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Noch eine Chance

von

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Augen zu und so tun, als wäre man woanders

„Wir sollten weg von hier“, sagte Eduard, dessen Blick im Halbdunkeln hastig zwischen den Anwesenden umher huschte. „Ich weiß nicht, was Natalia vorhat. Aber wenn sie sich selbst anzeigt, könnten die Polizisten sich daran erinnern, dass sie gerade noch in einer Seitenstraße einen Mann geküsst hat, und sie könnten diesen Mann suchen.“

„Richtig“, sagte Toris und nickte. „Wir sollten weitergehen.“

Alle sahen Ivan an, der ins Leere starrte und plötzlich zusammen zuckte.

„Wie bitte?“

„Wir sollten gehen“, sagte Raivis und blinzelte. „Hat Toris doch gesagt.“

Ivan nickte. „Ja. Natürlich.“

Er legte Yekaterina, die mittlerweile ein Taschentuch vor ihr Gesicht drückte, einen Arm um die Schultern. „Katyusha? Es geht weiter.“

„Ohne Bela“, murmelte Yekaterina und schnäuzte sich geräuschvoll. „Warum... warum hast du sie nicht zurückgehalten, Toris? Du hättest... hättest...“

Sie brach ab.

„Gehen wir“, sagte Ivan und nickte den anderen zu.

„Wohin denn?“

„Ich frage mich, ob es in dieser Stadt einen Bahnhof gibt.“

„Sie ist recht groß“, erwiderte Eduard. „Ich glaube, es gibt sogar Industrie hier. Es würde mich sehr überraschen, wenn es keinen Bahnhof gäbe.“

„Was interessierst du dich jetzt für Bahnhöfe?“, fragte Yekaterina hoffnungslos.

„Weil wir kein Auto mehr haben und weiter müssen, Katyusha“, antwortete Ivan geduldig. „Und jetzt gehen wir endlich.“
 

Die Straßen zogen sich endlos durch die Dunkelheit und schienen alle gleich auszusehen. Sie blieben vor einer schon verblichenen Straßenkarte an einer Wand stehen, auf der Ivan überraschend schnell den Bahnhof fand. Er widerstand der Versuchung, auch die Polizeistation zu suchen.

„Wir müssen nur dieser Straße folgen, dann können wir es nicht verfehlen. Jedenfalls hat es auf der Karte den Anschein.“

Niemand sagte etwas, und Ivan seufzte leise. Er hatte nie jemanden gebraucht, der ihn bestätigte. Das hatte ohnehin selten jemand getan, und er hatte gelernt, ohne Bestätigung auszukommen. Aber jetzt, da er sich ohne Onkelchen ohnehin auf sich allein gestellt fühlte, wäre es schön gewesen, wenn die anderen wenigstens irgendeinen Kommentar zu seinen Entscheidungen abgegeben hätten. Das Schweigen war ihm zu kalt. Wenn sie geredet hätten, dachte er, wäre ihm Natalias Abwesenheit vielleicht nicht so extrem aufgefallen.

Während sie der Straße folgten, ließ er seine Gedanken schweifen. Vielleicht hätte er Natalia zurückhalten sollen. Vielleicht hätte er sie beschützen sollen, bevor jemand anderes ihr wehtat. Wer konnte wissen, was ihr bevorstehen würde? Andererseits hätte er ihr schaden müssen, um sie vor Schaden zu schützen. Dabei war noch nie etwas Gutes herausgekommen, dachte Ivan und warf Toris einen flüchtigen Blick zu.

„Da vorne ist es“, sagte Yekaterina und seufzte erleichtert. Vor ihnen ragte ein leicht heruntergekommenes, aber sehr großes Bahnhofsgebäude in den dunklen Himmel. Die Uhr über dem Eingang war auf fünf nach drei stehen geblieben.

