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Strophen eines Sommers

von

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Ich erinnere mich noch genau. Es war ein kalter Aprilmorgen. Wie eine unermüdliche Bestätigung, dass ich hier nicht zu Hause bin, trommelte der Regen gegen die Scheiben. Fast wie Trommelfeuer von Soldaten, die den Feind jagen. Das Dorf war im Schlamm versunken und die Bevölkerung im Selbstmitleid. Es war ein gottloser Ort. Gehasst habe ich ihn.

Eine Inspiration war er höchstenfalls für eine Tragödie. Hergekommen, um etwas Besseres als in der alten Heimat zu finden, hatte ich schnell begriffen, dass man sich etwas wie Luxus hier nicht erhoffen konnte. Wer etwas zu Essen wollte, musste arbeiten oder stehlen.

Die Feder lag schwer in der Hand und das beständige Zupfen an meiner Weste erleichterte das Schreiben keineswegs. 

„Daddy, Daddy! Was machst du da?! Ich will mit dir spielen! Lass uns draußen spielen!“

Ein aufmüpfiger kleiner Bengel. Aber zumindest wusste er, was er wollte. Das weiche Haar unter meiner Handfläche war wie eine Erinnerung, dass es auch noch mehr gab als die kratzige Feder.

„Nein James, es regnet! Deine Mutter würde niemals wollen, dass du schmutzig wirst..“ Murrend wie immer strich ich dem Kleinen vertröstend über den Kopf und wandte mich wieder ab. Eine Ausrede natürlich. Aber es passte. Elizabeth, edelmütig, tugendhaft und stets auf Reinlichkeit bedacht war eine echte Hilfe. Und meine Frau. Wann immer sie es konnte band sie mir Aufgaben auf und schickte den Jungen nach mir. Ich hätte sie in England zurücklassen sollen. Einige wenige Angestellte hätten es auch getan. 
 

Und dann sah ich ihn. Erst flüchtig aus dem Augenwinkel, doch schon bald versicherte er sich effektiver meiner Aufmerksamkeit. Mit tollkühnen Schwüngen schlug er scheinbar auf den matschigen Boden ein. Der Regen hatte keinesfalls nachgelassen, im Gegenteil! Gebe diesem Jüngling doch mal jemand einen Schirm! Aber er stand in diesem Hundewetter auf dem Feld und grub den Boden um! „Junge geh Heim..“ hatte ich damals geknurrt. Wie bald ich mir diese Gedanken schon verboten hätte. 
 

Tüchtig und stets beschwingt fand er sich auch in den nächsten Tagen wieder auf dem Acker ein und beschäftigte sich Stück für Stück mit der undankbaren Erde. Warum war er mir vorher nie aufgefallen?

Das Feld lag nicht erst seit gestern brach und in diesem engstirnigen Örtchen wäre jeder neue Bürger, ja sogar jeder Gast eine echte Sensation. Heute würde ich wohl sagen „Wahres Strahlen sieht man erst in der Dunkelheit.“ Auf jeden Fall beschäftige mich der Umstand, dass er diese Arbeiten immer genau vor meinem Fenster durchführen musste, wo ich doch Ruhe und Inspiration brauchte! 

Was dann in mich gefahren ist, kann ich mir heute noch nicht erklären.
 

Aufgesprungen bin ich. Jeder Fetzen eines Reimes war egal gewesen. Edgar. Edgar musste her. Der betagte Butler, er könnte mein Vater sein, schlich wie immer auf dem Flur herum und war bald gefunden. „Bringt diesem Jungen auf dem Feld endlich einen Schirm!“, hatte ich fest entschlossen angeordnet. Ein skeptischer Blick war seine Antwort. „Aber Herr…das auf dem Acker sind nur die einfachen Arbeiter. Hat er euch etwa belästigt?“, fragte der Alte vorsichtig. Ein entnervtes Zischen und ich hatte wenige Augenblicke später selbst einen Schirm in der Hand. „Alles muss man selber machen..!“, hatte ich geschimpft. Zum Glück hatte Edgar dieses eine mal nicht gehorcht. 
 

Im Stechschritt bin ich durch den einsinkenden Schlamm marschiert. Geradewegs auf den Blonden zu. War sein Haar schon immer so hell? Der dichte Nebel hatte nur wenige Einzelheiten offenbart und der Regen schlug immer noch schadenfroh auf alles ein, was er erwischen konnte. „Sie da..!“ Keine Reaktion. „Entschuldigung?!“ Unablässig wandt sich die Erde unter seinem Spaten. Ich bin noch nie ignoriert worden! Und ich habe noch niemals zuvor schutzlos im Regen ausharren müssen!

„Junger Mann, hören sie endlich!“, bellte ich und packte den, erstaunlich großen, Jungen an der Schulter. Blau. So blau…

Ich muss ausgesehen haben wie ein Idiot in diesem Moment, aber mit Verlaub, er sah auch nicht viel entspannter aus. „Oh…Sir!“, japste er knapp. Eine unbeholfene Andeutung einer Verbeugung. Ein verschmitztes Lächeln. „Sie werden nass.“ Für jeden, wirklich jeden, der mir so gegenüber getreten wäre, hätte dieses respektlose Verhalten Konsequenzen mit sich gezogen. Aber ich war stumm. Zum Schweigen gebracht von diesen einmalig strahlenden Augen in diesem düsteren Loch von Erde.

„Hier.“ Das war alles was ich hervorbrachte. Wortlos hatte ich ihm den Schirm in die Hand gedrückt und war innerhalb kürzester Zeit von diesem elendigen Stück Land verschwunden, zurück in mein Heim. Klitschnass. Und mein Herz schlug bis zum Hals. Was sollte das?!
 

