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Requiem

von

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Fallen.

Tiefe allumfassende Stille umfing Aodhan als er erwachte. Das Donnern und Tosen des Sturms war einem gleichmäßigen Prasseln feiner Regentropfen gewichen und noch immer lag Dunkelheit über der Welt. Vorsichtig versuchte der weiße Engel sich zu bewegen und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass sich außer dem üblichen Reißen in den Flügeln die Schmerzen in Grenzen hielten. Seine Muskeln, noch steif vom Schlaf und träge von der gemütlichen Wärme unter der Decke, protestierten nicht, wie mittlerweile fast gewohnt, gegen jede Bewegung und sein Körper fühlte sich wunderbar erholt und ausgeruht an. Einen Moment war Aodhan versucht aufzustehen. Er lag schon viel zu lange hier und instinktiv wusste er, dass er mehr als nur einen Tag verschlafen hatte.

Aber dann besann er sich. Vorsichtig glitt er zurück in die Kissen und richtete seinen Blick an die Decke. Er konnte nicht leugnen, dass er seit Jahrzehnten nicht mehr so tief und sicher geschlafen hatte wie in Illiums Bett und sein körperlicher Zustand bestätigte diese Gewissheit. Er erinnerte sich in die Kissen gesunken zu sein wie in eine Wolkendecke. Weich und duftend hatten sich Laken und Decke an ihn geschmiegt und alles in ihm hatte plötzlich losgelassen. Wut, Trauer, Zorn, Schmerz und Zweifel waren wie weggeblasen und er hatte sich sicher gefühlt. Behütet im Bett des blauen Engels, eifrig bewacht von dessen scharfen Sinnen. Der Regen und das trübe Licht der Morgensonne hatten sich mit dem Duft nach Feuer und Harz vermischt und Aodhan war in einen tiefen, traumlosen Schlaf der Erholung geglitten – ohne Alpträume, ohne gehetztes Erwachen.

Mit einem leisen Seufzer hüllte sich Aodhan noch einmal in die weichen Laken, drückte seine feine Nase in eines der vielen Kissen und sogen dessen Duft ein. Sonne. Erde. Goldener Honig. Verlöschendes Feuer.
 

Illium war bereits mit der untergehenden Sonne erwacht und hatte sich zu Keir begeben. Der Heiler erwartete bereits mit mühsam beherrschter Ungeduld eine Nachricht über den Verbleib des weißen Engels und ließ sich nur mit großer Mühe davon abbringen, Aodhans Gemächer zu stürmen. Die Sorge um seinen Patienten stand Keir ins Gesicht geschrieben und er ließ Illium nicht ziehen, ehe der nicht einen Besuch des Weißgeflügelten am nächsten Tag versprach. Mit einigen Ausreden, die Tatsache, dass Aodhan in Illiums Bett statt in seinem eigenen schlief sorgsam vertuschend, gelang es dem blauen Engel den Mediziner zu beruhigen und er verließ den Krankenflügel mit leichtem Herzen. Ein anschließender kurzer Abstecher in die große Küche im Untergeschoss versorgte den jungen Engel mit allem, was das Genießerherz begehrte.

Frisches Brot, gegartes Gemüse, Obstspießchen, Schokoladenpudding, Karamelleis, kalter Rosenwein und noch einiges mehr balancierten auf dem vollbeladenen Tablett und Illium war froh, als er all das unfallfrei in seiner Suite verstauen konnte.

Anschließend vertrieb er sich die Zeit auf dem Balkon und machte einige Entspannungsübungen im letzten Licht der Sonne. Voller Faszination warf er immer wieder bewundernde Blicke durch das große Fenster auf den schlafenden Gast in seinem Bett und sein Herz wurde leicht. Aodhan hier zu haben, in seinem Reich, seinem persönlichen Rückzugsort, war mehr als erregend und beruhigte seine aufgewühlte Seele.

Nachdem mit der aufkommenden Kühle der Nacht auch der Regen wieder eingesetzt hatte beendete Illium schweren Herzens das Training und verzog sich nach drinnen. Unschlüssig, ob er die Räumlichkeiten verlassen sollte oder nicht, versuchte er sich auf eines der zahlreichen Bücher zu konzentrieren.

Vergebens.

Der Gedanke an Aodhans großen Körper, warm und verlangend, in seinen Laken war willkommen und verstörend zugleich und verhinderte jegliche vertiefende Tätigkeit.

Nach einem kargen Mahl und einem kurzen Telefonat mit Raphael bezüglich Illiums Wiedereinsatz, beschloss Illium das zu tun, was er am Besten konnte: er übte sich in verschiedenen Kampftechniken.

So leise wie möglich rückte er zwei der niedrigen Sofas beiseite, stapelte die Kissen in einer Ecke des Salons auf und wählte dann einen Krummsäbel und zwei Dolche aus seinem Repertoire. Schweigend wärmte er sich auf, griff nach der einhändigen Waffe am Boden und legte los.
 

Dunkle Regenwolken trieben am Himmel und schoben sich immer wieder vor den silbernen Mond. Aodhan sah aus dem Fenster und betrachtete das nachtschwarze Firmament, sich noch immer vor dem Verlassen des Schlafzimmers drückend. Eine geschlagene Stunde hatte er in den weichen Kissen gelegen, deren Duft und wohlige Wärme genossen und sich sicher gefühlt. Sich endlich Zuhause gefühlt.

Doch das Wissen dass er nicht ewig davonlaufen konnte, Hunger und Neugierde trieben ihn aus der lockenden Wärme und er erhob sich umständlich.

Er warf einen prüfenden Blick auf seine Kleidung, zupfte Sweatshirt und Hose leicht zurecht und öffnete dann die Flügeltür zum Salon.

