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Der Rebell

von

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Unten

„Ich hasse dich“, sage ich.

Ludwig sitzt am anderen Ende des Kellerraums, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und sieht mich an. Stumm und reglos, mit hellen Augen durch das Halbdunkel. Ein Streifen kaltes Licht fällt durch das kleine Fenster.

„Hau schon ab. Ich kann dich hier nicht gebrauchen.“

Er sagt noch immer nichts dazu.

„Es ist deine Schuld, dass ich hier bin, West. Alles deine Schuld. Und jetzt zieh Leine und lass mich in Ruhe. Es ist schon schlimm genug, ohne von dir angestarrt zu werden. Ich brauche dein Mitleid nicht. Du solltest mich nicht bemitleiden, sondern dich schämen.“
 

„Wo zum Teufel steckt Braginsky?“, knurre ich.

Raivis blinzelte mich an und beginnt, zu zittern. Keine Ahnung, ob ich ihm Angst mache oder ob er reflexartig anfängt zu zittern, sobald jemand Ivan erwähnt. Könnte mir beides gut vorstellen.

„Er ist oben“, antwortet er etwas unsicher. „In seinem Büro. Glaube ich.“

„Und warum?“

„Na... ich denke, er hat... Arbeit zu erledigen.“

„Warum ist er nicht hier?“, fauche ich. „Wieso ist er noch nicht hier gewesen?“

Er beißt auf seine Unterlippe und betrachtet seine Füße.

„Ich verlange eine Antwort, Galante!“

Raivis hebt den Blick. Auf seinem Gesicht liegt Verzweiflung. „Ich...“, beginnt er.

„Ja?“

„Ich... habe Essen“, sagt er und hält mir fast schon flehend den Teller in seinen Händen entgegen. Ich schnaube und strecke die Hand danach aus. „Also schön, gib her.“

Er atmet sichtlich auf, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hat. Seitdem ich hier bin, hat Ivan sich nicht dazu herabgelassen (im wahrsten Sinne des Wortes), zu mir zu kommen. Stattdessen hat er seine Leibeigenen mit Essen vorbeigeschickt.

„Schon wieder Haferschleim?“

Wie mich das aufregt. Wie mich das alles aufregt! Ich könnte...

„Wir essen auch nichts anderes“, murmelt Raivis.

„Nicht?“, frage ich, greife mir eine Handvoll Brei aus der Schüssel und schleudere sie in Raivis' Richtung. Er kreischt auf und hebt die Arme, um sich zu schützen.

„Lass das, Gilbert! Hör auf!“

„Magst du das etwa nicht, Galante?“ Noch eine Faust. „Ich denke, du frisst auch nichts anderes!“

„Hör auf damit!“, heult er und wischt sich ein paar Spritzer aus den Augen. „Ivan wird böse! Wir bekommen beide Ärger!“

„Umso besser. Dann soll Braginsky eben kommen und mir die Meinung sagen! Nur herkommen soll er gefälligst!“

„Hör auf!“, schreit Raivis und zittert so heftig, dass es schon erstaunlich ist, dass er sich noch auf den Beinen hält. „I-ich bekomme Ärger!“

„Nein, nicht du“, erwidere ich, nehme die fast leere Schüssel und werfe sie an die Wand, wo sie in einer Explosion aus Scherben zerspringt. „Ich bekomme Ärger!“

Raivis starrt mich an. Tränen stehen in seinen Augen und eine Ladung Brei hat seine Schulter getroffen und die goldenen Quasten seiner Schulterpolster verklebt. „Ich sag's Ivan“, flüstert er.

„Natürlich tust du das“, sage ich. „Und wehe, wenn nicht! Lauf, lauf, Galante! Lauf los und sag ihm, wenn er nicht will, dass Gilbert sich daneben benimmt, muss er selbst herunterkommen und mit ihm reden, anstatt nur seine Leibeigenen vorzuschicken!“

Raivis dreht sich um und rennt hinaus, so schnell, dass er die Tür nur zuzieht und vergisst, sie wieder abzuschließen. Wie befreiend: Normalerweise wird diese Tür abgeschlossen und von außen verriegelt. Aber auch so habe ich keine Möglichkeit, zu entkommen. Die Kette an meinem Fuß erlaubt es mir gerade mal, das appetitliche Loch in der Ecke zu erreichen, das die Toilette darstellt. Ohne Spülung, versteht sich. Seitdem ich hier unten sitze, versuche ich, die Kette aufzubrechen oder aus der Wand zu reißen. Bis jetzt habe ich keines von beidem geschafft. Bis jetzt.

