Zum Inhalt der Seite

Noch eine Chance

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Frage nach dem Innersten

„Eduard hat auf mich einen sehr ruhigen Eindruck gemacht.“

„Er ist unauffällig“, bestätigte Ivan und lächelte. „Ich kann nicht über ihn klagen, überhaupt nicht. Er ist ein helles Köpfchen und macht die Buchführung, wenn ich es ihm sage. Ansonsten... mehr als das, was ich ihm sage, tut er nicht.“

An der Miene seines Bosses hinter dem großen Schreibtisch war nicht zu erkennen, was er von dieser Antwort hielt. Er blätterte in einigen Unterlagen, und Ivan fragte sich, ob er sich am vergangenen Tag beim Essen Notizen über das Verhalten von Ivans Familienmitgliedern gemacht hatte. Er hatte nichts dergleichen beobachten können.

„Was die Sprache angeht, hat nur einer von ihnen sich diesen einen Ausrutscher erlaubt...“

„Aber Raivis hat schon große Fortschritte gemacht“, warf Ivan hastig ein. „Er gibt sein Bestes, um sich anzupassen, aber er ist leider nicht der Hellste. Und wenn er die Nerven verliert, vergisst er manchmal sein Russisch. Wir arbeiten noch daran, das zu verhindern.“

Onkelchen nickte langsam. „Das hoffe ich. Abgesehen davon ist auch er ein eher unauffälliger Junge.“

„Er tut immer, was man ihm sagt. Er käme nie auf die Idee, etwas anderes zu tun.“

„Er ist es auch nicht, der mir Sorgen macht.“

„Nein“, sagte Ivan und zögerte kurz. „Darf ich fragen, wer Ihnen stattdessen Sorgen macht?“

Dabei wollte er es gar nicht wissen.

„Toris“, antwortete der Mann, ohne eine Miene zu verziehen. „Definitiv.“

Ivan blinzelte. Er hatte es erwartet, sich aber gleichzeitig einzureden versucht, es sei nicht wahr. „Warum Toris? Ich habe auch über ihn keine Klagen. Er ist...“

„Er bewahrt sich irgendwo hinter seiner unterwürfigen Fassade einen Kern, zu dem du nicht gelangen kannst. Einen dickköpfigen, kritischen Kern, der fähig ist, einen Aufstand vom Zaun zu brechen. Und weißt du, warum du nicht dorthin gelangen kannst, Ivan?“

„Warum nicht?“

„Weil du es gar nicht erst versuchst.“

Ivan rang nach Luft. „Aber ich sorge dafür, dass niemand in meiner Familie auf die Idee kommt, sich von uns zu trennen! Wenn Toris einen solchen Kern hätte, würde ich sofort dafür sorgen, dass er beseitigt wird!“

„Du weißt genau, dass das nicht stimmt“, erwiderte sein Boss ernst. „Das Essen gestern hat genügt, um zu sehen, dass Toris sich dein Vertrauen erschlichen hat. Er macht dich blind für die Gefahr, die von ihm ausgeht.“

„Toris ist keine Gefahr“, sagte Ivan hilflos und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

„Ich weiß, dass du es nicht einsehen möchtest und auch nicht sehen kannst. Es ist nicht deine Schuld, Ivan. Er hat dich mit seiner Freundlichkeit hinters Licht geführt, aber er ist eine Gefahr für dich.“ Sein Boss sah ihn ernst an. „Eine Gefahr, vor der wir dich beschützen müssen. Wir werden Toris so schnell wie möglich aus diesem Haus entfernen.“

Ivan spürte, wie sein Herz zu rasen begann. „Nein. Das können Sie nicht...“

„Es war klar, dass du dagegen sein würdest. Er hat dich um seinen Finger gewickelt.“

„Das hat er nicht! Ich... bitte nehmen Sie mir Toris nicht weg! W-wohin würden Sie ihn bringen?“

„Dorthin, wohin alle feindlichen Objekte ausgesiedelt werden.“

„Toris ist kein feindliches Objekt!“, rief Ivan. „Bitte... geben Sie mir noch eine Chance. Noch eine Chance!“

„Eine Chance wofür?“, fragte sein Boss.