In der Mitte des Raumes, ganz von gedämpften Licht umgeben, stand Illium, in den Händen jeweils einen spitzen Metalldolch. Hochkonzentriert und den Körper gespannt wie eine Bogensehne führte er einen schnellen Rückwärtsdreher aus, stach blitzschnell mit dem Dolch zu und war im nächsten Moment schon wieder außer Reichweite des potenziellen Gegners. Seine mitternachtsblauen Flügel waren dicht an seinen muskulösen Rücken geschmiegt und boten keinerlei Angriffsfläche, die silbernen Federkronen schimmerten verheißungsvoll.

Illium lächelte als sein Blick auf seinen Gast fiel und er führte eine letzte blitzschnelle Bewegung aus ehe er die messerscharfen Klingen an ihren Platz im Regal zurücklegte. Dann angelte er sich ein Handtuch vom Stuhl, wischte sich den glänzenden Schweiß von Gesicht und Brust und spreizte für einen wunderbaren Moment seine Flügel zu voller Größe auf.

Aodhan stockte der Atem und für einen Augenblick schien alles andere außerhalb dieser wunderschönen Kunstwerke nicht mehr zu existieren. Die Welt stand für einen berauschenden Bruchteil einer Sekunde still und der weiße Engel verlor sich in azurblau, mitternachtsblau, meerblau, lichtblau und Schatten von aquamarin. Wie betäubt war er von den Farbverläufen, betört von dem weichen Flaum an den Schulteransätzen und den silbergekrönten Spitzen in der Farbe flüssigen Quecksilbers. Illiums Duft, nach Honig und Sonne, wehte wie eine seichte Brise über Aodhan hinweg und machte ihn trunken. Machte ihn süchtig. Machte ihn gierig auf mehr.

Dann faltete Illium seine Flügel wieder zusammen und Aodhan hatte Mühe seiner Enttäuschung nicht durch einen wütenden Aufschrei Ausdruck zu verleihen. Stattdessen räusperte er sich umständlich und ließ seinen Blick durch den Salon gleiten.

„Gut geschlafen?“, fragte Illium mit einem Augenzwinkern und rückte mit einer lässigen Geste die Sofas wieder an Ort und Stelle.

Gegen seinen Willen erwiderte Aodhan das Lächeln seines Gegenübers und nickte bestätigend.

„Sehr gut.“, antwortete er ehrlich und beobachtete Illium wie er die Kissen und Decken wieder auf den Sofas verteilte, kuschlige Rückzugsorte daraus machte.

„Hunger?“, fragte der Blaugeflügelte weiter und band sich die feuchten Haarsträhnen zu einem lockeren Zopf.

Für einen Augenblick kehrte die Panik in Aodhan zurück und er war versucht den Kopf zu schütteln. Wollte Illium mit einer knappen, harschen Geste abwürgen und einfach gehen. Wollte sich verkriechen und die Risse in seiner Fassade kitten.

Doch dann besann er sich. Er fühlte sich frisch und ausgeruht, sein Körper war entspannt und ganz offensichtlich genoss ein Teil von ihm Illiums Anwesenheit. Warum sich also nicht noch ein bisschen gehen lassen, noch ein bisschen träumen, ehe der unvermeidliche Zusammenbruch kam?

„Ja, sehr.“, antwortete er also nickend und sah sich um. „Kann ich kurz dein Badezimmer benutzen?“

Illium lächelte und seine goldenen Augen flammten auf.

„Natürlich.“, antwortete er, deutete auf eine der umliegenden Türen und begann dann verschiedene Gerichte auf ein Tablett zu stapeln.

Als Aodhan aus dem Bad kam, erfrischt mit kaltem Wasser, die Haare ebenfalls zu einem Zopf gebunden, barst der niedrige Tisch zwischen den Sofas beinahe unter der Masse an Essbarem, die sich darauf tummelte. Eine geschmackvolle und zweifelsohne gewagte Auswahl verschiedener Gerichte, Vorspeisen, Desserts und Kuchen wartete auf den hungrigen Aodhan und er ließ sich nur allzu gerne in die bequemen Polster rutschen.

„Bedien dich.“, lud ihn Illium ein und Aodhan ließ sich nicht zweimal bitten.

Normalerweise aß er nicht in Gesellschaft, hatte er noch nie getan, aber sein Magen knurrte und er hatte das Gefühl seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben. Die Anstrengungen und der lange Schlaf der Genesung hatten all seine Fettreserven restlos aufgezehrt und nun brannte er darauf Gemüse, Brot, Obst, Kuchen und Schokolade zu verschlingen.

Illium musste sich beherrschen nicht lauthals loszulachen als er seinen Gast begann, sich bergeweise Essen auf den Teller zu laden. So zurückhaltend und scheu Aodhan sich immer gezeigt hatte schien er beim Essen keine Gnade zu kennen. Langsam und genüsslich wanderten Weißbrot und ein Stück Feige in seinen Mund, hinterher ein großer Schluck Tee. Reis, Gemüse und gebratener Fisch folgten, wurden sorgsam auf Konsistenz und Geschmack geprüft, immer wieder neu mit Soßen und Dips variiert und mit feinen Gewürzen bestreut. Baiser in Erdbeersoße gewälzt, ein Schluck Rosenwein hinter, löffelweise Karamellpudding und Sahneeis bildeten den Abschluss. Illium, der nur ein Stück Limettenkuchen aß, beobachtete seinen Gast mit wachsender Begeisterung, schmolz dahin als sich Aodhan Puderzucker und süßes Karamell von den Lippen leckte und spürte eine leidenschaftliche Hitze in sich brennen und toben.

