Von Chai Latte und vielen Worten
Neugierig schaue ich auf die Uhr; ja, sie dürfte bald kommen. Um sicher zu gehen, dass ich auch richtig vorbereitet bin, werfe ich noch einen Blick auf den Tisch, der hier in der Mischung aus Bibliothek und Café steht: Der Schreibblock mit den Notizen für meine Fragen und ausreichend Platz für die Antworten liegt brav unter meinem Lieblingskugelschreiber, ganz so, wie es sein soll. Da hat sich in den letzten Sekunden, die zwischen dem nunmehr letzten und dem vorletzten Blick vergangen sind, nicht viel geändert.
Ich freue mich einfach, denn die Autorin, die ich heute zum gegenseitigen Interview treffe, habe ich auch live und in Farbe bereits gesehen. Damals, vor nicht allzu langer Zeit, haben wir uns gut verstanden, und ich sehe keinen Grund dafür, warum das heute anders sein sollte.
Gerade, als ich überlege, ob ich meine Taschenuhr noch einmal befragen sollte – warum musste ich eigentlich immer versehentlich zu früh kommen? – biegt sie um ein bücherbeladenes Regal und begrüßt mich mit einem verlegenen Lächeln.
Halt. So lange warte ich doch noch gar nicht? Nun muss ich doch noch einmal auf die Uhr schauen; ob sie wohl falsch geht?
„Ach was, ich bin auch immer zu früh!“, beruhigt sie mich. Na, das ist ja umso besser!
Bald schon haben wir die Begrüßung hinter uns gebracht, es uns auf den einfachen Plastikstühlen bequem gemacht und ich kann mit der ersten Frage noch loslegen. Interessiert stelle ich fest, dass ich diese Fragen früher oder später vielleicht so oder so gestellt hätte, Interviewaktion hin oder her.
„Wann hast du deine erste Geschichte geschrieben? Ungefähr?“
„Ähm…“, ein nervöses Lachen verlässt ihre Lippen. „Zählen Aufsätze in der Grundschule? Ansonsten kann ich mich an erste Fanfic-Versuche vor circa sechs Jahren erinnern. Auf die bin ich allerdings überhaupt nicht stolz...“
Nur schwer kann ich mir ein Kichern unterdrücken. Dieser letzte Satz kommt mir doch irgendwoher bekannt vor!
„Welche Form der Erzählung magst du am liebsten: Alles, was man in Büchern findet wie Kurzgeschichten, Drehbücher und Romane, Comics, Videospiele, Lieder oder Filme?“
„Ich denke, das wäre die traditionelle Büchervariante. Einfach, weil es, mal abgesehen von vielleicht noch Liedern, das erste ist, womit man als Kind vertraut wird. Zumindest war das bei mir so.
Von anderen Medien bin ich nicht abgeneigt, aber dort mangelt es meist an Erklärungen. Was zwar auch wieder Freiraum für eigene Interpretationen lässt, aber ich bleibe da lieber beim direktesten Weg.“
„Gibt es eigentlich ein Wort, das du besonders magst?“
„Ein Wort?“, sie hält kurz zum Grübeln inne. „Es gibt einige Adjektive, die mir sehr gut gefallen, oder Formulierungen, aber ein spezielles kann ich gerade wirklich nicht nennen. Ich denke, da solltest du besser eine Person fragen, die viele meiner Texte gelesen hat und weiß, welche bestimmten Worte sich dabei herauskristallisieren.“ Das Lächeln von eben weicht einem verschmitzten Grinsen.
„He, Moment!“, protestiere ich. „Ausweichen gilt nicht. Du wirst ja wohl irgendein Wort haben, das du besonders magst, oder?“
„Muss ich das denn erklären können?“
„Nur, wenn die Erklärung gerade griffbereit ist.“
„Dann nehme ich das Wort „Stern“.“
Ich frage mich, ob das wirklich ihr Lieblingswort ist, bin mir aber anhand gewisser Anzeichen in ihrer ehemaligen Internetpräsenz sicher, dass sie es auf jeden Fall mag.
„Na gut, dann weiter im Text. Auch, wenn ich persönlich diese Frage nach wie vor befremdlich finde: Stell dir vor, du begibst dich auf eine einsame Insel und kannst lediglich drei Bücher mitnehmen, die du dort nicht austauschen kannst, und mit denen du dich längere Zeit begnügen müsstest, welche wären das?“
„Nur drei Bücher? Und die muss ich vorher auch schon kennen?“, sie schaut mich recht unbegeistert an, und ich freue mich darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, der diese Frage genau so toll findet, wie ich selbst es tue. „Eins kann ich dir aber gleich nennen. Das wäre „Die Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri. Zumal ich das noch nicht fertig gelesen habe“, sie scheint sich ein wenig zu schämen, als sie das zugibt. „Dennoch hat mir das Buch schon öfter aus recht verzweifelten Situationen in meinem Kopf herausgeholfen.
Als zweites wäre meine Wahl wohl „The Little Stranger“ von Kate Waters. Das Buch kann mich schlagartig in seinen Bann ziehen, weil ich die Beschreibung der Atmosphäre unglaublich gelungen finde.
Meine dritte Wahl fällt dann auf Shinya Goikedas „Devil May Cry: Der Ursprung“. Sprachlich ist das nicht besonders ausgereift, aber Dante ist wie im Spiel auch so eine liebenswürdige Person, deren Charakter mir immer gute Laune beschert.