„Ob überhaupt Züge fahren?“, fragte Toris. „Mitten in der Nacht?“

Eduard runzelte die Stirn. „Es wirkt nicht wie ein Personenbahnhof. Wenn es ein Güterbahnhof ist, wer weiß, wie die Arbeitszeiten liegen...“

Raivis sagte nichts, sondern kaute auf seiner Unterlippe herum. Ivan überlegte einen Moment lang und fasste einen Entschluss.

„Wir haben ohnehin kein Geld, um mit einem normalen Zug zu fahren. Am besten versuchen wir, uns als blinde Passagiere irgendwo einzuschleichen. Ich würde sagen, wir gehen und sehen nach, ob ein Zug fährt.“

Sie näherten sich dem Gebäude, dessen große Vordertür verschlossen schien. Die Fenster waren dunkel. Hinter dem Haus führten die Gleise entlang, die nach einigen Metern in der Dunkelheit verschwanden. Nur an einem Stück Bahnsteig hinter dem Gebäude beleuchteten Laternen die Strecke.

„Steht da ein Zug?“, fragte Yekaterina ungläubig, als sie näher kamen.

Zuerst hatte Ivan es für einen weiteren verwirrenden Schatten der Nacht gehalten, aber als sie näher kamen, erkannte er, dass es tatsächlich ein Zug war. Ein Güterzug, der so lang war, dass die hinteren Waggons in der Dunkelheit nicht einmal zu erahnen waren.

„Gehen wir weiter“, murmelte er. „Tut so, als würden wir einen ganz normalen Spaziergang machen. Auf dem Bahnsteig. Mitten in der Nacht.“

Sie bogen um die Ecke des Gebäudes und liefen langsam weiter, mit großen Augen die Umgebung beobachtend. Einige Männer liefen stumm und beschäftigt hin und her und trugen Säcke oder Kisten, die sie in die Waggons verfrachteten oder ausluden. Ein einzelner Mann mit einem Klemmbrett stand da und beobachtet das Geschehen. Er bemerkte sie nicht, als sie leise hinter ihm vorbei gingen.

„Der Zug fährt nach Westen“, meldete Eduard, der den Hals verdrehte, um einen Blick auf das Klemmbrett zu erhaschen. „Planmäßig ist er übermorgen in Warschau.“

„Polen“, murmelte Toris, und Ivan wusste nicht, ob es eine Frage, ein Ausdruck der Erleichterung oder einfach nur eine Feststellung war.

„Das ist ideal“, sagte Ivan leise und versuchte gleichzeitig, für Außenstehende nicht allzu verdächtig zu klingen. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelang. „Wenn wir es irgendwie schaffen, an Bord zu kommen.“

Er atmete tief durch. „Gehen wir noch ein Stück“, murmelte er und nickte vorwärts. „Haltet Ausschau nach einer Mitfahrgelegenheit.“

Langsam gingen sie weiter. Der Zug war wirklich recht lang, wie Ivan feststellte. Einige der Waggons waren verschlossen, an anderen standen die Schiebetüren noch offen. Große Kisten oder Säcke waren in den Waggons aufgestapelt, aber hier und da schien noch Platz für einen blinden Passagier zu sein. Leider reichte das nicht für sie, dachte Ivan. Sie brauchten Platz für fünf blinde Passagiere.

Einige der herumlaufenden Männer schleppten Säcke in einen Waggon, der fast ganz am Ende des Bahnsteiges stand. Als sie näher kamen, hörten sie, dass es offenbar Probleme gab.

„Nein, nichts mehr in diesen! Diese müssen in Nummer 26.“

„Warum? Es ist doch noch genug Platz.“

„Ach was, Platz! Es muss alles nach Vorschrift gehen. Wir sind doch gut organisiert!“

„Das klingt für mich nicht nach guter Organisation. Nummer 26 ist schon fast voll.“

„Ich werde lieber noch einmal nachfragen“, sagte der Mann mit dem Klemmbrett, der sich eingeschaltet hatte. „So lange hört auf damit, hört ihr? He! Ihr sollt aufhören!“

Zwei Männer blieben verdutzt stehen, die Säcke noch auf den Schultern. Ein dritter, der mit dem Mann mit dem Klemmbrett diskutiert hatte, schüttelte den Kopf und spuckte aus. „Und sowas schimpft sich Ordnung.“

„Dieser Waggon wird nicht weiter beladen, bis ich mit den Anordnungen zurück bin“, sagte der andere Mann scharf, drehte sich um und eilte den Bahnsteig hinunter davon.

„Und jetzt?“, fragte einer der Männer mit den Säcken und verzog das Gesicht. „Können wir die Dinger jetzt abladen oder nicht? Verflucht schwer sind sie ja...“

„Dann bringen wir sie in Nummer 26“, erwiderte der andere gleichgültig. „Hauptsache, wir werden sie los.“

„Gute Idee“, sagte der erste Mann und schleppte seine Last den Bahnsteig hinunter. Die anderen beiden folgten ihm.

„Das ist es“, flüsterte Ivan und betrachtete den Waggon. „Vielleicht. Wir müssen es schaffen, dort hinein zu kommen, solange niemand hinsieht.“

„Und wenn nicht genug Platz ist?“, fragte Yekaterina.

„Irgendwann müssen wir es wagen, Katyusha. Wir hoffen einfach, dass genug Platz ist und sie den Waggon gleich verschließen, ohne noch einmal nachzusehen.“

„Wir hoffen einfach“, murmelte Eduard.

„Eine andere Wahl haben wir nicht“, erwiderte Toris, der von allen am meisten motiviert wirkte. Wahrscheinlich freute er sich darauf, Feliks zu sehen, dachte Ivan. Er wusste nicht genau, ob er deswegen erleichtert oder besorgt sein sollte.

„Wenn ich jetzt sage, laufen wir“, flüsterte er und sah sich wachsam um. Rechts war niemand zu sehen. Einige Meter weiter links standen ein paar Männer herum und rauchten. Solange sich niemand von ihnen plötzlich umdrehte, dürfte niemand sie sehen.

„Jetzt!“

Yekaterina stolperte beinahe, doch Ivan riss sie wieder auf die Beine, bevor sie fallen konnte. Toris und Eduard waren vor ihnen. Ivan zwang sich, nicht zur Seite zu sehen – wenn jemand ihnen zusah, war es jetzt zu spät, um unschuldig zu tun. Wenn sie es bei diesem Anlauf nicht schafften, unentdeckt in den Waggon zu gelangen, würden sie es nie schaffen.

Toris und Eduard streckten die Hände aus, um Yekaterina in den Waggon zu helfen. Ivans Herz raste. Noch hatte niemand etwas bemerkt, noch nicht. Er packte einen Griff neben der offenen Tür und warf einen letzten Blick zurück.

Ein paar Meter weiter stand Raivis und sah ihn mit großen Augen an, den Rücken gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes gedrückt. Er machte keine Anstalten, sich zu rühren. Ivan schnappte nach Luft und zögerte. Seine Hand an dem Türgriff begann zu schwitzen.

„Vanya?“, fragte Yekaterina erschrocken. „Was ist denn...“

„Ich hole ihn“, keuchte Ivan, ließ den Türgriff los, drehte sich wieder um und rannte zurück. Raivis wich ein Stück vor ihm zurück, als er näher kam, und wandte den Blick ab.

„Was ist denn los, Raivis?“, brachte Ivan hervor, der von der kurzen Strecke bereits außer Atem war. „Hast du nicht gehört, wie ich jetzt gesagt habe? Warum bist du nicht losgelaufen?“

Raivis biss auf seiner Lippe herum und schwieg.

„Du darfst keine Angst haben“, sagte Ivan und griff nach seinen Schultern. „Wir bleiben alle zusammen. Wir müssen jetzt zu den anderen, bevor der Zug losfährt. Und dann fahren wir zu Feliks, ja?“

Zitternd hob Raivis den Kopf und sah ihn einen Moment lang an. „Ich komme nicht mit“, sagte er leise. „Ich steige nicht in diesen Zug.“

„Aber warum denn nicht?“, fragte Ivan verständnislos. „Warum willst du nicht...“

„Ich steige in keinen Zug mehr“, sagte Raivis und zitterte noch heftiger. „Gar nicht mehr.“

Ivan sah ihn an und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Langsam ging er vor Raivis in die Hocke.