Mit einem breiten Lächeln goss er eiskalten Rosenwein in ihrer beider Gläser nach, schob dann seinen Teller beiseite und stützte sich auf die Tischplatte. Seine flammenden Augen, lodernd und voll ungestümer Begierde, betrachteten Aodhans Gesicht. Sein Haar. Die langen geschwungenen Wimpern. Das gedämpfte Licht auf der feinen perlmuttfarbenen Haut. Die vollen Lippen. Die hohen Wangenknochen und die Augen von der Farbe gesplitterten Glases.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe der weiße Engel sich der eingehenden Musterung bewusst wurde und er blickte auf. Er hatte gerade den letzten Bissen des Baisers genommen und ließ sich das süße Gebäck im wahrsten Sinne des Wortes auf der Zunge zergehen.

Ein fragender Ausdruck trat in seine Augen und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn.

„Stimmt was nicht?“, fragte er und seine Stimme klang alarmiert.

Illiums Lächeln vertiefte sich und das Feuer in seinen Augen schmolz zu goldener Glut. Bernsteinaugen. Raubtieraugen.

„Die Leidenschaft mit der du isst hat mich nur ein wenig erstaunt.“, entgegnete er und nahm einen Schluck des sündhaft teuren Weines.

Aodhans Miene blieb unverändert und er wich einige Zentimeter zurück.

„Ja ich...“, er stockte und blickte auf seinen leeren Teller. „Ich sollte gehen.“ , entschied er dann und erhob sich.

Illium blieb noch einen Moment sitzen, versuchte seine Enttäuschung niederzukämpfen und folgte seinem Gast dann zur Tür.

„Du hast morgen einen Termin bei Keir.“, sagte er so beiläufig wie möglich. Seine Stimme klang brüchig.

Aodhans Blick wurde kalt und seine Flügel stellten sich auf.

„Warst du bei ihm? War er hier? Was hast du ihm erzählt?“, fragte er in harschem Tonfall und ballte seine Hände zu Fäusten.

„Nichts.“, antwortete Illium wahrheitsgemäß. „Das du schläfst. Das ich es von deiner Angestellten erfahren habe. Nichts weiter.“

„Dann...danke.“, sagte Aodhan und eine Spur Bedauern lag in seiner Stimme. Als er sich umwand konnte Illium die vielen Blessuren auf den schneeweißen Flügeln sehen und noch immer standen sie ungesund und seltsam falsch zum Körper.

Illium wusste nicht, was er hätte erwidern können ohne seinen Gefühlen auf stürmische und unverzeihliche Art Luft zu machen – deshalb schwieg er und entließ seinen Gast wortlos.
 

Der nächste Tag verlief ereignislos.

Aodhan befolgte die Anweisung und suchte in den Mittagsstunden Keir auf. Nach einigen routinemäßigen Untersuchungen entfernte er die unnützen und schmutzigen Bandagen, versuchte erfolglos herauszufinden was zur Hölle vorgefallen war, und legte anschließend neue an. Straff und eng zwangen sie Aodhans Flügel in eine aufrechte Position und ließen den weißen Engel bei jeder Bewegung schmerzvoll aufstöhnen.

„Nimm die Tropfen wenn es nicht geht und belaste deinen Körper so wenig wie möglich.“, bläute ihm der besorgte Mediziner noch einmal ein und überprüfte dann ein zweites Mal alle Vitalfunktionen. Aodhan biss sich auf die Lippen bis er blutete, konzentrierte sich auf den stechenden Schmerz in Rücken und Schultern und starrte an die gegenüberliegende Hand. Finger auf seinem Körper, Berührungen die nicht erwünscht, nicht erlaubt waren. Mühsam hielt er seinen Leib ruhig und wartete geduldig bis die Qual endlich vorbei war.

„Kann ich gehen?“, fragte er schließlich und unterdrückte das Zittern seiner Stimme.

„Ja.“, antwortete Keir knapp, hielt ihn dann aber nochmal zurück. „Raphael hat nach dir gefragt und wünscht einen Rückruf – du kannst das Stationstelefon benutzen.“ Und mit einem letzten Lächeln verschwand der Heiler.

Das Angebot ausschlagend folgte Aodhan im Laufschritt den Korridoren in Richtung seiner Räumlichkeiten. Er brauchte Ruhe und einen klaren Kopf wenn er mit seinem Herr und Freund redete, ein lärmiger Krankenhausflur war da nicht der richtige Ort.

Im Salon nahm er den Hörer ab, wählte die vertraute Nummer und hörte kurz darauf Dmitris samtweiche Stimme am anderen Ende. Wie ein Kater schnurrte er ins Telefon und wechselte erst als Aodhan sich zu erkennen gab in seinen gewohnt geschäftsmäßigen Tonfall.

„Hallo Engelchen.“, grüßte er launig und kicherte leise. „Du bist etwas zu spät dran, Raphael ist vor wenigen Minuten zu einem Treffen mit Jason aufgebrochen.“

Aodhan überging die nahezu beleidigende Begrüßung und überlegte einen Moment. „Ist irgendetwas Wichtiges passiert?“

„Etwas, wichtig genug das Raphael dich in deinem Zustand damit behelligen würde meinst du? Nein.“, antwortete der Vampir am anderen Ende der Leitung und blätterte hektisch in einigen Akten.

Zorn loderte wie eine Flamme in Aodhan hoch und er knirschte hörbar mit den Zähnen.

„Was meinst du mit „in meinem Zustand“? Denkst du ich bin ein Krüppel?“, zischte er gereizt und hörte selbst, wie albern es klang.

„Wow, jetzt halt mal schön die Bälle flach Engelchen – ich hab gehört du bist im Kampf schwer verletzt worden und es erging die Order an alle, dich in deinem Heilungsprozess in der Zuflucht nicht zu stören. Kein Grund gleich auszuflippen.“ Dmitris Stimme war ruhig und gefasst doch Aodhan konnte den Panther dahinter hören. Das tödliche Raubtier. Den Jäger. Den Killer.

Seine Wut herunterschluckend wechselte er das Thema. „Dann erreiche ich Raphael auf seinem Handy.“, lenkte er und versuchte so beherrscht wie möglich zu klingen.

„Sicher.“, antwortete Dmitri knapp und schien seine Aufmerksamkeit schon auf etwas, oder Jemand, anderen zu richten.

Mit einem Knall ließ Aodhan den Hörer in die Gabel krachen und fuhr wütend herum. Das war es also, wofür ihn alle hielten: einen kranken, unnützen Krüppel. Eine Last für alle. Nicht mal eine winzige Information wert. Ein Engel ohne Flügel, gezähmt und an den Boden gefesselt. Niemand brauchte einen flügellahmen Agenten. Niemand.

Aodhan beschloss das Telefonat mit Raphael zu verschieben und ließ sich stattdessen in einen der hohen Lehnstühle fallen. Unbequem rutschte er eine Weile darauf herum, verlagerte sein Gewicht von links nach rechts, lehnte sich an, beugte sich vor und stand schließlich, voller Frustration, wieder auf.

Bis vor wenigen Tagen hatte er seine Zimmer noch als wohnlich bezeichnet. Gemütlichkeit hatte sich auf sein Bett mit Kissen und Decke beschränkt und es hatte ihm nichts ausgemacht stundenlang

auf Holzstühlen oder der Steinbank auf dem Balkon zu sitzen.

Doch seitdem er Illiums verdammte Räumlichkeiten kannte, die flauschigen Kissen und dicken Teppiche auf dem Fußboden genossen hatte, war ihm alles hier zu hart. Zu kantig. Zu fremd.

Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab, nahm Bücher zur Hand und warf sie zurück auf den Stapel, ging ins Bad und kam zurück, kniete sich hin zur Meditation und erhob sich unverrichteter Dinge wieder.

Nachdenklich trat er ans Fenster, schirmte seine Augen gegen die plötzlich aufleuchtende Sonne ab und betrachtete die regennasse Landschaft. Frisch und grün wirkte sie, hatte sich sattgetrunken und zeigte noch einmal ihr schönstes Gesicht.

„Ich muss hier raus.“, murmelte Aodhan und war nur wenige Augenblicke später auf dem Weg zu den weitläufigen Gärten der Zuflucht.
 

Bereits auf halbem Weg bemerkte er den Tumult, der auf den unteren Ebenen der Grünanlagen herrschte und er runzelte die Stirn. Es war selten, dass solch ein Lärm in der Zuflucht geduldet wurde, noch dazu so nahe des Krankenflügels. Trotzdem waren Kinderstimmen und Gelächter zu vernehmen und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit folgte Aodhan den überschwänglichen Rufen. Er hatte gerade die ersten Stufen der sanft abfallenden Gartenwege erreicht, als ein kollektiver Aufschrei ertönte und wenige Sekunden später ein blauer Pfeil kerzengerade in den Himmel schoss. Azur und Mitternacht mischten sich mit der Farbe des Himmels und tausend silberne Federspitzen reflektierten das helle Sonnenlicht.

Illium.

Ruckartig öffnete der junge Engel seine Flügel, fing sich so gegen die Fallwinde ab und taumelte einen kurzen Moment in der aufkommenden Brise. Dann strauchelte er, seine rechte Schwinge knickte unter eine unsichtbaren Last zusammen und mit einem ängstlichen Raunen der Kinder ging Illium zu Boden. Aodhans Herz krampfte zusammen und er legte die restliche Strecke im Laufschritt zurück.

Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend hatte er das Ende der Treppen schnell erreicht und schon nach wenigen Metern kam die große Lichtung in Sicht. Eine Schar Engelskinder stand mit großen Augen um eine Person am Boden und ein jedes Gesicht zeigte ungläubiges Staunen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern ehe Aodhan endlich den Ort des Geschehens erreichte und er rechnete innerlich mit dem Schlimmsten. Illium war ins Leere gefallen. Ohne abzubremsen war er dem harten Boden entgegengetrudelt und dort wahrscheinlich mit einem dumpfen Krachen aufgeschlagen.

„Lasst mich durch.“, murmelte er als er sich durch die Menge kaum hüftgroßer Kinder schob und dann mitten in der Bewegung erstarrte.

Da lag Illium. Ein rothaariges Mädchen saß auf seiner Brust und kicherte lauthals ob der Finger, die sie neckend kitzelten. Auch Illium lachte mit blitzenden Zähnen und seine Honighaut schimmerte in der warmen Sonne.

Ein erstaunter Ausdruck schlich sich in sein Gesicht als er Aodhans ansichtig wurde und nach einem kurzen Wortwechsel schob er das kleine Mädchen von seiner Brust.

„Aodhan?“, fragte er ungläubig und wehrte die aufdringlichen kleinen Bälger mit spielerischer Leichtigkeit ab.

„Was zur Hölle machst du hier?“, fauchte Aodhan übertrieben gereizt und nahm aus den Augenwinkeln die ängstlich zurückweichenden Kinder wahr.

„Ich bringe den Kleinen bei, wie man sich bei eine Absturz abfängt.“, erklärte Illium und richtete sich ein wenig auf. „Was machst du denn hier?“

„Ich... ich wollte spazieren gehen... und hab dich gesehen – ich dachte du wärest...“, murmelte Aodhan halblaut, schenkte seinem Gegenüber einen verwirrten Blick und machte dann ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf dem Absatz kehrt.

