Und dann ...
Immer derselbe Film…
Ich höre dich rufen. Du rufst nach mir. Du brauchst meine Hilfe.
Ich will dir zur Hilfe kommen, doch mir sind die Hände gebunden. Was nützen mir die Flügel, wenn man sie mir stutzt? Was ist schon ein Engel, wenn er nicht mal das beschützen kann, was ihm am liebsten ist?
Du hast Schmerzen. Du leidest. Es zerreißt mir das Herz.
Ich versuche mich von diesen Fesseln loszureißen, um deinem Rufen nachzukommen und dir zu helfen. Wie auch immer ich das anstellen wollte. Vollkommen egal, mir fällt schon was ein.
Doch es ist zu spät. Selbst wenn ich den zurückhaltenden Händen entschlüpfen kann, komme ich zu spät. Ich rufe nach dir. Hoffe, dass es noch eine Chance für mich gibt, dich zu retten.
Keine Antwort. Deine Hilferufe sind verstummt.
Und das Letzte, was ich sehe, ist dein Lächeln. Deutlich, bis es irgendwann verblasst.
Ich bin es so leid. Es ist scheißegal, ob ich schlafe oder wache. Ich sehe ja doch immer nur dieselben Bilder vor meinen Augen. Höre immer dieselben Dinge. Der einzige Unterschied besteht nur darin, dass es noch viel schlimmer ist, wenn ich davon träume. Also wozu überhaupt noch schlafen? Verdammt, und dabei hätte ich schwören können, dass ein Engel das nicht mehr nötig hätte. Tja, ich habe mich wohl geirrt. Ist ja nicht das erste Mal.
Ich habe mich mit allem geirrt. Von Anfang an. Von wegen, der Himmel sei das Paradies und einem Engel sei es möglich, Wunder zu vollbringen. Pah, wer immer mir das mal erzählt haben mag, der kann nur froh sein, dass ich mich nicht mehr an ihn erinnere. Gelogen, alles gelogen. Nichts als Ammenmärchen.
Engel können keine Wunder vollbringen. Sie sind keine Überwesen oder so. Man hält sie an kurzer Leine. Hätten sie mich nur zu dir gelassen, ich hätte… ich hätte bestimmt! Was auch immer, ich hätte es! Aber nein, lieber schaut man dir bei deinem Unglück zu. Man hätte dir helfen können, da bin ich mir sicher, doch stattdessen hat man dich alleingelassen.
Was ist schon ein Engel wert, der niemandem eine Hilfe ist? Ich fühle mich so nutzlos. Nichts kriege ich auf die Reihe, dieser ganze Engelkram juckt mich einfach nicht. Aber ich hätte dir bestimmt helfen können!
Der Himmel ist nun noch trostloser. Es hatte zumindest ein wenig was vom Paradies gehabt, als du noch hier gewesen warst. Doch nun ist es nur noch trist. Witzlos, spaßlos. Noch viel schlimmer als damals, vor deiner Zeit.
Damals hatte es mich zumindest noch abgelenkt, wenn ich Unfug gestiftet hatte. Was soll man auch groß anderes hier machen? Blöd in die Wolken gaffen und Figuren spinnen? Tze, viel zu öde. Genau wie dieses ständige Engeltraining. Das muss man sich mal vorstellen: Man wird trainiert, um ein richtiger Engel zu werden! So’n Blödsinn, das war schon immer meine Meinung. Aber du warst anders als ich. Keine Ahnung, wieso, aber du hast dieses Geschwafel und Getue von den Dai-tenshi immer viel ernster genommen und dich richtig ins Training reingehängt. Vermutlich steht dir das Engelsein einfach besser als mir. Stand… steht!
Du warst immer fröhlich, Fin. Ja, du warst stets fröhlich und aufgeschlossen und hattest für jeden ein offenes Ohr. Es war deine Fröhlichkeit, durch die du schnell Freunde hier gefunden hattest. Doch wenn niemand da war und du dachtest, du seist allein, hattest du oft diesen traurigen Ausdruck in deinen Augen. Ich konnte sehen, dass dich etwas bedrückt, schon seit du im Himmel angekommen warst. Seit ich dir das erste Mal begegnet war. Doch du sprachst nie darüber, mit niemandem. Nicht einmal mit mir, deinem besten Freund. Ich habe dich nie darauf angesprochen. Du warst tief in deinem Herzen traurig, das wusste ich, doch du hast in Gegenwart von anderen immer fröhlich gelächelt. Dieses Lächeln, in das ich mich sofort verliebt hatte, unwiderruflich. Das ich beschützen wollte. Deswegen fragte ich auch nie nach.