„Dieser Zug fährt nicht nach Sibirien, Raivis.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte Raivis trotzig. „Sie wissen doch gar nicht, wohin er fährt.“

„Für Sibirien ist es die völlig falsche Richtung. Wir werden bei Feliks landen, Raivis, ganz sicher. Vertrau mir.“

„Vertrauen?“, wiederholte Raivis und kaute auf seiner Unterlippe. „Ihnen?“

„Ja, mir.“

„Ich vertraue Ihnen nicht. Ich tue vielleicht, was Sie sagen, aber vertraut habe ich Ihnen noch nie.“

Ivan lächelte schief. „Dann tu es wenigstens jetzt“, flüsterte er. „Die anderen sind schon drinnen. Du willst nicht, dass sie ohne uns fahren, oder? Wir müssen zu ihnen.“

Noch immer musterte Raivis den Zug mit offensichtlichem Widerwillen.

„Ich bin nicht mit euch allen geflohen, um dich jetzt wieder nach Sibirien zu schicken, Raivis. Das wäre doch unlogisch, oder? Ich habe einen solchen Aufwand betrieben, so viel riskiert... ich werde nicht zulassen, dass unsere Flucht hiermit beendet ist. Wir müssen zusammen bleiben und weitermachen. Ich werde auf dich aufpassen, hörst du, Raivis? Das werde ich.“

Langsam wandte Raivis den Blick ihm zu. „Ich glaube“, sagte er nachdenklich, „Sie haben sich verändert, während ich weg war.“

„Vielleicht“, antwortete Ivan und lächelte. „Aber vielleicht habe ich mich auch erst verändert, als du zurückgekommen bist.“

Raivis' Lippen zuckten, als wollte er lächeln, doch dazu war er zu nervös. Er zitterte noch immer am ganzen Körper. „Ich will trotzdem nicht in den Zug. Züge sind... ich mag Züge nicht.“

„Dann mach die Augen zu“, sagte Ivan, der plötzlich einen Geistesblitz hatte, „und stell dir vor, du wärst ganz woanders. Irgendwo, wo es dir besser gefällt als in einem Zug. Kannst du das?“

„Das klingt dumm“, sagte Raivis verblüfft.

„Aber es könnte funktionieren.“

Unsicher legte Raivis den Kopf von einer auf die andere Seite. „Also gut“, murmelte er und schloss die Augen.

„Ich hebe dich hoch, kleiner Raivis. Nicht erschrecken.“

Behutsam hob Ivan ihn hoch (er wog fast nichts, wirklich beängstigend) und sah sich um. Zu seiner Überraschung waren die beiden rauchenden Männer auf dem Bahnsteig verschwunden. Wo konnten sie sein? Standen sie nur irgendwo anders, wo sie zufällig hersehen konnten? Oder war jemand anderes in der Nähe? Wachsam sah Ivan sich um, konnte aber zumindest in dem beleuchteten Teil niemanden sehen. Der Bahnhof war wie ausgestorben.

„Was ist nur los?“, murmelte er.

„Was ist?“, fragte Raivis, der die Augen zukniff und die Stirn leicht gerunzelt hatte.

Ivan gab sich einen Ruck. „Nicht, gar nichts. Gehen wir.“

Er machte sich auf den Weg, die paar Meter über den steinernen Boden. Die Schritte seiner Stiefel schienen lauter als sonst zu sein. Unablässig sah er sich um, ob sich nicht doch jemand auf dem Bahnsteig rührte, doch nichts geschah.

„Was ist los?“, flüsterte Yekaterina, die den Kopf aus der Tür des Waggons steckte.

