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Indian Summerrain

(KaRe) Küsse im Monsun
von

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Wie ein Sonnenuntergang in der Sahara

Seine Konzentration war weg. Viel zu heiß war es im Raum. Er bekam kaum noch Luft und seine Haare klebten im Gesicht, genau so, wie das Hemd unter dem Anzugjackett an seiner Haut klebte. Der Ventilator rasselte vor sich hin und blies ihm heiße Luft ins Gesicht. Selbst das Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand, war mit warmem Wasser gefüllt und die Fliege, die unaufhörlich von einer Schulter zur nächsten schwirrte, raubte ihm den letzten Nerv.

Wie zum Teufel konnte es auch passieren, dass die alte, scheppernde Klimaanlage kaputt ging?

Unter anderen Umständen wäre das ja kein Problem gewesen, aber es war Frühsommer und Kai Hiwatari saß in einem Konferenzraum in Indien.

Er hatte sich eigentlich erhofft, dass die Geschäftsreise eine nette Abwechslung zur sonst eher eintönigen Arbeit, die er zu verrichten hatte, doch nun, da er in diesem Raum saß, mit neun anderen Geschäftspartnern, und diesem Inder mit dem alten braunen Anzug zuhören musste, wie er in unverständlichem Englisch versuchte, ihnen etwas zu erklären, bereute er es bitterlich.

Hinzu kam noch, dass er nicht einmal wusste, wie lange er hier sein musste. Er war erst am Abend zuvor angekommen und wäre am liebsten schon da ins nächste Flugzeug gestiegen, das ihn nach Hause brachte. Nur dummerweise hatte er es seinem Chef versprochen, ihn an der Konferenz als einen seiner besten Männer zu vertreten, und was tat man nicht schon alles für eine etwaige Beförderung. Oder sei es nur eine Lohnerhöhung.

Aber dass dann auch noch die Klimaanlage kaputt ging, war zu viel des Guten.

Er konnte es kaum noch erwarten, endlich nach draußen zu kommen und diesem ekelhaft stickigen Raum zu entkommen, in dem es bestimmt noch heißer war als draußen. Jedoch wurde er sogleich eines Besseren belehrt, als er durch die gläserne Eingangstür des Bürogebäudes auf eine Straße Neu-Delhis schritt. Die drückende trockene Hitze und die direkte Einstrahlung der Sonne trieben ihm erbarmungslos den Schweiß auf die Stirn. Beim nächsten Laden, an dem er vorbei ging, kaufte er sich eine Halbliterflasche gekühltes Mineralwasser und kontrollierte, ob der Deckel auch noch original verschlossen war. Die Verkäufer in Indien neigten ja angeblich gerne dazu, gebrauchte Flaschen einfach wieder aufzufüllen und so zu verkaufen. Doch der Verschluss war noch nicht geöffnet worden. Wenigstens etwas Erfreuliches an diesem Tag.
 

Es war ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit, während dem er in der Menschenmenge, die zu beiden Seiten an ihm vorbei strömten, stehen blieb um sich die Flasche an den Mund zu setzen. Ein Junge, nicht älter als zehn, elf Jahre, rempelte ihn beim Vorbeirennen an. Fluchend wischte er sich mit dem Ärmel über Mund und Kinn, wo er das Wasser verschüttet hatte und schaute ihm wütend hinterher.

„Entschuldigung“, rief er in Englisch und grinste ihn schamlos frech an, da traf Kai beinahe der Schlag. Der Junge hielt sein Portemonnaie in der Hand.

„Du! Bleib stehen!“, brüllte er und lief ihm sofort hinterher. So gut es eben ging wich er den Leuten aus, zwischen denen sich der Taschendieb flink hindurchschlängelte. Die Aktentasche war mehr als hinderlich bei dieser Hetzjagd, doch er hatte es seiner durchaus guten Kondition zu verdanken, dass er dem Dieb trotz der Hitze einigermaßen folgen konnte, der gerade in einer Nebenstraße verschwand.

Außer sich vor Zorn bog er um die Ecke in die im Gegensatz zur Hauptstraße beinahe Menschenleere Straße und sah, wie ein junger Mann von der Seite eiligst auf den Dieb zu rannte und ihn fast schon grob am Arm packte und herumriss. Wütend stapfte er auf sie zu. Er konnte sehen, dass der Junge ihm immer wieder eingeschüchterte Blicke zu warf, die ängstlicher wurden, je näher er kam. Als er außer Atem bei den beiden ankam, hörte er gerade noch die letzten Worte seiner wohlverdienten Predigt.

„Ist das Ihre Brieftasche?“, fragte der junge Mann und lächelte ihn an, in der einen Hand Kais Portemonnaie, die andere Hand noch immer den dünnen Arm des kindlichen Taschendiebs fest umschließend.

Kai nickte und streckte die Hand aus.

„Entschuldige dich bei ihm“, sagte der Retter seiner Geldbörse in harschem Ton zum Jungen.

Trotzig blickte er zu Boden und murmelte irgendetwas Unverständliches und Kai fragte sich, ob es eine Angewohnheit der Inder war, unverständlich zu sprechen.

„Noch einmal, und du kannst was erleben!“, fauchte Kai und steckte sich sein Portemonnaie zurück in die Tasche. Der junge Mann ließ los und sogleich suchte das Kind das Weite. Kopfschüttelnd schaute er ihm hinterher.

„Sie müssen besser aufpassen“, hörte er plötzlich tadelnde Worte, die eindeutig ihm galten. Überrascht blickte er den fremden jungen Mann an, der vor ihm stand, beide Arme in die Hüfte gestemmt.

Es war das erste Mal, dass Kai ihn überhaupt richtig ansah. Vorhin war er zu konzentriert auf den Taschendieb gewesen, der gerade mit seinem halben Leben davon lief, als dass er dessen Erscheinungsbild bemerkt hätte. Doch nun, da er ihn zwangsläufig ansehen musste, stieg in ihm die Hitze auf und er war sich sicher, dass das nicht an der vorherrschenden Temperatur lag.

Der junge Mann war eindeutig kein Inder. Asiatisch, ja, aber schon an dem Englisch, das er sprach, konnte er erkennen, dass er kein Inder war. Außerdem war seine Haut viel zu hell, immer noch dunkler als seine, aber wie flüssige Bronze. Die Haare waren schwarz wie Kohle und unglaublich lang, in einen losen Zopf gebunden und schimmerten seiden. Das Gesicht hatte klare Züge, eine absolut gerade Nase, hohe Wangenknochen und einen verboten sinnlichen Mund. Und die Augen, die ihn tadelnd musterten, funkelten ihn honiggelb an. Er war wie ein Sonnenuntergang in der Sahara.

Unfähig, in diesem Moment auch nur ein Wort zu sagen, hob er die Wasserflasche zum Mund, um sich die ausgetrocknete Kehle zu benetzen. Doch sie war leer. Er hatte vergessen, sie zu schließen und während der Hetzjagd musste er alles verschüttet haben.

Ein amüsiertes Lachen drang an seine Ohren.

„Was ist so lustig?“, fragte er kühl.

„Heute ist wohl nicht Ihr Tag“, stellte der Fremde fest und zuckte mit den Schultern.

„Nein“, erwiderte Kai knapp und schleuderte die leere Plastikflasche in den nächsten Abfalleimer.

„Kommen Sie, ich werde Ihnen ein neues Wasser besorgen.“
 

Kai war mitgegangen. Wortlos hatte er sich eine Wasserflasche in die Hand drücken lassen, die er nun gierig bis zur Hälfte leerte. Das Jackett hatte er mittlerweile ausgezogen, wozu er vorher schlicht nicht gekommen war.

„Danke“, brummte er vor sich hin und bemühte sich nicht wirklich, dass der andere ihn hörte.

„Gern geschehen“, erwiderte dieser jedoch und lächelte. Kai bemerkte, wie ihm dabei erneut die Hitze in die Wangen stieg und wandte sich schnellstens wieder der Flasche zu.

„Sind Sie geschäftlich hier in Delhi?“, fragte der Asiat und musterte neugierig seinen Anzug und die Krawatte, die nun lose um den Kragen des Hemdes fiel, dessen oberste Knöpfe er vor wenigen Minuten geöffnet hatte.

„Hn“, brummte Kai und trank noch einen Schluck.

„Sie sind wohl nicht gerade sehr gesprächig“, bemerkte der andere mit einem amüsierten Lächeln.

„Nein“, bestätigte Kai, worauf er seufzte.

„Na gut, entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, ich werde Sie dann nicht mehr weiter belästigen.“

Kais Blick verdüsterte sich unmerklich. Eigentlich hatte er die Gegenwart einer angenehmen Person hier in Indien etwas vermisst. Nicht, dass er sich jemals nach Gesellschaft sehnen würde, aber hier in Indien waren die Menschen seiner Meinung nach einfach nur unerträglich. Schon dass sie ihn anstarrten, als wäre er ein Außerirdischer, was wahrscheinlich an seinem europäischen Aussehen lag, mochte er überhaupt nicht. Er schluckte. Kein Wort wollte über seine Lippen, stattdessen spürte er sich nicken und der andere war mit einem Lächeln und einem kleinen ‚see ya’, verschwunden.

