Besuch aus Lapidia
Ende September
- Summer -
Summer gähnte herzhaft und streckte die Arme durch, wofür sie von Rain einen tadelnden Blick bekam. „Was denn?“
„Man gähnt nicht einfach so am Frühstückstisch und reißt dabei den Mund wie ein Scheunentor auf.“
Summer rollte mit den Augen und löffelte weiter ihr Fruchtmüsli. Dass Rain sie auch ständig wegen ihres Benehmens verbessern musste, dabei war ihre Schwester keinesfalls ihre Anstandsdame.
„Deine Schwester hat Recht, so etwas gehört sich nicht“, schaltete sich nun auch ihre Mutter Faith ein, die einen vierten Teller aus der Küche geholt hatte, da sie noch Besuch erwarteten. Henry, ein Freund der Familie, hatte sich für heute Vormittag angekündigt.
Sie seufzte, gab sich geschlagen und entschuldigte sich für ihr Gähnen, doch ihre Laune wurde dadurch keinesfalls getrübt, denn sie konnte schon seit Tagen nur noch an Henry denken – natürlich nicht, weil sie in ihn verliebt war oder dergleichen, sondern weil der drei Jahre ältere Henry ein Nachtara besaß, das der perfekte Trainingspartner für ihre Pokémon war. Ihre Mutter nutzte ihre Pokémon schon lange nicht mehr zum Kämpfen und war auch nur selten zu Hause und Rain … Nun, Rains Trainerambitionen waren in dem Augenblick verschwunden, in dem sie vor drei Monaten ihr Karpador erhalten hatte, dementsprechend konnte Summer auch nicht mit ihrer älteren Zwillingsschwester trainieren. „Wieso hast du Henry eigentlich so dringend einladen wollen?“
„Ich muss etwas mit ihm besprechen.“ Faith lächelte verschwörerisch, erzählte ihren Töchtern jedoch kein Wort. Summer vermutete, dass es etwas Wichtiges war, sonst hätte sie sich nicht das ganze Wochenende von ihrer Arbeit frei genommen.
In diesem Moment läutete es an der Tür und ihr Hausmädchen eilte zum Vordereingang.
„Das wird er sein.“ Sie warteten kurz und als Henry eintrat, erhob sich Faith von ihrem Stuhl, ging zu dem jungen Mann herüber und umarmte ihn kurz. „Es ist schon, dass du so kurzfristig kommen konntest. Setz dich doch.“
Henry winkte einmal in die Runde, während er seinen schwarzen Parka auszog und dem Hausmädchen in die Hand drückte. Seine Haare klebten feucht an seiner Stirn von dem Regen, der schon seit Stunden gleichmäßig gegen die Fenster klatschte. „Schöne Grüße von meinem Dad. Er lässt ausrichten, dass du ihn mal wieder besuchen kommen sollst.“
„Das würde ich gerne, aber ich habe so viel zu tun“, antwortete Faith, während sich beide gegenüber an den Tisch setzten und sie ihm etwas zu trinken und zu essen anbot, was er dankend annahm. „Lapidia liegt zurzeit nicht auf meiner Flugroute.“
„Ach, das macht doch nichts. Er versteht das schon. Also, warum wolltest du mich so dringend sprechen, Faith?“ Wie immer redete Henry nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam direkt zur Sache.
Gespannt lehnte Summer sich in ihrem Stuhl zurück und konnte auch in den Augen von Rain die Neugierde aufblitzen sehen. Henrys Vater, Caleb Frost, war einst ein Mitglied von Team Dark gewesen und hatte ihrer Mutter Faith viele Probleme beschert, doch da er gegen Ende geständig und reumütig war, kam er mit einer kurzen Haftstrafe davon. Caleb hatte der Polizei und Faith daraufhin bei der Aufklärung der Straftaten geholfen und irgendwie waren die beiden gute Freunde geworden. Henry kam schon als Kind oft in den Ferien zu Besuch und wuchs gemeinsam mit Summer und Rain auf. Für die beiden war er so etwas wie ein großer Bruder.
„Ich hoffe, eure Geschäfte laufen gut?“, erkundigte Faith sich.
Henry nickte bekräftigend und lachte leise. „Ja. Unsere Pizzeria brummt, jeden Abend ist der Laden voll. Dad und ich streiten ständig, weil wir unterschiedliche Ideen für neue Pizzen und Nachspeisen haben, aber du weißt ja, wie er ist.“
Summers Mutter stimmte in das Lachen mit ein. „Ja, ich weiß, dass ihr beide euch sehr ähnelt. Zwei Sturköpfe, wenn es ums Kochen geht. Aber meinst du nicht, dass ein eigenes Restaurant für dich viel besser wäre?“
Henry rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Wie meinst du das?“
Sie wartete einige Sekunden, in denen ihre Augen zu leuchten schienen, dann holte sie einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und schob ihn Henry zu. „Ich meine das genau so, wie ich es sage. Du solltest ein eigenes Restaurant aufmachen. Meine Eltern sind vor kurzem in Rente gegangen und haben unser Familienrestaurant geschlossen, weil es für sie zu viel Arbeit ist. Sie und ich würden uns freuen, wenn du dem alten Fischrestaurant mit deinen Kochkünsten und Pizzen neues Leben einhauchst.“
„Aber …“
„Oh nein, ich werde ein Nein nicht dulden.“ Faith zwinkerte ihm zu. „Mit deinem Vater habe ich schon gesprochen, er unterstützt meine Idee. Du kannst mietfrei in der Wohnung über dem Restaurant wohnen und falls es Probleme gibt, sind meine Eltern direkt nebenan. Mit ihnen hast du bestimmt deine ersten Stammkunden. Bitte, Henry, wenn du nicht willst, muss ich das Restaurant einem Fremden verpachten und ich würde mich freuen, wenn es in der Familie bleibt. Du gehörst doch quasi zu uns.“
Summer quietschte vergnügt los. „Henry, das ist unglaublich! Dein eigenes Restaurant, davon hast du doch immer geträumt! Wir können die Wände neu streichen und neue Sitzecken einrichten und eine neue Speisekarte schreiben!“
„Finanzielle Absicherung ist aber auch wichtig“, murmelte Rain und hob eine Augenbraue in die Höhe. „Zuerst solltest du einen Finanzplan erstellen und dir Preise überlegen, um deine Ausgaben zu kontrollieren. Außerdem wirst du Personal brauchen, du kannst schließlich nicht gleichzeitig kochen und kellnern und hinter dem Tresen stehen.“
„Ach Rain, sei doch mal fünf Minuten nicht so negativ!“, murrte Summer sogleich und streckte ihrer Schwester die Zunge raus.
„Ich bin nicht negativ!“, erwiderte diese empört und starrte auf ihr Buttercroissant.
„Mädchen, hört auf zu streiten. Also, Henry, was sagst du? Für den Anfang kann Joel dir einen zinslosen Kredit geben, du musst also nur noch loslegen.“
„Ich …“ Henry stammelte vor sich hin und wirkte sichtlich geplättet, doch dann nahm er den Schlüssel und steckte ihn ein. „Vielen Dank, das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich werde das Restaurant in Ehren halten, das verspreche ich.“
„Oh nein, du sollst es nicht in Ehren halten, du sollst es ganz nach deinen Wünschen umgestalten und das Beste daraus machen. Fahr doch nachher mal mit der Fähre nach Litusiaville rüber und schau es dir in Ruhe an.“
„Ja, das werde ich machen.“
„Und ich komme mit!“ Summer sprang auf, umarmte Henry von hinten und tänzelte schon zur Tür. „Ich packe eine Farbkarte ein, dann können wir uns schon ein neues Design überlegen.“
Rain seufzte, stand ebenfalls auf und folgte ihrer Schwester. „Wir brauchen nicht lange, versprochen. Ich passe besser mal auf, dass Summer nicht gleich den ganzen Tapetenkatalog einsteckt.“
Summer hörte ihre Schwester, als sie zur Treppe spazierte, ignorierte die Worte jedoch und steuerte gleich ihr Zimmer an, um alles einzupacken, was sie gebrauchen könnten. Henry würde nach Litusiaville ziehen und das Restaurant übernehmen! Sie spürte ihr Herz vor Freude schneller schlagen. Das bedeutete, dass nicht nur ein Freund, sondern auch ein Trainingspartner immer in Reichweite war.