Und dann nahm alles seinen Lauf. Jeden Tag wartete ich hinter meinem Schreibtisch. Hielt pro forma die Feder in der Hand. Kein Reim kam auf das Papier. Keine Strophe ergab Sinn. Mein Geist war wirr. Nicht selten hatte ich während dieser Wochen an den strahlenden Jungen gedacht. Natürlich im Geheimen. Homo homini lupus est - Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Sie würden mich zerfetzen, wenn sie wüsste welche Gedanken sich in meinem Kopf wanden. Und es blieb nicht nur bei Gedanken… Ich konnte mir zuerst nicht erklären woher es kam. In der Heimat hatte man es eine Krankheit genannt. Gefährlich und nur schwer heilbar. Und auch in diesem winzigen Dorf würde sich jedes Wort über ihn, und sei es im Vertrauen, wie ein Lauffeuer verbreiten. Aber es war wunderbar. Sicherlich eine Sünde, aber wie kann etwas so Schönes falsch sein? Mit kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen ging er ans Werk. Von früh bis spät stählte die schwere Arbeit seinen jungen Körper. 
 

Eines Tages war etwas anders. Er war nicht allein. Eine kleine Gruppe junger Männer, Schaufeln tragend wie er, war in seiner Begleitung. Wahrscheinlich Bauern, wenig ansehnlich. Wie erstarrt hatte ich in meinem Sessel verharrt. Die Augen stur auf sie gerichtet. Die Fäuste geballt. Sie scherzten mit ihm. Sie berührten ihn im Spaß. Sie lachten laut und unbekümmert. Wieso taten sie das?! VERDAMMT SIE SOLLTEN ARBEITEN! IHRE AUGEN VON IHM AUF DEN GOTTVERDAMMTEN BODEN RICHTEN, WO SIE HINGEHÖRTEN! SIE WAREN ES NICHT WER-

Ich war erschrocken. Über mich selbst. Wie konnte ich es wagen etwas wie Besitzansprüche für ihn zu fordern? Kein Mucks war zu hören. Nur das Knirschen meiner Zähne. War das Sorge? War das Neid? War das Missgunst? War ich so ein schlechter Mensch? Eines stand fest. Sie waren nicht gut für ihn. Ich war es. Einer muss sich doch um ihn kümmern…!
 

Wieder gingen die Wochen ins Land und mit ihnen kündigte sich der Sommer an. James war laut und wild und Elizabeth war viel mit ihm und den Bediensteten im Garten. Er war wohl das Beste, was es hier weit und breit zu sehen gab. Unablässig hatte ich seither jeden Tag in meiner Schreibstube verbracht und angefangen die scheinbar überquellenden Gedanken zu befreien. Es war sehr viel. Und sehr gefährlich. Nichts Eindeutiges schrieb ich nieder, hätte es nicht gewagt auch nur annähernd mein Geheimnis kund zu tun. Je nach Wetter hatte ich Mitleid mit dem jungen Blonden oder empfand Bewunderung wie scheinbar endlos mit Ausdauer er den ersten heißen Tagen des Jahres trotzte. Die anderen Bauern waren hin und wieder auf dem Feld gewesen, vielleicht auch öfter. Ich hatte keine Augen für sie. 

An diesem Tag war er wieder allein gewesen. Natürlich war mir sofort das kleine Bündel aufgefallen, das er dieses Mal bei sich trug. Der Tag neigte sich langsam dem Abend zu. Innerlich zählte ich schon die Minuten, nach denen er sich abwenden und von dannen gehen würde. Aber es kam anders als erwartet. 
 

Pünktlich legte er das Tagwerk nieder und stach den Spaten in den Boden. Sein Blick wanderte genau zu meinem Fenster. Angestrengt hatte er hineingestarrt und nach etwas gesucht. Bald wusste ich auch wonach. Nur noch wenige Schritte stand er von meinem geöffneten Fenster entfernt. Das Bündel hatte er unter seinen Arm geklemmt. Sah er mich nicht? „Sir..? Sir hören Sie mich?“ Eine Stimme so voller Elan. Wieder war ich wie gelähmt. Aber ich hätte ihn doch nicht weiter nach mir rufen lassen dürfen! Man denke nur an meine Frau! „Sir ich habe noch Ihren-„ „Moment!“, rief ich laut und hastete, wie von allen guten Geistern verlassen, den Flur hinab, hinaus zu ihm. Während der letzten Schritte hatte ich mich wieder gefangen. Aber wohl eher schlecht als recht. Entschuldigend lächelte er mich an.

„Verzeihung…ich hatte noch den hier.“ Schwungvoll reckte er mir den Schirm entgegen, ich wusste natürlich genau welchen, und nickte. „Danke noch mal.“ 

Und wieder stand ich nur da und starrte ihn an. Wahrscheinlich kam ich ihm vor wie ein etwas verwirrter Herr, dessen beste Tage schon gezählt waren, aber ich konnte nicht anders.

„Behalte ihn. Ich brauche ihn nicht“, wehrte ich ab und versuchte möglichst desinteressiert zu klingen. 

„Stimmt, wer den ganzen Tag in seiner Schreibstube verbringt und Arbeiter beobachtet, braucht den wohl nicht“, bemerkte er kichernd und zog den Schirm lächelnd wieder zurück. EINE FRECHHEIT. Eine wirklich bodenlose Frechheit. Und das schlimmste: er hatte Recht! Meine Empörung schlug in Beschämung um und ich suchte krampfhaft nach Worten. „Ich beobachte keine Arbeiter! Ich schreibe! Ich dichte..!“, protestierte ich wenig überzeugend. 

Sein Schmunzeln verwandelte sich in ein anerkennendes Staunen. „Geschichten..? Märchen und so?“ Eine kindliche Ehrfurcht, wie ich sie nicht einmal von meinem Sohn kannte, erfüllte das hübsche Gesicht. „Darf ich es lesen?“, hakte er euphorisch nach. 

„Oh nein ich denke nicht, dass es dich interessiert, was ich schreibe. Es sind keine Märchen oder Geschichten. Es würde dir nicht gefallen.“ Ich musste das Gespräch beenden. Wenn uns jemand sah!

„Aber ich möchte wissen, was Sie schreiben, wenn Sie mich beobachten!“ Wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühlte mich in diesem Moment so bloßgestellt und nackt, wie nie zuvor. Dieser STURE Bengel, mit dem ich noch nie gesprochen hatte, sah genau durch mich hindurch! Und ich konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. 