Seufzend warf er sich sein Jackett über die Schultern und machte sich auf die Suche nach einer Rikscha, die ihn zu seinem Hotel bringen würde, da er weder wusste, wo sich dieses Hotel von hier aus befand, geschweige denn, wo er selbst war.
 

Zwei Tage vergingen, während denen Kai beinahe stündlich hoffte, dass die täglichen Konferenzen endlich Resultate zeigten. Doch auch an diesem Abend musste er feststellen, dass sie davon noch meilenweit entfernt waren. Nicht einmal die Klimaanlage hatten sie geschafft zu reparieren. Er fühlte sich immer noch nicht wohl hier und mit den Menschen konnte er auch noch immer nichts anfangen. Überlegend, wo und was er zu Abend essen wollte, stellte er sich in die Reihe vor einem kleinen Kaffeestand.

„Wie, dann sind Sie hier in Indien und trinken Kaffee?“, sagte eine Stimme plötzlich neben ihm. Kai wandte den Kopf zur Seite und erkannte den jungen Mann, der ihm vor ein paar Tagen geholfen hatte, seine Brieftasche zurück zu erobern.

„Sagen Sie, verfolgen Sie mich etwa?“, fragte Kai übertrieben genervt, worauf der Asiate lachte.

„Keineswegs, ich habe lediglich einige Einkäufe gemacht und Sie dann beim nachhause Gehen hier anstehen sehen“, erwiderte er und hob zwei Tüten in die Höhe, um seine Worte zu unterstreichen. „Und sich hier in Delhi zweimal über den Weg zu laufen grenzt an eine Seltenheit“, fügte er noch hinzu.

Kais rechter Mundwinkel zuckte. In der Tat hatte er nicht damit gerechnet, ihm noch einmal durch Zufall zu begegnen.

„Und da dachten Sie, Sie müssten mich eines Besseren belehren?“, hackte Kai nach und nahm seinen ersehnten Kaffee entgegen.

„Nein, ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte sagen sollen“, sagte der Asiate wahrheitsgemäß und lächelte etwas verlegen. Kai fragte sich, ob dieser Typ immer so gut gelaunt war und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er sah noch immer so gut aus wie bei ihrer ersten Begegnung und das weiße Leinenhemd ließ ihn strahlen.

„Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fragte er plötzlich und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Hiwatari Kai“, antwortete Kai knapp.

„Rei“, erwiderte der Asiate erfreut. „Nun denn, Kai, möchten Sie bei mir zu Abend essen?“

Kai hätte sich beinahe an seinem Kaffee verschluckt, damit hätte er als Letztes gerechnet.

„Wieso?“, fragte er deshalb.

„Ich dachte mir, vielleicht könnten Sie etwas Gesellschaft vertragen. Sie scheinen sich ja hier nicht gerade wie zu Hause zu fühlen. Außerdem bin ich sowieso alleine und ich habe viel zu viel eingekauft und die Gastfreundschaft in diesem Land drängt sich einem regelrecht auf, also haben Sie eigentlich keine andere Wahl, als mit mir zu kommen“, erklärte Rei amüsiert. „Keine Angst, ich habe kein Indisch eingeplant“, ergänzte er noch auf Kais skeptischen Blick hin bezüglich des Inhalts seiner Tüten.

„Naja“, zögerte Kai und rieb sich seinen Nacken. „Warum eigentlich nicht“, gab er dann nach.

„Schön“, lachte Rei und deutete ihm dann, ihm zu folgen.
 

Kai staunte nicht schlecht, als er die Wohnung betrat. Sie war zwar indisch eingerichtet, doch groß und hell und in angenehm warmen Farben gehalten. Dunkles Holz dominierte die Einrichtung und er konnte sich gut vorstellen, dass auch er sich hier durchaus wohl fühlen würde.

„Machen Sie es sich ruhig gemütlich, ich bringe Ihnen einen guten, indischen Tee“, meinte Rei augenzwinkernd und zeigte auf einen nicht mal kniehohen Tisch, um den herum farbige, bestickte Seidenkissen aufgestapelt lagen. Kai hängte sein Jackett an einen Hacken neben der Tür und setzte sich auf ein dunkelrotes.

„Eine schöne Wohnung“, bemerkte Kai, laut genug, dass Rei es in der angrenzenden Küche hören konnte.

„Ja, nicht wahr? Sie gehört einem guten Freund von mir und da er gerade mit seiner Freundin auf Reisen ist, hat er mir angeboten hier Ferien zu machen, diese Gelegenheit musste ich natürlich ergreifen“, erklärte Rei in schwärmerischem Ton.

„Mir ist schon aufgefallen, dass Sie kein Inder sind. Dann leben Sie normalerweise nicht hier?“, hackte Kai nach, er war nun doch neugierig geworden, außerdem wusste der andere den Grund seines Aufenthalts, was er sehr einseitig fand.

„Nein, ich bin zwar in China aufgewachsen“, erzählte er, während er auf einem Tablett ein Krug mit heißem Wasser, zwei Tassen und einer kleinen Schale Knabbereien zum Tisch balancierte, „aber ich lebe nun seit ein paar Jahren in Japan“, ergänzte Rei, wurde dann aber abrupt von Kai unterbrochen.

„In Japan? Dann sprechen Sie japanisch?“, fragte Kai überrascht in ebendieser Sprache, die ihm doch einfacher fiel als Englisch, da er sie viel häufiger verwendete. Rei schaute ihn mit großen Augen an und vergaß vollkommen, dass er das Tablett abstellen wollte.

„Natürlich“, wechselte auch er überrascht in diese Sprache, „aber wie kommt es, dass Sie japanisch sprechen?“

Kai räusperte sich, worauf Rei offensichtlich wieder in den Sinn kam, seine geplante Handlung auszuführen.

„Ich lebe und arbeite seit einigen Jahren in Tokyo, außerdem war meine Mutter Japanerin.“

„Oh, das tut mir leid“, flüsterte Rei, während er Kai Tee eingoss. Ein kleines Sieb verhinderte, dass die Teeblätter in die Tasse gespült wurden. Fragend blickte Kai ihn an.

„Ihre Mutter“, gab Rei den Hinweis.

„Ach, ich habe sie nicht wirklich gekannt, ich bin bei meinem Großvater in Russland aufgewachsen“, tat er mit einem Schulterzucken ab und lockerte die Krawatte, um die drei obersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Schließlich war er nicht mehr geschäftlich unterwegs. Er hätte schwören können, dass Rei ihn dabei beobachtet und unmerklich geschluckt hatte. Doch vielleicht stieg ihm auch einfach nur die Hitze zu Kopf. Er bedankte sich und führte die Tasse zum Mund.

„Achtung heiß!“, warnte Rei ihn gerade noch rechtzeitig und Kai senkte die Tasse wieder, bevor er sich die Lippen verbrennen konnte. Er war einfach gerade wo anders gewesen mit den Gedanken.

„Darf ich fragen, was für eine Nationalität denn Ihr Vater hat? Ist er Europäer?“, fragte Rei neugierig nach, da er sich das westliche Aussehens seines Gastes ansonsten einfach nicht erklären konnte.

„Er war Russe“, erwiderte Kai und Rei ließ den Kopf hängen, da er offensichtlich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten war.

„Oh...“, verließ seine Lippen, doch Kai winkte erneut ab, bevor er irgendetwas sagen konnte. Bedrückt pustete er in seinen Tee und starrte ins Leere. Kai gefiel diese Atmosphäre nicht und er hatte irgendwie das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

„Und was hat Sie nach Japan geführt?“, fragte er deshalb.

„Mein Studium, ich bin im letzten Jahr meines Medizinstudiums“, erklärte Rei und lächelte ihn an. Auch Kai verzog den Mund, da es ihm anscheinend gelungen war, die trübe Stimmung zu vertreiben.
 

Sie redeten viel. Kai war überrascht von sich selbst, wie viel er eigentlich reden konnte. Und doch war es hauptsächlich Rei, der während dem Kochen vor sich hin plapperte. Er stand mit dem Rücken zu Kai gewandt und bemerkte somit nicht, wie dieser seinen Blick über ihn gleiten ließ.

Er genoss diesen Anblick. Unter den etwas weiter geschnittenen Leinenkleidern vermutete er einen wunderbar geformten Körper. Schon als er hinter ihm die Treppe hochgestiegen war, konnte er seinen Blick nicht vom Hintern des Chinesen losreißen, um den sich bei jeder Stufe der Stoff spannte. Das musste er auch wieder feststellen, als Rei sich bückte, um etwas aus dem Kühlschrank zu holen. Er hatte schließlich schon lange keinen Sex mehr gehabt. Nur mit Mühe konnte er seinen Blick doch noch losreißen, als Rei ihn plötzlich etwas fragte.