Und trotzdem. Es hätte so schön sein können, Fin. Du warst auf dem besten Wege zu einer glücklichen Zeit als Engel.
Im Nullkommanichts hattest du mich überholt – gut, das ist wohl keine große Kunst, ich Blödkerl – und du wurdest zum Jun-tenshi befördert. Zusammen mit Celcia und diesem Schleimbeutel von Toki. Insgeheim hatte ich dich darum beneidet, ich wäre gern mit dir zusammen aufgestiegen. Ich hätte dich gern zur Erde begleitet. Es wäre sicherlich schön gewesen, mit dir zusammen auf der Erde. Doch es hilft nichts, ich bin einfach zu blöd.
Ich hätte dich wirklich gern begleitet. Aber ein Kuro-tenshi darf nicht mit zur Erde. Zu blöd… Ich wünschte, es wäre anders gekommen, Fin. Dann wäre alles anders gekommen, da bin ich mir sicher. Doch so konnte ich mich nur für dich freuen – das habe ich wirklich! – und auf deine Rückkehr warten. Es wären nur drei Tage gewesen, nur drei verflixte Tage. Nur drei dumme Tage ohne dich. Ohne dein Lächeln. Dein Lachen. Ich war mir sicher, dass ich das irgendwie überleben würde. Engel haben immerhin eine ganze Ewigkeit vor sich, wenn sie sich nicht vollkommen blöd anstellen. Was waren da schon drei Tage?
Ich kann nicht sagen, dass ich eine böse Vorahnung gehabt hätte. Auch wenn ich wünschte, ich könnte es. Doch nein, dem war nicht so gewesen. Ich war sicher gewesen, dass du nach diesen drei läppischen Tagen wieder zurück sein würdest. Und ich hatte mir fest vorgenommen, dir dann endlich zu sagen, wie es wirklich in meinem Herzen für dich aussah. Wollte dir sagen, dass ich die Ewigkeit mit dir teilen wollte. So wie bisher auch, nur eben… offiziell. Du solltest die Wahrheit erfahren.
Nur drei Tage… dann wärst du wieder da. Du hattest mir versprochen, dir dann anzuhören, was ich dir zu sagen hatte. Ich wollte geduldig auf dich warten. Ich freute mich ab der ersten Sekunde, in der du mit den anderen beiden das Himmelreich verlassen hattest, dass du bald wieder zurück sein würdest. Nur drei läppische Tage…
…
Doch du solltest nicht wiederkommen. Nie mehr.
Und nun bist du fort, Fin. Für immer.
Du konntest nichts dafür, verdammt! Wieso konnte das nur keiner außer mir einsehen?
Mit einer Verbannung hätte ich leben können. Mir wären genug Sachen eingefallen, mit denen ich mich ebenfalls hätte verbannen lassen können. Ich wäre dir gefolgt und ich bin mir sicher, dass ich dich irgendwie wiedergefunden hätte. Was ist schon der Himmel ohne dich? Was ist mein Dasein als Engel ohne dich? Ich habe eh nie wirklich hierher gehört. Bis du aufgetaucht warst, hatte ich mich nur fehl am Platz gefühlt. Doch eine Ewigkeit ohne dich enthält keinen Sinn mehr für mich.
Jedoch, du bist nicht mehr. Riru-sama sagte mir, dass du durch das Weiße Tor gegangen bist. Das löscht die Seele aus.
Fin.
Du bist fort, Fin. Und ich kann dir nicht mehr folgen. Das ist bitter, verdammt bitter. Ein Mensch hat es da so viel leichter. Er kann sich das Leben nehmen und so dem geliebten Menschen in den Tod folgen. Auch wenn es fraglich ist, ob sie sich dann im Himmel wiedersehen werden. Aber zumindest ist er nicht dazu verdammt, allein weiterzuleben.
Als Engel jedoch ist das etwas ganz anderes. Ich kann nicht einmal mehr sagen, was das alles in mir auslöst. Irgendwie… nichts.
Anfangs hatte es mich nahezu zerrissen. All diese Bilder, die ich gesehen hatte und die ich nicht hätte sehen sollen. Ich sah sie immer wieder und wieder, bis heute noch. Wie in einer endlosen Wiederholungsschleife.
Ich war dagewesen, als das Urteil über dich verhängt wurde. Doch ich konnte nichts tun, sie hatten mich nicht zu dir vorgelassen. Ich konnte dich nicht aufhalten. Durfte dich nicht einmal ein letztes Mal sehen. Es ist kaum zu beschreiben, wie unerträglich mir das gewesen war. Zu wissen, dass du in diesem Moment in deinen Tod gehst. Und nur eine dämliche Tür trennt mich davon, dich noch einmal zu sehen. Noch ein letztes Mal deinen Namen zu rufen.
Seitdem… Tag für Tag starb ich einen wiederholten Tod in meinem Herzen. Doch irgendwann… verstummte der Schmerz einfach.
Und ich begann schließlich, zu resignieren.
Die ersten Tage hatte man mich noch unter Quarantäne und sogar unter Aufsicht eines Sei-tenshi gestellt, der mich wie ein Kleinkind rund um die Uhr im Auge behielt. Damit ich ja nichts Dummes anstellte. Pah, was hätte ich schon groß anstellen können? Eine Harfe aus dem Saal der Harmonie zu stehlen, ist einfach; den Himmel zu verlassen, ist hingegen nahezu unmöglich. Und nichts hätte ich lieber getan als das.
Inzwischen darf ich wieder unter die Leute. Von mir geht keine Gefahr mehr aus, wie Riru-sama meinte, der immer mal nach mir gesehen hatte. Aber ich habe das Gefühl, dass man mich noch immer bewacht. Ist mir aber eigentlich auch egal.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Seit damals. Ist aber auch egal. Tage, Wochen, Monate, Jahre – was ist das schon im Vergleich zur Ewigkeit?
Fin. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte es versucht. Ich hätte es versucht, einfach weiterzumachen. Doch das wäre gelogen.
Ich wünschte, ich könnte sagen, ich würde versuchen, dich zu vergessen. Dabei versage ich schon darin, nicht andauernd an dich zu denken.
Doch was nützt es jetzt noch? Egal. Alles egal.
„Hey, Access-kun!“
Da, sagte ich es nicht? Ich werde immer noch bewacht. Mira-san schaut ständig nach mir. Meist schleicht sie klammheimlich in meiner Nähe umher und denkt wohl, ich würde es nicht bemerken. Wirklich nervig.
„Hast du schon gehört?“
„Interessiert mich nicht.“ Tut es wirklich nicht. Ganz egal, worum es überhaupt geht. Sie sollte inzwischen eigentlich wissen, dass ihre gut gemeinten Versuche, mich irgendwie aufzuheitern, in die Wolken gehen. Da ist es mir mittlerweile auch egal, wenn ich giftig werde.
„Es gibt Gerüchte im Weißen Palast.“
„Geht mich nichts an, was die Hoheiten zu pispern haben“, wehre ich erneut ab und verschränke die Arme hinterm Kopf. Kann man sich denn nicht mal in Ruhe in seinem Lieblingsbaum in seinem Elend wälzen? Meine Fresse!
„Ich weiß, aber glaube mir, dieses Mal wird es dich interessieren.“
Ach wirklich? Ich spüre, wie mir eine Augenbraue in einem kurzen Anflug von Neugierde hochhüpft. Das muss wohl an Mira-sans Stimmlage liegen. Sie klingt so… sicher. Dabei wüsste ich nichts, was mich auch nur ansatzweise interessieren könnte.
Trotzdem, ich beschließe, ihr ausnahmsweise zuzuhören.
„Auf der Erde scheint sich etwas abzuspielen, was die Dai-tenshi in ernste Besorgnis treibt. Riru-sama hat eine Konferenz unter den Dai-tenshi einberufen und es gibt Gerüchte, dass sie bald jemanden zur Erde entsenden werden.“
„Na und? Sollen sie machen, mir doch egal. Als Kuro-tenshi geht mich das doch sowieso nichts an.“ Und wenn Maou-sama höchstpersönlich auf der Erde wüten würde. Seit dem Vorfall mit Fin, der sich auf der Erde abgespielt hatte, konnte mir diese gestohlen bleiben.
„Access-kun…“
„Du vergeudest deine Zeit. Lass mich in Ruhe.“
„Hör mir doch mal gefälligst zu!!“
Nanu? Mira-san ist doch sonst immer die Ruhe in Person. Ich habe sie noch nie so aufgeregt erlebt. Sie hat mich richtig angeschrien!
Überrascht schaue ich zu ihr hinunter. Und schon lächelt sie wieder ihr übliches, ruhiges Lächeln, da sie nun endlich meine volle Aufmerksamkeit hat.
„Riru-sama bespricht sich gerade mit Saki-sama im Weißen Palast. Die Entscheidung drängt, aber wie es scheint, haben sie noch keinen geeigneten Kandidaten gefunden.“
Ich kann mir nicht helfen, aber irgendetwas an ihren Worten lässt mich stutzen. Da ist doch was im Busch! Bilde ich mir das nur ein, oder versucht sie, mir irgendetwas zu vermitteln?
„Und? Wieso erzählst du mir das alles?“ Verdammt! Ich habe das gefragt, noch ehe ich darüber nachdenken konnte. Es interessiert mich doch gar nicht…?
Mira-san bekommt nun ein wirklich helles Lächeln. Ich könnte fast meinen, dass sie grinst. Habe ich sie je grinsen gesehen? Sie ist so dieser typische Sonnenscheinengel, der entweder nur lächelt, oder aber mit dieser dämlichen Sorge auf einen herabblickt. Nur, dass man es ihr nicht einmal übel nehmen kann. Ich glaube, sie meint es wirklich nie böse.
„Der Weiße Palast ist nur für die Dai-tenshi frei zugänglich. Für jeden anderen ist der Zugang ohne eine Vorladung strengstens verboten.“
Ja doch, das weiß ich selbst! Hat mich aber noch nie interessiert. Jeder kann da frei rein- und rausmarschieren, wenn er sich nur nicht erwischen lässt. Aber was will sie mir damit sagen?
Moment…! Irre ich mich, oder ist es genau das, was sie mir damit sagen will?
Nein, ich muss mich irren! Wieso sollte sie, ein Sei-tenshi, mich regelrecht darum bitten, in den Weißen Palast einzudringen? Das ist doch bescheuert! Aber wieso lächelt sie dann noch immer mit diesem gewissen, für mich vielsagenden Ausdruck zu mir hoch? Verdammt!
„Wieso…?“, frage ich schließlich und mustere den weißen Engel skeptisch. Ich muss mich irren! Mein Selbstmitleid muss mich halluzinieren lassen.
Doch Mira-sans Lächeln wird für einen Augenblick noch heller, ehe sie nur ein „Viel Glück!“ zur Antwort gibt. Noch ein kurzes Zwinkern, was ich mir aber auch nur eingebildet haben könnte, dann dreht sie sich auch schon um und fliegt davon.
Verdammt, verdammt, verdammt! In was habe ich mich da wieder reinreiten lassen?!
Was geht es mich schon an, was auf der Erde abgeh’n mag? Sollen sich doch diese Großkotze von Dai-tenshi darum kümmern. Ist doch schließlich ihr Job!
Aber wie hätte ich dieser Einladung schon widerstehen können? Auch wenn ich mir sicher bin, dass Mira-san mich nur ein wenig ablenken wollte. Meinetwegen.
Es ist wirklich immer noch viel zu einfach, in den Weißen Palast einzudringen. Die lernen es einfach nicht. Auf der Erde nutzen die Menschen Alarmanlagen, Fallen oder irgendwelchen hochmodernen Schrott von Technik, um Eindringlinge aufzuhalten. Und hier glaubt jeder an das Gute und die Dai-tenshi begnügen sich mit zwei Wachposten am Eingang und damit, dass hier überall diese Hochrangigen herumlaufen. Die würden schon Augen und Ohren offenhalten. Von wegen!
In aller Seelenruhe kann ich mich in den weiten Fluren umsehen und nach Riru-sama suchen, wie Mira-san es mir geraten hatte. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wo er sich aufhalten kann.
Der Konferenzsaal ist ruhig, also ist er vermutlich in jenem Raum, den ich hoffte, nie wieder betreten zu müssen. Und sobald ich mich jener Tür nähere, höre ich auch schon die beiden Stimmen, die meine Vermutung bestätigen.
„Es sind schon drei Erfolge zu verzeichnen. Die Zeit drängt, wir müssen einschreiten“, höre ich eine mir unbekannte Stimme sagen, was wohl Saki-sama sein muss, und ich schiele vorsichtig an dem Türbogen vorbei und in den Raum hinein. Noch ehe ich die beiden Dai-tenshi wirklich wahrnehme, wird mein Blick in die Mitte des Raumes gelenkt und ich muss mein Herz beruhigen. Da steht dieser verdammte Brunnen, der mir damals diese unschönen Bilder gezeigt hatte. Fin…
Aber deswegen bin ich nicht hier! Ich muss mich beruhigen, verdammt nochmal! Irgendwas ist hier im Busch und Mira-san will, dass ich herausfinde, was es ist. Warum auch immer. Also lenke ich meinen Blick auf die beiden Großengel, die um diesen blöden Brunnen herum stehen, und konzentriere mich nur aufs Zuhören.
„Ich weiß“, spricht Riru-sama nun und er wirkt ernsthaft besorgt, obgleich er die Augen, wie immer, geschlossen hat. Trotzdem scheint er in diesen verdammten Brunnen zu schauen.
„Es muss aufhören, bevor Kami-sama zu sehr geschwächt ist!“ Saki-sama, den ich bisher kaum zu Gesicht bekommen hatte, ist richtig aufgebracht. Dass sich diese Dai-tenshi auch so ähnlich sehen müssen! Er ist nur ein wenig größer als Riru-sama und sein Haar, ebenso lang wie das von unserem Wächter, ist nur eine schwache Nuance grauer. „Wir müssen jemanden zur Erde entsenden und dem Treiben Einhalt gebieten.“
„Ich weiß“, wiederholt Riru-sama und ich erkenne das kurze Heben und Senken seiner Schultern unter dem weißen Gewand. „Aber wir können keinen der Sei-tenshi entbehren. Sie werden hier im Himmel gebraucht. Und unter den Jun-tenshi findet sich bisher niemand, für den eine so große Aufgabe zumutbar wäre.“
„Wir haben keine Zeit, Riru-sama! Wir müssen einen Engel erwählen und ihn mit den nötigen Kräften ausstatten, sollten dessen eigene nicht reichen. Wenn Fin-“
„Fin?!“
Verdammt! Es war ein Reflex gewesen. Ich hörte den Namen und habe meine Klappe schneller aufgerissen als ich es verhindern konnte. Nun kann ich mein Versteck auch gleich aufgeben, denn dass sie mich gehört haben, steht außer Frage.
Also trete ich hervor und stelle mich den überraschten Blicken der beiden Dai-tenshi.
„Access…?“ Natürlich ist es Riru-sama, der mich als Erster enttarnt. Vermutlich kennt mich dieser Saki-sama nicht einmal.
„Was ist mit Fin?!“
Die beiden Dai-tenshi schauen mich nur an … und schweigen. Natürlich schweigen sie. Ein Kuro-tenshi hat hier nichts verloren. Sie werden mich sicherlich gleich wortlos entfernen lassen.
Und trotzdem… Mein Herz rast. Mit jeder Sekunde, die mit diesem Schweigen verstreicht, schlägt es stärker in meiner Brust. Und mit jedem weiteren Schlag, den ich schmerzhaft spüre, wächst etwas in mir. Eine Gewissheit.
„Sie lebt…“, höre ich mich abwesend sagen. Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung. Sie zieht sich durch meinen gesamten Körper. In meinen Ohren rauscht es.
Doch wieder schweigen sie. Für lange Sekunden. Keine Ahnung, wie ich das ertrage, aber ich bin fest entschlossen, nicht von der Stelle zu weichen. Nicht, ehe ich die Wahrheit weiß.
Dann nickt Riru-sama kaum merklich. „Ja, sie lebt.“
Sie lebt. Sie lebt. Sie lebt! Die Worte hallen in mir wider. Wieder und wieder.
„Ich werde gehen!“
„Das geht nicht!“, wirft sich Saki-sama sofort dazwischen und ich erkenne, dass er regelrecht entsetzt von meinem dreisten Entschluss ist. Doch es interessiert mich nicht. Ich kenne ihn nicht und er wird mich ebenso wenig kennen. Er hat mir nichts zu sagen, Dai-tenshi hin oder her.
Mein Blick haftet an Riru-sama. Wenn überhaupt, dann zählt in dieser Angelegenheit nur seine Meinung für mich. Nicht nur, weil ich weiß, dass seine Stimme letztlich mehr Gewicht vor Kami-sama tragen wird als die des Möchtegerns neben ihm. Er hatte alles miterlebt. Von Fins Unglück auf der Erde, über ihr weiteres Schicksal, bis hin zu meinem Zusammensturz. Und auch wenn ich nicht sagen kann, dass er mir wirklich geholfen hätte, so hatte er mich zumindest nie aufgegeben. Obwohl ich mit Sicherheit oft kurz davor gewesen war, Amok zu laufen, und mich am Ende sogar selbst aufgegeben hatte. Wenn mich überhaupt irgendeiner anhören würde in diesem Dreckskaff, dann am ehesten er. Zumindest kann ich mir bei ihm sicher sein, dass er den Kopf nicht nur in den Wolken hat und wenigstens erst die Möglichkeiten in Betracht ziehen würde.
„Schickt mich zur Erde“, spreche ich erneut. Ruhig, ernst.
Stille. Für weitere lange Sekunden.
Dann, endlich, nickt er. Sacht, aber bestimmt.
„Riru-sama!“, brüllt schon wieder dieser andere Dai-tenshi und ich spüre das kurze Verlangen, ihm das Maul stopfen zu wollen. Doch erstaunlicherweise bleibe ich ruhig, was untypisch für mich ist. Natürlich hätte ich nicht den Hauch einer Chance gegen ihn gehabt, aber das ist es nicht, was mich zurückhält. „Wir können keinen Kuro-tenshi in eine so wichtige Mission einweihen. Sie stehen noch am Anfang ihrer Ausbildung und können nicht zur Erde entsandt werden. Das Risiko ist viel zu hoch!“
‚Halt die Fresse!‘, will ich ihm am liebsten entgegenknallen, doch es ist unnötig. Ich kann es in dem milden Lächeln von Riru-sama lesen.
Er hatte seine Entscheidung bereits gefällt.
Und ich verstehe.
„Vielen Dank, Riru-sama.“ Ich verbeuge mich tief vor dem Dai-tenshi. Auch ohne Worte hat er mir gesagt, wie er entschieden hat. Und ich muss mich wirklich zusammenreißen, mein wildes Herzklopfen zu ignorieren und beherrscht zu bleiben. „Ich werde nicht versagen!“
„Nein, das wirst du nicht“, spricht er sanft und ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Saki-sama ungläubig zu dem höheren Engel starrt. Wenigstens mein Grinsen muss ich nicht zurückhalten. „Triff deine Vorbereitungen und dann komm zu mir. Ich erwarte dich an der Himmelsschwelle. Dort werde ich dir alles Weitere erklären, Access.“
Ich richte mich auf und schaue ihm wild entschlossen ins Gesicht. Mein Entschluss steht fest, auch wenn ich noch nicht einmal weiß, für was für eine Mission ich mich eigentlich gerade gemeldet habe. Doch das ist auch ganz egal. Was immer es sein mag, ich werde das schon schaukeln.
„Jawohl!“
Ich werde dich wiedersehen, Fin. Was es mich auch kostet, mein Engel, um dich noch einmal lächeln zu sehen.