„Ich wollte Sie nicht beleidigen! Auf keinen Fall!“, wand er schnell ein. Mein Gesicht schien wohl mehr Bände zu sprechen, als ich in einem Menschenleben veröffentlichen konnte.

„Ich bin nur neugierig…ich bin morgen wieder hier. Sie wissen ja…“ Ein vorsichtiges Nicken seinerseits. Ein leicht brüskierter Blick meinerseits. „Na gut! Dann bis morgen!“, lachte er hell und sprang davon. Ein Lachen so hell. Ein Lächeln so warm. Er würde jeden Ort angenehm machen können…worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
 

Nun gut. Heute wollte er also auf mich warten. Unzufrieden streiche ich noch einmal über meine Kleider. Wenigstens ich will gut gekleidet sein, falls es zu einem Treffen kommen sollte. Falls! Wieder gehe ich zum Fenster und spähe hinunter. Nichts. Verdammt wo bleibt er? Nicht mal auf dem Feld war er heute! Ist er krank?! Ein Gedanke, der mir gar nicht gefällt. Ungeduldig nehme ich schon mein Schreibzeug auf. Wer weiß, vielleicht finde ich etwas Inspiration. Leise verlasse ich die Schreibstube und schleiche das Treppenhaus hinab. Elizabeth sitzt wieder in der Stube und liest. Irgendwelchen französischen Schund möchte ich wetten! Wie von der Haustür angezogen marschiere ich zielstrebig auf sie zu. Nichts kann mich jetzt aufhalten. „Daddy?“, ich verharre erschrocken. „Wohin gehst du Daddy? Nimmst du mich mit?“ Oh my…warum gerade jetzt? „Nein James. Ich muss arbeiten.“ Er sieht enttäuscht aus. Ich kann seinem Blick nicht standhalten. Er erinnert mich an ihn. „Im Gegensatz zu deiner Mutter.. geh zu ihr“, knurre ich abwertend und wende mich ab. Er sieht mir nach. Ich spüre es. Aber es geht nicht. Ich habe jetzt andere Prioritäten. 
 

Der Blonde lehnt einige Meter von unserem Tor entfernt am Zaun. Versteckt im Schatten eines Baumes. Wenigstens denkt er mit. „Guten Abend. Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen“, lächelt er und richtet sich zu voller Größe auf. Er hat andere Kleider an. Das Haar gekämmt… adrett. „Natürlich nicht!“, erwidere ich empört. Er grinst. Hat mich das jetzt verraten? „Wie dem auch sei! Ich muss jetzt arbeiten!“, lenke ich ab und stapfe an ihm vorbei. Wenn er mit mir reden will, muss er mitkommen. Schnell ist er bei mir und betrachtet neugierig meine Bücher. „Wollen Sie schreiben? Ich kenne einen guten Ort, dort ist es ruhig“, kommentiert er beschwingt. Eigentlich keine schlechte Idee. „Ist es weit?“, frage ich skeptisch. Ich weiß nicht wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. „Nein, nein! Ich kenne eine Abkürzung!“, versichert er aufgeregt. Ich nicke zögerlich und schon biegt er von der Hauptstraße ab. In Richtung Wald… dort war ich noch nie. Seufzend folge ich ihm und betrachte die dunklen Bäume widerwillig. Wohl oder übel muss ich mich auf ihn verlassen. Versichernd dreht er sich zu mir um. Aufmerksam mustern mich seine blauen Augen. „Vertrauen Sie mir, es ist schön dort!“ Vertrauen? Wie naiv… 

„Arthur“, murre ich. „Was?“, irritiert sieht er mich an. „Arthur! Ich heiße Arthur, ist das so schwer?“ Er lacht. „Oh Arthur! Wie britisch! Ich heiße Alfred“, strahlend reckt er mir seine Hand entgegen. „Nice to meet you“, grinst er und schüttelt meine Hand überschwänglich. Macht er sich etwa über mich lustig?! Alfred also… schöner Name. Mit einem Titel dazu perfekt. „Danke“, antworte ich zögerlich. „Hier sind wir schon!“, erklärt er lauthals und bleibt stehen. Ein knorriger alter Baum. Unter ihm eine Fläche aus dichtem Gras. Schön anzusehen aber zum Schreiben? „Komm Arthur! Das ist bequem!“, kichert er fröhlich und greift nach meinem Unterarm. Er fasst mich einfach an! Ich japse nach Worten aber schon zieht er mich mit sich. 
 