„Wie bitte?“

„Sie mögen doch Chinesisch?“, fragte Rei erneut und schaute ihn abwartend an.

Kai nickte.

„Wenn das Gemüse so knackig ist, wie ich denke, dann ja“, erwiderte Kai in einem etwas zweideutigen Ton, was Rei mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte.

„Das werden Sie bestimmt bald erfahren“, bemerkte er mit einem kecken Grinsen.

Kai glaubte, seinen Ohren nicht recht trauen zu können und bevor er noch etwas Überstürztes tat, wechselte er lieber schnell das Thema.

„Wollen wir uns nicht einfach duzen, Rei? Ich bin schließlich bestimmt nicht viel älter als Sie.“

„Klar, da bin ich einverstanden. Wieso, wie alt bist du denn?“, fragte er auch gleich nach und blickte ihn herausfordernd an.

„Fünfundzwanzig“, antwortete Kai wahrheitsgemäß und blickte seinerseits auffordernd zurück.

„Du hast recht, du bist wirklich nicht viel älter“, lächelte er jedoch lediglich und wandte sich wieder dem Gemüseschneiden zu. „Aber jetzt erzähl mal, wie kommt es, dass man in deinem Alter schon eine Geschäftsreise nach Indien machen kann?“

„Nun, ich habe einen Masterabschluss in Projektmanagement und schon während des Studiums in dieser Firma gearbeitet. Der Chef hat großes Vertrauen in mich. Aber ich glaube, er wollte einfach nicht selber gehen, weil er seine Familie nicht für unbekannte Zeit alleine lassen wollte.“

„Aha... Dann musst du aber auch ziemlich gut sein, in dem was du tust. Aber was soll das heißen, für unbekannte Zeit?“, fragte Rei nach.

„Das heißt, ich muss so lange hier bleiben, bis sich etwas ergeben hat.“

Kai zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig.

„Aber“, fing Rei zögernd an, „gibt es denn niemanden, der auf dich wartet?“

Es klang beinahe schon mitleidig. Kai schüttelte den Kopf.

„Nein“, meinte er lässig und mit einem schiefen Grinsen. Reis Augenbrauen zuckten in die Höhe, dann warf er sämtliches Gemüse in einen großen Wok.
 

„Tja, auf mich auch nicht“, sagte Rei unerwartet nach langem Schweigen, als er Kai einen Teller vor die Nase setzte und Kai fragte sich, warum er ihm das noch gesagt hatte.

Er hatte genügend Zeit darüber nachzudenken, denn die Themen, über die sie während dem Essen sprachen, waren eher belanglos.

„Das Essen war wirklich ausgezeichnet!“, bemerkte Kai, als er den Teller geleert hatte und ihn nun etwas von sich schob.

„Danke! Es hat noch, möchtest du vielleicht einen Nachschlag haben?“, fragte Rei sofort, worauf Kai nickte. Lächelnd erhob sich Rei und Kai folgte ihm in die Küche.

„Warst du schon mal in China?“, fragte Rei, während er Kais Teller wieder auffüllte.

„Nein“, erwiderte er schlicht.

„China ist ein aufregendes Land“, lächelte Rei.

Kais Atem stockte. Aufregend war genau das richtige Wort. Alles an Rei war aufregend. Sein Gesicht, sein Körper, seine Stimme, sogar die Art, wie er sich bewegte.

Erst als er dessen fragende Stimme vernahm, bemerkte er, dass er, während er dies dachte, automatisch die Hand gehoben und mit den Fingerspitzen Reis Wange berührt hatte. Seine Haut war so weich.

„Alles in Ordnung?“, fragte Rei erneut und die hellen Augen sahen ihn besorgt an.

„Entschuldige“, krächzte Kai und ließ die Hand schnell wieder sinken, doch Rei schüttelte nur den Kopf.

„Nein, ist schon gut.“

Reis Lippen bebten. Kai war ihm so nah, dass er nur einen kleinen Schritt hätte machen müssen, um ihn küssen zu können. Doch das gehörte sich nicht, rief er sich streng immer wieder in den Kopf und starrte ihn stattdessen weiterhin mit großen Augen an. Kai starrte zurück. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte.

Erst Rei riss den intensiven Blickkontakt ab, als er bemerkte, dass er beinahe den Teller, den er immer noch in der Hand hielt, fallen gelassen hätte. Er räusperte sich und streckte ihn Kai entgegen, um sich dann peinlich berührt wieder abzuwenden.

Kai flüchtete aus der Küche. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass er die Kontrolle verlor. Er wusste nicht, wie so etwas passieren konnte, noch nie zuvor war er in solch einer Situation gewesen, dass er einen beinahe unüberwindlichen Drang verspürte, jemanden küssen oder umarmen zu wollen. Kai fasste sich an den Kopf. Er musste ganz dringend seine Gedanken ordnen.

Auch in der Küche rang Rei mit sich selbst. Am liebsten hätte er nachgegeben. Dieser Kerl war so unverschämt attraktiv und alleine schon dessen Blicke auf sich zu spüren, verpasste ihm eine Gänsehaut. Seufzend stieß er sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte. Einen Gast durfte man schließlich nicht warten lassen.
 

Sie schafften es, die Stimmung nicht komplett über den Haufen zu werfen, indem sie sich gegenübersitzend über den Tisch über weitere belanglose Themen unterhielten. Als Kai schließlich ging, war es noch nicht sehr spät abends, doch immerhin spät genug, dass die Sonne bereits untergegangen war. Er war gerade zur Tür raus, da wurde diese wieder aufgerissen.

„Kai!“, sagte Rei laut und lief ihm die wenigen Treppenstufen hinterher, die er bereits zurückgelegt hatte. Kai blieb stehen und blickte abwartend hoch.

„Du hast am Samstag doch bestimmt frei, nicht?“, fragte Rei nach kurzem Zögern, als er die Treppenstufe über ihm erreicht hatte. Kai nickte. „Möchtest du nicht vielleicht etwas mit mir unternehmen?“

Kais Augen weiteten sich ein wenig ob dieser unerwarteten Frage. Während er überlegte, ob er samstags wohl tatsächlich nicht arbeiten müsste, nickte er langsam. Reis Gesicht erhellte sich sofort mit einem Lächeln.

„Schön, ist dir acht Uhr recht?“, fragte er.

„Abends?“, hackte Kai nach, worauf Rei lachend den Kopf schüttelte.

„Natürlich morgens!“

„Einverstanden“, sagte Kai und auch auf seinem Mund bildete sich ein kleines vorfreudiges Lächeln.

„Wunderbar, ich freue mich. Ach und Kai“, meinte er noch, nachdem er sich schon wieder zur Tür gewandt hatte und drehte sich nochmal zu ihm um, „zieh dir doch etwas Bequemes an, ja? Ich habe nämlich vor, dir die schönen Seiten Indiens mal ein wenig näher zu bringen.“

Kai musste schlucken. Reis Augen hatten einen unheimlich verführerischen Glanz angenommen und seine Stimme klang ein wenig heiser, was ihm einen heißkalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Doch bevor er irgendwas erwidern konnte, hatte Rei die Tür hinter sich bereits wieder geschlossen und sein Mund schnappte automatisch wieder zu. Achselzuckend und tief einatmend stieg er die Treppe hinunter auf die immer noch rege bevölkerte Straße, um nach dem Schild zu suchen, das ihm den Straßennamen verraten würde.

Erst in drei Tagen würde er ihn wieder sehen.

Küsse im Monsun

Als Kai an besagtem Samstag kurz vor acht Uhr in der Früh im Türrahmen Rei gegenüber stand, wurde er gleich getadelt, bevor er ihn überhaupt grüßen konnte.

„Kai, das darf doch nicht dein Ernst sein!“, maulte Rei und warf verärgerte Blicke auf Kais Jeans. Gleichzeitig zog er ihn am Arm in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihm.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, fragte er und zog ihn weiter hinter sich her in einen Raum, den er noch nicht gesehen hatte und sich als das ebenfalls in warmen Tönen gehaltene Schlafzimmer herausstellte. „In Jeans hast du doch viel zu heiß! Naja, wir werden schon was Passendes finden. Setz dich“, plapperte er weiter und drückte Kai auf das große Bett, um sich dann selber vor den dunklen Schrank zu stellen und darin nach etwas Bestimmen zu wühlen.

„Hier, das sollte passen“, sagte er nach wenigen Minuten und warf Kai einen Stapel Kleider zu, „zieh dich um, ich warte draußen.“

Das blaubeige Stoffknäuel entpuppte sich als eine lange beige Hose und ein tiefblaues Shirt, beides in demselben luftigen Schnitt wie Reis Klamotten und aus ebenfalls dem gleichen feinen Stoff. Als er fertig angezogen aus dem Zimmer kam, stand er einem lächelnden Rei gegenüber. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah.

„Viel besser“, nickte er und nahm Kai dessen eigene Kleider aus den Armen, um sie auf eine Kommode zu legen. „Nun komm, Dehli wartet auf uns!“

Lachend ging er ihm voraus und Kai konnte nicht verhindern, dass sich auch sein Mund zu einem Lächeln verzog. Kopfschüttelnd folgte er dem vorauseilenden Chinesen.
 

Rei führte ihn durch halb Neu-Dehli der großen, breiten, geraden Straße entlang. Doch kaum waren sie zweimal abgebogen, waren es nicht mehr Autos, die an ihnen vorbeifuhren, sondern sie fanden sich mitten in einem Getümmel von Fußgängern, Fahrrädern und kleinen lärmenden Motorrädern wieder, die alle kreuz und quer umherirrten und mehrere Beinahe-Unfälle bauten. Kai sah sich plötzlich einer Rikscha gegenüber, die sich durch die Masse quetschte, und musste schnell einen großen Schritt zur Seite machen, wobei er Rei anrempelte. Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte Kai ihn schockiert an. Doch dieser musste sich bemühen, sich ein Lachen zu verkneifen und biss sich auf die Unterlippe.

„Kulturschock lässt grüßen“, scherzte er und tätschelte Kais Schulter. „Weißt du, bist jetzt hast du nur Neu-Delhi gesehen, mit seinen großzügigen und breiten Straßen und dem vielen Grün, und Connaught Place, das Geschäftsviertel. Beide Quartiere haben viel Geld im Vergleich zum Rest der Stadt. Das hier ist Old Delhi, die Altstadt und hier leben deutlich mehr Menschen, wie dir vielleicht aufgefallen ist“, erklärte Rei und schlängelte sich mit Kai im Schlepptau durch die Menschenmenge. „Aber keine Angst, wir bleiben nicht lange hier“, lachte er, als er Kais Gesichtsausdruck sah, der Bände sprach. „Hoffen wir einfach, dass die Feuerwerksfabrik nicht gerade jetzt explodiert“, hängte er an und schaute gespielt besorgt.

Schockiert schaute Kai ihn an.

„Hier gibt es eine Feuerwerksfabrik?“

„Ja, und zwar genau neben einer der wertvollsten Moscheen von ganz Delhi. Oder war’s Indien?“

Darüber spekulierend, was es denn nun war, lief Rei unbeirrt weiter. Kai stöhnte auf und fasste sich an den Kopf. Das konnte ja noch heiter werden.

Die Läden des immens großen Bazars waren alle noch geschlossen, was daran lag, dass noch Morgen war. Kai mochte sich nicht vorstellten, wie es hier auszuhalten war, wären die engen Straßen und Gassen noch vollgestopfter als ohnehin schon.

„Rei, was genau tun wir hier?“, fragte er schließlich, da es ihm nicht ganz wohl hier war.

„Wir holen Fahrräder, ist gleich um die Ecke“, antwortete Rei und zeigte nach vorne.
 

Besagte Fahrräder konnte man kaum so nennen. Drahtesel war die deutlich geeignetere Bezeichnung für das, worauf Kai gerade saß. Das ganze Gestell wackelte und war verrostet. Er betete zum Himmel, dass wenigstens die Bremse funktionierte, als er Rei hinterherfuhr.

Dieser führte ihn zurück auf die großen Straßen von Neu-Delhi. Gemütlich trudelten sie in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren und nun, da Kai gerade in Old Delhi gewesen war, sah er Neu-Delhi aus ganz anderen Augen. Es war großzügig und regelrecht sauber, die Gebäude waren modern und das Viertel fortgeschritten. Er trat kräftiger in die Pedale, um Rei einzuholen.

„Oh, hallo!“, meinte dieser überrascht und lächelte. „Hast du dich etwas vom Schock erholt?“, stichelte er, worauf Kai nickte.

„Ich glaube, ich war etwas zu verkrampft darauf versessen, dass ich Delhi hasse“, gestand er und genoss das lauwarme Lüftchen, das ihm ins Gesicht wehte.

„Du lässt dich aber ganz schön schnell überzeugen“, lachte Rei.

„Kommt darauf an, wer mich überzeugen will“, erwiderte Kai jedoch mit einem Schulterzucken.

Rei lächelte. Es freute ihn ungemein, was Kai gerade gesagt hatte.

„Wart nur ab, was ich dir noch alles zeige!“, sagte Rei und trat in die Pedale.

„Ich bin gespannt!“, erwiderte Kai und stieg in das kleine Wettrennen mit ein, das erst endete, als sie vor den Toren eines riesigen Parks hielten.

„Hier war ich am Montag“, fing Rei an zu erzählen, während er die Fahrräder abschloss, „und ich war gerade auf dem Heimweg, als ich diesen Jungen mit deinem Geldbeutel vor dir wegrennen sah. Ein Glück, dass ich gerade da war!“

Kai nickte. In der Tat war das ein riesiges Glück gewesen, nicht nur, weil er sein Portemonnaie wieder hatte, sondern weil er, wie sich herausstellte, einen wunderbaren, bezaubernden, attraktiven jungen Mann kennengelernt hatte.

„Du willst doch nicht behaupten, dass ich ohne dich verloren gewesen wäre?“, piesackte Kai und blickte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an, versuchte seine Gedanken abzuschütteln.

„Natürlich nicht, Kai Hiwatari ist doch nicht auf die Hilfe eines Anderen angewiesen!“, scherzte Rei laut lachend und hatte damit genau Kais Persönlichkeit getroffen, ohne es überhaupt bemerkt zu haben. Kai stimmte in das Lachen mit einem Schmunzeln ein und es war ihm egal, dass er eigentlich gerade über sich selbst lache, er fühlte sich einfach nur gut.

„Schau“, sagte Rei plötzlich und zeigte mit einer ausladenden Bewegung über den Park, der sich vor ihnen erstreckte. Überall, wo Kai hinsah, waren bunte Blumenbeete und exotische Bäume. Strahlend streckten sie sich der Morgensonne entgegen, als wollte jede einzelne Blüte der Welt beweisen, dass sie die Schönste war.

„Blumen?“, hackte Kai nach.

„Mhm, das ist der Rosengarten. Er ist nicht so bekannt und auch nicht so prunkvoll wie der in Chandigarh, aber auch der hier ist schlicht bezaubernd“, schwärmte Rei und sein Gesicht nahm einen Ausdruck tiefster Zufriedenheit an.

Kai sog die Luft ein und meinte den süßlichen Duft, den die Blumen ausströmten, riechen zu können. Es war das totale Gegenteil zu Old Delhi. Hier waren kaum Menschen und der Lärm und das ständige Dröhnen des Verkehrs waren wie ausgeschlossen. Kai hätte sich im Traum nicht gedacht, dass sich hier so etwas finden lassen würde, im Zentrum einer der dreckigsten Städte, die er jemals bereist hatte. Dieser Ort wirkte unglaublich beruhigend und er konnte nur zu gut verstehen, warum Rei öfters hierher kam.

Immer tiefer hinein führte sie ihr Weg und plötzlich stach Kai etwas ins Auge, was ihn mehr als nur irritierte. Den Blick nicht davon abwendend, rammte er Rei den Ellbogen in den Arm, der aus seinen Gedankengängen aufschreckte und verwirrt in die Richtung schaute, in die Kai zeigte. Zuerst konnte er nichts Auffälliges entdecken, doch als er Kais fragenden Blick sah, fiel es auch ihm auf. Zwei Männer, die nebeneinander spazierten und Händchen hielten.

„Achso“, murmelte Rei. Kai hatte offensichtlich das Gefühl, dass in einem solch religiösen Land wie Indien Homosexualität verpönt war, was ja auch stimmte, und klärte ihn über seinen Irrtum auf. „Die sind nicht schwul. Hier ist das ganz normal zwischen zwei Männern, die sich nahe stehen, etwa gute Freunde, Brüder oder gar Schwiegerbrüder. Siehst du die Frau, die etwa zehn Meter hinter ihnen herläuft? Das ist die Frau von einem der beiden.“

Verständnislos blickte Kai ihn an.

„Inder sind manchmal schwer zu verstehen“, meinte Rei nickend, doch Kai war bereits ein anderer Gedanke gekommen. Ohne Vorwarnung packte er Reis rechte Hand mit seiner Linken und hielt sie fest.

„Dann wäre es in Ordnung, wenn wir auch Händchen halten würden?“, fragte er und blickte Rei in die geweiteten Augen. Ihm stieg die Röte in die Wangen und mit aller Kraft versuchte er, sie zu unterdrücken. Sein Mundwinkel zuckte nach oben.

„Naja, Inder sind nicht ganz weltfremd. Sie wissen schon, dass wir da anders denken“, sagte er etwas zögernd, weil er es eigentlich total angenehm fand und nichts dagegen hätte. Doch er vermutete, dass Kai da nicht ganz gleicher Meinung war und löste deshalb sachte seine Hand aus Kais, jedoch nicht, ohne ihm ein kleines Lächeln zu schenken.
 

Der Vormittag verging wie im Flug und ehe Kai sich versah, war es bereits Mittag. Er war froh, dass Rei ihm andere Kleidung angedreht hatte, denn die Hitze drückte schon wieder erbarmungslos auf sie nieder. Die Sonne verschwand zwar hie und wieder hinter einer Wolke, die sich im Verlauf des Vormittags gebildet hatte und es war auch nicht so trocken, doch in den Jeans wäre es ihm mit Sicherheit über kurz oder lang zu erdrückend geworden.

Er hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt, auch wenn er sich etwas damit zurückhielt, es offen zu zeigen. Nachdem sie durch den Rosengarten spaziert waren, fuhren sie mit dem Fahrrad weiter, ein wenig aus dem Zentrum hinaus, wo sich Kai einem Elefantengehege gegenüber stehend wiederfand. Alles andere als begeistert ließ er sich von Rei überreden, mit ihm auf einem der Elefanten zu reiten. Sein Widerstand brach schneller ein, als er es gewohnt war, doch Reis Blick, der immer wieder erwartungsvoll zwischen ihm und den gutmütigen Riesen hin und her schweifte, schaffte es im Nu, seine Zurückhaltung in Wagemut zu verwandeln und kurze Zeit darauf saß er zusammen mit einem überglücklichen Rei auf einem der heiligen Tiere.

Zugegeben, er fühlte sich wie ein Prinz, hoch auf dem gemütlich hin und er schwingenden Rücken des Tieres, die ganze Welt ihm zu Füßen liegend. Von hier oben sah gleich alles ganz anders aus und er konnte ohne Hast die Landschaft um sie erkunden. Doch er war zu fasziniert und abgelenkt von Rei, der hinter ihm quer auf der Trage lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine über die Stütze baumeln lassend, die Augen geschlossen und ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht. Immer wieder ertappte sich Kai, wie es ihm schwer fiel, seinen Blick von ihm loszureißen und viel zu schnell war die immerhin fast einstündige Tour vorbei.

Zufrieden schaute er zu, wie Rei den Elefanten zum Dank mit Karotten fütterte, der es ihm dankte, indem er seinen langen Rüssel um dessen Taille schlang und ihn hoch hob. Rei konnte sich kaum mehr halten vor Lachen und auch Kai konnte es sich nicht mehr verkneifen. Zu köstlich war dieses Bild.

Rei verabschiedete sich von der, wie sich herausstellte, Elefantendame, mit einem Handkuss, was deren Herz bestimmt zum Schmelzen brachte, da war sich Kai sicher.
 

Nachdem sie ganz in der Nähe ausgiebig zu Mittag gegessen hatten, radelten sie gemütlich zurück zum menschenüberfluteten Hauptbahnhof von Neu-Delhi, wo Rei Kai in einen Zug bugsierte.

„Wo geht’s denn hin?“, fragte Kai neugierig, doch Rei schüttelte den Kopf.

„Sag ich dir nicht, lass dich überraschen. Du hast zwei Stunden Zeit, dich darauf vorzubereiten“, meinte er verschmitzt und machte es sich auf den eklig mit Plastik überzogenen Sitzen gemütlich, über die er ein riesiges traditionelles indisches Tuch ausgebreitet hatte. Auch Kai hatte eines bekommen und während er aus dem Fenster schaute und die vorüberziehende Landschaft betrachtete, vergaß er auch die Tatsache, dass die Plastikbezüge wohl ein Paradies für Bakterien und Keime waren.

Zwei Stunden lang starrte Kai nach draußen, dann hielt der Zug endlich im Bahnhof. Rei beeilte sich um hinaus zu kommen und winkte einem Rikscha-Fahrer, der sie zu ihrem Ziel bringen würde und nach zwanzig weiteren Minuten waren sie endlich da und Kais Augen wurden zu Reis Freude groß und bewundernd.

Er konnte fast nicht glauben, was er da sah. Vollkommen und symmetrisch lag vor seinen Füssen hinter einem kleinen Park der Taj Mahal in seiner vollen Pracht. Der elfenbeinig marmorne Palast strahlte eine erhabene Macht aus, die ihm eine Gänsehaut bescherte. Andächtig schritt er die Treppe in den Park hinunter und ignorierte den Inder, der ihm ein Erinnerungsfoto für übertriebene fünfhundert Rupien andrehen wollte. Seine Aufmerksamkeit galt nur noch dem strahlenden Marmorgebäude, das sich in seiner Perfektion vor ihm erhob.

Rei lächelte und folgte ihm auf leisen Sohlen. Es war ein Ort des Ruhens und Gedenkens. Selbst die Touristen, die wild herumknipsten, waren still. Und trotz der Tatsache, dass der Taj Mahal ein beliebter Ort für Touristen war, hatte es viel mehr gläubige Inder als Touristen. Rei fasste Kai am Arm und zog ihn sachte mit sich, da es diesem nicht nur die Sprache verschlagen zu haben schien. Doch bei Reis Berührung schien er aus seiner Trance aufzuwachen. Mit einem beschlagenen Glanz in den Augen sah er ihn an. Ein entspanntes Lächeln zierte seinen Mund. Ohne ein Wort sagen zu müssen, folge er Rei und lief neben ihm über den rechten der beiden breiten Wege, die zu beiden Seiten des langen Brunnens lagen. Je näher sie dem Taj Mahal kamen, desto stärker vermeinte Kai dessen vibrierende Spannung zu spüren. Sein Herz schlug unmerklich schneller und als sie vorne bei der Mauer ankamen, tat er es Rei wortlos gleich und zog sich Schuhe und Socken aus. Kaum hatten seine nackten Sohlen den weißen Marmor berührt, fühlte er, wie sich dessen weiche Wärme in seinem ganzen Körper ausbreitete. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

„Komm“, flüsterte Rei leise und berührte ihn kurz am Arm, was bei Kai ein Kribbeln hinterließ, als hätte er ihm einen kleinen Elektroschock verpasst, so sehr schienen seine Sinne geschärft. Mit einem kaum bemerkbaren Nicken schritt er dicht neben Rei über den großen Vorplatz, einmal um den Palast herum. Er bemerkte die Affen, die auf dem Geländer saßen und sie beobachteten, er bemerkte die Inder, die selbst still dastanden und andächtig die weißen Mauern anstarrten oder auf den niedrigen Treppenstufen vor den vier Türmen saßen, mit gefalteten Händen, und vor sich hin sinnierten. Er bemerkte das stetige Fließen des Yamuna, der Fluss, der hinter der Mauer ruhig vor sich hin schlängelte.

Als sie auf der linken Seite des Marmorpalastes angekommen waren, wurde er von Rei in eine der breiten Nischen gezogen, die sich rund um den Taj Mahal befanden. Er setzte sich auf die Erhöhung und lehnte sich zurück, um die Stimmung zu genießen. Das Vibrieren, das er vorher noch gespürt hatte, hatte unendlicher Ruhe Platz gemacht und er fühlte sich ausgeglichen und entspannt. Tief atmete er die Luft ein und schloss die Augen, um die prickelnde Wärme auf seinem Gesicht zu spüren.

Einzig die Wolkendecke, die sich im Laufe des Tages auch hier gebildet hatte, verhinderte, dass er sich das Gesicht im Nu verbrannte. Rei hatte schon befürchtet, dass Kai sich mit seiner hellen Haut schnell einen Sonnenbrand holen würde, doch die Wolken hatten das gekonnt verhindert. Außerdem war es nicht so unerträglich heiß, wie an wolkenlosen Tagen. Auch Rei streckte das Gesicht dem Sonnenlicht, das sich hie und da durch die Wolken kämpfen konnte, entgegen und spürte die tiefe Ruhe in sich.

Als Kai blinzelnd die Augen öffnete, konnte er nicht umhin, dass sein Blick sofort auf Rei fiel, der an der Wand lehnte und es einfach nur genoss zu sein, und ein Lächeln seine Lippen umspielte. Wortlos kramte er in seiner Hosentasche nach seinem Smartphone. Es reichte nicht, dass sich dieses Bild in sein Gedächtnis gebrannt hatte, er musste sich vergewissern, dass er es auch in Zukunft immer und immer wieder betrachten konnte. Er hielt das Handy noch immer oben, als Rei die Augen öffnete. Kai musste schlucken. Seine Augen hatten sich im abendlichen Sonnenlicht und dem widerspiegelnden Licht des Taj Mahal in pures flüssiges Gold verwandelt. Mit halb geschlossenen Lidern und leicht geöffnetem Mund war es ein Bild, das eine schlichte Kamera nicht einzufangen vermochte. Und doch konnte er nicht anders, als auf den Auslöser zu tippen.

Bevor er kontrollieren konnte, ob das Foto gelungen war, legte Rei seine Hand darüber und drückte es sanft nach unten, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Langsam lehnte er sich zu ihm rüber und kam seinem Gesicht dabei immer näher. Kai konnte sich nicht mehr bewegen, als er bereits dessen warmen Atem sein Gesicht streicheln spürte und er hoffte, wünschte sich so sehr, dass Rei ihn küsste, dass es beinahe schmerzte. Doch Rei lehnte sich an ihm vorbei zu seinem Ohr. Die schwarzen Haare kitzelten ihn und er roch den betörenden Duft, der Rei ausströmte, als sein bloßer Hals nahe genug war, um ihn mit einer klitzekleinen Bewegung nach vorne küssen zu können. Er biss sich auf die Unterlippe, um sich davon abzuhalten und hätte beinahe zu fest zugebissen, als er plötzlich Reis Lippen sein Ohr streifen spürte.