Hitze schoss in die Wangen des weißen Engels und er kam sich so unglaublich dumm vor. Er war es nicht gewohnt sich zu sorgen. Anteil zu nehmen. Angst zu empfinden. Und doch war ihm bei dem Gedanken, Illium würde etwas zustoßen, vor wenigen Sekunden heiß und kalt geworden. Sein Herz jagte noch immer wie nach einen Marathon und hämmerte gegen seine Brust, seine Hände waren feucht und krampften schmerzhaft zusammen.

„Hey Aodhan.“, hörte der Weißgeflügelte Illium hinter sich rufen und er beschleunigte seine Schritte. Schlimm genug, dass er sich eben wie ein kompletter Vollidiot aufgeführt hatte – Illium sollte sich nicht auch noch an seiner Scham ergötzen können.

Mit weitausgreifenden Schritten ging Aodhan den Weg zurück den er gekommen war, erklomm die Stufen und bog dann auf halber Strecke links ab. Mit einem Seufzer tauchte er in das lindgrüne Dickicht uralter Bäume und Grünpflanzen ein und drosselte sein Tempo ein wenig.

„Nun bleib doch mal stehen.“, hörte der weiße Engel Illium rufen und wenige Sekunden später berührte ihn Jemand an der Schulter.

„Was willst du?“, fragte Aodhan und hoffte inständig, dass sie verräterische Röte auf seinen Wangen mittlerweile verblasst war.

„Bei dir sein.“, antwortete Illium schlicht und versenkte seinen irritierend intensiven Blick in Aodhans.

Der weiße Engel stockte ob der aufrichtigen Antwort seines Gegenübers und jegliche rationale Argumentation fiel in sich zusammen. Es hatte keinen Zweck zu leugnen, dass er die Gesellschaft des so viel jüngeren Engels genoss. Dass er seinen Duft und seine Gesten mochte. Dass ihm sein Lächeln gut tat. Dass er ihn schätzte.

Also nickte er und gemeinsam folgten sie dem knirschenden Kiesweg in die schattige Stille des Gartens.
 

Eine ganze Weile schwiegen die beiden Engel, genossen das Rauschen der mächtigen Bäume und das flirrende Sonnenlicht unter dem dichten grünen Blattwerk. Dann war es Aodhan, der die Stille brach:

„Du fliegst gut.“, stellte er fest und ließ seinen Blick durch die raschelnden Baumkronen streifen.

Illium lachte leise und nickte dann. „Ich versuche es zumindest.“, antwortete er und zwinkerte seiner Begleitung charmant zu.

Ein erstaunter Ausdruck erschien auf Aodhans Gesicht und er legte die Stirn in Falten.

„Nun schau mich nicht so an, Aodhan.“, lachte der Blaugeflügelte und machte einen spielerischen Satz nach vorn. „Das mit den Flugstunden war eben nur die halbe Wahrheit. Aber sollte ich mich vor den ganzen jungen Mädchen blamieren und gestehen, dass ich mich nicht mal mehr in der Luft halten kann?“

Der weiße Engel schüttelte missbilligend den Kopf und fuhr in der Betrachtung der Baumspitzen fort. „Das war sehr leichtsinnig, du hättest dich ernsthaft verletzen können.“

Illium schnaubte abwehrend und hob wie zur Bekräftigung seine mitternachtsblauen Flügel ein Stückchen weiter an.

Er wollte schon zu einer energischen Antwort ansetzen, als ihn warme Sonnenstrahlen auf der Nase kitzelten.

Der Weg vor ihnen lichtete sich ein wenig an der nächsten Biegung und einer der glitzernden kleinen Pools tauchte vor ihnen auf.

Sonnenstrahlen fluteten durch das klare Wasser und brachen sich schimmerten in den kleinen Wellen. Es roch nach Moos, nach Sommer und trockenem Gras.

Mit einem Seufzer, alle patzigen Antworten dieser Welt vergessend, beschleunigte Illium seine Schritte und landete wenige Augenblicke später mit einem lauten Klatschen in den tanzenden Wellen. Glitzernd stoben Tropfen über die Wasseroberfläche, malten spielerische Muster auf Flügel, Brust und Rücken des blauen Engels und perlten schimmernd von ihm ab. Anders als die meisten seiner Art, die Wasser und Regen verabscheuten, genoss Illium das kühle Element um seinen Körper und ließ sich eine ganze Weile rücklings treiben.

Die Sonne stand schon tief am Himmel und war eben dabei die bereits zart verfärbten Baumspitzen zu küssen. Wolkenlos und unendlich erstreckte sich das Firmament über der Welt und schenkte ihr und ihren Bewohnern einen letzten, warmen Tag im Spätsommer.

Ein Seufzer entrang sich Illiums Brust und er fühlte eine melancholische Schwere in sich aufsteigen. Dann besann er sich seines Begleiters und sah sich neugierig auf er Lichtung um.

Aodhans Anblick traf ihn wie ein Faustschlag und einen Moment hatte der blaue Engel das Gefühl in bodenlose Tiefen zu fallen.

Der weiße Engel, wunderschön und größer als die meisten unter ihnen, stand inmitten der gleißenden Sonne. Seine Flügel, obgleich bandagiert und eng an den Körper geschnürt, strahlten weiß wie der Schnee und glitzerten wie reines Perlmutt. Das lange Haar umspielte die aufrechte Silhouette des Engels im leichten Wind und die seidige Haut wirkte wie aus Glas, zerbrechlich und nahezu durchsichtig. Aodhan hielt seine Augen geschlossen, das Gesicht der warmen Sommersonne entgegengestreckt und verharrte völlig bewegungslos in all seiner herrlichen Pracht.

Mit wenigen Schwimmzügen war Illium am Ufer des kleinen gemauerten Pools angelangt, erklomm das Ufer ohne auch nur einmal den Blick von seinem Begleiter zu wenden und ließ sich dann, nass wie er war, neben Aodhan in das Gras fallen.