Das Gras ist wirklich weich. Normalerweise würde ich so etwas nicht tun! Ich hätte Edgar befohlen mir einen Stuhl bereit zu stellen aber heute….heute ist ja sowieso alles anders. Meine Materialien um mich ausgebreitet sehe ich kurz zu ihm. Er sitzt im Schneidersitz an den breiten Stamm gelehnt und beobachtet mich aufmerksam. Sein Blick hat etwas herausforderndes, die blauen Augen funkeln mich an. Es wäre ein schönes Bild. Jemand sollte ihn einmal so portraitieren! „Was ist?“, frage ich irritiert. Ich komme nicht umhin etwas zu schmunzeln. „Nichts, nichts! Ich dachte nur du wolltest arbeiten und nicht mich ansehen“, stichelt er und verschränkt die Arme. „Will ich ja! Aber wenn du mich so anstarrst, kann ich mich nicht konzentrieren!“, erwidere ich und greife demonstrativ nach der Feder. Er lacht…so schön. „Warum lachst du?!“, blaffe ich ihn gereizt an. Es stört ihn nicht. „So wie du guckst, erinnerst du mich an meinen Bruder!“, lacht er. Bruder..? Natürlich. In den niederen Schichten gibt es kaum Einzelkinder. „Du hast Geschwister?“, frage ich vorsichtig. Ich möchte nicht neugierig erscheinen. „Ja zwei Brüder. Willst du die auch beobachten?“, grinst er hämisch und rutscht auf seinem Platz herum. „Untersteh dich!!“, fauche ich und werfe kurzerhand mein kleines Tintenfass nach ihm. Was bildet der sich ein?! „Ahhh don’t shoot me!“, wehrt er immer noch lachend mit einer jugendlichen Leichtigkeit das Geschoss ab. Unerhört! „Nein…so war das nicht gemeint…“, fängt er sich und atmet tief durch. Das Lächeln verblasst etwas. „Ich lebe mit meinen Eltern und meinen Brüdern etwas außerhalb. Aber das wird nicht mehr lange so sein.“ Seine weichen Züge verhärten sich zusehends. Was ist da? Kurz sieht er auf und bemerkt meinen Blick. Es alarmiert mich so etwas zu hören. Will er etwa von hier fort?! „Mein Vater..“, holt er seufzend aus, „Er ist nicht gut zu uns. Er ist…what ever!“, knurrt er leise. Es besorgt mich. Was hat er mit ihnen gemacht? Würde es nicht der Sitte widersprechen, wäre das meine nächste Frage an ihn. Aber er lächelt auf einmal. Noch breiter und heller als zuvor! „Deshalb habe ich jetzt angefangen auf dem Feld zu arbeiten! Und wenn ich dann einmal genug Geld verdient habe, kaufe ich meinen Geschwistern und mir ein großes Haus am Meer! Und dann muss keiner mehr von ihnen meinen Vater sehen. Sie haben etwas Besseres verdient, nicht ihn.“ Es versetzt mir einen Stich das zu hören. Bin ich nicht genau so? Woher nimmt er diesen Frohsinn? „Das wird nicht leicht…“, wende ich ein, aber er winkt lachend ab. Eine Strähne fällt ihm ins Gesicht. Er sieht gut aus… „Ich weiß! Aber ich denke, wir können alles. Man muss nur an sich glauben und Vertrauen haben“, zwinkert er mir zu. Glauben, Vertrauen. Nicht mehr als ein guter Vorsatz! Ich schweige. Ich kenne diese Sorgen nicht. „Schau nicht so traurig, Arthur! Es hat eben jeder seine Last zu tragen, geht dir doch genau so! Wir schaffen das schon“, spricht er und nickt mir ermutigend zu. „Hm… du hast recht. Ich…es ist eben nicht immer leicht“, gebe ich leise zu und lege die Feder missmutig weg. Heute wird sowieso nichts mehr mit schreiben. Höchstens in mein Tagebuch. 

„Dein Sohn hat nicht so schöne Augen, wie du“, sagt er leise. „Was?!“, japse ich erstickt. Schlagartig blitzt das enttäuschte Gesicht vor mir auf. Entsetzt sehe ich ihn an. Warum spricht er mich auf so etwas an? „Ja, so grün! Er hat blaue Augen, wie ich. Aber deine…die sind wie das Gras hier“, lacht er und streicht über das saftige Grün. „Einfach sehr schön und weich.“ So viele Gedanken. Er kennt meinen Sohn? Er spricht über ihn? Er macht mir Komplimente?! „Du kennst James?“, frage ich verunsichert. Was weiß er noch über mich? „James? Heißt er so? Niedlich! Nein ich kenne ihn nicht, aber er spielt oft im Garten und einmal ist sein Ball auf das Feld gerollt. Da hab ich ihn ihm zurückgebracht“, lächelt er und zuckt mit den Schultern. „Danke..“, versuche ich höflich zu entgegnen. Mein Sohn kennt Alfred? Mein Herz schlägt schneller. Was ist mit meiner Frau, mit Edgar? Was wissen sie? Ich verkrampfe mich und versuche meine Gedanken zu ordnen. Ich bin nicht Herr der Lage, das gefällt mir nicht. 

„Oh Artie! Wenn du immer so guckst, erzähle ich dir gar nichts mehr von mir!“, kichert er und kommt zu mir gerutscht. Wie ein Freund legt er den Arm um mich und streicht grob über meine Schulter. Automatisch ziehe ich scharf die Luft ein und sehe zu ihm. „Du denkst zu viel nach! Genieße deine Zeit doch ein bisschen mehr! Wer weiß, ob noch einmal so ein Sommer sein wird“, nickt er freundlich und drückt mich kurz an sich. „Ach ihr reichen Leute habt immer Probleme…“, flüstert er amüsiert für sich und gibt mich wieder frei. Seufzend lässt Alfred sich in das Gras zurückfallen. Sein Bauch knurrt. „Ah damn it! Wird es schon wieder Abend?“, plappert er vor sich hin. Ich höre ihm nicht zu. Ich bin wie erstarrt. Seine Wärme. Sein Duft. Genau spüre ich die Stelle an der seine Hand gerade noch lag. Ich bin so hungrig nach ein bisschen Zuneigung… jeder Happen macht mich glücklich. Wie einfältig ich doch bin. „Ich muss gehen“, sage ich knapp und sammele meine Schreibmaterialien hektisch ein. Ich muss hier weg. Es macht mir Angst, in dieser Situation zu sein. „Was jetzt schon? Wir sind doch gerade erst hergekommen!“, fragt er verständnislos und richtet sich schnell auf. „Nein. Ich war schon viel zu lange hier!“, zische ich kalt und würdige ihn keines Blickes. Ich stehe auf und klopfe schweigend einige Grashalme von meiner Hose. Nichts darf mich verraten. „Arthur ist dir nicht gut?!“, fragt er alarmiert und betrachtet mich forschend. Wortlos drehe ich mich weg und gehe. Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich würde ausfallend werden. Verletzend. Das hat er nicht verdient. Schnellen Schrittes entferne ich mich von der Lichtung. „Habe ich etwas falsch gemacht?“, ruft er laut. Aber er folgt mir nicht. Ich bin ihm dankbar dafür. Es ist falsch. Es darf nicht sein. Und es ist nicht seine Schuld, sondern meine.
 

Gedankenversunken laufe ich den Weg zurück. Es ist gut, dass ich alleine bin, die Leute müssten denken ich wäre verwirrt. Einen Schritt vor den anderen. Ich will nicht nach Hause. Dort ist niemand, den ich jetzt sehen will. Alfred ist wie ein Kind. Unbedarft, offen für alles. Er sieht die Welt noch. Ich sehe sie durch ihn! Er ist so rein, wie ein polierter Spiegel. Trübt das Bild nicht mit seiner eigenen Person. Das Leuchten in seinen Augen, wenn er sich mir offenbart. Der muntere Tanz seiner Pupillen, wenn er mich umherführt. Er nimmt alles in sich auf, verinnerlicht jeden Augenblick aufs deutlichste. Das Blau seiner Augen…wie der Himmel...wie das Meer. Grenzenlos und ohne jeden Zwang. Ohne Bestimmungen, ohne Regeln. Er ist frei. Naiv, lebenshungrig, dickköpfig, unbeholfen… und frei. Ich hingegen öffne meine Lider, lasse ein…vielleicht zwei Bilder hinein. Ich schließe sie und in meinem Inneren wächst der Papierstapel. Wirre Pergamentrollen, überschüttet mit sinnlosen Momenten und Erinnerungen. Eingezäunt in ein unzerstörbares Gitter von Pflichten, Verantwortung und Stolz. Ist das Neid? Ist das Missgunst? Nein, das ist es nicht. Er macht mich hungrig…hungrig und rücksichtslos! Mein Innerstes verschlingt sich nach ein bisschen Leben! Ein bisschen Freiheit…! Es brennt, es schmerzt! Aber es tut gut…ich lebe wieder. Aber was will ich eigentlich? Ich weiß es nicht…die Tage verschwimmen, es kommt mir so vor als schließe ich ab. Aber womit? Ich kann nicht meine Vergangenheit wegsperren…meine Familie…mein Leben. Er sagt „Wir können alles“… aber das ist etwas, das ich allein bewältigen muss.
 

Heute ist seit langem wieder ein sonniger Tag. Ich sitze im Garten, der wohl schönste Ort hier weit und breit. Auch von hier aus kann man das Feld beobachten. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Das dünne Notizbuch auf meinem Schoß ist noch leer. Aber ich kann keinen klaren Gedanken fassen, die Feder in meiner Hand ist sinnlos. Denn ich sehe ihn wieder. Blondes Gold. Er beobachtet mich schon den ganzen Nachmittag. Ich liebe es. Ich bin ein Gemälde und er starrt es an. Betrachtet es in kindlicher Demut. Doch ich schaue nie zurück. Keinen verhaltenen Blick gönne ich mir, kein sehnsüchtiges Lechzen. Ich stehe über ihm. Nein, ich hänge über ihm. Die Füße kurz über dem Boden schwebe ich, wie es die Gehangenen tun. Still und nach langem Kampf. Es war keine leichte Zeit bisher. Ich hätte ihn nicht wieder treffen sollen, das hat alles nur schwerer gemacht. Ich werde ihn nicht wiedersehen. Es ist besser so. Vernünftiger.

Und so tröste ich mich mit mir selbst. Singe mir meine eigenen Lieder, wenn er es nicht kann. Der Stuhl ist weich und ich sinke zurück. Eine altbekannte Müdigkeit legt sich auf meine Lider. Eine willkommene Freundin in letzter Zeit. Ich bin gern allein mit ihr. Sie ist stumm und stellt keine Fragen. Und so summe ich wieder für mich, wage nicht meine Stimme ohne ihn zu erheben. Nicht jetzt. Nicht so.
 

“You say you're going to the garden, and I should come and play. I feel like I should tell you there, there were wolves there yesterday. We walked and I said nothing. I didn't want to hurt the mood. I know we can't outrun them but the flowers smell so good…”
 

Die Töne hüllen mich ein in eine Decke, die sanfter ist als jeder König es kennt. Die sicherer wärmt, als jede Mutter es kann. Die schwerer ist als jede Schuld wiegt.

“Daddy, Daddy! Haben wir wirklich Wölfe in unserem Garten??” Blinzeln. Ein kurzes Lächeln. Ein widerwilliges Streicheln. „Nein da sind keine Wölfe. Das sagt man nur so.“

„Aber Daddy, warum sagt man das so? Warum?“ Schweigen. Ein kalter Blick. „Das verstehst du nicht.“

Mein Blick eilt zurück. Sucht verzweifelt an der Stelle wo das blonde Haar zwischen den Ähren wogte. Die Ähren. Ich hasse sie. Sie verstecken ihn. Er ist fort. Meinem Blick entkommen, der ihn nie hätte jagen dürfen.  

„Ich kann so nicht schreiben. Der Junge stört mich. Bis später, ich gehe spazieren“, murre ich Elizabeth zu. James ist nah bei ihr. Soll er ruhig hören, was ich von ihm halte. Mit schnellen Schritten durchmesse ich den Garten und flüchte eilig durch das schmiedeeiserne Gartentor hinaus auf das Feld. Das Schreibmaterial fest an mich gedrückt laufe ich gedankenlos immer weiter. „Überall ist es jetzt besser als zu Hause“, denke ich und verharre als die bekannte Stimme wenige Meter entfernt  beginnt zu singen. „Arthur!“, höre ich ihn aufjauchzen und drehe mich suchend nach ihm um. „Du bist hier!“, strahlt er. „Ja…Verzeih, ich wollte nicht-“ „Egal!“, unterbricht er mich und nimmt meine Hand. "Komm schon, hier sieht uns keiner!" Ein ungeduldiger Händedruck und große blaue Augen, die mich erfüllen wie der Ozean... 

"Nein Alfred jetzt sei doch mal vernünftig!" Unwillkürlich drücke ich schützend meine Aufzeichnungen und Federhalter enger an mich. Widerwillig versuche ich seinem Griff zu entkommen. Hoffentlich lässt er mich nicht los. Nicht dieses Mal. 

"Nein Arthur. Du warst lange genug vernünftig. Jetzt ist es an dir auch einmal zu vertrauen." Seine jugendliche, seine wunderbar lebendige Stimme ist ungewohnt ernst. Sein Blick hat fast etwas flehendes, sein Griff wird stärker und ich werde schwach... So schwach. Ich könnte ihm niemals widerstehen, nicht einmal wenn ich es wollte. Wie jämmerlich...