„Du willst mich doch nicht etwa heimlich anschauen?“, hauchte er in die Muschel und Kai jagte es einen heißkalten Schauer über den Rücken und als er die Luft, die er angehalten hatte, ruckartig ausstieß, konnte er fühlen, dass auch Rei erschauderte, als sie seinen Hals streichelte.

„Und wenn doch?“, fragte Kai mit kratziger Stimme zurück.

„Hm, was hast du denn davon?“, triezte Rei ihn weiter und Kai konnte spüren, wie sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen.

„Genug, dass es sich gelohnt hat, dieses Risiko einzugehen“, antwortete Kai, worauf Rei lachen musste. Mit einem spitzbübischen Grinsen lehnte er sich soweit zurück, dass er ihm direkt ins Gesicht sehen konnte.

„Du Ärmster, entschuldige, dass ich dich dem allem ausgesetzt habe“, piesackte Rei und seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.

„Überleg dir schon mal, wie du das wieder gut machen willst“, murrte Kai mit einem schiefen Grinsen. Reis linke Augenbraue schoss in die Höhe, als wüsste er schon genau, wie er das anstellen wollte. Er seufzte.

„Leider müssen wir jetzt aber gehen, so dass wir rechtzeitig am Bahnhof sind“, meinte Rei plötzlich und rutschte von der Erhöhung der Nische.
 

Wortlos und in Gedanken versunken starrten beide aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich am weiten Horizont blutrot verfärbt, doch über ihnen war er dunkelgrau. Es goss in Strömen und die riesigen Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Im Zug war es feucht und frisch geworden und Rei schlang sich das Tuch um die Schultern. Kaum hatten sie Agra hinter sich gelassen hatte es angefangen zu regnen und kurz vor Delhi glich er einem Monsun. Das Prasseln jedoch hatte eine hypnotisierende Wirkung und beide waren tief in Gedanken versunken, als sie am Bahnhof von Neu-Delhi ankamen. Unter dem Vordach blieben sie stehen und schauten einen Moment in den dunklen Regenvorhang. Ratlos, was sie tun sollten, blickten sie sich an, dann prustete Rei ohne Vorwarnung los. Die Situation war auch zu komisch. Da standen sie nun nach einem wunderschönen Tag am Bahnhof, hatten weder Schirm noch sonst etwas Wasserbeständiges dabei und anstelle dessen standen die Fahrräder noch immer da. Er klammerte sich an Kais Arm fest, um sich den Bauch halten zu können. So hatte er sich den Abschluss ihres Tages nicht vorgestellt.

„Wollen wir warten?“, schlug Kai grinsend vor.

„Wir sind hier in Indien, Kai, da kannst du warten bis du schwarz wirst!“, presste Rei hervor, dann schien er einen Entschluss zu fassen. Lachend trat er unter dem Vordach hervor. „Komm schon!“

Kopfschüttelnd folge Kai ihm in den strömenden Regen und binnen wenigen Sekunden war er klitschnass. Ein kurzer bestätigender Blick, dann liefen sie los.

„Und die Fahrräder?“, brüllte Kai durch das laute Prasseln.

„Bringen wir morgen oder so zurück!“

Eigentlich brachte es nichts, dass sie rannten, sie hätten genauso gut gehen können. Denn so oder so waren sie bis auf die Knochen durchweicht, als sie am richtigen Haus ankamen. Rei kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel, um die Haustür aufzuschließen, die um diese Uhrzeit verschlossen war. Die Kleider klebten leicht durchsichtig geworden an seiner Haut und Kai konnte jeden Muskel, jede Sehne darunter zucken sehen. Die nassen schwarzen Fransen hingen ihm ins Gesicht und Wasser perlte daran herunter, über die leicht erhitzte Haut, tropfte vom Kinn. Kai folgte ihnen gebannt und konnte nicht anders, als seine Hand unter dieses Kinn zu legen und Reis Kopf anzuheben. Ohne einen Blick abzuwarten, drückte er seinen Mund auf dessen nasse Lippen. Überrascht machte Rei einen Schritt nach hinten und Kai nütze diesen Schwung, um ihn an die Wand neben der Eingangstür zu drücken.

Rei wusste nicht, wie ihm geschah, als er sich zwischen der kalten Wand und Kais erhitztem Körper wiederfand. Und doch hatte er sich zuvor in Agra stark zurückhalten müssen, ihn nicht einfach zu küssen. Umso erregter war er, als Kai ihm nun seinen Mund aufdrängte. Er krallte die Finger in seine Schultern und öffnete leicht die Lippen, um den Kuss zu erwidern. Stürmisch, leidenschaftlich war der Kuss, der sich daraufhin entflammte, während Kai sich an ihn presste und Rei musste mehrere Male keuchend nach Luft schnappen, um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. Doch als Kai sein Knie zwischen seine Beine schob und seine Hüfte mit beiden Händen näher zog, worauf er durch den dünnen und durchnässten Stoff deutlich dessen Erregung spüren konnte, was ihm ein unterdrücktes Stöhnen entlockte, war es um ihn geschehen. Er packte Kai am Handgelenkt und zog ihn mit sich, hinein ins Haus, die Treppe hoch und in die Wohnung. Kaum war die Tür in die Angel gefallen, drängte er Kai dagegen und drehte mit bebenden Händen den Schlüssel im Schloss um. Doch gerade, als Kai ihn küssen wollte, legte er ihm einen Finger auf den Mund. Ungeduldig wartete er, bis Rei ihm das Shirt über den Kopf gezogen hatte und ihn betrachtete.

Allein dieser Anblick machte Rei noch mehr an. Er hatte ja schon geahnt, dass Kai gut gebaut war, aber selbst hiermit hatte er nicht gerechnet. Fieberhaft fuhr er mit den Fingern den Konturen der Brustmuskeln nach, hinunter über die Erhebungen der Bauchmuskeln bis zum Hosensaum und öffnete das Band, das die Hose oben hielt, dann zog er sie mitsamt der engen Boxershorts runter, schälte ihm den nassen Stoff von den Beinen. Sofort sprang ihm Kais erregte Männlichkeit entgegen und sein Mund öffnete sich leicht in atemloser Erwartung, diese Größe in seinen Mund nehmen zu können.
 

**[...]**
 

Kai war für seine Verhältnisse relativ gut gelaunt, als er am nächsten Abend in sein Hotelzimmer zurückkam. Er lockerte seine Krawatte bereits im Aufzug. Kaum hatte er die Tür in die Angel geworfen, warf er seine Mappe achtlos auf den kleinen Beistelltisch neben dem Kleiderständer. Das Jackett, das er bereits ausgezogen hatte, kaum dass er durch die große Eingangstür des Bürogebäudes gegangen war, ließ er auf das gemachte Bett fallen. Er würde jetzt duschen, sich etwas Alltagstauglicheres anziehen und dann Rei abholen und ihn ausführen. Daran hatte er den ganzen Tag herumstudiert, ob er das denn wirklich tun könne, oder ob er den Chinesen damit verschrecken würde. Er war zum Schluss gekommen, dass ihm dies herzlich egal war, er möchte seinen Tag einfach mit ihm ausklingen lassen. Von wo dieses plötzliche Bedürfnis nach Nähe zu einem Menschen kam, blieb ihm schleierhaft und er hatte auch überhaupt keine Lust, darüber zu philosophieren.

Gerade warf er das weiße Hemd über den Stuhl, der dekorativ im Zimmer stand, als ihm etwas in die Augen stach. Das penetrante, rot blinkende Licht des Anrufbeantworters eroberte seine gesamte Aufmerksamkeit, als er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf eine Taste drückte, um die Nachricht abzuhören. Eine Frau erklärte ihm in schlechtem Englisch, dass er um elf Uhr achtzehn eine Nachricht erhalten habe. Ein kleiner Piepton und er hörte eine Stimme, die ihm ungewollt das Herz ein bisschen schneller schlagen ließ, ihm angenehm warme Schauer bescherte. Doch als er den Sinn der Worte verstand, gefror ihm das Blut in den Adern.
 

Hallo Kai, hier ist Rei, du hast mir ja deine Zimmer-Telefonnummer hinterlassen. Hör mal, mein Freund, von dem ich dir erzählt habe, der, dem die Wohnung gehört, er kommt morgen in der Früh zurück und ich werde heute noch abreisen. Tut mir leid. Leb wohl...
 

Ohne jegliche Emotionsregung starrte Kai auf das rote Licht, das aufgehört hatte zu blinken. Sein Kopf war leer, er fühlte sich taub. Es war, als wären sämtliche Gefühle, die er erst gerade kennengelernt hatte, sämtliche Gedanken mit diesen wenigen Worten eliminiert worden. Mit einem kraftraubenden schweren Atemzug hob er die Hand, um die Nachricht zu löschen.

Das war es also. Er würde Rei nicht mehr wieder sehen. Er hatte ihm nichts weiter hinterlassen als diese bedeutungsschwere Nachricht und seinem Wissen um seinen Vornamen, seine Wohnstadt und sein Studium. Nicht wo, nicht wann, nicht wie.

Regungslos stand Kai im Hotelzimmer, dessen Totenstille nur vom wiederhallenden Bestätigungston durchschnitten wurde, dass die Nachricht gelöscht war.

Küsse im Monsun

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

In Indien hatte er sein Herz verloren

Kai Hiwatari war nicht der Typ Mensch, der anderen hinterhertrauerte. Er war auch nicht der Typ Mensch, der anderen hinterherlief. Im Gegenteil. Kai Hiwatari hatte seine Prinzipien, an die er sich konsequent hielt und was er bereits viele hatte spüren lassen. Hart, aber fair.
 

Kai Hiwatari war nicht der Typ Mensch, der sich bemühte Freundschaften aufrecht zu erhalten. Er war auch nicht der Typ Mensch, der sich um soziale Floskeln scherte. Nein, Kai Hiwatari war einfach nur er selbst. Kalt, aber ehrlich.
 

Noch nie war es ihm in den Sinn gekommen einem One-Night-Stand hinterher zu trauern, noch nie zuvor hatte er sich nach dem Sex darum geschert, wie es dieser Person ging, wenn er früh am nächsten Morgen die Wohnung verlassen hatte. Noch nie hatte er sich deren Namen behalten können oder jemals das Bedürfnis verspürt, sie wiederzusehen. Was geschehen war, ist vorbei und gehört der Vergangenheit an und es gibt keinen Grund, weiter darüber nachzudenken und sich unglücklich zu machen.

Und doch saß er seit einer geschlagenen Stunde auf dem Sofa, in der einen Hand ein ausgedrucktes Foto eines jungen, sehr attraktiven Mannes mit Schlafzimmerblick, im warmen Schimmer des Taj Mahal, der seine Silhouette warm zeichnete und ihm eine bezaubernde Ausstrahlung verlieh, in der anderen Hand ein Zettel mit einem Namen und einer Adresse und überlegte, was er tun sollte.
 

Als Kai nach dieser unvergesslichen Nacht voller leidenschaftlichem Sex in sein Hotelzimmer zurückging, hätte er nicht gedacht, dass es das letzte Mal sein würde, dass er Rei gesehen hatte. Erst als er am nächsten Abend spät von einer weiteren Konferenz in das Zimmer kam und den Anrufbeantworter abhörte, dämmerte ihm langsam, dass auch dieses Abenteuer schon wieder vorbei war.

‚Hallo Kai, hier ist Rei, du hast mir ja deine Zimmer-Telefonnummer hinterlassen. Hör mal, mein Freund, von dem ich dir erzählt habe, der, dem die Wohnung gehört, er kommt morgen in der Früh zurück und ich werde heute noch abreisen. Tut mir leid. Leb wohl...’

Kai war zugegebenermaßen wahnsinnig enttäuscht gewesen, dass Rei sich nicht mal mehr bei ihm verabschiedet hatte. Und doch rief er sich seine Prinzipien ins Bewusstsein, niemals einem Menschen hinterher zu trauern oder hinterher zu laufen und löschte die Nachricht. Dann ging er noch über eine Woche zu den täglichen Konferenzen, aß abends alleine und ging wie gewöhnlich alleine zu Bett. Er hatte sich fest vorgenommen, auch diesen One-Night-Stand zu vergessen.
 

Und doch saß er nun hier und betrachtete das Foto. Er hatte es nicht geschafft, ihn zu vergessen. Ob es daran lag, dass sie mehr zusammen unternommen hatten als lediglich miteinander zu schlafen, oder daran, dass er Rei unter völlig anderen Umständen kennengelernt hatte als die bisherigen One-Night-Stands, er wusste es nicht. Es konnte durchaus ebenso möglich sein, dass sich Kai ihm gegenüber geöffnet hatte, wie er es noch nie bei einem anderen fremden Menschen getan hatte. Es war beinahe lächerlich, Rei mit einem One-Night-Stand zu vergleichen. Er war mehr. Viel mehr.
 

Zurück in Tokyo hatte er lange mit sich selbst gerungen und doch hatte schließlich die Idee Überhand genommen, einen seiner wenigen Freunde anzurufen. Yuriy war ein Talent darin, Personen ausfindig zu machen und so bat er ihn kurzerhand um Rat. Doch es gestaltete sich als äußert schwierig, da selbst Kai nichts Genaues über ihn wusste. Er hatte vergessen, ihn nach seinem Nachnamen zu fragen, alles, was er ihm sagen konnte, war der Vorname, die Stadt, in der er wohnte und das Fach, das er studierte. Rei, Tokyo, Medizin. Das waren die Dinge, die Kai über ihn wusste. Nicht gerade viel, wie Yuriy bemerkte. Doch Kai war es egal. Er bat ihn lediglich darum, ihn ausfindig zu machen, wie lange er auch immer dafür brauchen sollte und Yuriy nahm dies sehr ernst, kam es schließlich nicht einmal alle Schaltjahre vor, dass Kai jemanden um irgendetwas bat.
 

Kai musste immer wieder daran denken, wie viel Spaß er mit Rei hatte und es kam ihm vor, als ob er vor ihm nicht einmal wusste, was das überhaupt bedeutete. Er musste immer wieder an den prickelnden Moment am Taj Mahal denken, die Leidenschaft des Kusses im strömenden Regen, der wirklich gute Sex. Reis bezauberndes Lachen. Er konnte nicht behaupten zu wissen, was mit ihm geschehen war, doch jeder andere Mensch würde ihn in der Annahme bestätigen, dass er in Indien sein Herz verloren hatte, einer Stadt, die er anfangs noch hasste.
 

Seufzend starrte er auf den Zettel mit der Adresse. Vor einer guten Stunde hatte Yuriy ihn angerufen. Über drei Wochen hatte er gebraucht, um einen Nachnamen und eine dazugehörende Adresse herauszufinden. Und nun saß er da, schlauer als zuvor und doch ratlos, was er tun sollte.
 

Kai Hiwatari war nicht der Typ Mensch, der seine Prinzipien gedankenlos über Board warf. Er war auch nicht der Typ Mensch, der unüberlegt an eine Sache ran ging. Kai Hiwatari war schrecklich konsequent. Aber nicht immer.
 

Abrupt erhob er sich vom Sofa. Auf einen kleinen Zettel schrieb er eine Notiz, steckte sie sich zusammen mit dem Foto in die Hosentasche und verließ seine Wohnung. Er hatte einen Schluss gefasst. Es war an der Zeit, seine Prinzipien für einmal zu vergessen.

Als er das Haus gefunden hatte, in dem Rei Kon wohnte, pinnte er den Zettel mit einer Büroklammer an das Foto und warf es in den Briefkasten. Es war bereits spät abends, doch am nächsten Tag würde Rei ihn bestimmt leeren.
 

Er hatte seinen Schritt getan. Nun lag es an Rei, ihm entgegenzukommen.
 

Nervös schaute Kai auf die Uhr. Zwar musste er sich noch einige Minuten gedulden, doch er konnte nicht leugnen, dass er unglaubliche Angst davor hatte, dass Rei nicht kommen könnte. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und schaute aufgeregt umher, sich fragend, aus welcher Richtung er wohl kommen würde. In seinem Bauch herrschte ein Kampf der Vorfreude gegen das beängstigende Gefühl der Angst, einen wichtigen Menschen mit dessen Nicht-Erscheinen für immer zu verlieren. Denn würde Rei nicht kommen, wäre für ihn klar, dass er für diesen nicht mehr gewesen war als ein Abenteuer.

Kai erkannte sich beinahe selbst nicht mehr wieder. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass er eines Tages so weit gehen könnte, sich auf einen Menschen derart einzulassen, dass er ihm sogar hinterher laufen würde. Doch diese eine Schwäche, die war ihm Rei wert.

Die Minuten verstrichen und Kai biss die Zähne zusammen, als der große Zeiger über die Zwölf hinaus wanderte. Seufzend ließ er die Schultern hängen. Das war’s. Rei war nicht gekommen.

Er ging weg, beide Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er war bereits mehrere Schritte gegangen, da schlangen sich plötzlich zwei Arme von hinten um seine Brust.

„Weiß du eigentlich, wie sehr ich darauf gehofft habe, dass du mich findest?“

Ein Lächeln stahl sich auf Kais Mund, als er den zerknüllten Zettel in Reis Hand erblickte.

‚Acht Uhr bei der südlichen Ecke der Halbinsel des Odaiba-Kaihin-Koen, aber diesmal abends!’, stand da in typischer unleserlicher Akademikerschrift geschrieben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  Lyndis
2015-07-02T19:14:32+00:00 02.07.2015 21:14
Hach,
so ne süße Story *schwärm*
ich bin echt froh, dass ich dich entdeckt ahbe^^ und dass du so viel zu dem Pairing schreibst *freu*

ich finde das verhalten von Rei am Ende ein wenig... weibisch (?)
So dieses typische 'aber nur wenn du mich eroberst!'
ich finde, das passt nicht so ganz...
gerade nach allem was da so passiert ist hätte ich eher erwartet, dass er kai anruft und fragt, ob er die rest der zeit bei ihm wohnen kann...

aber na ja.. das wäre wohl zu wenig drama gewesen XD
und es hat kai in seinem charakter ja auch weiter gebracht^^ von dem her^^
es war ne echt schöne story!
ich stöbere mal weiter^^
Von:  BeautyRani
2012-01-01T14:44:55+00:00 01.01.2012 15:44
Und wer sagts denn, sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende ^^

Schön, dass auch Yuriy ne kleine Rolle bekommen hat, wenn auch keine Sprechrolle XD

Fazit: eine sehr schöne romantische FF, mit viel Einblick auf das Land Indien und mit meinem Lieblingspairing, was wünscht man sich denn da mehr...? ^.~

Ach, ich wüsste da noch was, dass dein andere One-Shot Las Vegas bald On gestellt wird, ich bin nämlich schon richtig gespannt darauf, deine Inhaltsangabe dazu hat mich echt Neugierig gemacht und das Setting ist sowieso total cool ^^

LG
Von:  BeautyRani
2012-01-01T14:23:33+00:00 01.01.2012 15:23
Hi^^

erst einmal frohes Neues wünsche ich dir und als kleinen Vorsatz dafür hab ich mir vorgenommen nun endlich deine FF zu Ende zu kommentieren, wird ja langsam mal Zeit ^^°

Also wie immer fällt es einem sofort auf wie viel Ahnung du von dem schönen Land Indien hast, dass kann man echt nur wissen, wenn man persönlich dort gewesen ist *ich dich beneiden tu* =(
Ich finds schön, wenn wir durch deine FF hier etwas von diesem Land mitkriegen, kenn ich ja ansonsten nur durch die schönen Bollywoodfilme XD

Schade, dass sie sich nicht ein Fahrrad geteilt haben XD
Ist dort ja so üblich, dass der Mann radelt und die Frau vor ihm auf dieser Fahrradstange sitzt, nur müsste man sich dann bei den beiden einigen, wer welchen Part übernehmen würde ^.~

Die Szene mit dem Foto fand ich total süß, ich liebe so kitschige Handlungen, fabriziere ich bei mir ja gerne auch mal :D

Und eines der schönen Dinge wenn man schon über 18 ist, sind doch immer die adult Kapitel lesen zu können XD
Also ich hab an der Lemon nichts zu meckern *daumen hoch*

Nur der Schluss ist etwas traurig, aber ich habe Hoffnung auf ein Happy End im nächsten Kapitel *schnell rüberflitz*
Von:  Tales_
2011-12-29T11:26:45+00:00 29.12.2011 12:26
Huhu,
auch der Epilog hat mir sehr gut gefallen.
Es ist wirklich eine schöne Story!

Deswegen mach ich so gern Wettbewerbe, weil man da oft solch gute Storys findet wo man sonst vielleicht nicht gefunden hätte ;)

Das Ende deiner Story war echt zuckersüß ^^
Wirklich schön.

Lg Shanti
Von:  Tales_
2011-12-28T22:26:40+00:00 28.12.2011 23:26
Nochmal ich :)
Da wunderte ich mich gerade wo der Adult Teil den war...
Da hatte es mich ja ausgeloogt und deswegen konnt ich den vorher nich lesen :D

Wollt nur noch kurz anmerken das ich den Teil auch sehr gut geschrieben finde ;)

Lg Shanti
Von:  Tales_
2011-12-28T21:35:21+00:00 28.12.2011 22:35
Huhu,
hm immer noch bin total Begeister von deinem Schreibstil :)
Auch wie du von den Orten in Indien erzählst....
Da komm ich direkt ins Träumen, ich möchte ja auch so gern mal dorthin.

Das Ende des Kaps ist wahrlich ein klein wenig fies.
Da lief es gut und dann sowas...

Hm gut das ich gleich weiterlesen kann :)
Lg Shanti
Von:  Tales_
2011-12-28T16:56:48+00:00 28.12.2011 17:56
Huhu,
vielen Dank für deine Teilnahme an meinen WB!
Dann muss ich gleich mal sagen das ich die Story echt klasse finde!
Sehr gut geschrieben und von der Rechtschreibung her ein Traum.

Dann finde ich Kai und Rei wirklich gut getroffen.
Und das die Geschichte in Indien statt findet is wirklich toll.
Ich selbst möchte sehr gern auch mal dahin, kenne es bisher nur aus Bollywood filmen ^^

Ich freue mich aufs weiterlesen!
Lg Shanti
Von:  Black_Melody
2011-12-25T17:07:41+00:00 25.12.2011 18:07
*.*
Okay, nicht ganz Schicksal, aber hey, who cares?!
Meinen herzlichen Glückwunsch, du hast meine Laune heute wesentlich angehoben! Keine gefühlten 60.000 Fehler. *-* Das ist doch sehr erfrischend.
Die Tatsache, dass die Fanfic eigentlich für den Wettbewerb ein paar Tage zu spät beendet wurde, ignorieren wir mal ganz dezent. *hust* Zumindest ich, zum Zeitpunkt meines Lesens ist sie beendet. So. BÄHM!
Auch wenn ich sagen muss, dass eigene Serie vielleicht besser gepasst hätte und Beyblade nach wie vor nicht so 100%ig mein Ding ist, gefällt mir das Grundkonstrukt. Zusätzlich mag ich deinen Schreibstil irgendwie, die Geschichte passt dazu und ist ganz gut umgesetzt.
Rechtschreibung hatte ich ja schon gesagt, aber in diesem letzten Kapitel bist du auf der ersten Seite einmal vom Präteritum ins Präsenz gewechselt. Ob das so sein sollte, weiß ich nicht, aber zum Gesamtbild hätte es in der Vergangenheit besser gepasst. Das war eigentlich auch alles, das ich mir aufgeschrieben hatte, weil mir echt nix zu meckern einfällt.
Von mir tatsächlich Hut ab. Ich selber bin zwar auch Elementarbereich-Ass, aber es freut mich wirklich, wenn ich mich damit mal nicht wie ein Außenseiter fühle. *nick*

lG Hikari
Von:  sasu-naru-love
2011-12-25T16:51:15+00:00 25.12.2011 17:51
Oh Mann. -_-
So ein schöner Tag, ein noch schönerer Abend (der zwar nicht allzu ausführlich beschrieben war, aber meine Kopfkinos richten das schon von ganz allein ein ^^') und dann... äh ja. Ich bin mir ja sicher, dass Kai Rei bei sich im Hotel hätte bleiben lassen, aber nein.
Es hätte doch alles so schön sein können. *jammer*
Aber ich glaube jetzt einfach mal ganz fest daran, dass das Schicksal Rei und Kai wieder zusammenführen wird. Ich meine, in Liebesgeschichten gehört sich das so. xD Und wenn man sich schon in Delhi zweimal zufällig begegnet, dann wird das schon klappen. Wenn nicht - Schicksaaaaal *böse anschiel* *Keule raushol und Schicksal hinterherlauf* >D

lG Hikari
Von:  Black_Melody
2011-12-25T15:42:07+00:00 25.12.2011 16:42
Kai, Kai, Kai, Kai, Kai. *o*
Ich bin, seit ich gezwungen war, mich mit einer anderen Beyblade-FF zu beschäftigen, auf einem Kai-Trip. Böööse. Immerhin kenne ich die Serie nicht einmal besonders gut. xD
Die Grundidee ist, soweit ich das bisher beurteilen kann, aber dazu kommt später mehr. Du machst mich gerade nur sehr glücklich. ^o^ Wieso? Weil ich schon so viele FFs mit grausiger Rechtschreibung und Kommasetzung in den letzten Tagen lesen musste und gelesen habe, dass es schön zu wissen ist, dass es noch Menschen gibt, die der Rechtschreibung mächtig sind. Ein paar kleine Fehler sind drin, aber das ist nicht weiter schlimm, immerhin machen Menschen Fehler.
Ich persönlich finde Indien als Handlungsort auch sehr schön. Ich war zwar selber noch nicht dort, aber dass es nicht nur wie in den Bollywoodfilmen zugeht (und ja, ich mag die auch eigentlich) sollte jedem klar sein. Auch wenn immer alles schön geredet wird. Alles hat seine Schattenseiten.

lG Hikari
(P.S. Nächstes Kapitel (3) wird von einem anderen Account aus kommentiert, aber nicht wundern, solange da unten Hikari steht, stecke auch ich dahinter. ^.~)


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