„Um Himmels Willen, bleib drinnen, Katyusha! Wenn uns nun jemand sieht!“

Ivan schob Raivis durch die Türöffnung und wartete, bis Yekaterina ihm ein Stück weiter ins Innere geholfen hatte, bevor er selbst hinterher kletterte. Er wollte die Tür schließen, beherrschte sich dann aber. Er durfte nichts verändern. Niemand durfte bemerken, dass jemand an diesem Waggon gewesen war – beziehungsweise noch immer darin war.

„Was hast du, Raivis?“, fragte Toris verwirrt und griff nach Raivis' Schulter.

„Ich mag Züge nicht“, antwortete Raivis, die Augen noch immer fest zugekniffen. „Also tue ich so, als wäre ich nicht in einem Zug.“

„Was für eine kindische Idee“, sagte Eduard und seufzte leise. „Das sieht dir ähnlich, Raivis.“

„Lass ihn nur“, murmelte Yekaterina und strich über Raivis' Kopf. „Er hat es nicht leicht.“

Raivis sagte nichts dazu, legte nur den Kopf schief und tastete nach dem Boden unter sich. Er bestand aus Metall, wie Ivan feststellte, wie der Rest des Waggons auch.

„Was tun wir jetzt?“, fragte Toris leise und warf Ivan einen Seitenblick zu.

„Wir müssen uns versteckt halten, bis der Zug losfährt. Danach dürften wir relativ sicher sein. Können wir uns hier drinnen verstecken?“

„Hinter den Kisten ist Platz für zwei“, sagte Eduard und deutete auf die hintere Wand des Waggons. „Höchstens für drei von uns.“

Ivan begutachtete die verschlossenen Holzkisten und die Säcke, die in einer anderen Ecke des kleinen Raumes standen. „Die anderen müssen sich dann wohl dort hinten verstecken.“

„Habt ihr noch mehr Arbeiter gesehen?“, fragte Yekaterina.

„Nein, niemanden. Ich weiß nicht, warum niemand da war... vielleicht gibt es irgendwelche Probleme.“

„Hoffentlich nicht.“

„Je chaotischer die Zustände sind, desto einfacher ist es für uns, nicht aufzufallen“, sagte Ivan und lächelte sie an. „Sieh es positiv, Katyusha.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings gleich wieder verschwand.

„Schafft ihr drei es, euch hinter die Kisten zu zwängen?“

„Sicher“, antwortete Toris, der noch einen Blick in die Ecke warf.

„Dann geht und verhaltet euch ruhig. Ganz egal, was passiert, ihr kommt nicht raus, bevor der Zug nicht losfährt. Wir gehen hier hinüber, Katyusha.“

Ivan musterte einen der Stapel von Säcken und schob ihn mit einiger Mühe ein Stück von der Wand weg. Der Stapel verrutschte leicht, doch er fiel nicht um. Aus einem der unteren Säcke rieselte Getreide.

„So müsste es funktionieren. Komm her, Katyusha. Mach dich schmal, ja?“

Wortlos drückte sie sich in die Ecke des Waggons. Ivan verrückte einen weiteren der Stapel und war überrascht, wie sehr er außer Atem geriet. Seine Krankheit schien noch lange nicht überwunden zu sein.

„Komm schon, Raivis. Nein, in diese Richtung! Warum...“

„Ich hab die Augen zu.“

„Dann mach sie auf und komm.“

„Ich will nicht.“

„Hör auf, dich so anzustellen.“

Ivan setzte sich neben Yekaterina. Ihre Finger spielten nervös an einer Naht des Getreidesacks vor ihr.

„Mach endlich die Augen auf, Raivis. Es ist so dunkel, du wirst sowieso kaum etwas sehen. Nur Kisten.“

„Ich will aber nicht. Ich lasse die Augen zu.“

„Wir werden eine ganze Weile fahren, Raivis. Auf die Dauer wirst du es sowieso nicht schaffen, die Augen geschlossen zu halten, also bring es besser jetzt hinter dich.“

Eine kurze Stille folgte. Yekaterina hatte die Naht an dem Sack ein Stück weit geöffnet und sah gerade fasziniert zu, wie ein dichter Strahl von Körnern in ihre Hand floss.

„Ich bin in einem Zug“, erklang Raivis' ängstliche Stimme.

„Ja, das bist du.“

„Wir sind da, Raivis. Kein Grund zur Panik.“

„Ich will nicht in einem Zug sein! Ich...“

„Still!“, zischte Ivan, wagte es aber kaum, laut zu sprechen oder sich zu rühren. Schritte kamen auf dem Bahnsteig näher.

„Sind sie hier drin?“

„Ja, genau da.“

Wer war wo drin? Jemand erschien in der Tür, Ivan konnte seinen Schatten auf dem Boden des Waggons sehen. Er hielt es nicht aus, drehte sich um, schlang die Arme um Yekaterina und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Sein Herz raste.

„Ja, da hinten in der Ecke. Sehr gut. Der hier ist fertig.“

Einige Herzschläge lang passierte nichts. Ivan spürte, wie Yekaterina nach seiner Hand tastete und sie drückte. Ein lautes, ungewohntes Geräusch ließ ihn zusammenzucken, bevor er erkannte, dass es die Tür des Waggons gewesen war, die geschlossen worden war. Langsam hob er den Kopf und blinzelte in die Dunkelheit.

„Die Tür ist zu“, flüsterte Raivis aus der hintersten Ecke.

„Ja.“

„Ich will hier raus. Ich mag nicht in Zügen sein, wo die Tür zu ist!“

„Du musst durchhalten, Raivis“, sagte Eduard leise. „Wir sind doch da. Kein Grund zur Sorge.“

Behutsam ließ Ivan Yekaterina los und versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Durch ein winziges, trübes Fenster in der Tür fiel noch ein wenig oranges Licht. Er erkannte die Umrisse der Kisten in der hinteren Ecke, hinter denen sich jemand bewegte.

„Komm raus, Raivis. Ich komme sonst nicht vorbei.“

„Wir fahren nach Sibirien“, sagte Raivis ängstlich.

„Ach was“, versuchte Toris, ihn zu beruhigen. „Sicher nicht.“

„Und wenn doch?“

„Wir fahren in eine völlig andere Richtung, Raivis“, schaltete sich Eduard ein, der aufgestanden war. „Auf dieser Liste stand, die Lieferung geht nach Polen. Und jetzt steh auf, damit wir...“

In diesem Moment gab es einen heftigen Ruck und der Zug setzte sich in Bewegung. Eduard stolperte einen Schritt zur Seite.

„Wir fahren“, sagte Raivis schockiert.

„Ja. Aber wir fahren nicht nach...“

„Ich will nicht in einem Zug sein, der fährt!“

„Es ist nur irgendein Zug, Raivis“, sagte Toris, der beinahe müde klang. „Nur irgendein...“

„Nein, nicht irgendein Zug!“, widersprach Raivis schrill. „Wir haben keine Bänke, und wir haben keine richtigen Fenster und kein Klo, und wir sind zu viele, und wir haben...“

„Wir haben Essen“, unterbrach Yekaterina ihn sanft. „Komm hierher, Raivis. Hast du Hunger?“

„Wir haben kein Essen!“

„Doch, hier. Du brauchst nur herzukommen.“

Ivan sah sich zu Yekaterina um und erkannte im Halbdunkeln, dass sie die Hand voller Körner aus dem geöffneten Sack hatte. Bedächtig schob sie eines nach dem anderen in den Mund und kaute. Es war wenig, dachte Ivan. Aber andererseits lagen hier viele Säcke.

„Wir haben Essen?“, fragte Raivis leise und kam etwas näher. Ivan rückte ein Stück beiseite, damit er sich neben Yekaterina setzen konnte.

„Da, nimm welche. Es sind genug da.“

„Das ist unsere erste Mahlzeit seit...“, begann Toris, stockte dann und überlegte anscheinend, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatten.

„Ja“, sagte Ivan und lächelte. Der Zug rumpelte über die Schienen, aber Raivis sagte nichts mehr. Er saß still neben Yekaterina und ließ sich die Hände mit Körnern füllen.



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