"Fine..." höre ich mich sagen. Nein das wäre gelogen, denn es ist nicht mehr als ein Hauchen. "Sehr gut!" lächelt er breit und sein Griff lockert sich ein wenig entspannter. Was tue ich eigentlich gerade...? Weise Männer sagen, wir denken zu viel und fühlen zu wenig... Ich will kein Narr mehr sein. Aber ich hatte schon immer eine Schwäche für schöne Worte. Wobei seine Worte nicht einmal besonders schön sind. Sie sind einfach nur von ihm! Was rede ich hier?! Ich kann nicht mal mehr klar denken, wenn er bei mir ist… wie befreiend eigentlich. Nicht denken zu müssen…verlockend.
 

Das Kornfeld fliegt an mir vorbei, ich nehme nichts wahr außer das Dröhnen des Blutes in meinem Kopf, den berauschenden Duft des welkenden Sommers und seinen Blick. Er entwaffnet mich. Lachend und mit leichtem Schritt folge ich ihm. Ich lache so laut es muss wahnsinnig klingen. So wahnsinnig wie wir sind... Ich würde ihm gerade wohl überall hin folgen, auf jeden verbotenen Pfad. Hell ertönt auch seine Stimme. Er lacht. Nein wir lachen zusammen. Er singt für mich und ich stimme ein. Ein wunderbares Duett, ein sehnsüchtiges Gedicht. Ich bin so froh... Wann habe ich zuletzt so gefühlt... So gelebt? Warum lerne ich…der erfahrene Alte, noch so viel von diesem unreifen, verträumten, wunderbaren Jungen? 

Die Ähren Streifen meine Kleider, hinterlassen verräterische Spuren. Aber das ist mir egal. Mir ist alles egal. Ich atme tief durch und seufze befreit. "Lerne zu lieben, was dir gut tut" sagt man. Nun wenn er mein Heilmittel ist, so bin ich gern krank. Liebend gern. 
 

Der schmale Pfad führt uns zu einer einsamen, dürftigen Hütte, einer spärlichen Behausung. Nicht mehr als ein paar gestohlene Bretter und eine Hand voll rostiger Nägel. Und trotzdem ist es perfekt. 

"Tut mir leid Arthur... Ich weiß du bist besseres gewohnt aber-" "Nein." unterbreche ich ihn unsanft. "Nicht.." wiederhole ich ruhiger, seinen verunsicherten Blick mildernd. "Das hast du gut gemacht" bringe ich ehrlich hervor. Sein helles Lachen bezirzt mich. Beschämt, aber auch sichtlich nervös streicht er sich durch das Haar. Haar so golden wie die Sonne. So golden wie die Ähren, die heute uns beide verstecken. Nur schwer kann ich meinen Blick von ihm abwenden und wieder auf sein Werk richten. "Dann verlangt der Herr nun Eintritt" unterbreche ich die Stille. "Jawohl" antwortet der Jüngere gehorsam. Mit einem schnellen Schritt erreicht er die morsche Tür. Mit einer tiefen Verbeugung empfängt er mich. "Darf ich bitten, der Herr?" fragt er süffisant und ich senke höflich das Haupt. 

Trockene Luft schlägt mir entgegen. Es ist unerträglich warm in der dunklen Hütte. Aber ich bin Gast und ein Gast beschwert sich nicht.

"So, ich habe sogar Wasser geholt!" Ein modriger Eimer. Abgestandenes Teichwasser. "Ah sehr aufmerksam!" merke ich schnell an und bekunde meine Zufriedenheit mit einem Lächeln. Unsinniger Weise klopfe ich meine Kleider und lasse mich zögerlich auf der staubigen Kiste am Rand der Hütte nieder. Penibel wie immer platziere ich meine Habseligkeiten auf meinem Schoß. Alfred scheint erleichtert. Sogar eine Decke hat er besorgt. Aber sie liegt auf dem... Boden? Schnell bemerkt er meinen Blick. "Hier schlafe ich ab und an wenn es zu Hause wieder Ärger gibt!" wendet er hastig ein und winkt ab. 

Er will mir gefallen. Ich sehe es. Dabei müsste er sich dafür nicht einmal bemühen. Gespielt lässig lehnt er im Türrahmen und lächelt entschuldigend. Aber ich sehe es ihm an. Das harte Tagwerk, die letzten schlaflosen Nächte. Ich würde ihn sofort reich machen... Könnte ich nur. Er ist selbst so arm und macht mich so reich. Wie dumm.

Mein Blick bleibt an ihm hängen. Könnte ich es, würde ich mit jedem Augenschlag über die weichen Wangen streichen… Wie kann man jemanden wie ihn nicht lieben? Was für ein Monster von Mensch muss man dazu sein? Es ist ruhig. Aber die Ruhe hat nichts Beklemmendes. Er kommt näher. Mein Puls wird schneller, aber ich rühre mich nicht. Wie hypnotisiert halte ich mich an seinen Augen fest. „Woran denkst du?“, fragt er leise. Er blickt auf mich hinab. Nicht herrisch, nicht spöttisch, nicht triumphierend. Ich will mich an ihn lehnen. Er soll mich berühren…auffangen. Ich falle nicht. Nicht mehr. Ich bin sicher in meinem Loch gelandet, das so tief ist, dass auch der Blick der Menschen, die es sehen nicht bis zu mir herunter reicht. Aber er sieht mich nicht nur, er begreift mich. Was soll ich ihm sagen…

„Dich“, wenig höflich, wenig schmeichelhaft, dafür ehrlich. Wann war ich das letzte Mal ehrlich zu jemandem? Zu mir selbst?

Sein Blick weitet sich. Nicht erschrocken, aber verwundert. „Das solltest du nicht… nicht so“, murmelt er. Warum ist er so vernünftig? Vernünftiger als ich. Er ist doch der unreife Jüngling, das unschuldige Kind von uns! Jetzt hatte ich die Wahl. Ich war einen Weg gegangen, den ich so schnell nicht wieder verlassen konnte, aber ich stand an einer Gabelung. Ich wollte mich nicht entscheiden. Ich wollte nur weiter diesen Weg entlang wandeln. Nicht denken müssen… 

„Woher willst du wissen was ich denke?“, schnaube ich. Er will mich besänftigen und legt mir seine Hand auf die Schulter. Allein für diese Geste hätte ich sterben wollen. „NEIN!“, rufe ich erzürnt und springe auf. Das Tintefässchen fällt zu Boden und zerspringt leise. Langsam saugt das Holz die Farbe auf und färbt sich schwarz. Es kümmert mich nicht.

„Nein! Das ist doch unfair!“, protestiere ich. Mein wilder Blick trifft seinen, meine fuchtelnden Arme drücken die Wut aus, die ich nie hätte fühlen dürfen. „Das hast du nicht verdient! Wie sie dich behandeln, wie du täglich arbeiten musst, wie du lebst!“, schimpfe ich ungehalten. Meine Stimme überschlägt sich. „Du gehörst hier nicht hin! Du hast besseres verdient! Jeden gottverdammten Tag sehe ich dich auf diesem Acker schuften und kann dir nicht helfen! Und was tust du?! Du fügst dich diesem Schicksal und verkriechst dich hier her?! Alfred, komm zu dir! Niemand darf dich so behandeln, NIEMAND!“ Er schluckt hart. War ihm das denn nicht bewusst?! „Geh fort von hier! Suche dein Glück! Wenn du hier bleibst wirst du genau so stur, kalt und ignorant wie wir! So darfst du nicht werden, hörst du?!“ Ich packe seine Oberarme und kralle unsanft meine Hände in sie. Es ist wie damals auf dem Feld. Seine strahlend blauen Augen strafen mich schweigen. „Arthur…“ flüstert er leise und lächelt. Mein Zorn…meine Wut…sie verfliegt und weicht der Hilflosigkeit. Ich sehe ihn an und schüttele langsam verständnislos meinen Kopf. Nein, er darf nicht hier bleiben und verkommen…eine Schande wäre es. „Ich kann hier nicht fort… was wäre ich denn dann?“ Aufgebracht will ich zurückkeifen, wie dumm er doch ist. Es soll nicht dazu kommen. Gütig schließt er seine Arme um mich. Drückt mich fest an sich. Wie eine Mutter…ja meine Mutter war es, die mich zuletzt so gehalten hat. Jetzt bin ich das Kind von uns…welch traurige Wandlung. „Wenn ich jetzt verschwinden würde, wäre ich dann nicht genau so kalt und ignorant? Der letzte Sommer… er war der schönste. Wohin soll ich denn gehen, wo es schöner ist als hier bei dir?“, wispert er in mein Ohr. Ich schließe die Augen und löse meine verkrampften Finger von ihm. Er kann nicht Recht haben… Ich muss es. Ich bin der ältere. Ein Seufzen entweicht mir und meine Hände wandern an dem groben Stoff hinauf. Langsam streichen meine Fingerkuppen über den zarten Nacken. Ich muss ihn nicht sehen. Ich fühle ihn. Und er entzieht sich mir nicht.

Kein schönes Wort findet den Weg in meinen Kopf. Nichts liebes, das ich ihm sagen könnte. Ich kann nicht sprechen…nur zeigen, was ich denke als meine Lippen sanft über den bloßen Hals tasten. Er erschaudert. Unbeholfen streicht er mir über den Rücken. Es fühlt sich gut an. Liebend. Nur schweren Herzens gebe ich die warme Haut frei und sehe ihn an. Mein Kopf ist leer. „Don’t stop“, bittet er leise. Sein Blick ist flehend. Als könnte ich ihn jetzt gehen lassen. Sanft aber bestimmt dränge ich ihn an die Wand der morschen Hütte. „Fine“, hauche ich. Meine Fingerspitzen prickeln, ich würde ihm die Kleider vom Leib reißen, hätte ich mir nicht den letzten Funken Anstand bewahrt. 
 

Seine Lippen schmecken wunderbar. Salzig und warm umschließen sie meine. Unregelmäßig streift sein Atem meine Wange. Egoistisch koste ich ihn aus, so gierig ich nur sein kann. Nicht denken…nur nicht denken, ermahne ich mich. Es fällt nicht schwer. Sein Haar ist weich, sein junger Körper fest und gespannt. Besser, als ich mir je erträumt hätte. Eine Belohnung für die Stunden des darbenden Wartens. Alfred schmiegt sich an mich und lässt mich gewähren. Er riecht so gut… Behände lösen meine Finger die Knöpfe seiner Weste, genau so wie ich es nachts so oft in Gedanken geübt hatte. Das seichte Nippen an meinem Hals lässt mich aufzittern. Ist es schon so lange her? Hungrig gleiten meine Hände über seinen Bauch, seine Brust. Sie sollen überall sein. Nichts will ich vermissen müssen. Sein Herz schlägt laut und meines tut es ihm gleich. Wer hätte gedacht, dass mir das noch einmal passieren würde? 

Ich ziehe ihn mit mir und wie betrunken taumeln wir durch den kleinen Raum. Liebestrunken. Mein Blick ist unklar, sein Atem stockend. Langsam leckt er sich über die Lippen…diese Geste. Ein Bild, das sich fest in meinen Kopf einbrennt. Zielstrebig fährt meine Hand zu seiner Hüfte herunter, seiner Hose. Wie weit kann ich gehen? Ich will ihn nicht verschrecken. Fragend sehe ich zu ihm auf. Er ist nervös. Es versetzt mir fast einen Stich. Aber er lächelt mit geröteten Wangen. „Weißt du nicht mehr wie man sich entkleidet?“, fragt er schmunzelnd. Ein leises Lachen schwingt in seiner Stimme mit. Einfach unverbesserlich. „Tzee..!“, schnaube ich und streife den rauen Stoff herunter. Artig fügt sich der Blonde. 

Es dämmert draußen. Ich nehme nicht viel wahr, aber die Dämmerung gibt uns Schutz und den haben wir jetzt auch bitter nötig. Hilfesuchend bleibt er nah bei mir. Anscheinend ist es ihm peinlich…sollte es mir das nicht auch sein? Wieder schließe ich seufzend die Augen während große, warme Hände neugierig über meinen Körper streichen. Ich will mehr. Mehr von ihm. Er erfüllt mich so… einen verliebten, alten Narren. Er hätte so viel mehr als mich verdient. Ich würde ihm so gern mehr geben. Jetzt kann ich nur eines tun. Schützend liegt meine Hand an seinem Kopf als ich ihn keuchend auf die schmutzige Decke bette. Ich will seine schöne Stimme singen hören heute Nacht…
 

#Tagebucheintrag vom 23.09.1826
 

Heute schrieb ich es. Das schönste Lied. Ich schrieb es nicht auf Papier. Ich schrieb es in sein Gesicht. Ich sang es für ihn, doch er widmete es mir. Mit den Augen sieht man nicht, was mein Mund ihm hinterließ. Aber ich sehe auf seine Haut und lese es. Das schönste Gedicht. Ich höre wo meine Zunge war, lausche meinem Lied in seinem Haar. Geschrieben auf Haut erinnert er nur mich und ich allein weiß, wo die Zeichen sind. Nie wird jemand dieses Lied hören. Niemand außer mir. Und das ist gut so, denn dieses schönste, beste Lied verdient keiner außer ihm.
 

Ein Hauchen in meinem Nacken. Kalter Atem auf heißer Haut. Eine gebrochene Frauenstimme.

„Ist das so?“
 

-The End-



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Minah
2012-10-04T14:42:02+00:00 04.10.2012 16:42
Wahnsinn. Völlig berauscht bin ich, nachdem ich durch diese Kurzgeschichte gerast bin. Mit dem Geräusch von einem Regenguss im Nacken hat mir die Natur gerade den besten Soundtrack zu den Worten geliefert!

Großartiger Schreibstil. Selbst ohne Hetalia-Bezug würde die Geschichte auskommen.
Ich lese selten Fanfictions, doch ich bin froh in diesen seltenen Fällen auf so mega gute Texte zu stoßen.

Danke für den Lesegenuss ^^
Von:  neriseyk
2012-08-07T22:52:41+00:00 08.08.2012 00:52
Nun kannst du von mir einmal etwas richtig Ernstes erwarten, obwohl du das wahrscheinlich schon von mir gewohnt bist.
Ich habe mir gedacht, dass ich deinem Bemühen zu schreiben eine kleine Rezension widmen sollte, allein weil das was ich gerade gelesen habe mir sehr gut gefallen hat.
Noch immer bin ich etwas benommen von dem angespannten Lesen, habe mich nichteinmal recht getraut abzusetzen währenddessen.
Wie du weißt und mir auch noch beigepflichtet hast ist dies ja nicht wirklich mein Pairing, aber ich muss dir gestehen, dass es mich nicht daran gehindert hat diese Worte zu verschlingen.
Ich fand diese Fanfiction klasse, bin in sie eingedrungen und eine gute Weile versunken gewesen.
Mich hat lange nicht mehr so etwas gebannt. Die Art wie du alles umschrieben hast und einfach eine kleine Welt aufgebaut hast war wunderbar.
Ich habe es nicht oft, dass ich mir wirklich alles bildlich im Kopf wie einen kleinen Film parallel zum Geschriebenen vorstellen kann, aber diesmal ist das wundervoll geglückt.
Der Unterschied zwischen Arthur und Alfred hat mir so sehr gefallen.
Einfach diese verschiedenen Welten. Leichtigkeit gegen diese Anspannung. Freiheit gegen..achje.
Vor allem aber auch, diese Faszination und Besessenheit die Arthur schon an den Tag gelegen hat.
Man konnte beim Lesen diesem Verlangen gut nachempfinden, nach meiner Meinung eben.
Bevor ich nun dazu komme, wie mich deine Fähigkeiten in Grund und Boden gestampft haben und ich mich erfürchtig vor der gnädigen Hohheit verbeuge (Kleiner Scherz meinerseits) würde ich gerne noch einmal auf das Ende eingehen.
Ich finde es gut, dass nichts zu explizit geworden ist. Ob das nun gewollt ist, oder aus der bloßen Unlust detailierter zu werden - Es ist gut so.
Wirklich, es hat dem ganzen eine wundervoll weiche Atmosphäre verliehen, mehr Zärtlichkeit. So hat das ganze zwar einen angenehmen Hauch an Erotik bekommen, aber nicht zu viel und die Zweisamkeit der Beiden war im Vordergrund.
Arthur war durch und durch ein Poet in seiner Ansicht, das hat ihm einfach die nötige Klasse verliehen. Aber du kennst mich, ich mag Arthur ja ~
Ich mochte die Erzählperspektive sehr und das nutzen der Wetterlagen und die Symboliken. (Ich möchte sagen, dass ich in dem Moment nicht wirklich etwas aufzählen kann da ich müde bin und mir der Kopf schmerzt)
Das Einzige, was mich vielleicht gestört hat war das Tze mit zwei ee. Das hat es in meinem Kopf nur so langgezogen gemacht und etwas weibisch.
Jetzt wirklich zum Ende.
Der Tagebucheintrag hat wundervoll die Schreibarbeit des Briten zurückgeholt und war ein runder Schluss, wunderschön zu lesen, hat letzte Bilder in den Kopf projeziert.
Die letzten Zeilen haben mir als Leser bestätigt was ich schon vermutet hatte, wenn es schon die Chance gab diesen Moment zu genießen, er würde enden.

Nun, ich dachte das reicht.
Ich könnte das ganze ewig ausholen, aber ich wollte dir nur eine kleine Chance geben, ein ordentliches (oder jedenfalls gewollt ordentliches) Feedback zu erhalten, damit du deine Arbeit auch gewürdigt siehst.
Von:  Hamani
2012-07-08T18:05:17+00:00 08.07.2012 20:05
Ich liebe diese Story und beneide dein Wichtelkind. Ich finde deinen Schreibstil großartig und finde es toll, wie du Arthurs Gefühle beschreibst und die Metaphern, die du benutzt.
Ich will deine ganzen Geschichten heiraten, aber das weißt du ja bereits. ♥


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