Ivan holte tief Luft. „Ich werde diesen... diesen kritischen Kern, den Toris hat, finden. Und ich werde ihn beseitigen. Das werde ich wirklich! Dann... dann müssen Sie mir Toris nicht wegnehmen, und er kann weiter hier wohnen bleiben. Oder?“

Sein Boss sah ihn einige endlos lange Sekunden lang an. „Drei Tage“, sagte er dann langsam. „In drei Tagen werde ich deinem Haus noch einmal einen Besuch abstatten und überprüfen, wie sich die Dinge bis dahin entwickelt haben. Wenn ich dann nur noch eine Spur von konterrevolutionärem Denken in Toris erkennen kann, werden wir ihn von dir trennen, Ivan. Zu deinem eigenen Schutz.“

„Drei Tage?“, fragte Ivan hoffnungsvoll.

„Gib dein Bestes.“

„Das werde ich!“, sagte Ivan und nickte stürmisch. „Das werde ich wirklich!“
 

Er erwachte, weil es plötzlich hell war. Träge öffnete Ivan die Augen. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, ihr blendendes Licht wurde von dem Schnee reflektiert. Es war so hell, dass er Kopfschmerzen bekam.

„Bist du wach, Vanya?“

Er drehte den Kopf, um Natalia neben sich sitzen zu sehen.

„Ja“, erwiderte Ivan, lächelte und gähnte. Seine Kopfschmerzen wollten nicht mehr verschwinden. Er zuckte zusammen, als er mit der Schulter gegen die Scheibe stieß und seine Wunde wieder zu pochen begann.

„Guten Morgen“, sagte Yekaterina, die auf der Bank gegenüber saß und lächelte.

„Gut, dass du wach bist“, sagte Natalia, die anscheinend nichts von seinem Unwohlsein bemerkte. „Wir wollten nicht weiterfahren, solange du noch schläfst. Toris“, es war fast amüsant, mit welcher Verachtung sie diesen Namen ausspuckte, „wusste nicht, welche Abzweigung er nehmen sollte, also mussten wir warten, bis du es uns sagen kannst.“

„Wir fahren zu Feliks“, sagte Ivan.

„Zu Feliks?“, wiederholte Yekaterina mit großen Augen. „Warum denn das?“

„Zu wem sollten wir sonst fahren? Feliks steht auf unserer Seite, er wird uns aufnehmen.“

Nachdenklich nickte Natalia. Yekaterina schien noch immer ihre Zweifel zu haben.

„Vanya... wir sind immerhin ohne Erlaubnis weggelaufen. Glaubst du nicht, wenn Onkelchen erfährt, dass wir bei ihm sind...“

„Von wem sollte er es erfahren, wenn nicht von Feliks selbst?“, fragte Ivan und lächelte. „Und wenn ich eins von Feliks weiß, dann, dass er ein Dickkopf ist. Wenn wir es schaffen, ihn davon zu überzeugen, uns zu helfen, kann sein Boss sich auf den Kopf stellen und er wird uns nicht verraten.“ Er überlegte kurz. „Feliks mag mich nicht ausstehen können, aber wir haben einige dabei, die er sogar sehr gern mag. Er wird uns helfen.“

„Also gut“, murmelte Yekaterina.

„Ich steige aus und sage Toris, dass wir weiterfahren können“, verkündete Natalia, stand auf und sprang aus dem Wagen.

„Wo sind die anderen?“, fragte Ivan und fürchtete einen Moment lang, sie hätten ihn verlassen und sich allein auf den Weg durch den Schnee gemacht.