Aber jetzt wird Ivan bald kommen. Wenigstens das. Ich muss wissen, was los ist. Wann ich wieder hier raus komme.
 

„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden, Lutz!“

Zum ersten Mal macht er den Mund auf. „Warum?“

„Weil ich dich nicht gebrauchen kann. Es ist deine Schuld, dass Braginsky mich in die Finger gekriegt hat.“

„Und deswegen darf ich nicht hier sein?“

„Nein“, sage ich entschieden, „darfst du nicht. Und jetzt lass mich schlafen.“

„Schlafen? Die Sonne geht gerade auf.“

„Na und? Ist ja nicht so, dass ich nachts schlafen könnte, bei dieser Kälte und auf Stein. Was denkst du dir eigentlich, Westen?“

Er antwortet nicht.
 

„Soll ich das so deuten, dass ich mir alles erlauben kann, was ich will?“, frage ich. „Nach dem, was ich getan habe, traut Braginsky sich nicht einmal, zu mir zu kommen?“

„Es hat nichts mit sich trauen zu tun“, erwidert Toris mit einem Lächeln. „Er hat verstanden, dass du es nur getan hast, um ihn zu provozieren. Er wird sich sicherlich nicht so verhalten, wie es deinem Plan entspricht.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Also hat sich nichts geändert?“

„Abgesehen davon, dass du ab sofort gefesselt wirst, damit du nicht wieder handgreiflich wirst.“

„Herzlichen Dank.“ Ich ziehe probeweise an den Seilen um meine Handgelenke und unterdrücke mühsam einen Fluch, den Toris ohnehin nicht verstanden hätte. „Aber wie ich sehe, hast du Essen dabei. Also binde mich kurz los, damit ich wenigstens essen kann.“

„Damit du mich auch mit deinem Essen bewirfst?“, fragt er und lächelt erneut. „Das wäre wirklich nicht Sinn der Sache.“

„Ach. Und was hast du dann vor? Füttern lasse ich mich nicht.“

„Nicht?“, erwidert er und taucht einen Löffel in die Suppe, die er diesmal dabei hat. „Mund auf.“

Ich presse die Lippen aufeinander.

„Hör zu, Gilbert“, sagt Toris ernst und lässt den Löffel wieder sinken. „Du kannst hier unten sitzen und hungern, oder hier unten sitzen und wenigstens halbwegs satt werden. Ivan wird nicht zu dir kommen, wenn er sich nicht selbst dazu entscheidet. Du kannst ihn nicht zwingen, durch nichts, was du tust. Er sitzt am längeren Hebel, sieh es ein.“

„Ich sehe es nicht ein“, murmele ich aus dem Mundwinkel, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. „Schließlich habe ich ein Rückgrat. Anders als du.“

Toris lächelt schwach. „Eine Weile lang mag es noch Stolz sein, aber irgendwann ist es nur noch Dummheit. Du kannst dich nicht ewig gegen ihn wehren.“

„Ich werde nicht tun, was er will“, sage ich. „Egal, was ihr tut. Und jetzt verzieh dich, Lorinaitis.“

Das Lächeln verschwindet von seinem Gesicht. „Du weißt überhaupt nicht, wie gut du es hast, Gilbert. Ivan wird sich von dir nichts vorschreiben lassen, aber er hat dir für deine Unverschämtheit Raivis gegenüber nicht einmal das Essen gekürzt. Er behandelt dich sehr anständig, dafür, dass du ein Gefangener bist.“

„Anständig? Ich bitte dich! Ich sitze in einem Keller!“

„Weil du oben randaliert und einen Fluchtversuch unternommen hast, wenn ich dich daran erinnern darf.“

Darf er nicht. „Und was ist das schon wieder für eine komische Suppe? Das ist nur Wasser, das sehe ich ja von hier aus! Wie soll ich davon satt werden?“

„Wir hungern selbst“, erwidert Toris, ohne mit der Wimper zu zucken. „Das bringt verbrannte Erde so mit sich. Sobald es wieder anständige Nahrungsmittel gibt, wirst du sicher etwas davon abbekommen. Wenn du es bis dahin nicht doch geschafft hast, es dir mit Ivan zu verscherzen, heißt das.“

Ich starre ihn an und weiß nicht recht, was ich glauben soll. Er seufzt leise.

„Niemand hier will dir ernsthaft etwas Böses, Gilbert, und ich als Allerletzter. Ich will dir nur helfen, verstehst du das nicht?“

„Helfen, dass ich nicht lache! Du stehst auf Braginskys Seite. Du bist doch nur eines seiner Schoßhündchen, die ihm die Stiefel lecken, wenn er pfeift. Du bist genauso mein Gegner wie er, Lorinaitis.“

Er schüttelt stumm den Kopf. „Mal sehen“, sagt er und steht auf, den Teller in den Händen. „Wenn du Hunger bekommst, wirst du vielleicht vernünftig.“

„Nein“, antworte ich. „Nur hungrig.“

Toris sagt nichts mehr dazu, sondern geht zur Tür. Kurz bevor er den Raum verlässt, bleibt er noch einmal stehen. „Wehe, du tust Raivis noch einmal etwas an“, sagt er, und seine Stimme klingt kühler, als ich es von ihm gewohnt bin. „Alles, was er tut, tut er deshalb, weil Ivan ihm keine andere Wahl lässt. Du hast kein Recht, ihn dafür zu hassen.“

„Hat er wirklich Ärger bekommen, weil ich ihn mit Haferschleim beworfen habe? Für so dumm hatte ich Braginsky auch wieder nicht gehalten.“

„Es genügt völlig, dass Ivan auf ihm herumhackt. Du wirst es gefälligst bleiben lassen.“
 

„Warum willst du nicht, dass ich hier bin, Gilbert?“

Ich knurre etwas. „Du sollst mir nicht eher wieder unter die Augen treten, bis du bereust, was du mir angetan hast – und einen Weg gefunden hast, alles wieder gut zu machen. Mich aus diesem Drecksloch zu holen, zum Beispiel.“

„Vielleicht tut es mir ja Leid“, sagt Ludwig.

„Nein“, erwidere ich entschieden, „tut es nicht. Wenn es das täte, wärst du ja hier, aber du bist nicht hier. Du bist nur ein komisches Hirngespinst, mit dem ich mich unterhalte, weil ja sonst niemand da ist. Und deswegen kannst du genauso gut verschwinden, dann rede ich mit mir selbst. Tue ich ja im Grunde jetzt schon.“
 

Seitdem sind Toris und Eduard ein paar Mal da gewesen. Toris hat jedes Mal versucht, mir ins Gewissen zu reden. Eduard hat nur gefragt, ob ich essen will, und sich achselzuckend wieder zurückgezogen, wenn ich verneint habe. Aber mittlerweile habe ich seit Tagen nichts mehr gegessen und bekomme Hunger. Hunger.

Die Tür geht auf und ich überlege, ob ich Toris diesmal erlauben soll, mich zu füttern. Ich bin noch nicht zu einem Schluss gekommen, als mir auffällt, dass es Raivis ist, der herein kommt.

„Hey“, sage ich.

Er sieht mich mit großen Augen an und beginnt, zu zittern.

„Hey, Galante“, sage ich noch einmal. „Hast du Essen?“

Er nickt zögernd. „Es... soll Kartoffelbrei sein.“

„Mein Lieblingsessen.“

Verwirrt starrt er mich an. Ich grinse schief. Toris meinte, Ivan würde auf Raivis herumhacken? Ich kenne Ivan gut genug, um zu wissen, dass er auf diese Weise Zuneigung ausdrückt.

Raivis kommt ein paar Schritte näher und geht vor mir in die Hocke. Er lässt mich nicht aus den Augen, weshalb er beim ersten Anlauf mit dem Löffel den Teller verfehlt. Erst beim zweiten Versuch schafft er es, den Löffel zu beladen.

„Mund auf“, sagt er zögernd, und ich tue es. Dass ich wirklich einmal Befehle von ihm entgegen nehmen würde... nicht zu glauben.

Kartoffelbrei. Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich ihn mag. Kartoffelbrei in meinem Mund, und ich habe einen solchen Hunger. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht schlucken, das gehört nicht zum Plan. Der Plan, Gilbert. So, wie Raivis zittert, hackt Ivan ziemlich viel auf ihm herum. Fazit: Er mag ihn ziemlich gern. Also spucke ich aus.

Raivis kreischt auf, schlägt die Hände vor sein Gesicht und kippt nach hinten. Keuchend reibt er sich den Kartoffelbrei aus den Augen und beginnt, zu schluchzen und zu zittern. Richtig, immer wieder zu zittern.

„Raivis?“

Toris taucht hinter ihm in der Tür auf und fällt hastig neben ihm auf die Knie. „Was ist denn los?“

„Er... er hat mich...“, bringt Raivis hervor, verzieht angeekelt das Gesicht und schluchzt wieder auf.

„Ich habe ihn angespuckt“, sage ich.

Langsam sieht Toris sich über die Schulter zu mir um. „Ich hatte gesagt, du sollst ihn in Frieden lassen“, sagt er gefährlich leise.

„Ich dachte immer, dir läge nichts an ihm, Lorinaitis. Von wegen, ihr wärt keine Brüder und so...“

„Hast du eine Ahnung, was du hiermit anrichtest, Gilbert? Du machst uns allen das Leben schwerer, als es sowieso schon ist! Du kannst Ivan nicht bezwingen, indem du uns angreifst, also gib es auf!“

Raivis schnieft und wischt sich die Nase ab. „Vielleicht diesmal?“, fragt er hoffnungsvoll. „Vielleicht, wenn wir es Ivan sagen... vielleicht ist es diesmal schlimm genug, dass er...“

„Nein“, sagt Toris fest und schüttelt den Kopf. „Du weißt, was er beim letzten Mal getan hat, Raivis. Das willst du nicht noch einmal. Diesmal wird Ivan überhaupt nichts erfahren.“

„Warum nicht?“, frage ich fassungslos. „Wie wollt ihr dann...“

„Eduard?“, ruft Toris auf den Gang hinaus, ohne mich zu beachten. „Ich brauche dich kurz!“

Einen Moment später erscheint Eduard in der Tür und runzelt die Stirn, als er Raivis sieht, der noch immer auf dem Boden hockt und vor sich hin schnieft. „Was ist denn hier passiert?“

„Gilbert hat sich wieder einmal daneben benommen“, antwortet Toris ernst. „Und ich finde, es ist jetzt endgültig genug. Wenn er weiter nichts isst, wird er völlig vom Fleisch fallen. Ich denke, wir müssen ihn zu seinem Glück zwingen, Eduard.“

„Zu meinem Glück zwingen?“, wiederhole ich und runzle die Stirn. „Wovon zum Teufel sprichst du, Lorinaitis?“

Er sieht mich beinahe bedauernd an. „Es tut mir Leid, Gilbert. Du würdest es uns allen einfacher machen, wenn du einfach essen würdest. Wenn du das nicht tust, können wir dich dazu zwingen, aber das ist weder für uns noch für dich besonders angenehm. Oder würdevoll.“

„Ihr fasst mich nicht an!“, zische ich und weiche ein Stück zurück, bis mein Rücken an die Wand stößt. Eduard kommt näher und geht neben mir in die Hocke. „Und wenn doch?“, fragt er trocken und greift nach meiner Schulter.

„Halt seinen Kopf fest“, sagt Toris und hebt Teller und Löffel auf.

„Müssen wir das wirklich...“, erklingt Raivis' Stimme zaghaft und elend aus dem Hintergrund. Ich presse die Lippen zusammen und versuche, das Gesicht wegzudrehen, aber Eduard fasst mit einer Hand in meine Haare und hält mich fest. Toris' Gesicht und der gefüllte Löffel sind direkt vor mir.

„Wir gewinnen, Gilbert. Du hast keine Chance.“

Ich beschließe, ihn so lange anzustarren, bis er tot umfällt, und presse die Lippen weiter aufeinander. Toris seufzt leise.

„Wir gewinnen“, sagt er noch einmal, und jetzt sieht er eindeutig bedauernd aus.
 

„Ich hasse dich, Westen.“

Er sitzt so weit weg wie möglich, mit dem Rücken zur Wand, die Finger in seinem Schoß verschränkt.

„Warum gehst du nicht einfach?“

„Ich kann dich nicht allein lassen.“

„Hast du doch längst!“, fauche ich und würde auf ihn losgehen, wenn ich könnte. „Du hast mich hängen lassen, West, und wie du das hast! Deswegen hasse ich dich doch!“

Er sieht mich leicht überrascht an. „Ich habe dich niemals verlassen, Gilbert. Deswegen bin ich doch hier.“

„Du bist nicht hier! Du bist nur ein Hirngespinst!“

„Immerhin“, sagt er ernst. „Besser als gar nichts.“



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