Der weiße Engel zuckte fast unmerklich zusammen als er die Anwesenheit des Blaugeflügelten wahrnahm und folgte dessen Beispiel dann mit einem leisem Gurren.

„Stört es dich gar nicht, wenn deine Flügel nass werden?“, fragte er mit ruhiger Stimme und seine bemerkenswerten Augen glitten mit unerhörter Intensität über Illiums Honighaut.

„Nein – im Gegenteil.“, gestand der blaue Engel und wälzte sich genüsslich auf den Rücken. Er schob die Arme hinter den Kopf, schlug die Beine lässig übereinander und breitete seine Schwingen sorgsam zum Trocknen aus.

Die äußerste Spitze, weich und angenehm kühl, strich über Aodhans bloßen Arm und ein Schauer rann dessen Rücken herab. Es war eine intime Geste mit der Illium ihn bedachte und zum ersten Mal, seit er zurückdenken konnte, schrak Aodhan nicht vor der Vertrautheit zwischen ihnen zurück.

Eine Weile verharrte der weiße Engel in der stillen Betrachtung des Jüngeren, registrierte jedes noch so kleine Detail und genoss die Möglichkeit, völlig ungehinderten Blick auf Illium zu haben.

Auf die kleinen glitzernden Wassertröpfchen in Haar und Wimpern. Die schönen Lippen mit dem harten Zug. Die glatte Brust, von karamellfarbener Haut überzogen. Auf den sich sanft wölbenden Bauch. Den kleinen Pfad gekräuselter Haare Richtung Hosenbund. Die langen, muskulösen Beine und die Flügel. Himmel diese Flügel. Immer wieder zogen sie Aodhan in ihren Bann und er wurde nicht müde, sich an ihrer prachtvollen Schönheit zu berauschen.

Träge tanzte die Sonne über Illiums Körper und der Duft nach Sonne, nach goldenem Honig und Feuer stiegt in Aodhans Nase. Er seufzte leise und richtete seine Aufmerksamkeit anschließend auf den umliegenden Wald.

„Als Raphael damals veranlasste mir die Federn ausreißen zu lassen dachte ich, der Schmerz würde niemals wieder aufhören.“, murmelte der blaue Engel plötzlich in die flirrende Stille der weitläufigen Gärten. Seine Stimme war rau und schien wie von Ferne an Aodhans Ohr zu dringen. Der leere Blick des blauen Engels klebte an den zerbrochenen Flügeln des weißen Engels und die Erinnerung malte ein schmerzvolles Lächeln auf seine Lippen.

„Nicht nur das Wissen, diejenigen verraten zu haben, die mir gleichen, sondern auch die Isolation, die Einsamkeit und die Erkenntnis, dass ich als Engel versagt hatte, haben mich beinahe getötet. Mein Flügel waren kahl wie meine Seele und ich war mir sicher, nie wieder...lachen zu können. Raphaels Gesetze hatten mich verkrüppelt und mir die verboten, die einzige Person auf der Welt, die ich zu lieben glaubte, wiederzusehen.“ Ein bitteres Seufzen. „Und nun weiß ich nicht mal mehr, wie ihre Stimme klingt. Ich habe ihren Duft vergessen. Die Farbe ihrer Augen. Wie ihre Haare schimmern und wie sie lacht.“

Schweigend lauschte Aodhan diesem schmerzvollen Geständnis und wartete auf eine Fortsetzung. Illium, der fröhliche und aufgeschlossene Engel, hatte bisher mit Niemandem über sein Schicksal gesprochen – warum nun mit ihm?

„Und obwohl ich sicher war, dass ich nie wieder glücklich sein könnte, sind meine Federn nachgewachsen. Schöner als zuvor sprossen sie aus meinem Körper, verrieten meine Seele mit ihrer unerträglichen Pracht und ließen mich vergessen, was ich einst so liebte. Ich habe mich selbst verraten Aodhan.“

Ein leises Schluchzen sagte dem weißen Engel, dass sein Begleiter weinte. Eine einzelne Träne rann Illiums Wange hinab und versickerte lautlos in dem weichen Gras. Die salzige Spur, die sie hinterließ, glitzerte verräterisch im Sonnenlicht und machte den blauen Engel so unglaublich schön. Unglaublich menschlich.

„Das hast du nicht.“, hörte Aodhan sich sagen und seine Stimme klang fest und bestimmt. „Du hast die Gebote, denen wir alle unterstehen, mit Füßen getreten und das in dich gesetzte Vertrauen enttäuscht – aber manchmal gibt es wichtigere Dinge, als Regeln und deren Folgen.“

Ein Seufzer ertönte, dann richtete sich der blaue Engel auf und öffnete die Augen, schob seinen Flügel ein klein wenig mehr um Aodhans Körper.

„Für einen Engel, der sich sonst sehr wortkarg gibt, bist du ganz schön weise.“, murmelte Illium und wischte sich über das Gesicht. Glut und flüssiges Gold schwammen in seinen Augen und ließen Aodhan erschaudern.

Eine leichte Brise kündigte den herannahenden Abend an und die Sonne verschwand mit einem letzten feurigen Glühen hinter den rauschenden Baumkronen.

Die Miene des weißen Engels war undurchdringlich, seine Körperhaltung entspannt. Die großen Flügel lschmiegten sich eng an dem sehnigen Rücken und jede einzelne Feder war in schimmerndes Weiß getaucht. Sein Blick, sonst so fern und unergründlich tief, lag auf Illiums Leib und Sehnsucht lag darin.

„Nur, weil man nicht ständig redet bedeutet es nicht, dass man nichts zu sagen hat.“, lachte der große Engel und Illium traute seinen Ohren kaum. Hatte Aodhan ihn gerade geneckt? Hatte er gelacht und einen Scherz gemacht? Hatte er ihn angesehen, angesehen wie ein Mann einen anderen ansieht? Hatte er...gelacht?

„Und nur weil man sich stets in geheimnisvolles Schweigen hüllt heißt das nicht, dass man jedes seiner Worte genau überdenkt.“, gab Illium augenzwinkernd zurück und erhob sich mit einer geschmeidigen, katzenhaften Bewegung.

Gähnend streckte er seine steifen Glieder, reckte Arme und Flügel in die Höhe und drehte sich dann zu seinem Begleiter um. „Hunger?“, fragte er wie schon in der Nacht zuvor und ein amüsiertes Funkeln lag in seinen erstaunlichen Augen.

Aodhan, noch immer ein wenig benommen von Wärme und plötzlicher Nähe, nickte langsam und verabschiedete sich mit einem schmerzvollen Stöhnen aus seiner sitzenden Position.

„Werd bloß nicht frech.“, warnte er Illium und mit einem zufriedenen Lächeln machten sich die beiden Männer auf den Rückweg.
 

Nachdem Aodhan den Anruf nach New York getätigt hatte legte er den Hörer zurück in die Gabel und rieb sich die Schläfen. Er war müde und sein Körper schmerzte trotz der Medikamente von Keir. Er hatte den Abend mit Illium auf den Freiterrassen der Zuflucht verbracht und nun stand der Mond schon hoch am Himmel.

Lachend und essend hatte der blaue Engel eine Geschichte nach der anderen zum Besten gegeben und damit Aodhan, und auch alle Personen an den umliegenden Tischen, erheitert. Voller Leidenschaft, mit glühenden Augen und stolzgeschwellter Brust, hatte er sich seiner Heldentaten gebrüstet und mit seinem bestechenden Charme alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Erst der wieder einsetzende Regen hatte die Engel nach drinnen vertrieben und Aodhan hatte sich höflich verabschiedet.

Nun schwindelte ihm ob der Erschöpfung und er suchte ohne weitere Umwege sein Schlafzimmer auf. Missmutig warf er sich in die viel zu harten Kissen, wälzte sich von der Seite auf den Rücken, vom Bauch auch die Seite und wieder auf den Rücken.

„Gottverdammter Illium.“, fluchte er halblaut und schob sich eines der brettharten Kissen zwischen seine Beine, das Gesicht in den kalten Laken vergraben. Müdigkeit und Erschöpfung ließen den weißen Engel schließlich einschlafen, aber erinnerte sich an wirre Träume, an gehetztes Erwachen und die ungemütlichste Nacht, die er jemals erlebt hatte.
 

Der nächste Morgen brach ungewohnt sonnig und warm über der Zuflucht herein. An dem unbewegten Himmel dümpelten einzelne weiße Wolken vor sich hin und nur hier und da fiel ein gnädiger Schatten auf die erwachende Landschaft.

Aodhan war bereits früh aus seinem unbefriedigenden Schlaf erwacht und hatte sich, missmutig und verstimmt, seiner Morgentoilette gewidmet. Als das kühle Wasser aus dem Duschkopf über seinen Körper rann erwachten seine Lebensgeister und trotz der ziehenden Schmerzen in den Flügeln und der angrenzenden Körperpartie hob sich seine Laune beträchtlich.

Mit noch feuchtem Haar und lockerer Kleidung betrat er den Balkon, platzierte einen wackligen Bücherstapel auf der steinernen Bank an der Hauswand und lehnte sich selbst weit über die Brüstung. Sanft streichelte der Wind sein Gesicht und trug das verschlafene Gurgeln des Flusses weit unten im Tal zu ihm herauf. Einige Bienen summten durch die Luft und sammelten letzte Vorräte für den unvermeidlich kommenden Winter. Träge gaukelte ein Schmetterling an Aodhans Nase vorbei und ließ sich von der sanften Brise bald hier, bald dorthin tragen.

Es versprach ein schöner Tag zu werden und Aodhan ließ sich mit einem leisen Seufzen auf der sonnigen Bank nieder. Neugierig griff er das oberste Buch vom Stapel, schlug das zweite Kapitel auf und war binnen weniger Sekunden tief versunken.

Ja, es war ein guter Tag.
 

Es war wohl um die Mittagszeit als ein lautes Rufen den weißen Engel in seiner Lektüre unterbrach. Eine Stimme drang von unten zu ihm herauf, rief seinen Namen in so vertrauter Weise und wenige Augenblicke später war ein raues Flügelschlagen zu hören. Das konnte doch nicht...?

Mit einem Satz war Aodhan an der Brüstung, beugte sich vornüber und erblickte Illium einige Meter unter sich. Er schwebte, wacklig und unstet, in der kalten Luft über dem Tal und die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Schweiß glänzte auf seiner goldenen Haut und die glühenden Augen fixierten Aodhan.

„Was zur Hölle soll das werden?“, rief der weiße Engel und beugte sich noch weiter nach vorn. Er klang erschrocken und auf seinem Gesicht wechselten Sorge und Wut einander ab.

„Ich komme zu dir.“, wehte Illiums Stimme zu ihm herauf und wie zur Bestätigung schlug er mit seinen wunderschönen Flügeln.

„Bist du wahnsinnig? Das ist noch viel zu weit.“, hörte Aodhan sich rufen und er registrierte wie Illium in der leichten Brise taumelte. Hier an der Außenwand der Zuflucht herrschten seitlich abfallende Zugwinde – selbst für einen gesunden Engel war der Flug gefährlich und barg viele Risiken. Panik begann sich in Aodhan breit zu machen als er sah wie Illiums rechte Schulter absackte und einige der weichen Flaumfedern vom Wind davongetragen wurden.