„Draußen“, sagte Yekaterina. „Ich denke, sie essen Schnee...“ Sie lachte nervös. „Wir sollten so schnell wie möglich in die nächste Stadt kommen und uns Vorräte zulegen.“

Ivan hörte seinen Magen knurren, doch er schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. „Wir sollten so bald keine Stadt aufsuchen. Sicher werden wir gesucht.“

„Vanya?“, fragte Yekaterina und sah ihn verblüfft an. „Ist dir nicht gut?“

„Es geht sicher gleich wieder“, murmelte Ivan. „Nur Kopfschmerzen.“

Yekaterina stand auf, kam zu ihm hinüber und drückte die Hand auf seine Stirn. Ihre Augen wurden groß. „Ein bisschen warm. Vielleicht bekommst du Fieber.“

„Ach was“, sagte Ivan, obwohl die seltsame Schwere in all seinen Gliedmaßen etwas anderes sagte. „Ich doch nicht. Doch nicht jetzt.“

Sie sah ihn unsicher an.

„Katyusha“, sagte Ivan, um das Thema zu wechseln. „Ich habe etwas Seltsames geträumt.“

„Tatsächlich?“

Er nickte langsam. „Weißt du noch, wie ich dich gefragt habe, wie man zum Kern von jemandem vordringt... zum Innersten, was man hat?“

Sie legte den Kopf schief. „Ich weiß nicht...“, sagte sie unschlüssig.

„Du hast gelächelt und gesagt: Durch Liebe. Und ich habe gesagt, aber wenn es gefährlich ist, dass ich denjenigen liebe, und ich das zerstören will, was in seinem Innersten ist?

Yekaterina kniff leicht die Augen zu. „Ich erinnere mich nicht“, sagte sie ratlos.

„Schade“, murmelte Ivan und lächelte traurig. „Nein... vielleicht ist es auch gar nicht so schade. Es genügt, dass ich mich erinnere...“

„Vanya“, sagte Yekaterina besorgt und griff nach seinem Arm. „Du bist ganz blass. Geht es dir wirklich gut?“

Ihr Gesicht flackerte vor ihm. Ivan rieb sich die Augen, doch es änderte nichts. Sein Kopf pochte.

„Du wirst krank“, sagte Yekaterina und griff nach seiner Schulter. „Leg dich hin. Ich sehe nach, ob wir irgendetwas im Wagen haben, das du als Decke nehmen kannst.“

„Ich bin nicht krank“, murmelte Ivan.

„Es bringt nichts, dir das einzureden, Vanya“, erwiderte sie sanft. „Ruh dich aus, dann ist es sicher bald wieder in Ordnung.“
 

Wie schon am vorherigen Tag stiegen Toris und Eduard vorne ein. Raivis kletterte auf die hintere Bank und betrachtete Ivan unsicher.

„Ist Ihnen nicht gut?“

„Nur ein wenig Unwohlsein, kleiner Raivis. Wie geht es dir?“

„Gut“, antwortete Raivis und zögerte dann.

„Was?“

„Gut... und ausgeschlafen.“

Ivan lächelte. „Das ist schön.“

Yekaterina stampfte draußen den Schnee von ihren Stiefeln, kam herein und drückte Ivan eine zusammengerollte Decke in die Hand. „Die kannst du nehmen.“

„Ich blockiere die ganze Bank“, murmelte Ivan und lächelte entschuldigend.

„Ach was“, sagte Yekaterina, setzte sich ans äußere Ende und legte seinen Kopf in ihren Schoß. „Geht es so?“

„Von mir aus schon...“

„Dann ist es gut.“

Ivan sah zu, wie Natalia als letzte herein kam, die Tür schloss und sich neben Raivis setzte. Ihre Lippen waren schmal.

„Wie geht es dir, Vanya?“

„Es wird bald wieder gehen“, sagte Ivan und versuchte, zu lächeln. „Es wird alles gut.“

Von vorne hörte er, wie Toris unterdrückt fluchte. „Der Tank ist bald leer“, murmelte er Eduard zu. „Wenn wir nicht bald eine Tankstelle finden...“

„Halte an der nächsten, die du siehst, Toris“, sagte Ivan und hustete im nächsten Moment. Raivis zuckte zusammen.

„In Ordnung“, sagte Toris.

„Hoffentlich gibt es hier überhaupt Tankstellen“, murmelte Eduard. „Mitten im Schnee.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück