschmerz dessen Hand in seine gelegt, und würde diese vorerst nicht loslassen. Dass er ihm damit unbewusst näher gekommen war als gewollt, war weder seine Absicht noch eine unangenehme Tatsache. Mit einem leichten Lächeln, und weil Juugo ziellos umherirrte und sich von Kimimaro führen ließ, schob er den Rotschopf Richtung Wasser, Stück für Stück. Erst als das Nass Juugos nackte Füße berührte, tauchte er wieder in die Realität ein. Erschrocken wich er zurück, wie ein Tier, das Wasser scheute.
„Es ist kalt...“, merkte Juugo an, um diese peinliche Situation zu rechtfertigen. Ja, er war nicht mehr Herr seiner Sinne, aber war ihm das nach all den Jahren zu verdenken? Er liebte die Natur und diese wurde ihm zu seinem Schutz entzogen. Orochimaru traf keine Schuld, er hatte dies ja so gewollt.
„Soll ich dir helfen, auf heiße Gedanken zu kommen?“ Leise flüsternd kam er dessen Gesicht näher, ein anrüchiges Lächeln umspielte seine Lippen. Juugo hingegen schien diesem Blick nicht standzuhalten zu können, er wich eine Anzahl an Schritten zurück und es grenzte an ein Wunder, dass er nicht rücklings ins Wasser gestolpert war. Und doch tauchte sein Unterkörper ins kalte Nass, das allerdings nicht in der Lage war, die Wärme, die sich dank Kimimaro gebildet hatte, zu normalisieren.
Der Weißschopf hatte etwas testen wollen, und er selbst war errötet, weil ihm schlagartig bewusst geworden war, wie er in Orochimarus Gegenwart reagierte: Komisch, aber überaus niedlich. Ob sein Meister dies genauso sah? Betrachtete er Kimimaro mit den gleichen Augen wie dieser Juugo? „Wie lange ist es her, seit du gebadet hast?“
„Du hast doch jetzt nicht vor, mit mir zu baden?“ Juugo mochte es, in einem Waldsee zu baden, aber da hatte er auch nie einen Begleiter beziehungsweise Aufpasser an seiner Seite gehabt, deswegen war ihm bei dem Gedanken nicht so wirklich wohl, dies in der Gegenwart Kimimaros zu tun. Selbst wenn dieser das von ihm verlangt hätte; und so schob er eine zweite Frage hinterher: „Findest du... meinen Geruch unangenehm?“ Ihm wurde ja nicht oft die Möglichkeit gegeben, im warmen Wasser zu baden. Meistens wurde er nur grob gewaschen, zum Beispiel wenn ihn eine Untersuchung erwartete.
„Nein, eigentlich nicht... ich mag den Geruch irgendwie.“ Kimimaro war nicht so klar, was genau er an ihm mochte. Oft klebte der Geruch vom getrockneten Blut an diesem, aber anstatt zu würgen oder sich angewidert abzuwenden, übte dies einen gewissen Reiz auf Kimimaro aus. So vermutete der Weißschopf, dass er dies Orochimaru zu verdanken hatte, da dieser stets den Geruch und Geschmack von dieser roten Substanz mit sich trug.
Juugo lächelte verlegen und watete auf den anderen zu, der ja im Gegensatz zu ihm im Trockenen stand. Es war warm, daher hatte er keine Erkältung zu befürchten.
„Und nun...? Sollen wir weiter?“, fragte Kimimaro und reichte seinem Freund die Hand, denn die Befürchtung, Juugo würde von jetzt auf gleich durchdrehen, behielt er stets in seinem Hinterkopf.
„Ja... weiter. Das ist mir zu nahe...“
„Wie meinst du das?“
„Ich will nicht in der Nähe dieses Gebäudes bleiben, ich hoffe, das verstehst du.“
„Tu ich. Also komm.“ Er wandte sich ab, die Hand nach hinten gestreckt. Kimimaro lächelte, als diese ergriffen wurde, aber sogleich zeichnete sich Verwirrung in seinem Gesicht ab, als er mit einem gewaltigen Ruck nach hinten gezogen wurde. Es ging zu schnell. Sein ganzer Körper wurde ins Wasser gezogen. Etwas Schweres ruhte auf diesem, zwei gewaltige Hände schlossen sich um seinen Hals. Luft wurde ihm doppelt so viel aus dem Körper gepresst, er trank Wasser gegen seinen Willen. Er würde ertrinken... oder erdrosselt werden. Bei diesen Händen wäre es ein Leichtes, ihm das Genick zu brechen. Trotz dieser wohl aussichtlosen Situation tastete er nach den Armen. Zuerst waren es nur die Fingernägel, die sich in das weiche Fleisch bohrten, dann wurden diese durch Knochen ersetzt, die aus seinem Körper traten und sich in die Haut des anderen fraßen. Als dann die Rippen folgten, die seinen Gegenüber verletzt hätten müssen, wurde ihm schwarz vor Augen. Ein gellendes Lachen.
Es tut mir leid, Orochimaru-sama.
Kaum hatte der Weißschopf seine Augen geöffnet, biss er sich verzweifelt auf die Lippen. Zu gern wäre er in dieser Situation gestorben, wenn dem anderen tatsächlich die Flucht gelungen wäre. Sein Charakter aber sträubte sich gegen suizidale Gedanken, denn solange er lebte, und das musste Schicksal sein, solange würde er all das in seiner Macht Stehende tun, um Orochimaru zu unterstützen. Er würde Juugo bis ans Ende der Welt jagen...
Als er sich an das schwache Licht gewöhnte, spürte er eine kräftige Hand, die sich besorgt um seine schloss. Es war Juugos Hand! Kimimaro seufzte erleichtert aus, das Glück stand ihm bei.
„Was ist passiert?“, stellte Juugo die äußerst merkwürdige Frage, fast so, als hätte er die Tat aus seinem Gedächtnis verdrängt. Kein Wunder, es war ihm gelungen, Kimimaro zu verletzen... mit sehr viel Kraft hätte er diesen sogar getötet, zumindest wäre er diesbezüglich in der Lage gewesen.
„Juugo?“ Kimimaro richtete sich auf, fasste sich aus einem Reflex heraus an den Hals, und schaute den anderen mit einem verwunderten, als auch sehr kühlen Blick an. Er war ihm irgendwie böse... ein bisschen, immerhin hatte dieser ihn zu töten versucht. Allerdings ebbte die Wut ihm gegenüber ab, da sich in erster Linie eine gewisse Enttäuschung ihm selbst gegenüber manifestiert hatte. Er war zu diesem Zeitpunkt zu schwach gewesen, um sich gegen Juugo zu behaupten. Welch Schande! Da hatte er sich von ihm tatsächlich überrumpeln lassen. Dies sollte kein weiteres Mal passieren, denn nun stand Kimimaro in dauerhafter Alarmbereitschaft und würde seinem Freund nicht noch einmal den Rücken kehren. „Schon in Ordnung... du bist nur ein bisschen durchgedreht. Nicht so tragisch.“ Seine Wunden waren verheilt, sogar Juugos Haut zeigte feine Schnitte, die wie durch ein Wunder immer blasser zu werden schienen.
Der Rotschopf senkte beschämt den Kopf, immerhin wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er tatsächlich Kimimaros Leben gefährdet hatte... dieses Mal war es aber anders. Er konnte sich an keine genauen Details erinnern, keine Erinnerung, die ihm die Wahrheit über das Geschehene offenbarte. „Tut mir leid...“
„Ist ja in Ordnung... wir sollten aber zurück...“ Das wäre wohl das Beste, sich nach dieser Angelegenheit zurückzuziehen. Streit und Ärger wollte er vermeiden, für sie beide.
Eine Enttäuschung machte sich auf Juugos Gesicht bemerkbar, nachdem sich sein einziger Freund aufgerichtet und ihm sogar die Hand hingehalten hatte. Zögernd ergriff er diese, seufzend bäumte er sich auf. „Kein Wunder...“
„Es ist das Beste. Tut mir leid...“
„Nein, es tut mir leid.“ Ein warmes Lächeln, das zur Entschuldigung dienen sollte, legte sich auf Juugos Lippen.
„Danke, dass du das verstehst...“ Kimimaro erwiderte das Lächeln, allerdings halbherzig und auch nur aus einem gewissen Zwang heraus. Erneut nahm er Juugos Hand und führte diesen zurück in das Versteck.
„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst ein wenig krank aus.“, hatte der Rotschopf auf dem Weg gefragt.
Kimimaro schwieg. Eine Ansammlung an Gedanken kreiste in seinem Kopf herum. Er machte sich unglaublich viele Vorwürfe... wieso ist das passiert... warum bin ich nicht stark genug gewesen... und wieso kann sich Juugo nicht an das erinnern, was er mir angetan hat? Er wusste auch, dass er diesbezüglich keine Antwort bekommen würde, denn Juugo schien selbst mit der Situation überfordert zu sein. Und jedes Mal, wenn er den sanften Händedruck spürte, machte sich in ihm ein schlechtes Gewissen breit. Eine Sorge wiegte aber größer: Immerhin hatte er diesen Tag dafür nutzen wollen, Juugo ruhig zu stimmen und nun beschlich ihn das Gefühl, ihn auf eine äußerst seltsame Weise verärgert zu haben. Dann blieb er auch stehen. „Entschuldige... mir geht es gut.“
Sie waren endlich im Gebäude angekommen, ab und zu ging ein Mitarbeiter an ihnen vorbei, warf einen verstohlenen Blick auf die beiden Lieblingsexperimente Orochimarus und ging dann schweigend weiter. Es störte keinen von beiden. Kimimaro fuhr zu ihm herum, lächelnd, und dann tastete auch dieser nach der Wange des anderen. „Bist du mir denn böse?“
„Nein... warum denn... also... nein.“ Sein Blick glitt zu Boden, aber sein langjähriger Freund umfasste dessen Kinn und zwang ihn mit dieser Geste, ihn anzusehen.
„Sicher? Du hast aber gute Gründe, mir böse zu sein. Immerhin habe ich mein Versprechen nicht halten können.“
„Ach was... ist ja immerhin meine Schuld.“ Ein leises, verzweifeltes Lachen. Juugo war mit dieser Situation tatsächlich überfordert. Er hatte sich während des Gehens vorgestellt, wie dieser Kimimaro verletzte. Und obwohl er sich immer an die Taten des anderen hatte erinnern können, sonst wäre der gute Juugo nicht immer so verzweifelt am Ende des Tages, so fiel ihm die Erinnerung an heute besonders schwer. Das war wohl eine Gedächtnislücke... vielleicht stand er ja auch unter Schock, weil er versucht hatte, laut Kimimaros Aussage, diesen zu erwürgen.
„Nein, sag das nicht.“ Indirekt war der Rotschopf zwar Schuld, aber er hatte nicht vor, ihm ein schlechtes Gewissen mit auf dem Weg zu geben. Immerhin würde er schon bald das Gefäß Orochimarus werden und daher sagte er in guter Absicht nichts, das den anderen hätte verärgern können. „Wir holen das vielleicht noch einmal nach.“
„Schon in Ordnung, ich habe die Zeit da draußen genossen.“ Nicht lange, aber dennoch hatte es ihn sichtlich zufriedengestellt. Das war eben der Preis, wenn man in Gefangenschaft leben wollte. Juugo hatte sich für dieses Schicksal entschieden.
„Sehen wir dann. Aber schlaf dich aus, morgen früh müssen wir in guter körperlicher Verfassung sein.“ Er deutete auf die Tür, die von einem Mitarbeiter geöffnet wurde... und dann zögerte er. „Planänderung... ich werde heute Abend bei dir schlafen. Als Wiedergutmachung. Reicht dir das?“