„Wie wäre es... wenn... wenn du ein bisschen... an mich glauben würdest.“, keuchte Illium und brachte seinen Körper unter größter Anstrengung wieder in ein empfindliches Gleichgewicht. Schweiß lief ihm an Stirn und Wangen hinab, rann über seine Brust und die bebenden Flanken und er atmete schwer.

Aodhans Herz krampfte sich zusammen, dann schloss er für einen winzigen Moment die Augen. Das Wispern in seinem Kopf, das unruhige, rastlose Raubtier, wurde mit einem Mal ganz still und seine Sehnsucht verkroch sich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins.

„Nun komm schon her.“, hörte er sich rufen und wie in Trance streckte er dem strauchelnden Engel die Hand entgegen.

Fest fixierte er Illium mit dem Blick, beugte sich vor so weit es eben ging und flehte lautlos, dass der junge Engel es schaffen würde.

Illiums Augen glühten als er lächelte, dann legte er den Kopf zur Seite, lauschte tief in seinen Körper hinein und schlug dann mit seinen großen Schwingen. Ein leises Rauschen erklang und der Wind zauste die zarten Schwung- und Flugfedern. Silbern blitzten die empfindsamen Spitzen als sich Illium keuchend und taumelnd aus dem Schatten erhob und die Grenze zur Sonne passierte.

„Komm schon.“, rief Aodhan noch einmal rau und seine Finger krümmten sich lockend dem Fliegenden entgegen.

Illiums Lächeln wurde tiefer und er wiederholte die machtvolle Bewegung seiner Flügel. Der Duft nach Sonne, Schweiß und süßem Honig drang an Aodhans Nase und er erwiderte das Lächeln des blauen Engels. „Nur...noch... ein Stückchen...“, keuchte Illium und ächzte unter der Anstrengung. Seine rechter Flügel klappte ein wenig zur Seite und er hatte Mühe sich aufrecht zu halten – doch er schaffte es. Mit einem Stöhnen stellte er die Federn seiner Schwingen schräg, ließ den Wind unter die breiten Tragflächen gleiten und gewann erneut an Höhe.

Erleichtert seufzend streckte Illium seine Hand nach Aodhans aus, fast schon berührten sich ihre Finger, da ging ein Rauschen durch die Baumkronen am Steilhang und ein tückischer Windstoß erreichte die beiden Männer.

Während Aodhans Haar nur ein wenig durcheinandergebracht wurde hatte die Luftverwirbelung für Illium fatale Folgen. Augenblicklich verlor er seine stabile Position und taumelte Richtung Betonwand. Seine Flügel knickten unter der plötzlichen Thermikveränderung ein und er sackte ein ganzes Stück nach unten ab. Überraschung und Panik vermischten sich auf seinen Gesichtszügen und ein ersticktes Keuchen verließ seinen Mund.

„Illium.“ Ein gellender Schrei aus Aodhans Kehle und der weiße Engel streckte sich noch weiter über die Brüstung. Seine Füße verloren ihren Halt auf dem sicheren Boden und nur noch seine bandagierten Flügel hielten das empfindliche Gleichgewicht. Kraftvoll umschlossen Aodhans Finger den Oberarm des Stürzenden und bremsten seinen Fall. Schmerz, blendend weiß und schreiend, schoss durch den Körper des Älteren und er schrie auf – doch er ließ nicht los.

Illiums Augen weiteten sich und krampfhaft versuchte er das Gleichgewicht wieder zu finden. Seine Flügel schlugen schmerzhaft gegen die betonierte Außenwand der Zuflucht und er wimmerte leise.

„Hör auf.. dich zu.. bewegen.“, keuchte Aodhan und stöhnte erstickt auf, als ein neuerlicher Schmerz seine Schultern fast entzwei riss. Einen Augenblick drohten ihn Anstrengung und Qual zu überwältigen, Schwärze wirbelte vor seinen geschlossenen Lidern auf und er wollte aufgeben. Nur loslassen. Sich fallen lassen.

Dann regte sich der Kämpfer in ihm und er begann sein Gewicht Stück für Stück auf Beine und Hintern zu verlagern. Er seufzte auf als seine Füße endlich wieder den kalten Marmor fühlen konnten und der schreiende Schmerz in der Schulter ließ ein wenig nach. Trotzdem verlor sich Aodhan nicht im Triumph, sondern atmete tief ein.

„Nicht bewegen.“, ermahnte er Illlium noch einmal, dann hielt er die Luft an und mit einem einzigen Ruck beförderte er den blauen Engel über die Brüstung. Er stöhnte laut und taumelte einige Schritte nach hinten, völlig erschöpft und erleichtert. Noch immer hielt er Illiums Arm krampfhaft umklammert, zog den keuchenden Engel mit sich und an seine Brust.

Als sein Rücken Halt an der rauen Außenmauer der Zuflucht fand ging auch der Schmerz langsam zurück. Das Brennen und Tosen verschwand aus Aodhans Adern und nur ein dumpfes Hämmern in Schulter und Rücken blieb zurück. Es dauerte eine ganze Weile ehe sich der Atem der beiden Engel von einem Keuchen in ein flaches Seufzen verwandelte, so lange verharrten sie bewegungslos. Aneinander gedrückt, mit weichen Knie und klopfenden Herzen.

Illiums Körper, feucht vom Schweiß und heiß von der Anstrengung des Fluges, lehnte träge an Aodhans Brust und ihrer beider Düfte, rauchig und exotisch, vermischten sich miteinander. Die Flügel des blauen Engels schliffen kraftlos über den Boden und seine weiches Haar, kühl und seidig, kitzelte Aodhans Hals.

Und er mochte es. Mochte die erdrückende Schwere des bebenden Körpers. Die weichen Federn auf seinen nackten Füßen. Den heißen Atem, der erregend intensiv durch sein dünnes Sweatshirt drang. Mochte Illiums Nähe.



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