Revidierend stelle ich fest, dass alle Bücher Stimmungsmacher sind. Wie, glaube ich etwa, so schlechte Laune auf einer einsamen Insel zu bekommen?“, sie lacht, passend zum Thema, laut auf. „Wer weiß. Jedenfalls sind das die Bücher, die ich immer mal wieder gerne aufschlage.“
Ich nicke zustimmend, genau so und nicht anders würde ich auch an meine Titelauswahl heran gehen.
„Du bist ja kein „offizieller“ Schreibzieher, nimmst aber trotzdem hin und wieder an Aktionen teil. Hast du vor, das in Zukunft weiterhin so zu halten?“
„Wenn ich meine Kreativität auf einem bestimmten Level halten könnte, hätte ich mich wohl schon lange als Mitglied beworben…“, bei diesen Worten fasst sie sich leicht schuldbewusst an den Kopf.
„Ich beteilige mich immer gern, weshalb ich auch vorhabe, den Schreibziehern weiterhin meine Unterstützung anzubieten. Allerdings sage ich meist vorschnell zu und bemerke meistens erst zu spät, was ich mir da aufgeladen habe.
Mir gefallen die Aufgaben der Schreibzieher, die Ideen, die sie sich einfallen lassen. Zudem habe ich Bewunderung in alle Mitglieder, die dort konsequent mithalten können.“
„Was würdest du - schreiberisch gesehen, versteht sich - gerne einmal machen?“
„Oh-“, meine Frage wird mir mit erneutem Lachen quittiert. „Da habe ich die Ideen wohl gerade zu recht gelobt. An Einfallsreichtum mangelt es mir leider auch des Öfteren. Ich fand die Idee mit der sich fortsetzenden Geschichte beim Adventskalender sehr schön, bei sowas könnte ich mir vorstellen, wieder dabei zu sein. Oder aber auch nur eine Geschichte zu einem Bild erfinden. Wobei es da durchaus skurril zugehen dürfte“, und nun grinst sie zufrieden, als wäre das genau ihr Ding.
„Wenn du schreibst, wie machst du das? Tippst du direkt am PC oder schreibst du auf Papier vor? Ist es dann eher ein nach Lust und Laune Schreiben oder planst du vorher genau? Schreibst du am liebsten in Gesellschaft oder musst du dafür deine Ruhe haben, hast du vielleicht sogar einen Platz, der dich besonders inspiriert und an dem es dir besonders gut gelingt?“
„Schreiben geschieht bei mir ja relativ selten. Sofern man von Rollenspielen absieht, versteht sich. Früher habe ich es so gehandhabt, dass ich zuerst alles auf Papier vorschrieb und danach meine Ideen abgetippt habe. Irgendwann war mir das zu mühselig, weil ich während dem Schreiben noch so viel verändert habe, und da hat es dann mit dem direkten Tippen am PC angefangen. Dabei plane ich auch nicht, sondern schreibe direkt drauf los. Die Grundidee ist sozusagen von Anfang an da, der Rest entwickelt sich dann während dem Schreiben.“
Ihr Blick schweift nachdenklich ab, ein bedauerndes Lächeln zeigt sich. „Wahrscheinlich keine besonders effiziente Methode für mich, weil ich dann wirklich hartnäckig dran bleiben muss, damit sich etwas entwickelt. Da der Mensch von Natur aus faul ist, ist es mir meist zu mühsam, über die Grundidee hinauszudenken. So kommt es dann meist gar nicht dazu, dass ich mich überhaupt ran setze.“
Mittlerweile schafft es auch endlich eine Kellnerin an unseren Tisch; meine Interviewpartnerin bestellt aus purer Neugierde einen Chai Latte – na, da bin ich mal gespannt, wie der ihr schmecken wird – und ich bleibe bei meinem geliebten Grünen Tee.
Eine Spur Ernsthaftigkeit schleicht sich in ihre Stimme, als die Kellnerin fort ist, um sich um unsere Bestellungen zu kümmern, und die Hobbyautorin mit ihrer Antwort fortfahren kann.
„Während dem Schreiben brauche ich direkt um mich herum Ruhe. Wenn mir dabei jemand über die Schulter sieht, kriege ich gleich gar nichts hin. Allerdings brauche ich während dem Entwicklungsprozess, der bei mir ja während dem Schreiben stattfindet, ständig Bestätigung. Ich tippe also einen Abschnitt und zeige ihn der Person, auf deren Meinung ich bei dieser Geschichte am meisten Wert lege. Dabei kann ich dann auch nochmal Formulierungen überdenken.
Das lustige ist, dass es mir dabei nicht darum geht, dass besagte Person Verbesserungsvorschläge einbringt. Ich brauche einfach nur jemanden, der mir bestätigt, dass das okay ist, was ich gerade zusammenreime.
Ich brauche als Inspiration dementsprechend auch keinen besonderen Platz, sondern Personen, Ereignisse oder bereits vorliegende Songtexte oder Bilder. Da sowas meist auch am einfachsten durch den PC zu erreichen ist, bleibt mein Schreibtisch der beste Arbeitsplatz.“
Irgendwie kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn für mich klingt es so, als würden wir auch in Zukunft noch lange zusammen arbeiten können, worauf ich mich jetzt schon sehr freue.
Doch – was ist das? Überrascht schaue ich auf meinen Block. Sind wir tatsächlich schon fertig?
„Oh, ich sehe gerade, dass es das schon war – na, das war ja gar nicht so schlimm!“, scherze ich und stelle erfreut fest, dass unsere Getränke eintrudeln. „Machen wir gleich mit deinen Fragen weiter?“
Ich schlürfe einen viel zu heißen Schluck Tee, und frage mich, was da nun auf mich zu kommt. Und ob so ein Chai Latte überhaupt schmeckt.